Download - agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Transcript
Page 1: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Au

sgab

e 0

1/2

01

5 ■

UP

S &

DO

WN

S

A

GO

RA

4

2

Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 01/2015

UPS & DOWNS

Arbeitest du noch oder verbrennst du schon?Wo ist oben? ■ Bringt jeder Abschwung einen Aufschwung? ■ Wirtschaft hoch jauchzend, Menschen betrübt? ■ Burn-up!

Au

sgab

e 0

1/2

01

5 |

De

uts

chla

nd

8,9

0 E

UR

Öst

err

eic

h 8

,90

EU

R |

Sch

we

iz 1

3,90

CH

F

Page 2: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

T E R R A I N

THier werden Begriffe,

Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches

Selbstverständnis grundlegend sind.

— 8DIE AUTOREN

— 9Tomo Mirko PavlovicMelancholie und Widerstand — 15Wolfgang SchimmelEine Krücke namens Glockenkurve – Die verzwickte Schätzung der Volatilität

— 20Eva Bockenheimer / Stephan Siemens Was heißt denn hier Selbstbestimmung? – Oder: Denn wir wissen nicht, was wir tun!

— 26Rainer MetzSind wirtschaftliche Ups and Downs vorher- sehbar? – Lange Wellen wirtschaftlicher Ent- wicklung

— 31Ralf M. Damitz Gefährliche Liebschaften– Selbstverwirklichung als Social Fracking

— 36PORTRAITDie Höhen und Tiefen des Bertolt Brecht(von Ana Kugli)

— 44EXTRABLATT

— 3 EDITORIAL

— 4 INHALT

— 98IMPRESSUM

agora 42

4

INHALT

Page 3: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

H O R I Z O N TI N T E R V I E W

HIAuf zu neuen Ufern! Wie lässt sich

eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete

Veränderungen herbeiführen?

— 46„Es gibt keine Schonzeit mehr“Interview mit Margot Käßmann

— 82FRISCHLUFTPreenaction: Gesellschaftsspiele mit Zukunft

— 92LAND IN SICHTPoistranseuropa2015Stop TTIP

— 96GEDANKENSPIELEvon Kai Jannek

— 60 Annette Heuser Risiko Ratingagentur – Warum die Welt neue Ratingagenturen braucht

— 68 Pablo Pineda Ferrer Das Konzept der Liebe – Eine Vision der Gesellschaft von morgen

— 72MARKTPLATZJubiläumsfeier agora42 Kongress Kreatives UnternehmertumKultur unter Palmensneep Herbsttagung

agora 42 Inhalt

5

Page 4: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt,

die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

Page 5: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

THier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt,

die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

Page 6: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Tomo MirkoPavlovic

ist Journalist und Theaterautor. Er schreibt unter anderem für die Frankfurter Rundschau und GEO Special. 2012 gewann er den Schwäbischen Litera-turpreis mit der Erzählung Eloxierungen.

— Seite 9

Rainer Metz ist Titularprofessor für Wirtschaftsgeschichte und Methoden der empirischen Wirtschaftsforschung an der Universität St. Gallen und Leiter des Arbeitsbereichs Historische Studien von GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Köln.

— Seite 26

Wolfgang Schimmelist Journalist, Gründer einer Werbe- und Kommunikati-onsagentur mit dem Schwer-punkt Finanzdienstleistungen und derzeit Leiter der Un-ternehmenskommunikation des österreichischen Asset Management Unternehmens FTC Capital.

— Seite 15

Ralf M. Damitz studierte Soziologie, Politik-wissenschaft und Philosophie. Er ist Lehrbeauftragter an ver-schiedenen Universitäten, lebt und promoviert in Kassel.

— Seite 31

Eva Bockenheimerist Gründungsmitglied des Philosophie-Vereins Club Dialektik in Köln und Mitglied der Initiative „Meine Zeit ist mein Leben“. Gemeinsam mit Carmen Losmann und Stephan Siemens hat sie Work Hard Play Hard. Das Buch zum Film (Schüren Verlag, 2013) herausgegeben.

— Seite 20

Stephan Siemensgründete den Philosophie-Verein Club Dialektik und die Initiative „Meine Zeit ist mein Leben“. Unter ande-rem veröffentlichte er mit Martina Frenzel Burnout – Eine Folge der neuen Organi-sation der Arbeit (AJZ Verlag, 2012) und Das unternehm- erische Wir – Formen der indirekten Steuerung in Unter-nehmen (VSA Verlag, 2014).

— Seite 20

TE

RR

AI

NT

ER

RA

IN

TE

RR

AI

N

agora 42

8

DIE AUTOREN

Page 7: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

In der gegenwärtigen Angestelltenwelt hat der Melancholiker kei-nen guten Stand: Ihm bleiben nur Rückzug, Zwangsbeurlaubung und Stimmungsaufheller. Dabei hat die Melancholie das Poten-zial, die Welt zu verändern.

