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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007

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J. S. Bach: Johannes- Passion

Eine musikalische Analyse

Dipl. mus. Frank Laffin

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Einheit I:

Die Entstehung der Johannes- Passion und ihre

musikalischen Vorgänger

1. Die „musikalische“ Passion in der Geschichte

Passion (lat. passio, Leiden, Erdulden, Schwäche) ist „der Bericht vom Leiden und

Sterben Jesu, wie ihn die Evangelisten Matthäus (26, 27), Markus (14, 15), Lukas (22,

23) und Johannes (18, 19) in unterschiedlicher Redaktion übermitteln. Die Passion bildet

einen zentralen Text für die Heilsgeschichte: Im Sühneopfer am Kreuz, das in den

Einsetzungsworten beim Abendmahl angekündigt wird, erfüllt der Messias seine göttliche

Mission für das Heil der Menschen und offenbart sich als Gottes Sohn.“

(aus: MGG, S. 1453)

1.1. Die einstimmige Passion

Die Lesung der Passion im Rahmen der Karwochenliturgie diente in der Frühzeit des

Christentums der geistlichen Belehrung. Vereinzelt gibt es Hinweise auf eine bevorzugte

und hervorgehobene Ausführung der Passionstexte im Vergleich zu andern

Evangelientexten. Augustinus spricht von einer „feierlichen Lesung“ („solemniter legitur

passio, solemniter celebratur“). In dieser Zeit der Kirchenväter haben

Passionserzählungen wie bildliche P. Darstellungen (Bildbeispiel „Deesis“, Ende 12. Jh.)

überwiegend erzählenden Charakter. Die Passionsfrömmigkeit der Bettelorden im 13. Jh.

Trägt bereits mystische Züge (vorbereitet durch Bernhard von Clairvaux und begünstigt

durch ein Interesse an Heiligen Stätten, wo das Schicksal des leidenden und sterbenden

Christus nachempfunden wurde), in der gotischen Bildkunst wird der „Schmerzensmann“

dargestellt (Bildbeispiel „Schmerzensmann“, Elsass 1450), der zur compassio, d.h. zum

Mitleiden und zur imitatio christi (Nachfolge) auffordert.

Zahlreiche volkssprachliche Übersetzungen und Nachdichtungen der Passion in Versen

wie in Prosa leiten zu den Passionsspielen über, die in ihrer aufwändigen Gestaltung den

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Bildern in zeitgenössischen Büchern vergleichbar werden (Bildbeispiel „Buchillustration

Lukas“, England ca. 1415). In Zusammenhang mit der bildhaften Ausgestaltung des

Passionsgeschehens ist zu sehen, dass im Laufe des 15. Jh. die Zahl der ausführenden

Personen zunimmt, war der Vortrag der Passionsgeschichte bislang nur einem Kantor

(Sänger) vorbehalten. Dieser trug den Text (z.B. das Johannes- Evangelium nach Papst

Leo I. (440-461) stets am Karfreitag, ebenso in evangelischer Tradition) aus einer

Handschrift, einem Pracht Codex oder dem eigens für ihn bestimmten Cantorinum vor.

Der Vortrag unterliegt den Regeln eines so genannten Rezitationstons (genannt Tenor).

Die frühesten Zeugnisse aus dem 12. Jh. belegen eine melodische Abstufung im Vortrag,

oder anders ausgedrückt: einen wechselnden Tenor. Hierbei wird zwischen den

auftretenden Figuren der Passionsgeschichte unterschieden. Es gibt eine mittlere

Tonhöhe für die Narratio (die Erzählung), eine tiefere Tonlage für die Worte Christi und

eine höhere Tonlage für die Worte der anderen Charaktere (Judas, Petrus, Pilatus, die so

genannten Soliloquenten und die Volksmenge, die so genannten Turbae). (→ Corbie-

Handschrift, Laaber)1

Es liegt nun nahe, die Unterscheidung der Rezitationstöne auf mehrere Vortragende

aufzuteilen. Die Bestrebung dafür ist, einerseits den Evangelistentext einheitlich zu

rezitieren, andrerseits die Jesus- Worte hervorzuheben, so dass sich mit den übrigen

Textabschnitten insgesamt drei vorherrschende Rezitationsebenen ergeben.

Den Vortragenden wurden nun „Vortragshilfen“ an die Hand gegeben, so genannte

litterae, also Buchstabenkürzel. Dies sind sowohl (relativ zu verstehende)

Tonhöhenangaben (wie m = mediocriter, in mittlerer Lage; i = iusum, in tiefer Lage; a =

altius, in höherer Lage, usw.) als auch Ausdrucksbezeichnungen (wie c = celeriter,

schnell; t = tenere, langsam und verhalten; f = fortiter, kräftig, usw.). Häufig überlieferte

litterae verteilt auf die unterschiedlichen Partien der Passion siehe Beispiel aus MGG. Es

zeigt sich, dass die meisten Buchstaben den Jesus- Worten zugeordnet sind, deren Inhalt

und Ausdruck einprägsam mit gesenkter Stimme und zurückgenommenem Vortrag

dargestellt werden. Als übliche Rezitationstöne haben sich die so genannten „römischen

Rezitationstöne“ durchgesetzt (Jesus f, Narratio c´, Turbae f´). Nachdem ursprünglich der

Vortrag der Passion einem Diakon zugewiesen war, erfolgt nun die Aufteilung auf drei

1 G. Massenkeil: Oratorium und Passion Bd. 1, Laaber 1998

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Diakone, von denen der zentral stehende die Rolle der Jesus- Worte übernahm. Als

weiterer Schritt zur Verlebendigung des Vortrags werden in einzelnen Fällen mehrere

Sänger zum (nach wie vor einstimmigen) Vortrag der Turbae (des Volkes)

hinzugenommen, eine entsprechende Vorschrift findet sich bereits in einer Handschrift

von 1348 aus Polen).

1.2. Die mehrstimmige Passion

Terminologie

Otto Kade (1893):

● „dramatische Passion“ = nur die direkten Reden werden mehrstimmig vertont v.a. die

Turbae; auch „Choralpassion“ (oder „responsoriale Passion“ = ebenfalls nur die Turbae

sind mehrstimmig)

● „motettische Passion“ (folgt der Gattung der Motette) = auch die erzählenden

Passagen werden polyphon gesetzt; auch „Figuralpassion“ (oder „durchkomponierte

Passion“)

● „Passionsharmonie“ = Zusammenstellung von Texten aus mehreren Evangelien

● „oratorische oder konzertante Passion“ = mit neu komponierten Erzählerpassagen,

die sich nicht länger am Rezitationston orientieren; der Oper und dem Oratorium folgend;

ebenso Hinzunahme von Neudichtungen (Arien und Ariosi) und instrumentalen Vor- und

Zwischenspielen.

Die Anfänge der Mehrstimmigkeit und die katholische Passion

Mit der Aufteilung der Passionserzählung auf mehrere Sänger ergab sich zumindest

theoretisch die Möglichkeit eines mehrstimmigen Gesangs. Die früheste Form der

Mehrstimmigkeit ist vermutlich eine improvisierte Mehrstimmigkeit einfachster Art unter

Berücksichtigung des Quint – Quart – Abstandes der drei verschiedenen Rezitationstöne

(f - c´ - f´). Als Beispiel dafür gilt der um 1450 geschriebene Traktat aus der Pfarrkirche in

Füssen (siehe Bild und Notenbeispiel). Es gibt folgende Beschreibung der Vortragsweise:

„Wenn es zu dem fürchterlichen, lärmenden Ansturm und Tumult der Juden kommt, dann

muss man gemeinsam fortfahren.“ Beachtenswert ist der Umstand, dass die

Mehrstimmigkeit offenbar ausschließlich den Reden der Juden vorbehalten war. Die

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Wissenschaft geht deshalb von einer direkten Verbindung mit den damaligen

Judenverfolgungen aus. Weitere Zeugnisse früher notierter Mehrstimmigkeit fehlen.

Das am meisten verbreitete Stück unter den frühen Passionen ist die „Passionsmotette“

des Antoine de Langueval (um 1507), der Textzusammenstellung nach aus allen vier

Evangelien und durchweg mehrstimmig (zwei- bis vierstimmig) komponiert. Allerdings

bleibt der liturgische Passionston durchweg in einer der vier Stimmen erkennbar. Die

Turbae sind meist vierstimmig, die Solistenpartien (einschließlich der Jesus- Worte)

gewöhnlich zweistimmig.

Zum Vergleich: Johannes- Passion von Balthasar Resinarius Harzer (1543), ebenfalls ein

fest an den Lektionston gebundenes, ausgesprochen frühes Werk. Es ist eine „summa

passiones“, d.h. eine Passion in Kurzform, die nur die wichtigsten Stellen behandelt.

Notenbeispiel (secunda pars):

T. 1-10: Polyphoner Beginn der Narratio in allen Stimmen, erkennbar die natürliche

Mehrstimmigkeit der Rezitationstöne f und c.

T. 10-17: Homophoner Einschub beim Text „sie nahmen Jesus fest“; erste musikalische

Tonmalerei bei den Worten „zu Hannas“ (T. 15); gegenläufige Viertelbewegung.

T. 18-28: Dreistimmige Erzählung des Geschehens vor dem Hohenpriester; deutlich

erkennbar der Rezitationston c der Narratio im Bass.

T. 29-30: Ausdünnung des Satzes als Überleitung zur zweistimmigen Rede von Jesus

T. 31-59: Rede Jesu auf den Rezitationston f; beachte: der Bass ist die eigentlich wichtige

Stimme, auch wenn der Alt „solistischer“ erscheint.

(→ gemeinsam musizieren)

Bedeutende Werke der liturgischen mehrstimmigen Passion in den katholischen Gebieten

des 16. und 17 Jh. sind die Passion Alessandro Scarlattis (Italien um 1680) und die vier

Passionen Orlando di Lassos (München um 1580). Bemerkenswert bei Scarlattis Passion

ist die Besetzung (2 Vl., Va. und Bc), sowie die große Geschlossenheit des Werkes durch

einen einheitlichen Beginn und Schluss. Beide Teile (Exordium und Conclusio) stehen in

derselben Tonart und sind mit Largo überschrieben (siehe Notenbeispiel und Faksimile,

evtl. musizieren T. 1-28), eine Station auf dem Weg zur auskomponierten und

instrumental begleiteten Passion. Orlando di Lasso komponierte ganze vier Passionen,

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die bis weit ins 18. Jh. tradiert wurden. Seine Johannes- Passion ist ein streng

liturgisches Werk, das über weite Strecken den choralen Passions- oder Rezitationston

beibehält. Auch hier werden wörtliche Reden meist als Duo komponiert (siehe

Notenbeispiel und Faksimile XXVII; Nr.1 und 3-6; evtl. musizieren).

Die protestantische Passion

Die Anfänge der protestantischen Passion sind gleichbedeutend mit den Anfängen der

deutschsprachigen Passionen. Hier gibt es zwei wesentliche Entstehungszweige, die für

Komponisten des 16. Jh. von Bedeutung waren. Der norddeutsche Reformator Johannes

Bugenhagen bot 1526 eine Passionsharmonie an, die gesprochen und nicht gesungen

werden sollte. Martin Luther geißelte in seiner Abhandlung zur „Deutschen Messe“ das

„vier Passion singen“ als „gauckelwerck“ und hielt sich damit an Johann Walters

Vorschlag, des Passionstextes eines Evangeliums einen Anfangs- (Bitt) und Schlussvers

(Dank) hinzuzufügen. [Johann Walter (1496-1570), musikalischer Berater Luthers und

Begründer der eigenständigen deutschsprachigen Kirchenmusik für den lutherischen

Gottesdienst durch das Geistliche Gesangbüchlein (1524)] (siehe Bildbeispiel

„Gesangbuch“, Laaber, S. 54) Komponisten in diesem Sinne waren der Ansbacher

Hofkapellmeister John Meiland (ca. 1543-1577), und die erstmals gedruckten

Kompositionen von Melchior Vulpius in Weimar (1570-1615), Thomas Mancinus in

Wolfenbüttel (1550-1612), Otto Siegrfied Harnisch in Göttingen (1568-1623) und von Chr.

Schultze in Delitzsch. Sie alle waren aber nur Autoren in Bezug auf die Chöre, die

Einzelgesänge hatten sie lediglich übernommen (inkl. Rezitationstöne). Mancinus

überschreibt seine Passion von 1620: „Mit Personen. In welchem der Text, so der

Evangelista und die anderen Personen singen, choraliter (d.h. nach dem Choralston); der

ander Text aber, der den ganzen chorus praesentiret, mit 4 Stimmen figuraliter (d.h.

mehrstimmig) gesetzt ist.“ (MGG, S. 1471) In Leipzig gilt dieser altprotestantische Modus

noch bis 1716.

Der einzige Musiker, der sich ohne Einschränkung als „Komponist“ einer ganzen Passion

bezeichnen konnte, war Heinrich Schütz, denn in seinen drei Werken nach Matthäus,

Johannes und Lukas (alle 1666), sind auch die Sologesänge original und sogar in

unterschiedlichen Tonarten. Sie lassen zwar im Lektionston des Evangelisten das Vorbild

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von Johann Walter noch erahnen, fügen aber bereits dramatische Elemente durch

eindringlich geschilderte Situationsbeschreibungen und eine Vielzahl an musikalisch-

rhetorischen Figuren ein. Zudem schafft Schütz mit seiner Komposition der „Sieben

Worte Jesu am Kreuz“ einen neuartigen Typus von Passionsmusik (siehe Bildbeispiel

„Schütz“, Laaber, S. 186). Seine drei Passionen sind für den Gottesdienst in der Dresdner

Schlosskapelle bestimmt, sie entsprechen durch ihre rein vokale Besetzung dem bislang

üblichen Passionsvortrag ohne instrumentale Begleitung. „Kein anderer Komponist hat

die zentralen neutestamentlichen Historien in ihrer Gesamtheit und jeweiligen Tradition

kompositorisch so reflektiert und mit der ganzen Kraft seiner Kunst durchdrungen wie

Schütz. Und wie kein anderer Komponist seiner Zeit hat er sich bei der Vertonung auf den

reinen Bibeltext konzentriert.“ (G. Massenkeil, Laaber 1998)

(→ gem. musizieren aus Schütz S. 16; Beispiel für dramatische Kraft)

Hamburg an der Wende vom 17. zum 18. Jh.

Mitte des 17. Jh. wirkt in Hamburg der Stadtkantor Thomas Selle, der als letzter

bedeutender Komponist eine Johannes- Passion im konzertanten Stil zur Aufführung

bringt. Die verschiedenen Solisten werden von je einem Instrumentenpaar begleitet (zwei

Violinen für die Jesusworte, zwei Fagotti für die Evangelistenpartie, zwei Cornetti und

Pasaune für Pilatus). Nach Selle lässt sich allerdings eine gewisse Stagnation im

Schaffen neuer Passionsvertonungen feststellen. Beide Nachfolger von Selle geben

keine neuen Impulse mehr auf diesem Gebiet. Sie kommen erst wieder aus einer ganz

anderen Richtung. Die neue Gattung, die Komponisten in Hamburg in den Bann zieht, ist

die deutsche Oper (Eröffnung des ersten Opernhauses in Deutschland 1678). Sie scheint

sich literarisch wie musikalisch attraktiv auf Komponisten aus nah und fern auszuwirken.

Unübersehbar ist geistesgeschichtlich gesehen der Einfluss der Aufklärung. Vor diesem

Hintergrund sind zwei bedeutende Ereignisse unmittelbar mit der Weiterentwicklung der

Passion verbunden.

Die erste neuartige (weil oratorische) Passion ist eine anonyme Johannes- Passion von

1704, die lange Händel zugeschrieben wurde. Sie weist ein eigenes Libretto auf und ist

damit durchwoben von einem neu gedichteten Text eigener Wertigkeit. Er besteht aus 13

Gedichten für acht Arien, vier Duette und einen Schlußchor, die die einzelnen

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Leidensstationen kommentieren. Ein Arientext „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“

erscheint später, der Melodie des Chorals „Machs mit mir Gott, nach deiner Güt“ unterlegt

in der Johannes- Passion von J.S. Bach. Die Vertonung der Narratio wird jetzt zum ersten

Mal ausdrücklich Rezitativ genannt und die Worte der Personen Ariosi. Sie erden von

einem vierstimmigen Streichersatz akkordisch begleitet (Klang- und Notenbeispiel „Mich

dürstet“, Laaber, S. 199). Zudem enthält das Libretto keine Choräle. Die Ablösung vom

lutherischen Gottesdienst ist unübersehbar. Sie erreicht ihren vorläufigen Höhepunkt

durch das zweite Hamburger „Ereignis“ im Jahr 1704: die (vermutlich außerkirchliche)

Aufführung von Reinhard Keisers „Der blutige und sterbende Jesus“ nach einem Libretto

von Christian Friedrich Hunold, genannt Menantes, der vor allem als Textdichter

weltlicher Kantaten von J.S. Bach bedeutsam war. Keiser selbst war bekannter

Hamburger Opernkomponist, die Musik zu diesem „Passions- Oratorium“ ist allerdings

verschollen. Das Neue daran ist die konsequente Versifizierung des Evangelientextes.

Hunold selbst rechtfertigt dies 1706 wie folgt: […] Allein so hat man gemeinet, dieses

Leiden, welches wir ohne diß nicht lebhafft gnung in unsere Hertzen bilden können, bey

dieser heiligen Zeit nachdrücklicher vorzustellen, wenn man es durchaus in Versen und

sonder Evangelisten, gleich wie die italiänische so genannte Oratorien, abfaste, so dass

alles auf einander aus sich selber fliesset.“ Der Bericht des Evangelisten fehlt also völlig,

und der komplette Evangelientext ist in Versform und wörtlicher Rede abgefasst.

Der Hamburger Jurist und Ratsherr Berthold Hinrich Brockes (1680-1747) verfasst mit

seinem Werk „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Heiland“ von 1712

ebenfalls ein in Verse gefasstes Passions- Libretto, das allerdings die Partie des

Evangelisten beibehält und sogar wieder (vier) Choralstrophen als „Rede der Christlichen

Kirche“ (→ s. Bach) einfügt. Mit dieser Einbeziehung reagiert Brockes wohl auf die Kritik,

die der Hunold- Text bei der Hamburger Geistlichkeit hervorgerufen hatte. Es beginnt ein

wahrhafter Triumphzug der so genannten Brockes- Passion, die von Komponisten wie G.