Text: Tomo Mirko Pavlovic

Melancholie und

Widerstand

TE

RR

AI

N

agora 42 agora 42

9 9

Page 8: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Selbstbestimmtes Arbeiten ist gut, aber dann muss man auch wirklich selbst bestimmen. Allzu oft bedeutet selbstbestimmtes Arbeiten heute lediglich selbstvergessenes Arbeiten. Verbirgt sich also hinter der von den Unternehmen geforderten Selbstbe-stimmung nicht nur die bessere Nutzbarmachung der Energie der Beschäftigten? Mit anderen Worten: Erfolgt das „Upgrading“ der Menschen bei der Arbeit nicht bloß im Hinblick auf ein Up des Unternehmensgewinns? Nein, denn darin kommt auch eine neue produktive Kraft der Beschäftigten zum Ausdruck, an die sich die Unternehmen anpassen müssen. Machen sich die ar-beitenden Menschen ihre neue produktive Kraft bewusst, stößt die Strategie, Selbstbestimmung zu instrumentalisieren an ihre Grenzen …

Text: Eva Bockenheimer / Stephan Siemens

Was heißt denn hier Selbst-

bestimmung?—

Oder: Denn wir wissen nicht,

was wir tun!

TE

RR

AI

N

agora 42

20

Page 9: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Fragt man, ob die gegenwärtige Si-tuation der Unternehmen eher von „Ups“ oder von „Downs“ gekenn-

zeichnet ist, wird die Mehrheit der Befrag-ten wohl eher von den Downs sprechen – sei es nun, dass sie dabei an die drohende „Rückkehr“ der Finanzkrise denken, die keineswegs überwunden ist, oder aber an die psychische Gesundheit der Mitarbei-ter, die so oft unter Burn-out und anderen psychischen Erschöpfungserscheinungen leiden wie nie zuvor. Häufig wird darüber diskutiert, wie Selbstorganisation, Engagement und Mo-tivation der Beschäftigten gefördert wer-den kann – zum einen, um die Profite zu steigern und dem wirtschaftlichen „Down“ entgegenzuwirken, zum anderen, weil man behauptet, dass dadurch ein Ausbrennen der Mitarbeiter verhindert werden könne. Burn-out, so argumentiert man dann, sei eine Erkrankung, deren Ursache vornehm-lich in mangelnder Selbstbestimmung und zu geringem Handlungsspielraum liegt. Diese Behauptung liest man immer wieder, obwohl sie der unmittelbaren Erfahrung der letzten Jahrzehnte direkt widerspricht: Die Beschäftigten aller Branchen und Ar-beitsbereiche arbeiten seit den 70er-Jahren so selbstbestimmt und selbstorganisiert wie nie zuvor. Doch gerade seitdem das der Fall ist, treten Burn-outs massenhaft auf. Firmen, die persönliches Engagement vorbildlich fördern und die selbstbestimm-tes Arbeiten einfordern, haben keineswegs eine geringere Zahl an Burn-out-Fällen vorzuweisen – oft sogar im Gegenteil. Das gilt auch für jene Firmen, die als Lieb-lingsarbeitgeber geadelt werden. Damit soll kein Plädoyer gegen selbstbestimmtes Arbeiten gehalten werden. Aber offen-sichtlich lohnt es sich, die Entwicklung in der Arbeitsorganisation der letzten fünfzig Jahre genauer zu analysieren.

Beschäftigte als UnternehmerWas heißt eigentlich „selbstbestimmt“? Man könnte sagen: Der Hauptunterschied zu den alten Arbeitsorganisationsformen des Taylorismus beziehungsweise des For-dismus ist der, dass die Beschäftigten im-mer mehr die Funktion des Unternehmers übernehmen – und diese aus Sicht der Unternehmen auch übernehmen sollen. Die Unternehmen passen sich dabei an eine neue produktive Kraft an, welche die Beschäftigten selbst entwickelt haben, und nutzen sie in ihrem Sinne. Diese neu ent-standene Form der Produktivität besteht darin, dass die Beschäftigten die Arbeits-prozesse selbst mitbestimmen wollen. Ers-tens, weil sie selbst meist am besten wissen, wie die Arbeit effektiv organisiert werden kann. Und zweitens, weil sie sich mit dem gesellschaftlichen Sinn ihrer Arbeit aus-einandersetzen wollen. Die Beschäftigten haben also mehr Autonomie in der Arbeit gefordert und die Unternehmen haben schnell begriffen, dass sie die Profite stei-gern können, wenn sie dieser Forderung nachkommen. Sie verknüpfen die Suche der Beschäftigten nach dem gesellschaft-lichen Sinn in der Arbeit unmittelbar mit Strategien, ihren eigenen Profit zu steigern.

Der Flow ist das ZielDie Beschäftigten sollen ihre produktive Kraft entfalten und immer häufiger Un-ternehmerfunktionen übernehmen – aber dass man dies für das Unternehmen nutz-bar machen möchte, soll ihnen keineswegs in vollem Umfang bewusst sein. In dem jüngst mit dem Grimme-Preis ausgezeich-neten Dokumentarfilm Work Hard Play Hard der Kölner Regisseurin Carmen Los-mann wird das von den Architekten eines großen Konzerngebäudes auf den Punkt gebracht: Dort heißt es, der neue Arbeits-palast dürfe „auf keinen Fall ein Ort sein,

TAYLORISMUSMit Taylorismus wird – im Rahmen der industriellen Produktion – eine Methode zur Steigerung der Produktivität be- zeichnet. Diese Steigerung soll erreicht werden, indem man den gesamten Arbeitsprozess in einzelne Arbeitsschrit-te einteilt und diese Schritte dann standardisiert und formalisiert. Die Bezeichnung Taylorismus geht auf den Begründer dieser Methode zurück, den US-Amerikaner Frederick Winslow Taylor (1856–1915). Starken Einfluss hatte Taylor unter anderem auf den amerikanischen Automobilproduzenten Henry Ford (1863–1947), der bei der Fertigung des Ford Modell T auf Fließbandproduktion und extreme Arbeitsteilung setzte. Statt bestimmten erlernbaren Qualifikationen kommt es im Taylorismus vor allem auf die Arbeitsdisziplin an, das heißt auf Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft und auf die Bereitschaft, sich in eine monotone Tätigkeit einzufügen, die sich auf wenige Handgriffe beschränkt.

TE

RR

AI

N

agora 42 Was heißt denn hier Selbstbestimmung?

21

Page 10: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

In seiner 1926 veröffentlichten Studie Die langen Wellen der Konjunktur hat der russische Ökonom Nikolaj Kondratieff (1892–1938) die Preise für Güter und Waren in England, Frank-reich und den USA über einen langen Zeitraum analysiert. Er kam zu dem Ergebnis, dass es in der Wirtschaftsgeschichte nicht nur kurzfristige Zyklen und klare Trends gibt, sondern auch sogenannte Lange Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung, die sich über 40 bis 60 Jahre erstrecken. Doch was ist dran an diesen Langen Wellen und eignen sich diese auch heute noch für Prognosezwecke?

Text: Rainer Metz

Sind wirtschaftliche Ups and Downs vorhersehbar?

— Lange Wellen

wirtschaftlicher Entwicklung

TE

RR

AI

N

agora 42

26

Page 11: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

dominiert, den Kondratieff mit verschiede-nen statistischen Verfahren ausgeschaltet hat und dem er im weiteren Verlauf seiner Analyse keine Beachtung mehr schenkt. Bei diesem Trend handelt es sich um das, was nach der heutigen Auffassung als lang-fristiges Wachstum bezeichnet wird. Dies provoziert die Frage, warum Kondratieff diesen Trend ausschaltet. Darauf gibt es mehrere Antworten. Die wichtigste ist, dass Zyklen durch ein quasi-regelmäßiges Auf und Ab gekennzeichnet sind, was beim Trend nicht der Fall ist. Er folgt über lange Zeit einer bestimmten Richtung, ohne dass man sagen könnte, ob, wann und wohin diese Richtung sich ändert. Damit eignet sich der Trend gerade nicht für Prognosen, welche ja auf das Vorhandensein von Re-gelmäßigkeiten angewiesen sind. Interes-siert man sich also, wie Kondratieff, für die immer gleichbleibenden Entwicklungs-gesetze des Kapitalismus, da sich nur mit diesen die Zukunft voraussagen lässt, muss man die Trendentwicklung ausschalten. Genau dieser Strategie folgen die Anhänger der Theorie Langer Wellen bis heute, wenn sie nach prognostizierbaren Entwicklungs-gesetzen des Kapitalismus suchen. Die Vorstellung, dass man den Trend ausschalten muss, um Lange Wellen als regelmäßiges Auf und Ab der wirtschaftli-chen Entwicklung sichtbar zu machen, hat zu viel Kritik geführt und diese Theorie bis heute diskreditiert. So wird angeführt, dass jeder Versuch, den „unberechenbaren Stö-renfried“ namens Trend aus der (scheinba-ren) Gesetzmäßigkeit der Langen Wellen herauszurechnen, letztendlich willkürlich sei, weil wir über den tatsächlichen Verlauf des Trends und seine Ursachen zu wenig wüssten, um ihn eindeutig bestimmen zu können. Demzufolge wären Lange Wel-len immer nur ein Ergebnis der (falschen) Trendbereinigung. Ein weiterer Aspekt

Die Langen Wellen, von denen im Folgenden die Rede sein wird, werden in Anlehnung an ihren

Entdecker auch Kondratieff-Zyklen ge-nannt. Kondratieff zufolge sind diese Wel-len Ausdruck bestimmter Gesetzmäßigkei-ten im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Dieses System sei durch eine Abfolge von Phasen langfristiger Expansion und De-pression gekennzeichnet, wobei diese Phasen nicht nur regelmäßig aufeinander-folgen, sondern immer auch etwa gleich lange andauern (20 bis 30 Jahre). Es liegt auf der Hand, dass eine solche Vorstellung in vielerlei Hinsicht faszinierend ist. Nicht nur, dass sich damit Wirtschaftsgeschichte wiederholen würde, diese Theorie würde auch genaue Aussagen über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung erlauben, also beispielsweise darüber, wann die nächste Expansion zu erwarten ist oder wie lange eine gegebenenfalls vorherrschende De-pression noch andauern wird. Für Progno-sen ist in der Vergangenheit immer wieder auf die Theorie Langer Wellen zurückge-griffen worden. Jüngstes Beispiel dafür ist eine Studie der Allianz Global Inves-tors vom Juni 2012, die den kommenden Kondratieff-Zyklus voraussagt, der durch „symbiotisches“ Wachstum gekennzeich-net sein soll, das nicht zu Lasten der Natur geht. Vor dem Hintergrund dieser aktuel-len Diskussion scheint es angebracht, sich etwas genauer mit der Datengrundlage und der Theorie Langer Wellen auseinan-derzusetzen.

Die Berechnung der Langen WellenZunächst ist anzumerken, dass Kondratieff die von ihm behaupteten Langen Wellen nur bei Preisentwicklungen unmittelbar beobachten konnte, nicht jedoch bei den Entwicklungen von Produktion und Kon-sum, da bei diesen ein langfristiger Trend

TE

RR

AI

N

agora 42 Sind wirtschaftliche Ups and Downs vorhersehbar?