F. Händel (1716), J. Mattheson (1718) und G. Ph. Telemann (1722) vertont wird. Von

Telemann selbst (Bild) sind 46 unterschiedliche Passionen bekannt, da er sich selbst als

Hauptkantor aller fünf Hamburger Kirchen einen Schwerpunkt setzte, über 46 Jahre

hinweg immer eine neue Passion zu schreiben. Für die Aufführungen standen ihm stets

hochqualifizierte Sänger des Opernhauses zur Verfügung, da dies während der

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Fastenzeit geschlossen war. Neben diesen zahlreichen Passionen sind weitere drei

Passions- Oratorien wie auch andere biblische Stoffe überliefert (Die gekreuzigte Liebe,

1731; Betrachtung der neunten Stunde am Todestag Jesu, 1755; Der Tod Jesu, n.n.). Sie

sind das Zentrum seines kirchenmusikalischen Schaffens. Er verbindet im Oratoriumstext

den wörtlichen Evangelistenbericht mit „poetischen Erwägungen“ und „erbaulichen

Betrachtungen“ und lässt bis zu 50 zusätzliche, allegorische Figuren auftreten (Glaube,

Liebe, Freude, Eifer, Klugheit, Aufmerksamkeit, Verachtung, ja sogar „blinder

Religionseifer“). Die Partie des Evangelisten ist stets als Rezitativ, die der Jesus- Worte

als Ariosi mit Streicherbegleitung und die anderen Solisten als Da Capo- Arien.

2. Die Entstehung der Johannes- Passion von J.S. Bach

Leipzig zur Zeit von J.S. Bach

In der Musikgeschichte Leipzigs gibt es vor Bach nur sehr wenige Spuren, die auf die

spätere Oratorienpflege des Thomaskantors hinweisen. 1717 oder 1718 wird hier die

Brockes- Passion von Telemann aufgeführt, allerdings nicht an einer der beiden

evangelischen Hauptkirchen der Stadt, St. Thomas und St. Nikolai, wo ein solches Werk

wie bereits an den Hamburger Hauptkirchen auf lutherischen Widerstand gestoßen wäre,

sondern an der (1699 eingeweihten) Neukirche, deren Musikdirektor Telemann von 1701

bis 1705 gewesen war. Diese Passionsaufführung gefiel wohl den Leipzigern so, dass

1721 von Bachs Vorgänger Johann Kuhnau in der Thomaskirche eine Markus- Passion

aufgeführt wurde. Von 1723 an konnte aufgrund einer speziellen Stiftung auch an der

Nikolaikirche eine Karfreitagsvesper abgehalten, in deren Zentrum die Predigt stand,

umrahmt von zwei Teilen einer anspruchsvollen Passionsaufführung. Da die benötigte

Anzahl von Instrumentalisten und Sängern nicht gleichzeitig an beiden Hauptkirchen

eingesetzt werden konnte, einigte man sich dahingehend die Karfreitagsvesper, die um

14 Uhr begann, abwechselnd im Jahresrhythmus in den beiden Kirchen aufzuführen.

Diese Situation fand Bach bei seinem Amtsantritt vor und schon zur Karfreitagsvesper am

7. April 1724 führte er in der Nikolaikirche seine Johannes- Passion auf. Nach dem

neusten Stand der Forschungen leitete Bach beim Vespergottesdienst an Karfreitagen

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jedes Jahr im Wechsel zwischen den beiden Hauptkirchen eine Passion. Dies ergibt für

seine frühe Amtszeit folgende Reihenfolge:

1724 – Johannes- Passion 1. Fs. (BWV 245), Nikolaikirche

1725 – Johannes- Passion 2. Fs., Thomaskirche

1726 – Markus- Passion von R. Keiser mit Adaptionen von Bach, Nikolaikirche

1727 – Matthäus- Passion 1.Fs. (BWV 244), Thomaskirche

1728 – Johannes- Passion 3. Fs., Nikolaikirche

1729 – Matthäus- Passion 1. Fs., Thomaskirche

1730 – Lukas- Passion eines uns unbekannten Komponisten mit Adaptionen von Bach (BWV 246),

Nikolaikirche

1731 – Markus- Passion (BWV 247), Thomaskirche2

Die privaten Aufzeichnungen des Mesners der Thomaskirche, Johann Christoph Rost

über die Gottesdienstgestaltung dieser Jahre sind erhalten. Sie vermitteln eine korrekte

Vorstellung von den halbliturgischen Aufführungen von Bachs Passionen:

„In der Neuen Kirche wird am Charfreytage auch eine Vesper gehalten, welche 3 Uhr angehet.

Anno 1721 ward am Charfreytag in der vesper die Passion zum 1stmahl musicirt, np. 1. Viertl auf 2. wurde

gelautet mit dem ganzen gaelaute, als ausgelautet, wurd auf dem Chor, das Lied gesung. Da Jesus an dem

Creutze stund p. dann ging gleich die Musicirt Passion an, und ward vor der Predigt halb gesungen, die

Helfte schloß sich mit dem verß, o. Lmb Gottes unschuldig, damit ging der Prister auf die Cantzel. Auf d.

Cantzel ward a. H. Jesu Christ dich zu uns wend gesungen.

Dann ging die andre Helffte d. Music an, als solche aus, ward die Motete Ecce quomodo moritur justus p.

gesungen, als dann der Passions vers intoniret und Collect gesprohen. Als dann Nun dancket alle gott

gesungen.

1722 eben also.

Anno 1723 ward zum ersten mahl die Vesper zu St. Nicolai gehalten, die Predigt hielt d. H. Superintendent

H.D. Deyling, welche Fr. Koppin gestiftet.

Anno 1724 wurd die Passion zu St. Nicolai zum ersten mahl Musiciret p. Zu St. Thom. Aber wurden nur

Lieder gesungen, wie vor diesem gebräuchlich.“ (zitiert nach Martin Petzold 1985, S. 22)

Die Vertrautheit Bachs mit der Hamburger Passionsentwicklung ist unübersehbar:

2 G. Scholz: Bachs Passionen, Beck 2000

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a) Bach verwendet in der Johannes- Passion Texte aus der Brockes- Passion von

Telemann.

b) 1713 führt Bach bereits die Markus- Passion von R. Keiser in Weimar auf und

ergänzt sie durch eigene Zusätze. Diese Fassung erklingt 1726 ebenfalls in Leizig.

c) Bach führt diese Keiser- Passion in den Jahren 1743-48 erneut in Leipzig auf und

verändert sie erheblich, indem er drei Keiser- Arien durch sieben Händel- Arien

aus dessen Brockes- Passion ersetzt. (→ pasticcio)

Die Textgestalt und die musikalische Umsetzung

Für Bach wie für die konservative Leipziger Kirchengemeinde steht allerdings die

Unantastbarkeit des Bibelwortes Luthers außer Frage. Dieser Standpunkt differiert im

Vergleich zu anderen protestantischer Zentren (s. Hamburg). Bachs Passionen stehen in

Bezug auf die Vertonung des Bibelwortes in der Tradition der Passionen von Heinrich

Schütz. Doch sind seine Wortausdeutungen und das allgemeine Wort- Ton- Verhältnis

viel komplexer als die von Schütz. Eine wesentliche Neuerung sind die evangelischen

Kirchenlieder, die auf die reformatorische Gottesdienstordnung von Martin Luther

(„Deutsche Messe“, 1526) zurückgehen. In der althergebrachten katholischen Messfeier

war der Gemeinde nur eine geringe Beteiligung möglich, im Hauptteil der Messe, dem

Canon messae, hatten sie sogar ganz zu schweigen. In bewusstem Gegensatz dazu bot

die evangelische Kirche den Gläubigen im Gesang der Kirchenlieder eine Identifikation

mit dem liturgischen Geschehen an (s. Martin Luthers Aussagen über Musik, z.B. „eine

schöne herrliche Gabe Gottes und nahe der Musik“). Bachs Einbindung der der

bekannten Kirchenlieder hatte daher zwei Wirkungen: Der Bibeltext regte zum

persönlichen Bekenntnis an und die Texte der bekannten und oft gesungenen

Kirchenliedstrophen wurde durch ihre Platzierung in einen direkten Zusammenhang mit

der jeweiligen Passionsaussage gestellt. Die Neudichtungen und poetischen Texte der

Passionen sind aus der Predigt abzuleiten, hatten ja die Predigten im Gottesdienst nicht

nur belehrende Funktion, sondern auch die Aufgabe, persönliche und emotionale

Regungen bei den Zuhörern zu bewirken. Seit 1985 ist erwiesen, über welche

Predigtsammlungen Bach und seine Dichter verfügten und aus denen sie als Laien

theologisch vertretbare Wendungen und Sprachbilder nehmen konnten, die auch von der

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Leipziger Obrigkeit akzeptiert wurden. Wir haben also bei Bach eine dreifache Schichtung

textlicher Elemente:

a) Die biblische Erzählung bildet den Kern der Passion („biblisch“)

b) In den Strophen der Choräle (d.h. der Kirchenlieder) kommt die Schar der

Gläubigen als eine „mündige“ Gemeinde zu Wort („reformatorisch“, „evangelisch“).

c) Was die Gemeinde bekennt, wird vom Einzelnen in Arien und Ariosi bedacht und

reflektiert („mystisch“, „pietistisch“).

Die Predigten vor allem der protestantischen Konfession waren im 17. und 18. Jh. stark

von der zeitgenössischen Rhetorik beeinflusst. Hierbei orientierten sich humanistische

Denkmuster vor allem an der Rhetorik der Antike, z.B. dem Sprachgebrauch von Cicero

und Quintilian. Man versuchte, diese Sprache in die der Zeit zu übertragen. Dabei wurden

der Rhetorik vier Hauptaufgaben zugemessen: docere – movere – delectare –

persuadere (belehren – bewegen – erfreuen – überzeugen). Diese Auffassung von

Sprach hatte starken Einfluss auf die zeitgenössische Musik. Musik wurde als

„Klangrede“ verstanden. Begriffe aus Sprache und Rhetorik wurden mit derselben

Bedeutung in der Musik übernommen (z. B. Exordium und Conclusio). Ein Vortragsstil,

der Effekte beim Hörer erzielen wollte (im Sinne von „bewegen, erfreuen und

überzeugen“), also ein „überzeugender“ Vortrag, bemühte sich um den Einsatz von

„Figuren“, welche die Bedeutung einzelner Aussagen illustrierten. Solche Figuren wurden

aus der literarischen Rhetorik in die Kompositionslehre übertragen und mit meist

griechischen Fachausdrücken belegt. Dies waren v. a.

- Figuren der Bildhaftigkeit: Anabasis, Katabasis, Circulatio

- Wiederholungsfiguren: Klimax

- Pausenfiguren: Apokope, Abruptio, Suspiratio

- Intervallfiguren: Exclamatio, Passus duriusculus, Interrogatio

- Satzfiguren: Katachresis, Parrhesia

(s. Notenbeispiele)

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Es ist nachvollziehbar, dass der kompositorische Schauplatz des Einsatzes solcher

„musikalisch- rhetorischer“ Figuren vorerst die Oper war. In ihr werden große Gefühle

effektvoll musikalisch ausgedrückt, von rasender Rache bis zum schmerzlichen

Liebeskummer. Solche allzu dramatischen Expressionen waren von jeher der der

Kirchenmusik und ihrer Oberen suspekt. Auf der anderen Seite kann sich eine

Kompositionspraxis, die an zeitgenössische Hörgewohnheiten appelliert, nicht völlig der

Ästhetik der jeweiligen Zeit verschließen. Bach stand also stilistisch zwischen zwei

Positionen (kirchliche Zurückhaltung gegenüber einem Zuviel an Gefühl und Neuerungen,

man hatte Bach in seinem Anstellungsvertrag verpflichtet, nicht „opernhaftige“ Musik zu

komponieren vs. ausdrucksstarke Vermittlung einer erregenden Botschaft) und nähert

sich auf zwei Wegen beiden Parteien an: Wenn Bach in seinen Passionen Rezitative und

Arien einbezieht, dann belegt dies eine Nähe zur Oper oder zum Oratorium (einer nicht-

szenischen Oper), wenn er das evangelische Kirchenlied einbezieht, dann nähert er sich

der Forderung der Geistlichkeit. Insgesamt betrachtet, verwischt also die stilistische

Trennung zwischen Kirchen-, Theater- und Kammermusik, ohne dass man bei Bach von

einer „Verweltlichung“ der geistlichen Musik sprechen sollte. Die stilistische Vielfalt in den

Passionen in Zusammenhang mit dem unleugbaren Gefühl der Zusammengehörigkeit,

hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass diese Werke seit ihrer Wiederentdeckung

bekannt und hochgeschätzt geblieben sind.

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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007

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Bachs Johannes- Passion steht in der Rezeptionsgeschichte (d.h. in der Aufnahme bei

Publikum) allerdings auffällig im Schatten der größeren Matthäus- Passion. Die Gründe

dafür sind zahlreich:

- seit Felix Mendelssohn- Bartholdys glanzvoller Wiederaufführung der

Matthäus- Passion in Berlin (1829) kommt dem Werk in Europa eine nahezu

ununterbrochene Begeisterung entgegen.

- Die Johannes- Passion gilt nicht zuletzt aufgrund ihrer zahlreichen

Bearbeitungen als „work in progress“, quasi Gebrauchsmusik, die sich der

veränderten Ästhetik und Gottesdienstordnungen unterwerfen musste.

Nach heutigem Stand der Forschung geht man von vier unterschiedlichen

Fassungen aus, die für Aufführungen in den Jahren 1724, 1725, 1732 und

1748 bereit gestellt wurden. Eine Aufsehen erregende Wiederaufführung im

19. Jh., wie jener der Matthäus- Passion durch Mendelssohn, fehlt völlig.

- Kritikern fällt schon seit jeher eine gewisse ästhetische Heterogenität auf,

der im Text begründet ist. Jesus ist im Johannes- Evangelium (s. auch

Textbetrachtung Kettling) stets der Gottessohn, als König, andererseits aber

auch als gedemütigter Schmerzensmann dargestellt. Das Evangelium

konzentriert sich stark auf das zentrale Ereignis, den Prozeß Jesu vor

Pilatus; die Herrlichkeit Christi ist auch hier immer präsent. Damit bietet die

Johannes- Passion eine „mitleidenden“ Gemeinde weniger

Identifikationsmöglichkeiten als die ausladende Matthäus- Passion. Der

unbekannte Textdichter konnte auch nicht die packenden Direktheit

erzielen, welche den Text von Picander in der Matthäus- Passion

auszeichnet. So wurde schon über den Text des Arioso „Betrachte meine

Seel“ als „blühender Unsinn“ gesprochen.

Allerdings ist der Einsatz des Chores in den Turba- Stellen dem in der

Matthäus- Passion an Zahl wie an Dramatik weit überlegen. Die

Auseinandersetzung Pilatus – Juden wird besonders packend dargestellt

und übt heute noch eine große Anziehungskraft aus.

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Der Bibeltext ist durchgehend durch Secco- Rezitative (Rezitative mit akkordischer

Begleitung des Basso Continuo) beziehungsweise Turba- Chöre vertont. Auf den ersten

Blick scheinen diese „einfachen“ Rezitative kompositorisch weniger ausgefeilt als die der

Matthäus- Passion. Bei näherer Betrachtung erweist sich dies jedoch nicht als richtig.

Zwar verzichtet Bach auf die Hervorhebung der Jesus- Worte durch hinzugefügte

Streicher, er wechselt aber in schneller Folge Tonarten, Modulationsabschnitte,

Stufenmelodik und große Intervallsprünge, dissonante und konsonante

Akkordbegleitungen, rhythmische Beschleunigungen und Tempi. Deswegen kommt den

Secco- Rezitativen eine besondere Bedeutung zu (nicht zuletzt für die Interpreten).

Notenbeispiel (aus den Auszügen): „Der verminderte Dreiklang“ – der Wille Gottes und

die richterliche Anordnung des Pilatus.

NBA 4/EP Nr. 8, T. 15: „Vater gegeben hat“; verminderter Dreiklang g – e – cis

NBA 16a/EP Nr. 22, T. 9: „Klage wider diesen Menschen?“; verm. Dreiklang d – h – gis

NBA 16e/EP Nr. 26, T. 11: „andere von mir gesagt“; verm. Dreiklang d – h – gis

NBA 18a/EP Nr. 28, T. 16: „ich euch einen losgebe“; verm. Dreiklang d – h – gis

Es ist mit diesen drei Tönen also eine Art Leitmotiv gegeben, das sich immer auf das

Verfahren gegen Jesus bezieht. Somit schafft Bach hier einen theologischen Bezug

zwischen dem Willen Gottes („den mir mein Vater gegeben hat“) und der richterlichen

Anordnung durch Pilatus.

Die Gliederung der Johannes- Passion

Den liturgischen Ablauf der Karfreitagsvesper in Leipzig beachtend, ergibt sich eine große

Zweiteilung der Johannes- Passion um die Predigt herum. Genä0ß der mittelalterlichen

Tradition ist dann das Passions- Geschehen neben Einleitungs- und Schlusschor in fünf

„Akte“ aufgeteilt.

Akt I: Verrat des Judas und Gefangennahme

Akt II: Verhör vor dem Hohepriester und Verleugnung des Petrus

Akt III: Verhör vor Pilatus und Todesurteil

Akt IV: Kreuzigung und Tod

Akt VI: Grablegung

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Dennoch lässt sich ein inhaltlicher Höhepunkt feststellen, der im Prozess Jesu liegt. Bach

unterbricht dabei die Gerichtszene und fügt den Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes

Sohn“ ein. Gerade an dieser Stelle des dramatischen Geschehens, als Pilatus Jesus

freigeben wollt, die jedoch aus politischen Gründen nicht wagt, wird im Sinne der

Erlösungstat Christi die Bedeutung des gefangenen Gottessohns für die Befreiung der

Christenheit ausgedrückt. Hier hat der Choral eine aussagekräftige Achsenfunktion. Um

ihn herum gruppieren sich symmetrisch die einander musikalisch wie thematisch

entsprechenden Turba- Chöre (s. auch schematische Darstellung). Weitere Versuche,

augenfällige Symmetrien in der Johannes- Passion zu entdecken, müssen scheitern (im

Vergleich zur h- Moll- Messe), attestierte ihr bereits der erste große Bach- Forscher

Philipp Spitta 1880: „Ihr hoher, bleibender Wert liegt sicher nicht in der Gesamtgestaltung.