27

Page 12: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Als Max Weber 1917 in der Münchener Buchhandlung Steinicke seinen berühmten Vortrag „Wissenschaft als Beruf “ hielt, endete er mit einer nietzscheanisch anmutenden Empfehlung für die dort größtenteils anwesenden jungen Studenten: Jeder müsse den

„Dämon“ finden, so die pathetischen Schlussworte, „der seines Lebens Fäden hält“. In dieser kurzen Formel steckt ein Programm zur Persönlichkeitsentwicklung und es scheint aktueller denn je. Vielleicht allerdings in anderer Hinsicht, als es der Zeitgeist heute vorsieht: Es geht um das prekäre Verhältnis von Erfolg und Schei-tern im Kapitalismus der Gegenwart.

Text: Ralf M. Damitz

Gefährliche Liebschaften

— Selbstverwirklichung

als Social Fracking

TE

RR

AI

N

agora 42 agora 42

31

Page 13: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

sein“, resümiert Weber lakonisch, „wir müssen es“. Dass eine solche Fokussierung auf das Berufsleben von Erfolg gekrönt ge-lingen könne, war alles andere als gewiss. Webers Pessimismus diesbezüglich war legendär. Die Gesellschaft wurde von ihm als „Gehäuse der Hörigkeit“, der moderne Kapitalismus als „schicksalsvollste Macht“ begriffen. Versenkung in die Berufsarbeit war weniger Selbstverwirklichung denn Selbstbehauptung. Behauptung dagegen, dass das moderne Individuum die wenigen Spielräume der freien Lebensgestaltung im bürokratisch-kapitalistischen Alltag nicht auch noch einbüße. Die Quintessenz der Auffassung Webers war, dass man solche Konstellationen „aushalten“ können müs-se. Dies entgegen allen Widrigkeiten zu versuchen, zeugte von einem Rest bürger-lichen Heroismus.

Siegeszug und Krise des KapitalismusMachen wir einen Zeitsprung. Das 20. Jahrhundert war erst kriegerisch und tur-bulent, später stand politische, ökono-mische und soziale Entwicklung auf dem Programm. Als es sich dem Ende zuneig-te, blieb der Kapitalismus als Sieger übrig, weltumspannend und alternativlos. Seine Verheißungen allerdings, Demokratie und Wohlstand (vielleicht sogar für alle) zu bringen, haben sich in der Zwischenzeit ebenso aufgelöst wie der einstige System-konkurrent. Wir leben heute in einer von grenzüberschreitenden Kapital-, Waren-, Daten- und Menschenströmen vorange-triebenen (Welt-)Gesellschaft. An interna-tionale Konkurrenz haben wir uns genau-so gewöhnen müssen wie an die Erosion des Wohlfahrtsstaats. Die Erwerbsarbeit

Zunächst ein kurzer Rückblick. Sei-nen „Dämon“ zu finden, das zielte für Weber auf existenzielle Fragen

in turbulenten Zeiten; darauf, wie und wonach man leben solle und was man als Person darstelle. Traditionell war es Sache theologischer Systeme gewesen, solche Fragen zu beantworten. In der modernen Welt ist Weber zufolge allerdings kein Platz mehr für religiöse Letztbegründun-gen. Obwohl Weber seine Zeit dadurch geprägt sah, dass „die alten Götter“ nach wie vor präsent waren, dass allerlei Pro-phetien und Ideologien ihren Kampf um die Köpfe der Menschen führten, war für ihn gleichermaßen klar, dass vom ange-brochenen 20. Jahrhundert eine Absage an religiöse Heilsversprechen zu erwarten ist. Kein Prophet, ganz gleich, ob theologi-scher oder politischer Herkunft, könne auf Fragen der Lebensgestaltung abschließend antworten. Der moderne Kapitalismus, so Webers These in seinem Buch Die protes-tantische Ethik und der Geist des Ka-pitalismus, habe religiösen Vorstellungen der Lebensführung ihre Wurzeln genom-men und sie dadurch vollends in die Tri-vialität der bürokratisch und kapitalistisch organisierten Sozialwelt entlassen: Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem individu-ellen Heil oder der eigenen Identität könne der moderne Mensch nur sich selbst beant-worten, am besten durch rastlose Versen-kung in die Berufsarbeit. Indem man der „Forderung des Tages“ gerecht werde, sich aufs Hier und Jetzt beschränke, könne man es „beruflich oder menschlich“ zu An-sehen und Erfolg bringen. Zwar gehe auf diese Weise die entscheidende Sinnquelle verloren, nicht jedoch der Modus Operan-di. „Der Puritaner wollte Berufsmensch

DIE PROTESTANTISCHE ETHIK In seinem Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus untersucht der Soziologe Max Weber (1864–1920) die religiös-kulturellen Grundlagen des okzidentalen Kapitalismus. Auf Grundlage der calvinistischen Gnadenlehre, nach der die allumfassende, übermächtige Gewalt Gottes die Menschen entweder zu ewigem Tod oder ewiger Seligkeit bestimmt, entstehe das protestantische Arbeitsethos: Die Menschen sehen sich in der Pflicht, durch rastlose Arbeit alle Zweifel an der eigenen göttlichen Erwähltheit zu vertreiben und dementsprechend ihre gesamte Lebensführung dem Erfolg unterzuordnen.