Als Ganzes hat sie etwas trübeinförmiges und nahezu verschwommenes.“ Ein anderer

Kritiker kommt zu dem Urteil: „… die Unregelmäßigkeit, mit der die Kirchenliedstrophen,

die zwei Ariosi und die acht Arien… über das Werk verteilt sind, macht deutlich, dass hier

eine regelhaft architektonische Gesamtstruktur nicht geplant war.“ (nach Friedrich Blume aus:

Julia Bungardt: „Zum Problem der Großform in Bachs Johannes- Passion)

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Akt I: „Im Garten“ (NBA 1-5/EP 1-9)

1. „Die Ouvertüre“: Herr, unser Herrscher

Einstieg: Berichten des eigenen Erlebens so genannter „musikalischer

Schlüsselerlebnisse“

Bereits in den ersten Takten der Johannes- Passion schwingt das ganze Drama von Jesu

Passion mit. Es ist eine seltsam ambivalente Musik: große Geschlossenheit und Einheit

vs. filigrane musikalische Gedanken; augenfällige Bewegung vs. lähmende Statik,

jubelnde Freude vs. verborgener Schrecken, Herrlichkeit Gottes vs. Sterben und Tod.

„Herr, Herr, Herr“ – mit diesem emphatischen Ruf beginnt der Chor die Johannes-

Passion, der Vorhang reißt auf und der Zuhörer tut einen Blick auf die „Himmelsbühne“.

Gleich von Anfang an wird die Dreizahl beschworen, die uns in diesem Satz weitgehend

beschäftigen wird: drei Rufe, drei große Abschnitte, drei musikalische Bausteine (ein

Hinweis auf die Dreieinigkeit? Die Ausleger und Wissenschaftler sind sich darüber nicht

einig, andere Deutungen liegen näher, doch dazu später mehr). Bach schafft hier Musik

von ungeheurer Dynamik und Bewegtheit („es groovt“). Über einem beharrlichen

Bassfundament (dem so genannten Orgelpunkt) eine ständig kreisende

Sechzehntelbewegung (meist in den Violinen, oft in der Viola, zeitweise ins Continuo

abwandernd), darüber die paarweise Anordnung von dissonanten Haltetönen der Flöten

und Oboen. Dies ist das musikalisch- motivische Material, aus welchem Bach seine

Einleitung gestaltet.

T. 1-18 ist so etwas wie ein instrumentales Vorspiel, oder im Zusammenhang der

Aufführungspraxis des 18. Jh. die Sinfonia eines Oratoriums. Harmonisch beschreitet

Bach (gelinde ausgedrückt) abenteuerliche Wege, ein gefundenes Fressen für den

Harmonielehre- Unterricht an der Hochschule.

Harmonisches Schema der Takte 1-19:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 g g

D7/g c/g g

c/g G79 c/g D79/g g A79/g D79 D79 G79/d

G79 C7/g

C7 F7/c

F7 B7 D7

A79/e F/es

G/d A78/cis

g/d D7

g

t D t s (D) s D t DD D (D) (D) (D) (D) tP DD ←(D)

(D) DD

D t

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Bach bleibt harmonisch „ständig in Bewegung, er verlässt sogar innerhalb der ersten

beiden Takte die Grundtonart und „weicht aus“. Mit schmerzerfüllten Akkorden macht er

deutlich: der Weg Jesu ist vorherbestimmt, er führt aus der Herrlichkeit Gottes hinab zum

Kreuz, auch wenn der Chor anschließend nahezu ausschließlich von der Herrlichkeit

Gottes singen wird, der Fatalismus ist musikalisch vorher schon längst ausgedeutet.

Textlich steht die Glorifikation Jesu im Mittelpunkt, die Musik Bachs vermittelt uns eher

einen „tristen Eindruck“.1 In der barocken Tonartentheorie jedoch drückt die Tonart G-

Moll „mäßiges Klagen und temperierte Fröhlichkeit“ aus (Mattheson, ebd.).

Musikalisch vorweggenommen ist das Kreuz Jesu ebenfalls bereits ab Takt 1 (s.

Notenbeispiel). Die Haltetöne der Holzbläser ergeben zusammen die musikalisch-

rhetorische Figur eines Kreuzes. Wir werden solcher „Augenmusik“ noch oft in der

Passion begegnen, sie sei an dieser Stelle nur erwähnt. Diese Haltetöne musizieren

einen regelrechten Klagegesang, der sich über der perpetuum- mobile- Figur der

Streicher erhebt.

Das Fundament des Basses greift eine solche rhetorische Figur kurz vor Einsatz des

Chores auf (T. 16-18), indem er chromatisch (d.h. in Halbtönen) den Weg nach unten

beschreibt (e – es – d – cis), ebenfalls ein Symbol für die Unausweichlichkeit des Weges

Jesu, dessen Ringen darum textlich in der Johannes- Passion ausgespart wird. Die

Szene im Garten Gethsemane („Mein Vater, ist´s möglich, so gehe dieser Kelch an mir

vorüber, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“) stammt aus dem

Matthäusevangelium (26, 36ff). Musikalisch nimmt sie Bach jedoch in seine Einleitung zur

Passion hinein.

Der Teil A der Großform

Kreuz und Herrlichkeit gehören für Bach in seiner Passion zusammen, dies zeigt sich an

der überaus intensiven Ausgestaltung der drei „H“- Worte („Herr“, „Herrscher“, „herrlich“)

und des vierten Wortes „verherrlicht“, sowie des Satzes „dessen Ruhm in allen Landen“.

Im Vokalpart des ersten Abschnittes a entwickelt Bach eine Reihe unterschiedlicher, aber

untereinander in mehrfacher Beziehung stehender Themengebilde (s. Notenbeispiele):

1 G. Scholz: Bachs Passionen, Beck 2000

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1. „Herr“: Drei Akkordblöcke (T.19+20), die jeweils in Gegenbewegung von Sopran

und Bass einen Quintraum durchschreiten (Quinte = Vollkommenheit).

2. „Unser Herrscher“: Sechzehntelfiguration (wie die Streicher), T. 21 ff, bezeichnend

sind die tonleiterartigen Anstiege der ersten Sechzehntelnoten (Sopran T. 21-23:

g-a-b-c-d), die ebenfalls wieder den Quintraum durchsteigen

Die Akkordblöcke erklingen alsbald verändert auf den schwächeren Zählzeiten 2 und 4

(T. 23+24; die Wirkung ist synkopisch) und bilden den Ausgangspunkt für ein neues

Thema, das nach einem zweitaktigen Zwischenspiel einen neuen Abschnitt b prägt:

3. „Herr, unser Herrscher“ (T. 33 ff) ein imitatorisch geprägter, später als Kanon der

Außenstimmen (T. 37) fortgeführter Themeneinschub. Charakteristisch ist das

durchschreiten des Oktavraums als exclamatio (= Ausruf)

T. 45+46: Seufzermelodik als Ausdruck der Trauer

T. 46+47: „Herr“- Ausrufe auf demselben Ton d uns Imitation

Der große A- Teil geht mit einem kleinen dritten Abschnitt (c) zu Ende, der als

Zirkelkanon komponiert ist.

4. „dessen Ruhm in allen Landen“ (T. 49 ff): canon perpetuus (Gottes Ruhm bleibt

ewig) und groß angelegte Schlusskadenz zur Ausgangstonart G- Moll.

(Teil A hören, T.1-58)

Der Teil B der Großform

Das Thema, das vorher mit den Worten „Herr unser Herrscher“ unterlegt war, bringt nun

einen anderen Text („Zeig uns durch deine Passion“ und „dass du, der wahre Gottes

Sohn“). Dieser „neu-alte“ Gedanke exponiert beinahe unmerklich und aus der Tiefe

heraus das enggeführte Motiv „zu aller Zeit“ (T. 66+67). Auch hier wird der Oktavabstand

durchschritten, bevor die Musik zum in tiefster Lage beinahe zum Erliegen kommt (T. 69).

Beinahe nur deswegen, weil die motorische Sechzehntelbewegung der Streicher

weiterläuft und der Chorklang keine Ruhe gefunden hat (Sekundakkord). Die Musik treibt

weiter und erinnert mit ihrer schnellen Bewegung nunmehr an den Anfang des Chores (T.

21 „Herrscher“). Immer wieder tauchen im Folgenden Entsprechungen aus Teil A der

Großform auf, z.B. T. 79 (Wiederkehr des Themas), T. 82 (Wiederkehr von T. 66). Ein

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nicht ganz so stark empfundener Ruhepunkt ist bei T. 86 erreicht („Niedrigkeit“), bevor

dann zum großen Schlussjubel angesetzt wird. Durch die Da Capo- Form ergibt sich

folgende schematische Gliederung:

Satz 1: “Herr, unser Herrscher”: Aufbau

(Teil B und da capo hören, T.59-fine), Raum für Fragen, evtl. singen T. 34-46 im Alt

2. Rezitativ: „Jesus ging mit seinen Jüngern“ (NBA 2a/EP 2)

Die Passionserzählung nach Johannes beginnt im Gegensatz zu der in der Matthäus-

Passion mit der Szene der Gefangennahme Jesu. Der sachliche Bericht wird nur

sparsam musikalisch interpretiert, dafür umso intensiver und genial vom Komponisten.

Die wesentlichen Tonarten dieses Rezitativs haben eher düsteren Charakter (C- Moll, F-

Moll, G- Moll), wir erinnern uns an die Tonarten der Einleitung. Die ersten acht Takte des

Rezitativs lassen sich einfach in zwei deutlich voneinander unterscheidbare

Viertaktgruppen aufteilen. Die erste Viertaktgruppe (T. 1-4) enthält eine

Situationsbeschreibung. Sie verläuft in großer Ruhe und ohne harmonische Veränderung

in C- Moll, vorzugsweise in Achteln und überwiegend in Sekund- oder Terzschritten. Die

Schilderung, wie Jesus mit seinen Jüngern „wandert“ strahlt Bedächtigkeit und Ruhe aus,

noch keine Gefahr scheint im Verzug zu sein. Dabei beginnt der Solo- Tenor in

beachtlicher Höhenlage. Beides Mal erklingt beim Wort „Jesus“ der Spitzenton der ersten

Takte (g´´). Mit der zweiten Viertaktgruppe ändert sich schlagartig das Bild

(„Theaterspot“): Jetzt gerät Judas ins Blickfeld des Betrachters. Die Harmonik wird

reicher, das Tempo steigert sich, die Pausen nehmen zu, ebenso die Sechzehntelnoten

(um 100%!), die Musik moduliert nach F- Moll (T. 9), es kommen neue, bislang

ausgesparte Intervalle hinzu, die Sext. Der vielleicht genialste Kunstgriff Bachs besteht

Teil A Teil B Teil A a b a´ c d d´

1-18 19-30 31-32 33-39 40-46 47-57 58-78 78-95 1-18 19-57 Sinfonie zweimalige

“Herr”- Rufe

Ritornell Imitation und Kanon der Außenstimmen

einmalige “Herr”- Rufe

Imitation und Zirkelkanon

“Zeig uns”-Imitation

Wdh. “Zeig uns”- Imitation, Zirkelkanon

Sinfonie Hauptteil da capo

G- Moll D- Dur G- Moll Es- Dur A- Dur D- Dur

G- Moll

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jedoch in den beiden Anfängen der Viertaktgruppen. Augenscheinlich sind sie verwandt:

wir haben zwei fallende Terzen und daraufhin Wiederholungstöne (spielen T. 1 und 5),

doch wie unterschiedlich ist ihre Wirkung:

T. 1: Molldreiklang über dem Grundton C (hohe Lage)

T. 5: verminderter Dreiklang über einem Septakkord (tiefe Lage)

Die erste Nennung des Namens „Judas“ wird gleich zu einem barocken Spektakel. Für

die Hörer der damaligen Zeit war klar: Bach verwendet eine rhetorische Figur, die so

genannte parrhesia, eine Figur der kompositorischen Regelwidrigkeit. Sie ist Ausdruck

des Falschen, Schlechten und des Traurigen. Ähnliche Figuren verwendet Bach auch in

T. 8 („Judas“) und T. 10 („Hohepriester“)- es wird gleichermaßen zu Judas´

Markenzeichen.

Als es durch die Mitnahme von Fackeln und Lampen hell im Garten wird, deutet Bach

dies mit einer aufsteigenden Melodik an (T. 12+13), allerdings nicht mit einem Schlage,

sondern erst ganz allmählich. Die Erwähnung des Namens „Jesus“ bringt nun wieder

Ruhe in die vorherige Aufregung. Er ergreift nunmehr die Initiative und das Tempo

verzögert sich bei seinem ersten Einsatz „Wen suchet ihr?“ (T. 17). Doch schon zuvor hat

sich auf zwei Arten die Initiative Jesu bemerkbar gemacht. Einmal ist die offensichtlich

durch die aufsteigende Melodie „ging er hinaus“ (T. 15), wieder mit Spitzenton g´´´. Ein

anderes Mal ist es eher versteckt. Der Bass des Continuos beschreibt eine langsam

aufsteigende Bewegung ab T. 14: d-es-e-f-fis. Diese Bewegung bereitet die alle

Souveränität ausstrahlende Frage Jesu, unterstützt durch den öffnenden Sextakkord des

Continuos: „Wen suchet ihr?“ Die Antwort der Häscher fällt vehement und unsicher

zugleich aus:

3. Chor: „Jesum von Nazareth“ (NBA 2b/EP 3)

Fünfmal wird der Name Jesu genannt. Wie seltsam ist allerdings die Betonung! Immer

wird der Name auf einem unbetonten Taktteil gerufen. Dadurch entsteht nicht etwa

Gewalt sondern Verunsicherung, es ist, als würde die Antwort auf die Frage Jesu nur

stockend gegeben, auf jeden Fall richtiggehend „verspätet“ oder „verschluckt“, vielleicht

auch einfach nur erschreckt.

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Musikalisch am hervorstechendsten ist sicherlich die schnelle Achtelfigur der Geigen und

Flöten. Sie kennzeichnet natürlich ebenfalls das Erschrecken der Häscher (s. auch

tremolo). Hier werfen wir aber gleich auch einen interessanten Blick in Bachs

Kompositionswerkstatt. Vergleichen wir einmal diese Sechzehntelfigur mit der Figur in

den Sätzen 2d (EP 5), 16 d (EP 25), 18b (EP 29) und 23 f (EP 46). Was fällt uns auf?

Bach verwendet denselben musikalischen Gedanken mehrfach und transponiert ihn

gegebenen Falls in die entsprechende Tonart. Das Grundmodell findet sich in Satz 2b

(EP 3; spielen). Es ist ein Viertaktmotiv, das eine so genannte „Quintfallsequenz“ enthält,

mit einer abschließenden Kaskade und einer Viertelnote als Schlusston. Auf diese Weise

schafft Bach eine einfache und leicht zu behaltende Verbindung zwischen einzelnen

Sätzen. Bach verwendet noch eine andere Kompositionstechnik, um eine Verbindung

zwischen verschiedenen Turbae- Chören herzustellen. Dazu an anderer Stelle mehr

(hören NBA 2b/EP 3).

4. Rezitativ: „Jesus spricht zu ihnen“ (NBA 2c/EP 4) und

5. Chor: „Jesum von Nazareth“ (NBA 2d/EP 5) und

6. Rezitativ: „Jesus antwortete“ (NBA 2e/EP 6)

Die Antwort Jesu fällt souverän und gefestigt aus. In ihr spiegelt sich ein ganz gewaltiger

heilsgeschichtlicher Zusammenhang (s. die alttestamentliche Gottesoffenbarung „Ich bin,

der ich bin“). Musikalisch ist dies mit einer bekräftigenden und klaren Abschlusskadenz

(Dominante – Tonika) ausgedrückt („authentischer Schluss“). „Judas aber“ wird wieder

mit seinem Motiv des verminderten Dreiklangs eingeführt, in T. 3 allerdings in versteckter

Form, lauten die Töne h-d-f. Nach Jesu Antwort „Ich bin´s“ wird das Erschrecken der

Schergen lautmalerisch dargestellt: die kleinen Notenwerte nehmen zu, die

Melodiebewegung ändert sich abrupt, die Töne fallen regelrecht zu Boden, dargestellt

durch die rhetorische Figur einer Katabasis (abwärtsgerichtete Terzenkette es-c-as-es).

Jesus fragt erneut „Wen suchet ihr?“ Die Antwort der Schergen entspricht der ersten in

ihrer musikalischen Ausgestaltung (allerdings in einer neuen Tonart C- Moll),

beachtenswert ist die Verzierung, die den Alt in T. 4 deutlich hervorhebt und ihn leicht

„nervös“ klingen lässt (Humor bei Bach).

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Jesus antwortet auch hier gewohnt souverän. Der Evangelist beginnt wieder auf dem

„Jesus- Spitzenton“ g´´ und durchschreitet den Tonraum einer Oktave. Ein weiteres Indiz

für Bachs Humor ist die hinzugenommene Sept (T. 3) bei „suchet ihr den mich“,

ungläubiges Fragen lässt den Zuhörer aufhorchen und betont gleichzeitig die

außerordentliche Bedeutung Jesu (nicht sein Jünger sind von Interesse).

7. Choral: „O große Lieb“ (NBA 3/EP 7)

Der vierstimmige Choral bezieht sich bereits auf das kommende Martyrium Jesu, die

Rede ist von der „Marterstraße“ und passend dazu malt Bach diesen Weg besonders

schmerzhaft aus (Rückblick Tonsatzunterricht). Besonderes Augenmerk lenken wir bei

solchen „simplen“ Choralstrophen auf die Bewegung, v.a. der Mittelstimmen. Sie gestaltet

Bach in der Regel besonders reich. Z.B.: T. 5: Chromatische Führung im Bass g-ges-f-e

und Sopran es-d-des-c (passus duriusculus- der sehr harte Schritt). Der Tenor „schreit“

geradezu auf bei dem Wort „Marter“. Signalworte für den aufmerksamen

Musikwissenschaftler sind dann natürlich auch Worte wie „Lust und Freuden“, die ein

Lautmalerei geradezu provozieren. Wer kann beschreiben, wie Bach hier komponiert?