Das Ideal der Selbstverwirklichung ist heute zur sozialen Norm geworden – du musst dich selbst verwirklichen!

TE

RR

AI

N

agora 42 Ralf M. Damitz

32

Page 14: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Portrait

Die Höhen und Tiefen des Bertolt Brecht

In seinen 58 Lebensjahren erlebte er vier politische Systeme auf deutschem Boden: das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das nationalsozialistische und das DDR-Regime. Dabei konnte er einen wesentlichen Teil seines Schriftstellerdaseins nicht in Deutschland verbringen, weil er vor den Nationalsozialisten auf der Flucht war, gezwungen, in Ländern zu leben und zu arbeiten, in denen seine Währung – die deutsche Sprache – nichts galt. Von den Ups and Downs eines Mannes, der als Lyriker und Stückeschreiber gefeiert und als Kommunist und Chauvinist verschrien war: Bertolt Brecht.

»So verging meine Zeit / Die auf Erden mir gegeben war.«

Bertolt Brecht

Text: Ana Kugli

TE

RR

AI

N

agora 42

36

Page 15: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

TE

RR

AI

N

37

Page 16: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

IN

TE

RV

IE

W

46

Page 17: agora42 1/2015: UPS & DOWNS
Page 18: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

„Es gibt keine

Schonzeit mehr“

–Interview mit

Margot KäßmannI

NT

ER

VI

EW

agora 42

48

Page 19: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

In Europa herrscht Frieden, das Wohlstandsniveau ist hoch, körperliche Schwerstarbeit wird den Wenigsten abverlangt. Dennoch klagen immer mehr Menschen über Leistungsdruck, Stress und Burn-out. Wie kommt das?

Den Menschen wird suggeriert, dass sie noch mehr haben, noch effektiver arbeiten und rund um die Uhr an jedem Ort erreichbar sein müssen. Da kann keine Zufriedenheit entstehen.

Warum wehrt sich niemand dagegen?Zumindest die junge Generation wehrt sich schon dagegen. Der Shell Jugendstudie zu-folge standen vor 15 Jahren noch das eigene Auto und ein hohes Einkommen in der Werteskala ganz oben. Heute hingegen führen Werte wie Beziehungen und die Familie die Liste an. Die Frage nach der Lebensqualität gewinnt enorm an Bedeutung. In meiner Generation stand der Beruf im Zentrum. Für viele Jüngere spielt er längst nicht mehr diese Rolle. Wenn die ihre Eltern sehen, die immer nur schuften, bis schließlich auf dem Grabstein steht „Müh und Arbeit war dein Leben, Ruhe hat dir Gott gegeben“, dann ha-ben die dafür kein Verständnis.

Viele aus der älteren Generation sehen sehr wohl die Widersprüche und Probleme, in die sie sich hineinnavigiert haben. Weil sie dennoch ihr Leben nicht ändern, werden sie von den Jungen angeprangert. Im Gleich-nis vom verlorenen Sohn wird dieser mit offenen Armen empfangen, obwohl er viel falsch gemacht hat. Gibt es heute keine offenen Arme für die ältere Generation?

Als Theologin würde ich sagen, die offenen Arme sind der Glaube. Martin Luthers Ent-deckung war eine Entdeckung der Freiheit. Du bist frei, deinem Leben Sinn zuzugeste-hen, auch wenn du vieles falsch gemacht hast und wenn du selbstkritisch auf dein Leben zurückblickst. Aber dafür solltest du dir Zeit nehmen. In jedem dritten Vortrag sage ich deshalb: „Jetzt haltet mal an und überlegt!“ Ich denke, manche trauen sich nicht anzuhal-ten, weil sie dann merken würden, mit welchem Tempo sie gelebt haben. Es genügt uns ja schon nicht mehr, schnell zu leben, wir müssen auch noch schnell und effektiv sterben. Die dramatische Zunahme der Burn-out-Fälle zeigt, dass kein Gleichgewicht zwischen Schaffen und Ruhen mehr vorhanden ist. Ich habe einmal ein Seminar für Manager mit-gestaltet, die für zwei Tage ihr Handy abgeben sollten. Das ging gar nicht, die zitterten geradezu.

Aber wer sagt denn, dass Menschen sich wohlfühlen oder sinnerfüllt leben sollen? Entscheidend ist doch, dass man im Wettbewerb besteht …

Die Dominanz des Ökonomischen zerstört in der Tat viel in der zwischenmenschlichen Beziehung. Sie verhindert darüber hinaus, dass es zu Kritik am Führungsstil in Unterneh-men kommt. Am Ende heißt es: Hauptsache, die Zahlen stimmen.

Fotos: Janusch Tschech

Margot KäßmannMargot Käßmann wurde 1958 in Marburg/Lahn geboren. Sie studierte 1977 bis 1983 Theologie in Tübingen, Edinburgh, Göttingen und Marburg. 1985 wurde sie zur Pfarrerin ordiniert und war von 1985 bis 1990 Gemeindepfarrerin in Frielendorf. Sie promovierte 1989 mit einer Dissertation über „Armut und Reichtum als Anfrage an die Einheit der Kirche“. Von 1990 bis 1992 war sie Beauftragte für den Kirchlichen Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck, 1992 bis 1994 Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Hofgeismar und 1994 bis 1999 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Fulda. 1999 wurde sie zur Bischöfin der Landeskirche Hannovers gewählt. 2009 erfolgte die Wahl zur Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Beide Ämter hatte sie bis zu ihrem Rücktritt im Jahr 2010 inne. Seit April 2012 ist sie Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum 2017. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Töchtern.Zuletzt erschien von ihr das Buch Das Zeitliche segnen. Voller Hoffnung leben – in Frieden sterben (adeo Verlag, 2014).