(Seufzermelodik im Alt und Sechzehntelverzierung in der Schlusskadenz). Bach wechslet

ganz plötzlich für die letzten Worte das Register/die Lage (Oktavsprung in drei Stimmen

gleichzeitig (hätte man uns verboten), dies hängt natürlich mit der Führung des Cantus

firmus zusammen, beschreibt aber einmal mehr den weiten Weg Jesu Christi von oben

nach unten ins Leiden. Dies ist besonders eindrucksvoll auf den Worten „du“ und „leiden“

Mit vielen Dissonanzen komponiert.

Einen Kommentar verdient auch der überraschende Schlussakkord. „leiden“ endet in Dur.

Ist das nicht seltsam? Das traurige Leiden und das Elend verlangen doch geradezu einen

Moll- Akkord. Die so genannte picardische Terz wählt Bach nicht ohne Ziel. Für ihn ist

klar: In Jesu Leiden liegt die Erlösung für uns Menschen, die Verherrlichung findet auch

hier statt, in der tiefsten Niedrigkeit. Bach ist damit nicht nur theologisch tiefgründig,

sondern geradezu ungeheuer romantisch. Spätestens bei F. Schubert erinnert uns die

Wendung nach Dur an das Unwirkliche, Traumhafte, das, was nicht von dieser Welt zu

sein scheint (s. „Winterreise“).

Hören bis NBA 3/EP7

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8. Rezitativ: „Auf dass das Wort erfüllet werde“ (NBA 4/EP 8)

Im nachfolgenden Evangeliumsbericht sticht vor allem die Erzählung von dem

Schwertstreich des Petrus hervor. Ausladend zu Beginn ist die indirekte Rede Jesu „Ich

habe denn keine verloren, die du mir gegeben hast“.

Wieder wird der Focus auf einen Menschen gelenkt (wie es zuvor bei Judas der Fall war,

der Spot dreht sich). Beeindruckend, mit welcher großen Bewegung Petrus ausholt

(Anabasis), um mit seinem Schwert zuzuschlagen (T. 6 „und zog es aus“, Septakkord, T.

7 „und schlug“ großer Sprung; „Hohepriesters Knecht“, bislanger Spitzenton a und die

unglaubliche Wut, mit der Petrus zuschlägt: T. 8, Schlag 2: Sept- Non- Akkord; „Ohr ab“ =

Tritonus). Geradezu ernüchternd wie naiv der Bericht zu Ende geht: „Und der Knecht hieß

Malchus.“

Jesu Befehl, das Schwert wieder einzustecken geschieht mit einer ebenso ausladenden

Geste: der Quintsprung abwärts (T. 12) hat etwas Endgültiges, Beschwörendes (der

tiefste Ton der Partie des Jesus, eine echte Herausforderung für alle Baritons). Die

Metapher des „bitteren Kelchs“, die an die nicht vertonte Getsemane erinnert, wird von

Bach wieder einmal mit verminderten Intervallen hörbar gemacht (T. 14: b-e; b-cis; T. 15:

g-cis). Das Rezitativ endet seltsam offen, wie ein Halbschluss (also das Stehenbleiben

auf einer dominantischen Tonart) oder eine Frage. Die Antwort wird inhaltlich wie auch

musikalisch im abschließenden Choral gegeben. Das Ende des Rezitativs ist tatsächlich

die Hinführung zur neuen Tonart D- Moll des Chorals „Dein Will gescheh.“

9. Choral: „Dein Will gescheh“ (NBA 5/EP 9)

Es ist die siebte Strophe des Lutherliedes „Vater unser im Himmelreich“ (EG 344).

Augenfällige rhythmische Besonderheiten gibt es auf den ersten Blick keine, die

Mittelstimmen scheinen aber wiederum etwas bewegter gestaltet zu sein als die

Außenstimmen. Auffällig ist die Altführung in T. 2 (synkopisch) und die geduldige Führung

des Tenors in kleinen Achtelschrittchen in T. 5 bei den Worten „Geduld“. Natürlich haben

wir auf dem Wort „Leidenszeit“ einen überaus dissonanten Akkord (eine so genannte

„Doppeldominante“). Exakte dieselbe Akkordverbindung übrigens auch beim vorletzten

Wort „Willen“. Beides hängt zusammen „Leiden“ und „Willen“. Nett auch die Figur des

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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007

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Gehorsams m Tenor T. 7 und danach im Alt. Nach kommt es auf die Kleinigkeiten an.

Deswegen ist unsere Arbeit, Arbeit mit dem Seziermesser. Die Bitte der Gemeinde nach

Geduld bezieht sich nicht auf die verbleibenden anderthalb Stunden des Oratoriums,

sondern auf die eigene Kraft im Leiden, die sie oft genug so dringend braucht. Sie möchte

den Willen Gottes höher achten als ihren eigenen. Ein erster Appell an den Zuhörer am

Ende des ersten Aktes.

(hören NBA 4/EP 8 bis fine)

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Akt I: „Im Garten“ (NBA 1-5/EP 1-9)

Harmonisches Schema der T. 1-19:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

g g D7/g

c/g g

c/g G79 c/g D79/g g A79/g D79 D79 G79/d

G79 C7/g

C7 F7/c

F7 B7 D7

A79/eF/es

G/d A78/cis

g/d D7

g

t D t s (D) s D t DD D (D) (D) (D) (D) tP DD ←(D)

(D) DD

D t

Satz 1: “Herr, unser Herrscher”: Aufbau

Großform Kleinform

Teil A Teil B Teil A a b a´ c d d´

1-18 19-30 31-32 33-39 40-46 47-57 58-78 78-95 1-18 19-57

Sinfonie zweimalige “Herr”- Rufe

Ritornell Imitation und Kanon der Außenstimmen

einmalige “Herr”- Rufe

Imitation und Zirkelkanon

“Zeig uns”-Imitation

Wdh. “Zeig uns”- Imitation, Zirkelkanon

Sinfonie Hauptteil da capo

G- Moll D- Dur G- Moll Es- Dur A- Dur D- Dur

G- Moll

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Satz 1: T.1+2

� �� �Herr,

� �Herr,

� �Herr

Satz 1: T.19+20

Musikalisches "Grundmaterial":

� �� ��un-

�ser

�Herr -

�� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �-

�scher,

Satz 1: T.21-23

� �� �Herr,

�un-

�ser

�� Herr -

� � � � � � � �

-

�scher,

��un-

�ser

�Herr-�

scher

Satz 1: T.33-35

� �� �de-

�sen

�Ruhm

�in

�al -

�len

�Lan-

� � � � � � � � � � � � � � � �-

�den

Satz 1: T. 49-51

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Akt II: „Hannas“ (NBA 6-14/EP 10-20)

1. Rezitativ: „Die Schar aber und der Oberhauptmann“ (NBA 6/EP 10)

Einstieg mir selbständiger Interpretation des ersten Rezitativs des zweiten Aktes.

Darstellung der Situation: Jesus wird gefangen genommen und zu Hannas, dem

Schwager des Hohenpriesters Kaiphas geführt. Dieser gibt den mörderischen Rat, es

wäre gut, dass „ein Mensch würde umbracht für das Volk.“

Dieser knappe Bericht musikalisch durch schmerzlich hervorstechende Dissonanzen und

Tonabstände bei genau diesen Worten ausgedeutet, die auf das tragische Geschehen

der Passion direkt Bezug nehmen.

T. 1: Motivischer Rückgriff auf Nr. 4/8 „Stecke dein Schwert in die Scheide“, allerdings

hier mit einer klaren Betonung auf dem Wort „Hauptmann“.

T. 3: traurige Schlusskadenz in F- Dur „nahmen Jesus“ (spielen)

T. 4: Tritonus- Sprung (diabolo in musica) „und banden ihn“

T. 6: verminderter Akkord bei „Schwäher“; die Verwandtschaft der beiden wird als

verhängnisvoll dargestellt (Erklärung verminderter Akkord)

T. 9: verminderter Akkord bei „riet“, der verhängnisvolle Ratschlag, Tritonus-

Verwandtschaft zwischen den Worten „riet“ (b) und „gut“ (e), zwei Töne, die sich

eigentlich schwer miteinander tun.

T. 10: unerhörter Vorgang: in der Tonart D- Moll taucht ein exponiertes es auf. Wie geht

das denn? Antwort: der neapolitanische Sextakkord bei „umbracht“. Sextakkord auf der

erniedrigten zweiten Stufe, eine harmonische Verbindung, die Mozart gerne gebraucht.

T. 10: „Jesus- Spitzenton“ g´´ bei dem Schrei „umbracht“

T. 10: Tritonus- Sprung bei „umbracht für“ als Ausdruck des großen Schreckens

(hören des Rezitativs NBA 6/EP 10)

2. Arie: „Von den Stricken“ (NBA 7/EP 11)

Das „Erlebnis Arie“- zwei Erfahrungen:

Hörerfahrung: langweilig, endlos, immer derselbe Text, wahllos wiederholt, Stocken der

Handlung

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Musiziererfahrung: klangvoll, virtuos, Zeit zur Entfaltung der Stimme, Podium, um die

eigene Kunst zeigen zu können, Ausdruck des Gefühls („Ich singen nur Arien“).

Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte und die Aufgabe des Sängers/der Sängerin ist

seit jeher, die Arie (also „ihren/seinen Auftritt“) so mitreißend wie möglich zu gestalten.

Die Da- Capo- Anlage der Arien ist begründet in der barocken Sehnsucht nach

Symmetrie (s. Architektur, Gartenbau, Kunst). Kunst (und damit auch Musik) wird als

Welttheater verstanden, alles ist Teil eines großen Dramas mit zahllosen Darstellern,

Kostümen und Requisiten. Der neue Typus des vom Menschen gezüchteten Menschen

ist der Kastrat, der unvorstellbare stimmliche Leistungen vollbringen kann. Ausladende

Formteile werden somit als Schmuck verstanden und mit einer Menge „Zierrat“ versehen.

In der Oper war es üblich, den wiederholten Teil mit einer Unmenge von Verzierungen zu

versehen, die den Affekt des Stückes einerseits (also Trauer, Wut, Leidenschaft, Freude)

wie auch die stimmliche Perfektion des Sängers andererseits ausdrücken sollten.

Verzierungen dieser Art waren z.B. schnelle Noten (Koloraturen = Ausschmückungen),

Triller, extreme Tonsprünge, große dynamische Schwankungen (stufenloses Anschwellen

von unhörbarem Piano bis zu extremem Forte, das so genannte messa die voce). Die

Selbstdarstellung der Kastraten ist vergleichbar mit dem der Popstars unserer Zeit und

die Musik wie auch der Text gerieten darüber immer mehr in den Hintergrund. Im Bereich

der Kirchenmusik fand die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen ebenfalls statt,

zumal es natürlich den Komponisten bislang ungeahnte Möglichkeiten offenbarte (der

Opernkomponist Händel, der aufgrund der Schließung seines Theaters in London einfach

die Oper in die Kirche verlegte und damit die Gattung des gro0en barocken Oratoriums

maßgeblich beeinflusste). Die Frage nach den Verzierungen in der Da- Capo- Arie von

Bach stellt sich natürlich, hatte Bach jedoch keinen Kontakt zu Kastraten (zumeist in

katholischen Bereichen; Bachs zweite Frau war selbst Sängerin und trat wiederholt in der

Kirche auf). Seine Sänger waren ja zumeist Schüler der angegliederten Thomasschule

und den kastrierten Stimmwundern bei weitem unterlegen. Ebenso steht für Bach die

Autorität des Textes außer Frage. Ihm geht es um ein musikalisches Evangelium, das

seine Schönheit in einer gewissen Strenge bewahrt und nicht in plumper Effekthascherei

(wir erinnern uns an seinen Einstellungsvertrag und der Klausel, keine „opernhaftige“

Musik zu schreiben).

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Bachs Arien sind inhaltliche wie musikalische Ruhepunkte, kleine und größere Perlen, die

ganz auf die meditatio beim Zuhörer ausgerichtet sind. Es geht um das Nachempfinden

(„Betrachte meine Seel“) und dem Mitleiden („Ach, mein Sinn, wo willt du endlich hin“),

die Arien sind das Sprechen der menschlichen Seele, die sich einer Reaktion auf das

Passionsgeschehen nicht entziehen kann und soll. Insofern passiert in den Arien die

größtmögliche Identifikation mit der Passionsgeschichte neben dem bloßen

Evangeliumsbericht und der Aussage der allgemeinen christlichen Gemeinde. Schade,

wenn dann diese Stücke beim Zuhörer als Last empfunden werden. Bachs

Kompositionsprinzip ist bei den Arien nicht grundsätzlich verschieden von dem der

anderen Teile, das Prinzip „Lieben durch Verstehen“ kann also auch hier angewandt

werden. Als beruhigende Abschlussbemerkung sei angemerkt, dass bis auf eine Arie alle

überhaupt keine „klassische“ Da- Capo- Form aufweisen, diese Form ist in der

Komposition bereits enthalten, somit sind die Arien deutlich kürzer als in manchen

Kantaten oder auch in der Matthäus- Passion.

T. 1-8: „Ritornell“ (das instrumentale Vor- und Zwischenspiel der Arien des 16. und 17.

Jh.). Hier wird bereits das gesamte musikalische Grundmaterial vorgestellt (s. Exordium).

Dies alles geschieht in den knappen acht Takten und wird im Folgenden von Bach

ständig variiert (s. Variationstechnik v. Beethoven).

Genau betrachtet ergibt sich folgendes Material:

a) Kanon der beiden Oboen (T.1-4), Sinnbild für die Fesselung

b) Tänzelnde Bass- Figur (T. 1-3), die sich in T. 4 verdichtet zu

c) Achtel- zwei- Sechzehntelgruppe, die mehr Bewegung hinzubringt

d) Paariges Fortschreiten der Oboen im Terzabstand (T. 5)

Der Einsatz der Singstimme (T. 9) greift das Kanonmotiv der Oboen auf und gibt ihm nun

endgültig die Bedeutung der Worte „binden“ und „entbinden“, dabei ist die Verwandtschaft

der beiden Motive erst auf den zweiten Blick zu sehen und deutet auf eine andere Arie

voraus (s. Notenbeispiel 1).

In T. 39 ist das Ende des Hauptteils A der Arie erreicht und das Ritornell führt den

Hauptteil B ein. Davor hebt Bach aber noch durch eine geschickte Modulation in die

Tonart A- Moll das Wort „Heil“ hervor (T. 37), nicht ohne vorher durch Verzierungen (so

genannte Vorhalte, die Fesseln verdeutlicht zu haben.

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Hauptteil B ist wesentlich freier gestaltet, die Rückgriffe auf Material der Einleitung

werden zugunsten von geschmeidigen Sechzehntel- Figuren aufgegeben, sie stehen für

die allumfassende Vergebung Gottes (s. auch Oktavsprung in T. 48). Bach legt großen

Wert auf das Wort „völlig zu heilen“ (s. T. 59 ff).

Dass Ritornell ab T. 66 bringt wieder den bislang verbannten Oboenkanon der Einleitung

und der freie Da- Capo- Teil A´ schließt sich an. Er ist eine Variante des ersten Hauptteils

und greift wie erwartet auf bekanntes Material zurück (beachtenswert noch der

Septsprung T. 98 „meiner Sünden“ = exclamatio).

Hören der Arie NBA 7/EP 11

3. Rezitativ: „Simon Petrus aber folgete“ (NBA 8/EP 12) und

4. Arie: „Ich folge dir gleichfalls“ (NBA 9/EP 13)

Das Rezitativ greift auf berührende und schlichte Weise die Zurechtweisung des Jüngers

durch Jesus auf („Stecke dein Schwert in die Scheide“). Nachdem der Zuhörer einen

Moment voller ungläubigen Staunens das Geschehen im Garten verfolgt hat, ist es nun

der zurechtgewiesene Petrus, der mit einem Mal die Initiative ergreift und in schneller

Bewegung (Tonfolge nach oben) Jesus hinterher geht (bis zum „Jesus- Ton „g´´, den er

nicht etwa beim Wort „Jesus“ erreicht hat, sondern zwei Achtelnoten später!). Die

Nennung des namenlosen Jüngers fällt musikalisch gesehen kaum mehr ins Gewicht.

Die Arie „ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“ ist eine beliebte Arie beim

Vorsingen von jungen Sopränen an der Musikhochschule. Sie drückt Leichtfüßigkeit,

Leichtigkeit und übersprudelnde Freude aus- und das in der Johannes- Passion! So

interpretiert Bach die Nachfolge als Jünger Jesu. Ich werde erinnert an die Bibelstelle:

„Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Joch auf sich. Mein Joch ist sanft.“ Nachfolge

heißt für den Christen zuerst Freude. Ist das bei uns auch so (Zitat: „Chisten sollten

erlöster gucken“)? Zum ersten Mal herrscht der Dur- Klang vor (Dur- fröhlich). Das

Einstiegsintervall f-b leitet sich direkt aus dem vorangegangen Rezitativ ab. Die Arie steht

in einem beschwingten 3/8- Takt und wir werden sehen, wie Bach mit einem Kunstgriff,

diese Beschwingtheit noch erhöht. Das Thema der nachfolge lässt sich natürlich

kompositorisch prächtig umsetzen (Stichwort Kanon oder Fuge). Zuerst wird ein

wunderbares Flötenmotiv vorgestellt (spielen T. 1-4), das daraufhin im Continuo

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fortgesetzt wird. Nachfolge geschieht auch in der langen Sechzehntelkette der folgenden

Takte, hören wir auf die ersten drei Töne eines jeden Taktes und bemerken wir, wie sie

sich ganz allmählich nach oben „schrauben“ (spielen T. 5 ff). Der Kunstgriff Bachs besteht

jedoch in einem „Nachhinken“ des Continuos (T. 1). Dies lässt sich jedoch aus dem

Klavierauszug schwer entnehmen, doch in vielen Takten fehlt die erste Note im Bass.