IN

TE

RV

IE

W

49

agora 42Margot Käßmann

Page 20: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen?

Page 21: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen? HH O R I Z O N T

Page 22: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

HO

RI

ZO

NT

60

Page 23: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Risiko Ratingagentur

–Warum die Welt

neue Ratingagenturen braucht

Seit dem Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise gibt es kaum einen Bereich der Finanzindustrie, der nicht von weitreichenden Reformen verschont geblieben ist. Doch so sehr sich die Politik auf beiden Seiten des Atlantiks auf die Konsoli-dierung des Bankensektors gestürzt hat, so wenig hat sie sich um eine grundlegende Reform des Ratingagentursektors geküm-mert. Diese ist jedoch unabdingbar.

Fast ist in Vergessenheit geraten, wie sehr sich die Europäer Ende 2011 über die drastische und überraschende Herabstufung der Euro-Krisenländer, allen voran Griechenland und Spanien, durch die Ratin-gagenturen brüskiert haben. Schnell wurde damals der Ruf nach dem Aufbau einer europäischen Ratingagentur laut, um den sogenannten

Text: Annette Heuser

HO

RI

ZO

NT

agora 42Risiko Ratingagentur

61

Page 24: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Das Konzept

der Liebe

—Eine Vision der

Gesellschaft von morgen

HO

RI

ZO

NT

68

Page 25: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Das Konzept

der Liebe

—Eine Vision der

Gesellschaft von morgenText: Pablo Pineda Ferrer

HO

RI

ZO

NT

69

Page 26: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

HO

RI

ZO

NT

agora 42

72

MARKTPLATZ

Page 27: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Jubiläumsfeier agora42

Fünf Jahre philosophisches

Wirtschaftsmagazin, fünf Jahre Rock’n’Roll

Rock ’n’ Roll war immer mehr als ein Musikstil. Als er seinen Sieges-zug antrat, hielten ihn die Konservativen wohl für eine noch größere Bedrohung ihrer Lebenswelt als die atomare Bewaffnung der Sow-jetunion. Gleichzeitig wurde anhand des Rock ’n’ Roll offensichtlich, dass das Überwinden verkrusteter gesellschaftlicher Strukturen nicht in einer Katastrophe enden muss, sondern auch einen Ausbruch an Lebensfreude zur Folge haben kann. Rock ’n’ Roll stand für etwas ganz Neues, das die alte Lebenswirklichkeit infrage stellte. Ganz neu war vor fünf Jahren auch ein Magazin, in dem Ökonomie und Philo-sophie zusammengedacht wurden. Klar, dass es dabei auch darum ging, die eingefahrenen Denkgewohnheiten einer durchökonomi-sierten Gesellschaft zu hinterfragen. Ökonomie ohne Philosophie, das ist seitdem wie Rock ’n’ Roll ohne Gitarre, Schlagzeug und Ver-stärker. Aber vielleicht ist der Bezug der agora42 zum Rock ’n’ Roll auch viel trivialer: Im Stuttgarter Westen liegt gegenüber des Postamts, wo wir mehrmals die Woche vorbeischauen, die Rock Star Photo Gallery. Immer wenn die Sonne scheint, steht vor dieser Galerie eine weiße Bank, auf der Duncan Smith, der Besitzer, mit einer selbstgedreh-ten Zigarette Platz genommen hat und den Jazz-Klängen lauscht, mit denen er die Straßenkreuzung vor seiner Galerie beschallt. Man fühlt sich auf diesem Platz mitten in Stuttgart fast wie im eigenen Wohnzimmer. Ungelogen, es gibt keinen besseren Ort für ein gu-tes Gespräch als auf der weißen Bank von Duncan Smith – immer wenn die Sonne scheint. Und weil wir auf dieser Bank schon einige gute Gespräche mit ihm führen durften, lud er uns ein, die Release-partys der letzten vier Ausgaben der agora42 unter den Augen der Rolling Stones, der Beatles und von Jimi Hendrix, Lemmy Kilmister, Johnny Cash zu feiern. Da wir immer Brot, Butter und Bier servierten, nannten wir diese Releasepartys kurzerhand „Bread, Butter & Beer in Hegel-City“. Mit der vergangenen Ausgabe (DAS NEUE) feierten wir unser fünfjähriges Jubiläum und legten noch einen drauf. Nicht nur, dass dieses Mal auch Lenny Kravitz mit von der Partie war und wir die Feier in „Bread, Butter and Champagne“ umbenannten, nein, dieses

Fotos: Janusch Tschech

HO

RI

ZO

NT

HO

RI

ZO

NT

agora 42

73

Page 28: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

Illustrationen: Carlos García-Sanchodedesign.tumblr.com

HO

RI

ZO

NT

FRISCHLUFT agora 42

82

Hier werden Forschungsergebnisse präsentiert, die neue Denkräume eröffnen.Stellen Sie Ihre Arbeit bei uns vor: [email protected]