Dieser Effekt ist unglaublich, weil tatsächlich der Eindruck entsteht, die Continuo- Gruppe

hinke hinterher.

Der Einstieg der Sopranstimme wird gleich als Kanon durch die Flöten fortgesetzt (T. 17),

zuerst einmal nur mit dem Text der ersten Gedichtzeile „Ich folge dir gleichfalls mit

freudigen Schritten“. Nach einem kleinen Zwischenspiel wird dann der gesamte erste

Text vorgebracht: „… und lasse dich nicht, mein Leben, mein Licht.“ Bei Buchstabe C (T.

41) wird das Vorspiel in einer neuen Tonart gebracht und der Mittelteil der Arie setzt ein

mit dem Text „Befördre den Lauf“. Wunderschön die Lautmalerei, die Bach für den

Textabschnitt verwendet „höre nicht auf, an mir zu ziehen, zu bitten, zu schieben“ (T. 61

ff). Diese Figur nennt sich Gradatio und macht auf mich einen ungeheuer modernen

Eindruck (beinahe wie eine Jazzimprovisation). Besondere Beachtung verdienen die

lauten Exclamatio- Rufe auf die Worte „höre nicht auf“ (T. 86 ff).

Auch diese Ari schließt mit einem integrierten Da- Capo- Teil ab T. 113/Buchstabe I).

Hören NBA 9/EP 13

PAUSE

5. Rezitativ: „Derselbige Jünger “ (NBA 10/EP 14)

Die Takte 1-4 führen uns und Petrus in den Palast des Hohenpriesters, es findet also ein

Schauplatzwechsel statt, wir haben uns endgültig vom Garten verabschiedet. Noch

ahnen wir nicht, welche dramatische Wendung das Geschehen gleich für Petrus nehmen

wird. Er rückt erst mit T. 5 in unser Blickfeld: Er wird seinen Standort ändern müssen, um

bei Jesus zu sein, denn er steht draußen vor der Tür. Bach wird also sein harmonisches

Fundament ändern. Dies tut er, indem er von anfänglich F- Dur (T. 5 Standort des Petrus)

zu A- Moll moduliert (T. 11 Standort der Magd). Beachtenswert, wie Bach selbst eine

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grammatikalische Kleinigkeit wie einen eingeschobenen Relativsatz im Deutschen („der

dem Hohepriester bekannt war“) in Musik umsetzt. So ein eingeschobener Satz ist nicht

betont, deswegen wechselt der Evangelist die Tonlage, die eigentliche Melodie geht über

die Töne e („Jünger“) über fis („hinaus“) zu g („redete“). Gleiches auch im Satz „Da

sprach die Magd, die Türhüterin, zu Petro“. Diese Frage erwischt Petrus eiskalt und er

leugnet, bekräftigend mit einem Vorhalt: „Ich bin´s nicht“. Als er zu den Knechten geht,

die sich am Feuer wärmen, sehen wir wieder Bachs Klangrede in Reinform („wärmeten“).

Die Rede Jesu drückt wiederum große Souveränität und aus und ist klangschön

komponiert (.z.B. T. 35: „was ich gesagte habe“, spielen).

Mit einem Mal bricht Hektik aus, die durch beinahe unkontrollierte Tonsprünge

gekennzeichnet wird (T. 37-41). Ein Knecht schlägt Jesus ins Gesicht, die Rede Jesu

wiederum büßt nichts von ihrer Ruhe und Kraft ein. Kennzeichnend sind die beiden Worte

„geredt“: in der vermeintlich üblen Rede als verminderte Sept (!) aufwärts (T. 43), in der

vermeintlich guten Rede als kleine Sept abwärts (T. 45). Der Schluss ist wiederum offen

komponiert und führt zum anschließenden Choral „Wer hat dich so geschlagen?“

6. Choral: „Wer hat dich so geschlagen? “ (NBA 11/EP 15)

Ich bin der Überzeugung, dass dieser Choral eine der einfühlsamsten Stellen der Passion

darstellt, auch wenn die Melodie eine durchaus weltliche Weise darstellt. Bach verwendet

die Melodie des Liedes „Innsbruck, ich muss dich lassen“ von Heinrich Isaac mit dem

Text des Paul Gerhardt- Liedes „O Welt, sieh hier dein Leben.“ Es geht um die Frage

nach Schuld und Vergebung, nach der Ursache des Leidens und Sterbens Jesu. Wie

sehr sich die Gemeinde unter dieses Leiden stellt, zeigt v.a. die zweite Strophe „Ich, ich

und meine Sünde, die sich wie Körnlein finden“. Der Focus wird weggelenkt vom

wütenden Knecht und hin auf das eigene Herz und Handeln.

Hören NBA 10+11/EP 14+15

7. Rezitativ: „Und Hannas sandte“ (NBA 12a/EP 16) und

8. Chor: „Bist du nicht“ (NBA 12b/EP 17)

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Das kurze, zum nachfolgenden Turba- Chor überleitende Rezitativ greift noch einmal die

Verzierung des Wortes „wärmete“ auf (T. 4), bevor dann der Sturm der Neugier auf

Petrus losbricht: „Bist du nicht seiner Jünger einer?“

Bach komponiert in 17 Takten eine Musik, wie sie kaum spöttischer sein kann. Die

unzähligen „Bist du nicht?“ – Rufe der Volksmenge werden colla voce (= mit den

Stimmen) vom Orchester mitgespielt. Dadurch entsteht der Eindruck eines

Klanggerippes, aus welchem immer wieder Töne wie spitze Finger hervorragen.

Trotzdem gibt es ein musikalisches Thema, das zuerst der Bass vorbringt (T. 1:

Ausgangston e), danach der Tenor übernimmt (T. 2: Ausgangston a), dann der Alt (T. 6:

Ausgangston e), später der Sopran (T. 8: Ausgangston a). Wir haben hier den Beginn

einer klassischen Fuge. Der Schlussakkord E- Dur wird abrupt unterbrochen durch das

Continuo und seinem E- Dur- Septakkord, der die ernute Leugnung der Petrus einleitet.

9. Rezitativ: „Er leugnete aber“ (NBA 12c/EP 18)

Der Einsatz des Petrus ist höher, deutlicher geworden, er möchte auf keinen Fall diese

Anschuldigungen auf sich sitzen lassen. Die dritte Verleugnung ist, obwohl nur indirekter

Bericht des Evangelisten, am heftigsten (T. 7: Nonsprung). Das Krähen des Hahns ist

lediglich im Cello angedeutet (T. 8: aufsteigender Septakkord). Dieser Effekt ist Bach

nicht sonderlich wichtig, wohl aber das, was sich danach abspielt. Allerdings kommt ie

Reue des Petrus im Johannes- Evangelium nicht vor, so dass Bach einen Bericht aus

Matthäus einfügt. Dies zeigt, wie ausgesprochen wichtig Bach dieser Abschnitt war. Über

den „Jesus- Ton“ g´´ (T. 10) erreichen wir ein sechstaktiges lyrisches Intermezzo, das

Bach mit Adagio überschreibt. Er möchte damit, dass sich Charakter, Tempo und

Ausdruck deutlich vom bisherigen Evangeliumsbericht unterscheiden. Ein Blick genügt

und wir erkennen, dass Bach das Wort „weinte“ besonders wichtig ist. Hier weint mit

Petrus auch der Evangelist. Der Bass steigt chromatisch auf und nieder (chroma = Farbe;

Musik in Halbtonschritten), während der Sänger weit ausladende Linien singt, die meist

mit Haltebögen über die Taktschwerpunkte hinweg eine rhythmische Verschleppung

erfahren. Der Tenor beschreibt in T. 14 sogar einen passus duriusculus aus dem

Lehrbuch (d-ais), indem er einen chromatischen Gang über den Abstand eines Tritonus

intoniert. In derselben Tonart, in der das Rezitativ endet, beginnt auch die nachfolgende

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Arie, die mit zu den anspruchsvollsten Tenorarien aus der Feder Bachs zählt. Die Klippe

für jeden Sänger sind die großen Tonsprünge, die Ausdruck des Erschreckens und der

Verzweiflung sind.

10. Arie: „Ach mein Sinn“ (NBA 13/EP 19)

Bachs Einfallsreichtum ist unerschöpflich. Grundlage der zerklüfteten Arie ist ein

einfaches Bass- Motiv, das immer an wichtigen Stellen (z.B. bei neuen Textabschnitten)

für einen Sinnzusammenhang sorgt. Betrachten wir den chromatischen Bassabstieg in

den ersten drei Takten (fis-es-e-dis-d), dies ist ein so genannter Lamento- Bass, eine

klagende und drückende Figur, die vor allem im langsamen spanischen Schreittanz der

Sarabande vorkommt. Ihre Merkmale sind ein langsamer Dreier- Takt (siehe ¾- Takt) und

ein besonderer Schwerpunkt auf Schlag zwei des Taktes (s. T. 1, vorspielen). Bach

verwendet also dieses konventionelle Werkzeug, um der Traurigkeit des Petrus Ausdruck

zu verleihen. Die Sperrigkeit des Stückes ist auf den Text zurückzuführen, den Bach aus

einem zeitgenössischen Gedicht „Der weinende Petrus“ entnommen hat. Er ist dreigeteilt:

T. 1-46:

„Ach, mein Sinn, wo willt du endlich hin, wo sollt ich mich erquicken?“

T. 47-59:

„Bleib ich hier, oder wünsch ich mir Berg und Hügel auf dem Rücken?“ (lang anhaltende

Noten bei „bleib ich hier“)

T. 63-89:

„Bei der Welt ist gar kein Rat, und im Herzen stehn die Schmerzen meiner Missetat, weil

der Knecht den Herrn verleugnet hat.“

Lenken wir die Aufmerksamkeit noch auf die Worte „verleugnet“ (T. 83): dort finden wir

mit den Überbindungen eine Rückführung auf das lang anhaltende Weinen im vorigen

Rezitativ. Offensichtlicher wird der Rückgriff bei den letzten Tönen des Tenors (T. 87-89):

Diese Phrase orientiert sich genau an den Tönen des vorherigen Rezitativs (Nr. 12c/18 T.

15; siehe Notenbeispiel 2)

11. Choral: „Petrus, der nicht denkt zurück“ (NBA 14/EP 20)

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Der anschließende Choral, der ja auch den ersten Teil der Passion beendet, steht in der

Tonart A- Dur, der parallelen Tonart zur Arie davor. Dadurch kehrt nach dem

aufwühlenden Höhepunkt ein wenig Ruhe ein. Bach beschwichtigt dadurch auch den

konservativen Hörer nach der affektgeladenen „Bühnenmusik“ der Arie und gibt den Weg

frei für die Karfreitagspredigt. Der Blick von Jesus (T. 5) wird für Petrus beschuldigend,

entlarvend interpretiert; für den Gläubigen wird der Blick als heilsam, das Gewissen

rührend empfunden. So schließt Bach den Choral in der zweiten Hälfte auch nahezu

flehend und außerordentlich tröstlich.

Hören NBA 12a/EP 16 bis fine

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Arie Nr. 7/11, T. 1-2Oboe II

Notenbeispiel 1

Akt II: Hannas

� � � �Von

�den

� � � � �Strik -�� � � ��

Arie Nr. 7/11, T. 9-11Alt

� �� � ��Es

�ist

� �voll -

� � ��bracht,

�Arie Nr. 30/58, T. 5Alt

��� �� � � ��� � � ��� � �Arie Nr. 13/19, T. 1-5Violoncello

Notenbeispiel 2

��

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1

Akt III: „Pilatus“ (NBA 15-24/EP 21-48)

1. Ouvertüre: „Christus, der uns selig macht“ (NBA 15/EP 21)

Wie ganz anders ist der Beginn des Parte seconda, also des zweiten Teils, im Vergleich

zum Beginn der gesamten Passion. Der Vorhang hebt sich und das Drama geht in die

entscheidende Phase. Vorab hält Bach mit diesem Choral das Motto für alle noch einmal

fest: „Christus, der uns selig macht“- dies ist seine unerschütterliche Wahrheit. Hierfür

braucht es keine dramatische Chorfuge und keinen ausgedehnten Orchestersatz, schon

gar keine überbordende Arie. Die Wahrheit der Bibel passt in 17 schlichte Takte, ja

vielleicht sogar in nur zwei hinein. Diese Wahrheit steht seit Anbeginn der Welt, sie ist

keine Erfindung der zeitgenössischen Schriftsteller und deswegen wählt Bach ganz

bewusst eine Tonart, die auf die alte Zeit, geradezu auf die Anfänge der abendländischen

Musik hinweist. „Christus, der uns selig macht“ ist ein altes lutherisches Kirchenlied von

Michael Weiße (um 1531) und seine Melodie steht in der Kirchentonart phrygisch auf e.

Erklärung: das Dur- Moll- tonale System, welches uns heute vertraut ist, ist noch gar nicht

so alt und konnte sich erst im 17. Jh. (also kurz zu Lebzeiten Bachs) gegen das

kirchentonale System durchsetzen. Im Mittelalter orientierte man sich an der

Musiküberlieferung aus dem antiken Griechenland, das 8 bis 12 unterschiedliche

Tonleitern kannte, denen man die Namen von griechischen Volksstämmen gab. So

kommt es zu Tonleitern mit den Namen dorisch, phrygisch, lydisch, ionisch. Aus zwei

dieser Tonleitern (äolisch und ionisch), die unserem heutigen Dur und Moll entsrechen,

wurde unser Tonsystem „reduziert“, zusammengefasst und übersichtlich gestaltet. Dank

eines mathematischen Rechenspiels eines A. WERCKMEISTER 1686 etablierten sich 12

gleichwertige Tonarten in seiner „temperierten“ (d.h. ausgeglichenen) Stimmung, die

Bach umgehend nutzte, und ein dazugehöriges Lehrwerk in zwei Bänden verfasste, das

„Wohltemperierte Klavier“ (1722 und 1744; also in unmittelbarer Nähe zur

Entstehungszeit der Johannes- Passion). Die Emanzipation der Töne als gleichwertige

Partner findet ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluss in der so genannten „Zwölf-

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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007

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Ton-Musik“ der Neuen Wiener Schule, ca. 1910 um die Komponisten, A. Schönberg,

Alban Berg und Anton Webern.

Wir haben uns weit von unserer Passion entfernt. Als Zusammenfassung gilt: Für den

Choral „Christus, der uns selig macht“ wählt Bach eine alte Tonart, die vom „Aussterben

bedroht“ war. Die Wahrheit ist alt und unumstößlich. Die Ordnung verrät etwas von

Genauigkeit und Strenge, immer zwei Takte sind zu einer Einheit zusammengefasst. Nur

der letzte Abschnitt wird durch den Einschub eines dritten Taktes gestreckt. Durch dieses

klare und regelmäßige Ordnungssystem wird die klare und sachliche, beinahe schon

distanzierte Aussage unterstrichen. Trotzdem verzichtet Bach nicht auf unscheinbare

Kunstgriffe inmitten der formalen Strenge, zwei seien an dieser Stelle genannt:

1. Die Takte 7+8 entsprechen von der Melodie genau den beiden vorletzten Takten

(T.15+16). Wie unterschiedlich ist jedoch die Harmonisierung, wie unterscheiden

sich jedoch die Begleitakkorde! Wenn von Jesus die Rede ist, der wie ein

gemeiner „Dieb“ gefangen wird, jagt eine Dissonanz die nächste. Scharfe Akkorde

fehlen bei der Beschwörung der „Schrift“, also der Bibel, völlig. Ihre Aussage ist

klar und unverfälscht (spielen).

2. Der Takt 11 beschreibt das falsche Zeugnis der Ankläger, den Bruch des Gebotes

„Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, und so begeht Bach

auch in der Musik einen Regelverstoß. Dies wiegt besonders schwer, da es sich

um einen vierstimmigen Choralsatz handelt, bei dem es festgelegte

Kompositionsregeln gab, die für alle Komponisten galten. Bach nutzte diese Regen

und ihre Grenzen bis zur Neige aus, um besonderen Textstellen „Würze“ zu

geben. Der Regelverstoß, um den sich bei dem Wort „fälschlich“ handelt, ist die

chromatische Fortschreitung in den Stimmen. In einer Stimme allein wäre es schon

verboten, Bach tut dies in zwei Stimmen gleichzeitig (Bass: es-d-cis-d; Tenor: b-a).

Es handelt sich hier um so genannte „Querstände“.

Besondere Herausforderung birgt dieser Choral für den Chor im Sinne der richtigen

Wortbetonung. Bach musste durch seine strenge Zweitaktigkeit in Kauf nehmen, dass

manche Worte mit unbetonten Silben auf eine betonte Taktzeit kommen (T. 13: „verlacht“

und „verhöhnt“). Auf der einen Seite stört diese Unregelmäßigkeit den Fluss an genau der

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richtigen Stelle, wo es um den Spott geht, auf der anderen Seite ist es Aufgabe des

Chores, sie so zu singen, dass sie nicht stümperhaft klingt. Ich bin sicher, Philippe

Herreweghe und das Collegium Vocale Gent machen dies ausgezeichnet.

Hören NBA 15/EP 21

2. Rezitativ: „Da führeten sie Jesum“ (NBA 16a/EP 22) und

3. Chor: „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“ (NBA 16b/EP 23)

Der Beginn des Schauprozesses gegen Jesus vor Pilatus ist gekennzeichnet durch

Bewegung: „Da führeten sie Jesum von Caipha vor das Richthaus“, inhaltlich wie

musikalisch liegt die Betonung auf dem Wort „vor“, handelt es sich doch um die

Bemühungen der Juden, das Reinheitsgebot auf alle Fälle zu halten. „Frühe“ erfährt von

Bach ebenso eine besondere Betonung. Im Allgemeinen hebt Bach im Folgenden die

üble Taktik der Verleumder und Ankläger hervor, indem er (wie bereits betrachtet,

regelwidrig) durch dissonanten Akkorde und Tonsprünge unterschiedliche Worte

hervorhebt:

T. 4: „Richthaus“ mit Tritonussprung d-gis und gis-d bei „auf dass“

T. 5: „unrein“ mit dissonantem Akkord

T. 8: „hinaus und sprach“: die Töne g-e-a-h bilden einen Chiasmus, also die Kreuzfigur.

Von Beginn seines Auftretens an wird klar, wie die Verhandlung enden wird. Noch

allerdings ist nichts entschieden, selbst die Zögerlichkeit des Pilatus ist durch die Pause

angedeutet.

T. 9: „Klage wider“: der verminderte Dreiklang abwärts mit Tritonusabstand d-gis zeigt die

Abgründigkeit ihrer Klage

T. 10: „Sie antworteten und sprachen zu ihm“: schnelles Tempo, Septsprung symbolisiert

die Erregung und der Tritonussprung g-cis die Falschheit der folgenden Aussage.

→ Bach entlarvt wie ein Detektiv bereits im Vorfeld die Lüge

Mit voller Wucht schlägt nun die Menge des Volkes zu: „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“

beginnt zwar in allen Stimmen gleichzeitig, doch komponiert ist eine Fuge, eine

regelwidrige noch dazu.

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Die Fuge gilt als eine der besonderen Gattungen der Barockzeit, obwohl zu allen Zeiten

Fugen komponiert worden sind, sieht man die Fugen für Klavier oder Orgel von Bach als

den Höhepunkt dieser Gattung an. Auch die Komposition einer Fuge war strengen

Richtlinien unterworfen. Beispielsweise durfte zu Beginn einer Fuge erst die nächste

Stimme einsetzen, wenn die vorherige Stimme das Thema einmal vollständig vorgetragen

hatte. Das erleichterte natürlich auch das Hören. Übereinander gelegte Stimmeneinsätze

werden als „Engführungen“ bezeichnet.

Schauen wir also auf den Beginn unserer Fuge und beachten die Einsätze des Themas

„Wäre dieser nicht ein Übeltäter“ (Bass T. 1-3). Es ist ein Thema, das wieder des Passus

duriusculus aufwärts beschreibt, die chromatische Linie, schmerzvoll und vehement

anklagend. In T. 3 setzt der Alt ein und zwei Viertel später der Sopran. Die Regel der

Fugenlehre ist also hier bereits über Bord geworfen. Noch etwas ist auffallend bei der

„Übeltäter- Fuge“: Zählen wir einmal gemeinsam die Themeneinsätze. Wir kommen auf

elf, der letzte Einsatz durch die lange Note a des Basses unübersehbar vorbereitet. Bach

möchte uns mit der Nase auf etwas stoßen: 11 ist die Zahl 12 – 1: Die Zahl der

Vollkommenheit (12 Apostel) wird unvollkommen. Ein Apostel fehlt und wird hier in

direktem Zusammenhang gebracht mit der falschen Anklage. Oder anders ausgedrückt:

Wenn es hier einen Übeltäter gibt, so ist das Judas. Ist das Spekulation? Ich denke nicht,

denn in T 13 beginnt ein neuer Textabschnitt „wir hätten ihn nicht überantwortet“, sehr

übertrieben dargestellt mit langen Sechzehntelketten, bevor der Chor endet mit den

heftigen Rufen „nicht, nicht, nicht“. Man hat den Eindruck, hier wird sich in Rage geredet.

4. Rezitativ: „Da sprach Pilatus zu ihnen“ (NBA 16c/EP 24)

5. Chor: „Wir dürfen niemand töten“ (NBA 16d/EP 25)

Die Antwort des Pilatus „So nehmet ihr ihn hin und richtet ihn nach eurem Gesetze“

betont das Wort „eure“ durch den verminderten Dreiklang abwärts und den

Tritonusabstand d-gis und entlarvt die Berufung auf das Gesetz der Juden als Heuchelei.

Der nachfolgende Chor hat zwei musikalische Bezugspunkte

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1. Der vorausgegangene Chor (Kennzeichen: das chromatisch aufsteigende Thema,

das zuerst der Bass vorbringt, T. 1; die übergebundenen Achtel mit zwei

angehängten Sechzehntel)

2. Der Chor „Jesum von Nazareth“ (NBA 2b/EP 3), Kennzeichen:

Sechzehntelbegleitfigur der Flöten und Violinen.

Bach setzt diesen Chor einen Ton höher an, als den vorausgegangenen „Übeltäter-

Chor“. Die Vehemenz der Anklage nimmt zu. Absolut lächerlich und ein Zeichen für

Bachs Humor: Der Tenoreinsatz verspätet sich, er plappert einfach nur nach.

Hören NBA 16a-16d/EP 22-25

6. Rezitativ: „Auf dass erfüllet würde“ (NBA 16e/EP 26) und

7. Choral: „Ach großer König“ (NBA 17/EP 27)

Im Gespräch zwischen Pilatus und Jesus gibt es einige besondere Höhepunkte:

T. 3+4: „deutete“ und „Todes“ haben beide denselben Ton (= musikalische Vorausschau)

T. 4: „sterben“: verminderter Septsprung und ausgedehntes Melisma (d.h. Verzierung)

T. 6: „Richthaus“: Tritonussprung (s.o.)

T. 11: „andere von mir gesagt“: verminderter Dreiklang (musikalischer Zeigefinger auf die

Ankläger)

Die Rede Jesu von seinem Reich verdient besondere Aufmerksamkeit, da Bach sie

außerordentlich liebvoll ausgestaltet: Der Ton des Reiches Gottes ist in seinem Fall das

hohe e des Baritons, der Spitzenton der Jesus- Partie. Das Reich, von dem Jesus spricht

ist im Jenseits, nicht in dieser Welt, sehr im Widerspruch zu den Erwartungen, die die

Zeitgenossen an Jesus gestellt hatten. Besonders deutlich wird dies im letzten Takt beim

Oktavsprung „mein Reich“. Hier wird die Blickrichtung des Zuhörers von der Erde zum

Himmel gelenkt.

T. 18+19: „darob kämpfen“: ausgedehnte Tonmalerei. Bach verwendet an dieser Stelle

den traditionsreichen Ruf all´ arma (zu den Waffen!) des 17. Jh. der sich bis in unsere

Zeit durch die „Feuerwehrquart“ erhalten hat.

Bach unterbricht an dieser Stelle den Gerichtsprozess und fügt zwei Choralstrophen des

Liedes „Herzliebster Jesu“ ein, dessen Melodie wir bereits im Choral NBA 3/EP 7 kennen

gelernt haben. Bach fügt dem Choral eine ruhig fließende Achtelbewegung im Bass hinzu

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und unterstreicht damit die Würde des Königs Jesus, um dessen Legitimation es im

darauf folgenden Gespräch geht.

Hören NBA 16e-17/EP 26-27 und mitsingen

8. Rezitativ: „Da sprach Pilatus zu ihm“ (NBA 18a/EP 28) und

9. Chor: „Nicht diesen“ (NBA 18b/EP 29) und

10. Rezitativ: „Barrabas aber war ein Mörder“ (NBA 18c/EP 30)

Bach zeichnet im Rezitativ tonartlich unterschiedliche Stationen nach:

Pilatus beginnt in F- Dur (T. 1); Jesus antwortet in G- Dur (T. 5), spricht von der Wahrheit

in D- Dur (T. 8) und beendet seine Rede in H- Moll (T. 10). Die ratlose Frage des Pilatus

„Was ist Wahrheit“ benutzt wieder die Tonart D- Dur, also Jesu Wahrheit (T. 11). Hilflos

deutet Pilatus den Juden an, dass er keine Schuld an Jesus findet (T. 14: A- Moll). Die

stereotype Antwort des Volkes „Nicht diesen“ steht in D- Moll. Das musikalische Material

der Sechzehntelbegleitung ist hinreichend bekannt (NBA 2b/EP 3, s.o.), bezeichnend,

dass dieses Mal, der Bass mit dem Ruf nach Barrabas zu spät kommt (T. 3).

Attacca (also sofort) setzt die Erklärung des Evangelisten ein, wer Barrabas überhaupt

ist. Deutlich werden die Signalworte „Barrabas“ und „Mörder“ (T. 2) hervorgehoben.

Die Geißelung Jesu ist besonders lautmalerisch gestaltet und hinterlässt beim Hörer

einen tiefen Eindruck. Bach lässt von zwei Knechten je 24 Geißelhiebe auf Jesus

niederprasseln, symbolhaft steht die Zahl zwölf für die Vollkommenheit, er wird also

salopp formuliert „fertig gemacht“.

Hören NBA 18a-c/EP 28-30 (Ansage: wir schließen als Hörbeispiel das anschließende

Arioso gleich an; Vorbemerkung: Das Arioso: „Betrachte meine Seel“ (NBA 19/EP 31)

bietet uns eine klangliche Überraschung an: Die Besetzung ist wie folgt: Viola d´ amore

I+II, Solo- Bass, dazu Laute und Bassono grosso, ein tiefes Fagott)

PAUSE

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11. Arie: „Erwäge“ (NBA 20/EP 32)

Die große (und einzige) Da- Capo- Arie stellt eine Verbindung mit den beiden voran

gegangenen Musikteilen her. Zum einen übernimmt Bach die Instrumente des Bass-

Ariosos (wir haben es also erneut mit einer sehr „weichen“ Musik zu tun, zum anderen

weckt das rhythmische Motiv des Sechzehntels mit den beiden angehängten

Zweiundreißigstel Erinnerungen an die dramatische Geißelungsszene. Grundlage der

Arie sind die Worte „erwägen“ (eben erwähntes Motiv T. 1), Regenbogen (Continuo T. 1

Ende) und „Wasserwogen“ (Violen T. 22; punktierter Rhythmus). Die Disposition ergibt

sich wie folgt:

Teil A (T. 1-21), Teil B (T. 22-42), Teil A´(T. 1-21)

Hören NBA 20/EP 32

12. Rezitativ: „Und die Kriegsknechte“ (NBA 21a/EP 33) und

13. Chor: „Sei gegrüßet“ (NBA 21b/EP 34) und

14. Rezitativ: „Und gaben ihm Backenstreiche“ (NBA 21c/EP 35)

Der Bericht von der Dornenkrone mündet in der großen Verspottung der Menge „Sei

gegrüßet, lieber Judenkönig“. Bach komponiert den Hohn und den Spott in großartiger

Weise: Wieviel Verachtung liegt dem Thema, das der Sopran exponiert (T. 1): Die

Bewegung nach oben als Hinwendung zu Jesus, de absteigende Achtellinie als Beugen

des Oberkörpers, der Spitzenton g bei „lieber“. Das Orchester nimmt das Verbeugen auf

durch die Sechzehntelketten und die auf- und absteigenden Bassfiguren. Während zuerst

viele Stimmen einzeln spotten, vereinigen sie sich in T. 8 zu einem wuchtigen

einheitlichen „sei gegrüßet“.

Den Worten folgt die Tat, bevor Pilatus noch einmal versucht, Jesus frei zu bekommen.

Voller Schmerz intoniert er das ecce homo (T. 10), bevor die Raserei der Menge

weitergeht.

Hören NBA 21a-21c/EP 33-35

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„Die Zielscheibe“

Der erste Ring

15. Chor: „Kreuzige“ (NBA 21d/EP 36)

Zwei Elemente sind in diesem tumultartigen Satz vorherrschend:

1. Haltetöne einer Stimme, die sich mit den Haltetönen einer anderen Stimmen

reiben (T. 1)

2. rhythmisch pointierte „Kreuzige“- Rufe in großen Tonsprüngen (ebd.)

Unzählige Male finden wir in diesem Satz den chiasmus, die Kreuzfigur

Hören NBA 21d/EP 36

Der zweite Ring

16. Rezitativ: „Pilatus sprach zu ihnen“ (NBA 21e/EP 37) und

17. Chor: „Wir haben ein Gesetz“ (NBA 21f/EP 38)

Der letzte Versuch, Jesus frei zu bekommen, scheitert. Die Juden wiederum berufen sich

auf ihr Gesetz, deswegen klingt der nachfolgende Chor „gesetzlich“. Den Instrumenten ist

keine Sonderrolle zugedacht, sie begleiten den Chor colla voce (s.o.) und untersteichen

so die Sprödigkeit der Aussage. Strenge entsteht durch die formale Anlage einer Fuge,

deren Thema beim Wort „sterben“ (T. 3) an die Haltetöne des „Kreuzige“- Chores erinnert

(nebenbei bilden auch hier die Töne eine Kreuzfigur). Auffallend ist, dass der Satz sich

selber in die Höhe putscht. Er beginnt in tiefer Lage und in F- Dur und endet in höherer

Lage und in A- Dur. Musikalisch wird so Jesu Anspruch, Gottes Sohn zu sein,

unterstrichen.

Hören NBA 21e/EP 37

Der dritte Ring

18. Rezitativ: „Da Pilatus das Wort hörete“ (NBA 21g/EP 39)

Die folgende Unterredung macht deutlich, in welchen unterschiedlichen Positionen Jesus

und Pilatus sind. Schon einig Male ist über die Tonarten der Rezitative gesprochen

worden. Hier wird besonders deutlich: Die staunende Frage „Von wannen bist du?“ wird

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auch in den Tonarten beantwortet: Pilatus (D- Moll; T. 4); Jesus (Cis- Moll; T. 15), ein

Blick auf den Quintenzirkel macht deutlich: viel unterschiedlicher können Positionen nicht

sein. Die letzten Worte des Evangelisten drücken auf wunderbar lyrische Weise das

Mitleid wie auch die Hilflosigkeit des Pilatus aus.

Hören NBA 21g/EP 39

Der innerste Ring

19. Choral: „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ (NBA 22/EP 40)

Der in E- Dur stehende Choral ist bezieht sich in seiner Tonart auf die Rede Jesu in Cis-

Moll. Er bildet einen Ruhepunkt und ist gleichzeitig der Wendepunkt des Geschehens, da

er an der Stelle steht, an welchem die Handlung umschlägt. Wenn Pilatus bisher noch

Jesus losgeben wollt, so ist er im Folgenden dem Drängen der Juden hilflos ausgeliefert.

Das Wort „Knechtschaft“ erfährt hier eine besondere Betonung, zum einen im Gedicht

von Christoph Heinrich Postel

Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein,

Müsst unsre Knechtschaft ewig sein,

zum anderen in der Vertonung von Bach. In T. 9 verdeutlichen die Haltebögen im Alt die

Fesseln (s. Notenbeispiel), zum anderen die parallele Bewegung von Tenor und Bass in

T. 11.

Im Folgenden beschreiten wir die „Ringe der Zielscheibe“ rückwärts, wobei Beziehungen

zwischen den einzelnen „Ringpaaren“ in Bezug auf Besetzung, Ausdruck oder Inhalt

deutlich werden.

Hören NBA 22/EP 40

Der dritte Ring

20. Rezitativ: „Die Juden aber schrieen und sprachen“ (NBA 23a/EP 41)

Das Rezitativ bildet die bloße Überleitung zum folgenden Chor, dem

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Zweiten Ring

21. Chor: „Lässest du diesen los“ (NBA 23b/EP 42) und

22. Rezitativ: „Da Pilatus das Wort hörete“ (NBA 23c/EP 43)

Dieser Chor korrespondiert in Kompositionstechnik, Motivik und Länge dem Chor „Wir

haben ein Gesetz“. Vergleichen wir das Fugenthema, so fällt auf, dass Bach es

rhythmisch geringfügig durch die Hinzunahme von zwei Sechzehntelfiguren verändert

hat. Dabei fällt die Betonung auf „diesen“, nämlich Jesus. Dieses Kompositionsverfahren

der neuen Textierung einer alten, meist weltlichen Musik, nennt sich Parodieverfahren. Es

war bei Komponisten der Barockzeit wie auch noch der Klassik besonders beliebt (Bsp.:

Das Weihnachtsoratorium besteht zu weiten Teilen aus Parodien, „Jauchzet frohlocket“

ist der Eingangschor der weltlichen Bach- Kantate „Tönet ihr Pauken“, BWV 214).

Nebenbei ist der Bezug auf den „Chor „Wir haben ein Gesetz“ auch textlicher Natur, wenn

es heißt „wer sich zum Könige macht, der ist wieder den Kaiser“. Wir haben es also beim

zweiten Ring mit „politischen“ Stücken zu tun.

Übrigens: Seit dem Choral „Durch dein Gefängnis“ bewegen wir uns ausschließlich in

Kreuztonarten, ein Zeichen dafür, dass die Kreuzigung nahe ist.

Im Rezitativ NBA 23c/EP 43 präsentiert Pilatus spöttisch gemeint, aber ernsthaft vertont

den Juden Jesus als „ihren“ König. Diese Aussage ist der Schwerpunkt des Reizitativs.

Hören NBA 23a-c/EP 41-43

Der erste Ring

23. Chor: „Weg, weg mit dem“ (NBA 23d/EP 44)

Dieser Chor korrespondiert in Motivik und Aussage dem „Kreuzige“- Chor (NBA 21d/EP

36). Nach dem anfänglichen Rufe „weg, weg“, die ein großes Durcheinander bilden,

vereinigen sich immer wieder zwei Stimmen im „Kreuzige“- Kanon (T. 4), der uns mit

seiner dissonanten Haltetonmotivik vertraut ist. In T. 21 vereinigen sich die Stimmen zu

Kanonpaaren und verleihen der Forderung mehr Gewicht und münden am Ende in den

einmütigen Schrei „Kreuzige ihn!“.

Hören NBA 23d/EP 44

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24. Rezitativ: „Spricht Pilatus zu ihnen“ (NBA 23e/EP 45) und

25. Chor: „Wir haben keinen König“ (NBA 23f/EP 46) und

26. Rezitativ: „Da überantwortete er ihn“ (NBA 23g/EP 47)

Die letzte Frage Pilatus „Soll ich euren König kreuzigen“ spielt mit dem Spitzenton e auf

die Aussage Jesu nach seinem Königreich an (NBA 16e/EP 26). Sie ruft einen wilden

Proteststurm hervor: „Wir haben keinen König“. Wir kennen die instrumentale Begleitung

der Streicher bereits aus früheren Sätzen (NBA 2b/EP 3).

Das Rezitativ mit der Verkündigung des Todesurteils besticht durch die Verzierung des

Wortes „gekreuzigt“ und „Golgatha“. Der Spitzenton g erinnert an den Ton Jesu. Jetzt ist

er am Ort seiner Bestimmung angekommen.