Page 29: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

P R E E N A C T I O N —

G e s e l l s c h a f t s s p i e l e m i t Z u k u n f t

HO

RI

ZO

NT

agora 42

83

Page 30: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

G R U N D S Ä T Z L I C H E S

—Wissenschaft, wie sie heute verstanden wird, hat ein grundsätzliches Problem: Sie kann kaum Impulse setzen, die über das bereits Bekannte hinausgehen. Dass dem so ist, liegt vor allem an dem verfügba-ren Datenmaterial. Schließlich gilt nur jene Erkennt- nis als wissenschaftlich, die sich auf die Analyse von etwas Beobachtbarem stützen kann. Prognosen auf Grundlage beobachtbarer Daten liefern jedoch meist nur eine Fortführung bestehender Denk- und Handlungsmuster. Was aber, wenn man etwas beobachtbar machen könnte, was so in der realen Welt (noch) nicht existiert? Wenn man Denk- und Handlungs-muster zum Vorschein bringen könnte, die mit den gängigen Routinen brechen? Dann könnte dieses Datenmaterial hilfreich für die Entwicklung von Strategien sein, um bereits heute mit zukünftigen Herausforderungen flexibler, souveräner und auch kritischer umzugehen. Bleibt nur noch zu klären, wie man solch ein zukunftsweisendes Datenmateri-al generieren könnte. Die Antwort von Preenaction lautet: Indem man Menschen spielen lässt – und zwar auf Grundlage von Was-wäre-wenn-Szenarien. Wissenschaftlich ausgewertet werden dann Erzäh-lungen, die entstehen, wenn die Spieler ihre Spiel-züge diskutieren und bewerten. In ihren Erzählun-gen denken sie spontan den Verlauf des Spiel- szenarios weiter – aus ihrer jeweiligen Rollenpers-pektive heraus und unter Berücksichtigung der Spielbedingungen. Diese spekulativen, kollaborativ erzeugten Erzählungen werden von den Forschern aufgezeichnet und auf ihre Relevanz hinsichtlich gegenwärtiger und zukünftiger Handlungsstrategi-en untersucht.

FragestellungKann man sich auf mögliche zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen heute schon einstellen?

IdeeMan lässt Menschen Brettspiele spielen, die auf fiktiven Zukunftsszenarien beru-hen und deren Regeln sie selbst wäh-rend des Spielens bestimmen müssen.

DatenerhebungDer Spielverlauf, die Erzählungen und Diskussionen der Spieler werden aufge-zeichnet und bilden die Grundlage für eine wissenschaftliche Auseinanderset-zung mit ihren Denk- und Handlungs-mustern.

Preenaction …setzt sich zusammen aus pre (vorn, vorzeitig) + enact (darstellen, spielen, in Kraft setzen) + action (Handlung, Bewegung, Aktion).

HO

RI

ZO

NT

Frischluft agora 42

84

Page 31: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

D A S S P I E L P R I N Z I P

—Im Grunde sind Preenaction-Spiele klassischen Gesellschaftsspielen nachempfunden: Spieler laufen mit Spielfiguren über ein Spielbrett, spie-len Karten aus und versuchen, mit möglichst vielen Punkten ins Ziel zu kommen. Dabei müssen die Spieler unterschiedliche Rollen annehmen, im Wettstreit miteinander bestehen, mit Ressourcen haushalten, Regeln befolgen und auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren. Was Preenac-tion von klassischen Gesellschafts-spielen unterscheidet, ist die Tatsa-che, dass die Spieler in Kooperation treten müssen sowie die Inhalte von Karten selbst gestalten, oder Regeln anpassen können und sollen. Anstatt fertige Spielentwürfe einfach nachzu-spielen, wird das Spielsystem erst durch die jeweilige gemeinsame Spielweise vervollständigt.

Preenaction Spiele zeichnen sich durch drei Phasen aus:

E N T S T E H U N G

Die Methode Preenaction – eine Kom-bination aus qualitativer Sozialfor-schung, Experimentaltechniken und Ansätzen des Spieldesigns – wurde ursprünglich 2012 von Daniela Kuka und Klaus Gasteier im Rahmen von unterschiedlichen Forschungsprojek-ten an der UdK Berlin im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommu-nikation entwickelt. Am Anfang standen zwei Feststel-lungen: Erstens, dass unsere Gesell-schaft vielfältige Wandlungsprozesse durchläuft, die immer schneller ablau-fen und deswegen im Alltag kaum bewusst reflektieren werden können. Zweitens, dass es an einer geeignete Methode fehlt, mögliche Zukunftssze-narien aus einem anderen Blickwinkel als dem der Gegenwart zu denken – und es folglich auch keine Möglichkei-ten gibt, alternative Zukunftsszenarien aktiv mitzugestalten. Als Resultat die-ser Überlegungen wurde Anfang 2014 zusammen mit Christian Blümelhuber das pre6lab gegründet, in dem die Methode Preenaction weiterentwi-ckelt und angewendet wird.

1. Übersetzung

Jedes Spiel ist einem realen gesell-schaftlichen Teilbereich wie beispiels-weise einer Familie, einer Stadt, einem Unternehmen, einer Partei etc. nach-empfunden. Dieser wird in eine Spiel-form übersetzt, welche die jeweils typischen kulturellen und sozialen Praktiken in den Mittelpunkt rückt (einen Vertrag schließen, etwas ver-schenken, Pause machen, gemeinsam zu Abend essen etc.). Auf diese Weise wird die Komplexität sozialer Phäno-mene reduziert und man kann zu ihrer Essenz vordringen.