Hören NBA 23e-g/EP 45-47

27. Arie + Chor: „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ (NBA 24/EP 48)

Mit dieser Arie für Solo- Bass und Chor schließt der überdimensionale 3. Akt der Passion.

Sie greift textlich den Ort Golgatha auf und verwendet hierfür einen Text aus der

Passionsdichtung des Hamburger Rates Hinrich Brockes. Ganz im Zentrum steht das

Motiv des Eilens, das als Kanon einer Tonleiter komponiert ist (T. 1 und 3). Sie stellt eine

Anabasis, eine aufstrebende Bewegung, dar. Ihr Ziel: Golgatha. Der Chor ist dreistimmig

besetzt (als Zeichen für die drei Kreuze?) und exponiert. Ähnlich wie im Eingangschor der

Matthäuspassion („Sehet, wen? Den Bräutigam“) gibt es Frage und Antwort, die zwischen

Chor und Solist aufgeteilt sind. Dreimal neun Frageeinsätze zählen wir im Chor, sie teilen

den Satz in eine gleichmäßige A-B-A´- Form ein. Die Grundtonart G- Moll erinnert

zusätzlich an den Eingangschor und schafft somit einen Rahmen innerhalb der gesamten

Passion.

Hören NBA 24/EP 48

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Akt IV: „Der Gekreuzigte“ (NBA 25a-37/EP 49-65)

1. Rezitativ: „Allda kreuzigten sie ihn“ (NBA 25a/EP 49)

Wir haben die Verhältnisse der Tonarten untereinander schon ein wenig besprochen. Mit

dem Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ als Mittelpunkt des 3. Aktes ergibt sich

eine Wende in den Tonarten der einzelnen Stücke. Vermehrt, ja beinahe ausschließlich

tauchen „Kreuztonarten“ auf (E- Dur, A- Dur, Cis- Moll, Fis- Moll) als Zeichen für die

unausweichliche Erhöhung Jesu am Kreuz. Eigenart der Kreuztonarten ist daneben aber

auch eine eher strahlende Farbe und leuchtende Kraft. Mit der Ankunft Jesu auf dem

Hügel Golgatha (NBA 23g/EP 47) ändert sich dies. Die Arie „Eilt, ihr angefochtnenen“

Seelen bildet das Bindeglied zwischen den Tonarten des 3. und den Tonarten des vierten

Aktes. Hier dominieren die B- Tonarten (G- Moll, Des- Dur, B- Dur, Es- Dur), ihr Charakter

ist eher weich und rund, traurig oder sogar warm. Nebenbei (wir werden noch darauf

kommen), ist eine B- Tonart und nicht etwa eine Kreuztonart das Zeichen für einen König.

Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Bach mit dem Bericht der Kreuzigung im

Rezitativ 25a/49 in einer B- Tonart beginnt. Verwunderlich ist allerdings die Tonart, die er

dazu wählt. Nach dem Schluss der langen G- Moll Arie setzt der Bericht von der

Hinrichtung in B- Moll ein. Diese beiden Tonarten zählen nicht unbedingt zu denen, die

am meisten miteinander verwandt sind. Man spricht von einer Terzverwandtschaft, oder

einer Mediante. B- Moll kam bislang in der Passion noch überhaupt nicht vor, der

Charakter ist dunkel und weich, nicht erschreckend, eher traurig. Musikalisch erleben wir

die Aufrichtung des Kreuzes (Quartsprung c-f, T. 1), sowie die Kreuzfigur (ges-des-c-f).

Das Auge des Betrachters wird nach oben gerichtet, Jesus ist der höchste unter allen drei

hingerichteten Menschen (siehe Spitzenton as, T. 3, wir behalten diesen Ton einmal in

Erinnerung). Trotzdem ist das „Hinrichtungsintervall“ des Tritonus bei beiden

Schilderungen vorhanden.

In Takt 5 wird der Blick wieder auf Pilatus gerichtet, der sich für das Todesurteil

verantwortlich zeichnet. Seine neue Tonart ist Es- Dur: Er verfasst die Überschrift über

die Ursache des Todes Jesu und setzt sie auf das Kreuz, genau dorthin, wo Jesus ist

(siehe Spitzenton as, T. 7). Die Verbindung von dieser Schrift zu Jesus ist offensichtlich.

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In zwei eingeschobenen Takten, die mit Adagio überschrieben sind, erfahren wir, was auf

dieser Inschrift steht. Diese eingeschobenen, lyrischen Passagen kennen wir (z.B. aus

der Petrus- Szene „und weinete“). Sie drücken immer etwas ganz besonderes aus. Bach

möchte, dass sie vom Interpreten in Aussage, Tempo und Artikulation entschieden

anders gestaltet werden. Zudem setzt Bach diese zwei Takte in die feierliche Tonart Des-

Dur. Wie rezitierend singt Pilatus in der Stimme des Evangelisten: „Jesus von Nazareth“-

das ist eine bloße Beschreibung. Jetzt kommt eine Pause, danach „der Juden König“- das

ist eine Provokation, die durch eine einfache Pause wie durch das Hochziehen der

Augenbrauen betont wird. Bach findet wieder zur Ausgangstonart B- Moll zurück (T. 14),

setzt aber den wütenden Protest der Juden, die sich zu recht provoziert fühlen, in

leuchtendes B- Dur.

2. Chor: „Sei gegrüßet“ (NBA 25b/EP 50) und

3. Rezitativ: „Pilatus antwortet“ (NBA 25c/EP 51)

Wer findet die musikalische wie auch textliche Entsprechung dieses Chores im dritten Akt

der Passion wieder? Er entspricht dem Satz „Sei gegrüßet“ (NBA 21b/34). Musikalisch

gesehen ist es nahezu dasselbe Material, auch wenn er jetzt nicht als Kanon aufgebaut

ist, wie es zuvor der Fall war. Beide Sätze stehen in B- Dur und verwenden motivisch

dasselbe Material:

● Die Tonart wie auch die Taktart (6/4) sind gleich

● T. 1: Das Thema des Soprans ist exakt dasselbe wie „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig“.

Die halbe Note von „grü“ ist in zwei Viertel aufgeteilt, das ist textlich bedingt.

● T. 2: Die abwärtsgerichtete Sechzehntelbewegung in Flöten und Oboen

● T. 5: Die auf- und absteigende Bassfigur des Continuos

Trotz des gemeinsamen Beginns aller Stimmen (im Gegensatz zum imitatorischen

Einsatz des Chores „Sei gegrüßet“) hat man als Hörer hier nicht den Eindruck, als sei der

Ausdruck stärker. Die Kanonführung im ersten Satz hatte mehr Dynamik und unterstützte

die Bosheit der Ankläger noch mehr. Hier büßen die Juden etwas von ihrer Vehemenz

ein. Das hat nichts mit Bachs mangelnder Konzentration zu tun, sondern damit, dass dies

der letzte Auftritt der Juden ist, die ebenso „abgebaut“ werden (Kettling) wie zuvor Pilatus.

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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007

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Dieser hat anschließend seinen letzten Auftritt, in welchem er sich noch einmal wichtig

macht: Seine Musik schwingt sich noch einmal in die Höhe und betont die Worte „das

habe ich geschrieben“ mit einem Vorhalt. Diese künstlich hinzugefügte Verzierung

untermalt seine künstlich aufgesetzte Souveränität. Trotzdem setzt er mit seiner Aussage

den Schlusspunkt in der Auseinandersetzung um die Autorität Jesu in der Frage seiner

Königsherrschaft. Die abschließende Kadenz in B- Dur leitet über zur Antwort der

Gemeinde, dem Choral in Es- Dur.

4. Choral: „In meines Herzens Grunde“ (NBA 26/EP 52)

Bach nimmt mit der Gedichtstrophe von Valerius Herberger inhaltlich Bezug auf die von

Pilatus verfasset Überschrift am Kreuz Jesu. Der Choral wirkt tröstlich und besitzt eine

Leuchtkraft aus dem Innern heraus. Bach setzt den Choral relativ hoch (Es- Dur, dadurch

erscheint an wichtigen Stellen der Jesus- Ton g (Sopran T. 3: „dein“, Sopran T. 9:

„erschein“, Tenor T. 11: „meiner“). Bach macht deutlich: Jesus ist, wenn nicht sichtbar,

dann doch spürbar. Der Bass leitet die letzten Takte wortausdeutend („milde“, „geblut“)

mit außerordentlich kleinen Tonschritten ein. Das Leiden und Sterben Jesu ist noch nicht

zu Ende, deswegen schließt der Choral in unterer Lage.

Hören (NBA 25a-26/EP 49-52)

5. Rezitativ: „Die Kriegsknechte aber“ (NBA 27a/EP 53) und

6. Chor: „Lasset uns den nicht zerteilen“ (NBA 27b/EP 54)

Dem Bericht von der Teilung der Kleider der Gekreuzigten und über die Besonderheit des

Rockes Jesu wird bei Bach nicht sonderlich viel Bedeutung beigemessen. Interessante

Hinweise können die vier aufsteigenden Töne sein, wenn es um die vier Teile geht (T. 3)

oder die Beschreibung des Rockes, der in einem Stück gewirkt ist (große

Abwärtsbewegung T. 7+8). Größere Aufmerksamkeit widmet sich Bach dem „Spielstück“

„Lasset uns den nicht zerteilen“ (s. auch Inszenierung Niebeling: Wettstreit). Es ist Musik

wie aus einer Spieluhr, einfach, beinahe kindlich beginnen die Singstimmen mit ihrem

Kanon, einer gibt immer dem anderen Recht. Auffallend dabei sind die vielen

Repetitionstöne (d.h. Wiederholungstöne) und der synkopische zweite Takt des Themas,

sowie die schüttelnde Würfelbewegung in den Sechzehntelketten (Bass T. 4). Diese

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schüttelnde Bewegung setzt sich in den Celli über das ganze Stück fort. Bach schafft

damit so etwas wie eine Rüpelszene inmitten eines tragischen Geschehens. Der Aufbau

dieses Fugensatzes lässt sich gut anhand der einzelnen Einsätze erkennen. Gehen wir

von Beginn an durch:

T. 1: Beginn Abschnitt A (Bass)

T. 8: Beginn Abschnitt B (Bass)

T. 15: Beginn Abschnitt C (Tenor)

T. 24: Beginn Abschnitt D (Sopran, diminuierter (d.h. verkleinerter) Beginn mit

Sechzehntel)

T. 38 Beginn Abschnitt E (Bass, diminuiert)

T. 50: Zusammenschluss von Sopran und Alt, T. 52 mit Tenor als „Trio“

Bach wählt etwas weniger offensichtlich, eine bestimmte Taktart für diesen

(verhältnismäßig) langen Chor aus: den ¾- Takt. Das erscheint auf den ersten Blick

nichts Besonderes zu sein, ist aber eine bewusste Entscheidung von ihm (Bsp.:

Viervierteltakt).

Exkurs: Wir haben bereits über die Entstehung der Tonarten aus, mit griechischen

Namen bezeichneten“ Kirchentonleitern, gesprochen. Es ist klar, dass es auch nicht von

Anfang an 4/4-, 3/4- oder 6/8- Takte gab. Ursprünglich gab es (so wie es keine Noten

gab) keine Taktangabe. Der Rhythmus und die Dauer der jeweiligen Töne richteten sich

ganz nach der Betonung der Worte. In Zusammenhang mit der Entstehung der Notation

wurden auch Symbole für Rhythmus und Dauer festgelegt. Diese minimale Notation war

natürlich nur so lange ausreichend, bis die Stücke mehrstimmig und damit auch

komplizierter Wurde. Eine Zeit, die schwierige Rhythmen und komplexe Kompositionen

auf die Spitze trieb, war die Zeit der so genannten Ars Nova, bezeichnet nach dem

gleichnamigen Traktat von Philippe de Vitry, Paris 1322. Ars Nova (d.h. neue Kunst) ist

eine Epoche des Mittelalters, die v.a. von Frankreich aus zur Entstehung der

Mehrstimmigkeit in Europa beitrug. Ihre wichtigste Gattung ist die Motette, meistens

vielstimmige und z. T. äußerst komplexe Kompositionen, weil isometrisch. Isorhythmie

bezeichnet die komplexe Verteilung von rhythmischen Themen auf verschiedene

Gesangsstimmen. (Bsp.: Eine ausgedehnte Sechzehntelkette wird auf vier verschiedenen

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Stimmen verteilt, die sich damit regelrecht „verzahnen“). Es ist klar, dass es hierfür klare

Angaben in Takt und Rhythmus geben muss. Dies bedeutete eine deutliche

Weiterentwicklung der schriftlichen Notation durch die Ars Nova. Es wurden demnach

„Mensurzeichen“ eingeführt, die vergleichbar sind mit unseren Taktarten (s. Abbildung).

Dabei gelten die durch Drei teilbaren Mensuren als „gute“ Tempi (tempus perfectum; s.

Dreieinigkeit) und die durch Zwei teilbaren Mensuren als „schlechte“ Tempi (tempus

imperfectum).

Wenn Bach nun ein tempus perfectum für den Streit um den Rock Jesu wählt, dann

bedeutet das mehr als nur eine tänzerische Musik zum Würfelspiel. Bach symbolisiert

damit den perfekten, d.h. den unangetasteten und vollkommen Zustand dieses

Kleidungsstücks. Sein Rückgriff auf die Musik des Mittelalters verbindet sich mit der

modernen Anlage der Fuge.

Hören (NBA 27a+b/EP 53+54)

7. Rezitativ: „Auf dass erfüllet würde die Schrift“ (NBA 27c/EP 55) und

8. Choral: „Er nahm alles wohl in acht“ (NBA 28/EP 56)

Johannes legt in seinem Evangelium sehr viel Wert auf die Bezüge der Jesus-

Verheißungen aus dem Alten Testament. So ist es zu verstehen, dass Bach auch hier

den Einwurf: „Sie haben meine Kleider unter sich geteilt“ als eingefügtes Adagio vertont.

Die Beschreibung der Personen unter dem Kreuz gerät sehr innig und lyrisch komponiert.

Zwei Dinge fallen bist zum Takt 12 auf:

1. Die Anzahl der Versetzungszeichen nehmen zu (das Augenmerk wird nun auf den

Gekreuzigten gelenkt, nachdem zuvor die Soldaten im Focus waren)

2. Bach nimmt Modulationen vor (d.h. er bleibt nicht im selben harmonischen

Zusammenhang, sondern ändert die Grundtonarten). Beispiel:

T. 2: A- Moll

T. 6: D- Moll

T. 8: E- Moll („Mutter“ auf dem Jesus- Ton g´´)

T. 12: H- Moll

Die Grundtöne dieser Tonarten a-d-e-h bilden den Chiasmus, die Kreuzfigur.

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Mit den Tonfiguren des Evangelisten (Tendenz nach unten T. 15) lenkt sich unser Blick

zu Maria und anschließend (Tendenz nach oben T. 17+18) zum Jünger, den Jesus lieb

hatte. Stockend durch Pausen intoniert der Jesus- Darsteller zweimal das Tritonus-

Intervall d-gis (T. 16+18), das bislang immer für Verachtung und Boshaftigkeit stand

(„Richthaus“, „Judas“. Hier klingt es nach Fürsorge und Mitleid. Ein genialer Kunstgriff von

Bach, der zeigt, wie angewiesen Musik auf Zusammenhänge ist und wie sich erst aus

dem Zusammenhang heraus erschließt. Das Rezitativ endet in einem strahlenden A- Dur,

das der nachfolgende Choral aufgreift. Es ist die Melodie, die bereits mit dem Choral

„Petrus, der nicht denkt zurück“ den ersten Teil der Passion beschlossen hatte. Im

Unterschied zum eher nachdenklich gehaltenen Choral „Petrus“ drückt der Choral an

dieser Stelle große Zuversicht aus (alle Fermaten am Ende der Choralzeilen sind Dur-

Akkorde!). Es ist der schlichteste Choral der Passion, wir sehen dies am Fehlen von

Zwischen- und Füllnoten. Wie Trompetensignale ertönen die Rufe „O Mensch, mache

Richtigkeit“ (für mich eine der bedeutsamsten Stellen der gesamten Passion), sie treffen

wie Pfeile ins Herz. Besondere Beachtung verdienen die Akkorde bei den Worten in den

Takten 12 und 13, der Übergang von „liebe“ zu „stirb“. Bach stellt hier das strahlende E-

Dur neben einen C- Dur- Septakkord und trübt damit die Harmonie an der Stelle ein, wo

es um den eigenen Tod geht.

Hören (NBA 27c+28/EP 55+56)

9. Rezitativ: „Und von Stund an“ (NBA 29/EP 57)

10. Arie: „Es ist vollbracht“ (NBA 30/EP 58)

Mit einem Mal ändern sich die Familienverhältnisse: In das anfängliche A- Dur mischt sich

ein C des Tenors („Und von Stund an“) und leitet neue Tonartenverhältnisse ein. Auch

hier drückt der abwärts gerichtete Tritonus Zuneigung und Liebe aus (T. 2: g-cis).

Allmählich trübt sich die Stimmung: Das D- Dur aus T. 3 wird zu H- Moll (T. 11) und endet

auf Fis- Dur. In T. 4 betont Bach stark das Wort „alles“ durch das hohe a´´. Die Worte

Jesu „Mich dürstet“ kommen schwach und kraftlos. Die Hilfe, die Jesus durch das scharfe

Getränk zuteil kommen soll wird doppelt musikalisch gestützt. Der abwärts gerichtete

Tritonus ist hinlänglich bekannt (T. 9 Ende-10: „Isopen“ und T. 12: „Essig“), neu ist

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jedoch, dass Bach an denselben Stellen auch einen Tritonus aufwärts im Continuo bringt:

T. 9 auf 10: g-cis und T. 11 auf 12: h-eis.

Die letzten Worte Jesu malen eine abwärts gerichtete Bewegung über eine Sext: die so

genannte Katabasis, Zeichen für das Sterben und das Ende.

Genau diese Figur wird in der nachfolgenden Arie aufgegriffen, die als Duett zwischen Alt

und Viola da gamba (= Bassbratsche auf den Knien, heute oft das Cello) gestaltet ist. Die

Gambe ergreift in die Stille hinein das Wort. Dies ist ein unglaublicher Effekt, zumal sie

mit dem Schlusston des Jesus beginnt: fis.