2. Störung

Die Spieler müssen sich in das jeweili-ge Setting und ihre jeweilige Rolle hineinversetzen und in Interaktion mit anderen auf verschiedene Ereignisse im Spielverlauf reagieren. Dabei han-delt es sich zum Beispiel um Verlo-ckungen oder Konflikte – um Ereignis-se also, welche die vertraute Wirklich- keitsordnung ins Wanken bringen. Um einen Umgang mit dem störenden Ereignis zu finden, sind die Spieler gezwungen, sich auf Neues einlassen und anders zu denken. Im besten Fall durchbrechen die Spieler ihre alltägli-chen Routinen und lassen ihrer Fanta-sie freien Lauf.

3. Serialität

Auch wenn die einzelnen Ergebnisse dieses „Rumspinnens“ völlig unrealis-tisch sein mögen, so können gerade die Schnittmengen aus ihnen – die signifikanten Ähnlichkeiten und Unter-schiede – Ansätze für alternative Arten des Denkens und Handelns und somit Gestaltungsoptionen für die Zukunft liefern. Besonders interessant wird es, wenn man sich nicht nur das Daten-material der einzelnen Spielrunden anschaut, sondern eine Serie von Spielen vergleicht. Sie besteht aus mindestens drei Spielen, die dersel-ben Zielsetzung folgen, aber variierten fiktionalen Bedingungen unterliegen.

HO

RI

ZO

NT

agora 42

85

Page 32: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

HO

RI

ZO

NT

agora 42

96

GEDANKENSPIELE

Page 33: agora42 1/2015: UPS & DOWNS

zweite Rückrufaktion innerhalb von drei Monaten. Es mehren sich die Anzeichen, dass eine komplette Baureihe depressive Tendenzen im Braincode aufweist. Wir tracken ja von jedem einzelnen Roboter die neuronalen Aktivitäten und Gedan-ken. Und es zeigen sich plötzlich ganz neue Muster. Wir haben Roboter, die sich langweilen. Die ihnen zugedachten Auf-gaben ignorieren sie jedoch. Das passt doch nicht zusammen! Wir werten auch die Träume der Roboter aus und sind da-bei ebenfalls auf neue Muster gestoßen, die wir uns nicht erklären konnten. Die Roboter träumen von seltsam proportio-nierten Körpern und Formen, für die es überhaupt keinen Erfahrungshintergrund gibt. Von illegalen Partys, der Teilnahme an Cage-Fights und Triathlons. Ein Robo-ter träumt davon, ein Tattoostudio zu er-öffnen, ein anderer von einer Elefanten-zucht. Wir können uns das nicht erklären und wissen auch nicht, wohin das führen soll. Vorsorglich werden wir wahrschein-lich erst einmal jene Roboter zurückrufen, die ein Update verweigern. Für die ande-ren werden wir versuchen, irgendetwas Stimmungsaufhellendes zu programmie-ren. Vielleicht sollten wir dabei die Kon-stellation der Sterne und Planeten einmal konsequent berücksichtigen. Was näm-lich auffällig ist: Bei der problematischen Roboter-Baureihe handelt es sich wieder um eine Serie, die im Dezember auf den Markt gekommen ist. Wer weiß, vielleicht ist es am Ende doch eine Frage der Ster-ne und der Astrologie. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß. Versprochen! ■

24.01.2051Liebes Tagebuch,

du hast sicher schon bemerkt, dass ich niedergeschlagen bin. Lin meldet sich nicht, dabei war unser Date doch so wunderbar. Ich habe schon eine Detektei eingeschaltet und seit gestern wird sie von einer Hundertschaft Drohnen, Bots und so ziemlich allen Kameras in der Stadt gesucht. Aber sie hat wahrschein-lich schon wieder ihren Körper und ihre Identität verändert. Es ist zwecklos. Was mache ich jetzt nur? Ich könnte natürlich einfach meine Erinnerungen an sie über-schreiben und einen kleinen Hormon-cocktail zu mir nehmen. Aber irgendwie fühle ich mich in meiner Melancholie auch ganz wohl. Irgendwie authentisch. Lebendig. Ich habe sogar schon über-legt, ob ich meine bewussten und unbe-wussten Erinnerungen an Lin und meine Bilder von ihr ausspeichere und eine digi-tale 3D-Simulation von ihr einrichte, nur um mich noch ein wenig mit ihr zu unter-halten. Das machen ja viele Leute, wenn Verwandte oder ihnen nahestehende Personen versterben. Wenn ich das jetzt bei Lin machen würde, wäre das natürlich eine Raubkopie, weil ich keinerlei Rechte an ihrer Identität habe. Aber wer merkt das schon? Ich könnte auch noch weiter gehen und die digitale Simulation auf einen humanoiden Roboter aus unse-rer Manufaktur übertragen. Verbessern würde das natürlich nichts. Im Gegenteil: Wenn die Simulation gut wäre, würde die humanoide Lin dann nicht genauso ver-schwinden wie die echte? Auch in der Manufaktur haben wir ge-rade große Probleme. Unter Umständen müssen wir demnächst wieder eine ganze Roboterserie zurückrufen. Das wäre die Kai Jannek, Director Foresight Consulting bei Z_punkt

HO

RI

ZO

NT

agora 42Gedankenspiele

97