Wir haben es in der Arie mit einer der besonderen Kostbarkeiten in der Passion zu tun.

Bach schafft hier einen wunderbar verzierten, sehr edlen Klagegesang im Stil von

französischer Hofmusik (z.B. punktierte Rhythmen T. 2; Schreitrhythmus des Continuos).

Zu Beginn beobachten wir eine Climax, d.h. einer Figur, die mehrmals auf einer immer

höheren Tonstufe einsetzt (T. 1+2). Das Motiv der Gambe textiert dann die Altstimme mit

den Worten Jesu „Es ist vollbracht“, immer wieder hören wir es instrumental in der

Gambe. Nach einem kleinen Zwischenspiel (T. 10+11) bringt die Stimme einen neuen

Textabschnitt: „Die Trauernacht“ (wenn man so möchte: Teil B). Dieses Mal ist die Climax

nach unten gerichtet, die Textwiederholung bleibt auf dem langen C liegen. Der Alt

übernimmt den punktierten Rhythmus bei dem Satz „lässt nun die letzte Stunde zählen“

und überlässt der Gambe das Nachspiel dieses Teils.

Mit T. 20 beginnt etwas Unerhörtes: Tempo, Besetzung, Lautstärke, Taktart und Tonart

ändern sich völlig. Wir werfen hier einen kurzen Blick auf Ostern. Wieder im Tempus

perfectum und in der Tonart D- Dur malt uns Bach den Sieger Jesus Christus vor Augen.

Die italienische Bezeichnung für D ist „re“, das auch übersetzt werden kann mit „König“.

Lange, aufsteigende Sechzehntelfiguren im gesamten Orchester und in der Stimme

verdeutlichen den Triumphzug des auferstandenen Messias, bevor dann noch einmal

verkürzt der Klagegesang anhebt, wenn man so möchte ein Teil A´.

Hören (NBA 30/EP 58)

PAUSE

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11. Rezitativ: „Und neigte das Haupt“ (NBA 31/EP 59) und

12. Arie mit Chor: „Mein teurer Heiland“ (NBA 32/EP 60)

In Fis- Moll endet der Auftrag Jesu nach den Worten „Es ist vollbracht“. In der Regel wird

an dieser Stelle in der Aufführung eine kurze Pause eingelegt, oder die Glocken beginnen

zu läuten.

Die nachfolgende Bass- Arie liefert dem geduldigen Zuhörer nach beinahe zwei Stunden

doch noch einmal ein paar Überraschung aus Bachs Kompositionswerkstatt. Das Solo-

Cello konzertiert mit dem Solo- Bass, der in der Bach so eigenen instrumentalen Weise

komponiert ist (d.h. die Unterscheidung zwischen der instrumentalen und vokalen Stimme

fällt schwer, oder anders formuliert: Bach nimmt mitunter nicht immer Rücksicht auf die

Sanglichkeit einer Stimme.). So ist es mit dem Solo- Bass. Er muss große Tonsprünge

bewältigen und eine Menge Verzierungen (v.a. auf gänzlich unbetonten Silben) machen.

(z. B. „Heiland“ T. 3). Diese instrumentale Heiterkeit spiegelt sich im Dreiermetrum eines

Tanzes wieder und passt so gar nicht zu den drei wichtigen Fragen, die der Sänger

vorbringt:

„Bin ich vom Sterben frei gemacht?“

„Kann ich das Himmelreich ererben?“

„Ist aller Welt Erlösung da?“

Vielleicht erinnern wir uns an die Inszenierung der Arie im Film: Der mönchische Sänger,

der ein Selbstgespräch führt und die Hände ringt. Es sind die Fragen, die Martin Luther

umgetrieben haben. Wie bekomme ich Erlösung? Die Fragen werden durch das Sterben

Jesu beantwortet, er sagt „stillschweigend: Ja“, wie der Sänger bestätigt. Besondere

Aufmerksamkeit verdient das Wort „Erlösung“ (T. 26ff), das eine lange Verzierung erhält

und das Wort „Haupt“ (T. 39), bei welchem man eigentlich eine abwärtsgerichtete

Bewegung vermuten würde, die jedoch stolz nach oben gerichtet ist. Die Antwort auf die

Fragen des Solo- Basses werden aber schon durch den unmerklichen Choreinsatz in T. 4

eingeleitet und vorweggenommen. Die Melodie stimmt mit der Melodie des vorigen

Chorals überein (NBA 28/EP 56) und unterlegt die Worte „Jesu, der du warest tot, lebest

nun ohn Ende“. Der Auferstehungsgedanke ist also auch hier schon präsent. Nicht allein

durch das Sterben, sondern auch durch die Auferweckung Jesu ist ewiges Leben

möglich. Hören (NBA 31+32/EP 59+60)

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13. Rezitativ: „Und siehe da“ (NBA 33/EP 61) und

14. Arioso: „Mein Herz“ (NBA 34/EP 62)

Einstieg mit Gruppenarbeit: „Wie komponiert Bach den eingefügten Text aus Matthäus?“

T. 1: „Einstiegsquint“: Aufmerksamkeit erregendes Intervall mit schnellen Noten

T. 2: „Vorhang“ mit Spitzennote a, der Riss beginnt ganz oben

T. 3: „von obenan bis unten aus“: gezackter Septakkord abwärts

Lange Rissbewegung im Cello

T. 4: „erbebte“: tremolo (= zittern, vormachen)

T. 5: große Tonsprünge bei den zerrissenen Felsen und offenen Gräbern

T. 6: „und stunden auf“: große Aufwärtsbewegung mit Spitzenton a

→ einer der dramatischen Höhepunkte im Bericht des Evangelisten

Das musikalische Material wird im nachfolgenden Arioso des Tenors weitgehend

beibehalten. Dazu kommen lang Haltetöne der Holzbläser (im Klavierauszug in der

rechten Hand dargestellt). Dadurch entsteht beim Hörer der Eindruck eines begleiteten

Rezitativs (recitativo accompagnato), wie aus der Matthäus- Passion oder einer Oper.

Das Tremolo des vorigen Rezitativs wird in den Violinen rhythmisiert und symbolisiert das

Beben des eigene Herzens angesichts des „größten Dramas aller Zeiten“

(Kettling/Sayers). Die Vorhangmusik erscheint wieder (T. 5), eine neue Musik untermalt

die Spaltung des Felsens (T. 6), die Spaltung der Gräber wird durch die Umkehrung des

Vorhangmotivs untermalt. Das Arioso endet mit einer offenen Frage auf dem Spitzenton

g, die erst in der nachfolgenden Arie beantwortet wird. Beide Stücke hängen tonartlich

zusammen (das Ende C- Dur wird zur Dominanttonart von F- Moll).

Bach erinnert mit dieser lautmalerischen Musik an ein Rezitativ aus der „Schöpfung“ von

Joseph Haydn, in welchem die Erschaffung aller Tiere in Tönen dargestellt wird (Löwe,

Würmer, Kühe, Hirsch…)

Hören (NBA 33+34/EP 61+62)

15. Arie: „Zerfließe“ (NBA 35/EP 63)

Die Besetzung dieser Sopran- Arie erinnert an die Arie „Ich folge dir gleichfalls mit

freudigen Schritten“, bei welcher ebenfalls die Flöte dabei war. Hier kommt die Oboe

dazu. Die Form der Arie ist eine freie A-B-A´- Form, in welcher die Motive des Weinens,

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Klagens und der fallenden Tränen gut hörbar gemacht werden. Besondere

Aufmerksamkeit verdienen die Worte „dem Höchsten“ (T. 33, 35, 113) und der B- Teil, der

in Takt 58 beginnt. Hier wird noch nicht gleich vom Sopran die Wahrheit darüber verraten,

was mit Jesus passiert ist. Wenn er in T. 67 mit den Worten beginnt: „dein Jesus“, dann

fügt Bach Pausen ein, bevor sich der Text wiederholt „dein Jesus ist tot“. Das Wort „tot“

an dieser Stelle aber durch einen Sprung und eine anschließende Fermate für alle

Stimmen deutlich betont. An dieser Stelle schweigt alle Musik für einen kurzen

Augenblick. Das Wort „tot“ wird im Übrigen durch drei besondere barocke

Verzierungsmöglichkeiten hervorgehoben:

T. 70: Sprung (s. o.)

T. 80: Lautstärkevibrato, also ein Vibrato, das nicht die Tonhöhe, sondern die Intensität

des Tones verändert

T. 88: Vorhalt (Appoggiatur)

Hören (NBA 35/EP 63)

16. Rezitativ: „Die Juden aber“ (NBA 36/EP 64) und

17. Choral: „O hilf, Christe“ (NBA 37/EP 65)

Im nachfolgenden, langen Bericht herrscht sachliche Nüchternheit vor. Beachtung

verdient der eingeschobene Nebensatz „denn desselbigen Sabbath Tag war sehr groß“,

den Bach wieder auf einer tieferen Tonhöhe beginnen lässt.

T. 17: „Speer“: dissonanter Akkord mit großem Sprung der Singstimme

T. 23: „Denn“: Betonung und Einleitung der nachfolgenden Schriftworte, die wieder als

Ariose Teile (Adagio) vom Evangelistenbericht abgehoben sind.

T. 29: „gestochen“: „Speerton“ es (s. T. 17) und Tritonussprung es-a

Die Melodie des Chorals kommt uns bekannt vor, denn sie eröffnete mit dem Text

„Christus, der uns selig macht“ den Akt III („Pilatus“). Allerdings setzt Bach nun die

Melodie um einen Ton nach oben. Die Erhöhung Jesu ist geschehen. Veränderung in den

Stimmen Alt, Tenor und Bass nimmt Bach kaum vor. Er bildet damit eine Brücke zum

Beginn des 3. Aktes, in welchem das Leiden Jesu tatsächlich begann und nun sein Ende

gefunden hat. Hören (NBA 36+37/EP 64+65)

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Akt IV: „Der Gekreuzigte“ (NBA 25a-37/EP 49-65)

Tempus- Arten, Mensurzeichen der Ars Nova (Philippe de Vitry, Paris 1320-1380)

9/8 3/4 6/8 2/4

tempus tempus tempus tempus perfectum perfectum imperfectum imperfectum

heute: heute: alla breve 4/4

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Akt V: „Grablegung“ (NBA 38-40/EP 66-68)

1. Rezitativ: „Darnach bat Pilatum“ (NBA 38/EP 66)

Ruhe- das ist die Überschrift über die letzten Teile der Johannes- Passion. Was wurde in

den letzten Stunden alles unternommen, um Jesus freizulassen? Welche Bilder haben

sich vor unserem inneren Auge aufgetan? Welche inneren und äußeren Kämpfe haben

wir evtl. mitgemacht? Jetzt sind diese Kämpfe zu einem Ende gekommen. Bach gliedert

die abschließende Erzählung von der Grablegung Jesu durch Joseph von Arimathia,

einem heimlichen Jünger, ausgesprochen ruhig und fließend. Dramatik gibt es im Vortrag

nun nicht mehr. Auch in den Tonarten sind wir in sicherem „Fahrwasser“ angekommen

(es gibt keine Untiefen mehr). Die Tonarten helfen uns, das Rezitativ in drei beinahe

gleich große Abschnitte, zu teilen.

Teil A (T. 1-8): F- Dur: Die Bitte des Joseph an Pilatus. Beeindruckend die Vertonung,

dass Joseph ein „heimlicher Jünger war aus Angst vor den Juden“. Es ist eine der

seltenen Stellen, in denen Bach eine Lautstärkeangabe macht, nämlich piano, um diesen

eingeschobenen Satz hervorzuheben. In T. 5 werden wir Zeuge der Bewegung, wie der

Leichnam abgenommen wird (Septakkord abwärts as-f-d-h). Bedeutsam in diesem

Zusammenhang die anschließende Aufwärtsbewegung zum „Jesus- Ton“ g´´. Die

Verbindung des Wortes „möchte“ (as) zu „Jesus“ ist unübersehbar. Wir können den Satz

auch so formulieren: Joseph möchte Jesus. Die Takte 7-8 fehlen in unserer Aufnahme,

weil es sich um eine andere Fassung handelt.

Teil B (T. 9-17): C- Moll: Der Blick wird nun auf Nikodemus gelenkt, der ebenfalls ein

heimlicher Jünger Jesu war. Die nächtliche Szene zwischen Nikodemus und Jesus

(Johannes 3) wird durch zwei besondere Intervalle gekennzeichnet: T. 10 (verminderte

Septe abwärts es-fis bei „vormals“) und T. 11 (kleine Septe aufwärts d-c bei „zu Jesu).

Der Tritonus g-cis beim Wort „Aloen“ (T. 12) verdeutlicht die ganz besondere Bedeutung

dieser Heilpflanze, ebenso wie das hohe a´´ (T. 13) das Wort „hundert“ verdeutlicht (ich

nehme an, es bedeutet einfach eine große Menge).

„DA nahmen sie den Leichnam Jesu“ endet in T. 14 wieder auf dem „Jesus- Ton“ g´´.

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Teil C (T. 17-25): F- Dur: Die Erinnerung an die Kreuzigungsstätte greift noch einmal das

schmerzvolle Intervall des Tritonus auf (T.18 auf 19: c-fis) und ruft uns dann das Bild des

Gartens in Erinnerung, ein Bild, das wir vom Beginn der Passion bereits kennen. Dort

heißt es (NBA 2a/EP 2): „Jesus ging mit seinen Jüngern über den Bach Kidron, da war

ein Garten, darein ging Jesus und seine Jünger“. Dorothy Sayers spricht vom „perfekten

Drama“, es greift solche kleinen Motive auf. Es beginnt für Jesus in einem Garten und

endet dort (vorläufig). Die Aufwärtsbewegung der Töne bei der Erwähnung des Gartens

ist in beiden Rezitativen gleich.

T. 22 und 23 sind eine Climax (eine Wiederholungsfigur), denn Takt 23 hat denselben

Rhythmus und dieselbe Melodie auf einer anderen Stufe. Bach betont damit die

Begründung von Johannes, warum Jesus gleich begraben werden musste: „um des

Rüsttags willen der Juden.“ Das Rezitativ endet in C- Moll, so dass der tonartliche

Rahmen des Rezitativs geschlossen ist: F- Dur – C- Moll – F- Dur – C- Moll

Hören (NBA 38/EP 66)

2. Chor: „Ruht wohl“ (NBA 39/EP 67) und

3. Choral: „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ (NBA 40/EP 68)

Der Schlusschor der Johannes- Passion ist nicht annähernd so komplex wie der

Eingangschor „Herr, unser Herrscher“. Sein Aufbau ist stets klar und leicht

nachzuvollziehen. Wir haben es hier mit einer Sarabande zu tun, einem alten spanischen

Schreittanz (s. Arie „Ach, mein Sinn“, NBA 13/EP 19), deren charakterliches Merkmal die

Betonung kurz-lang ist, in diesem Fall auftaktig empfunden („ruht wohl“), die

Hervorhebung des Wortes „wohl“ ist unübersehbar. Gehen wir aber der Reihe nach durch

das Stück:

Hauptteil A

T. 1-12: instrumentales Vorspiel, das Ritornell, dessen Anfangsmotiv unzählige Male im

Satz vorkommt.

T. 12-32: erster Chorteil, beginnend in C- Moll und endend auf G- Dur (der

Dominanttonart). Bezeichnend in der Musik (s. Sopran) sind die vielen kleinen

Seufzerfiguren, meistens Achtelnoten mit Bindebogen (z.B. T. 13), die so genannten

suspiratio. Der Jesus- Ton g taucht viele Male auf (s. Sopran T. 12 ff).

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T. 32-48: zweiter Chorteil, beginnend und endet in der Ausgangstonart C- Moll. Dem

Chorbass kommt in den Takten 40 und 42 eine besondere Aufgabe zu, indem er mit

seinen hinunterfallenden Achtelketten über eine Oktave die Handlung der Grablegung

beschreibt.

Hauptteil B

T. 48-60: instrumentales Zwischenspiel, Wiederholung des Ritornells vom Anfang.

T. 60-72: dritter Chorteil mit neuem Text „Das Grab, so euch bestimmet ist…“ in

unbestimmter Tonart. Der Chor setzt auf einem Sekundakkord ein (F- Dur mit e im Bass)

und verwischt so die Bestimmung des „Grabes“, von der im Text die Rede ist. Ein

Sekundakkord hat die Angewohnheit, aufgelöst werden zu müssen. Das heißt, man kann

nicht lange in dieser angespannten Situation bleiben. Bei Bach bleibt man drei Takte lang

in diesem schwebenden Zustand, bevor man in T. 64 B- Dur erreicht hat. Drei Takte

entsprechen den drei Tagen, in denen Jesus im Grab gelegen hat. Die

Aufwärtsbewegung des Soprans deutet die Auferstehung bereits deutlich an.

Eine neue Instrumentierung (die Holzbläser werden von Bach aus dem Satz

herausgenommen) verleiht dieser Stelle einen mystischen und schwebenden Charakter.

Der Teil schließt in As- Dur, dem Gegenklang von C- Moll.

Hauptteil A

T. 73-96: vierter Chorteil mit instrumentalem Vorspiel (verkürztes Ritornell), beginnend in

C- Moll und endend in G- Dur, wieder Hinzunahme der Holzbläser

T. 97-112: fünfter Chorteil, beginnend und endend in C- Moll

Hauptteil B´

T. 112-124: sechster Chorteil mit dem Text „Das Grab, so euch bestimmet ist“, wiederum

in schwebender Tonart, nach drei Takten stellt sich F- Moll, also die Subdominante als

Grundtonart heraus. Charakteristisches Merkmal ist neben der erneuten Aussparung der

Holzbläser, das Schweigen des Chorbasses. Es entsteht ein kleiner

kammermusikalischer Abschnitt zwischen Frauenstimmen und Tenor. Der Bach-

Forscher Friedrich Smend hat über das Fehlen des Chor- Basses in anderem

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Zusammenhang gesagt, dass Bach damit versucht, die Unschuld darzustellen.1

Besondere Aufgabe kommen den Celli an zwei Stellen vor (T. 116 und 120), in denen sie

die Grablegung figürlich darstellen.

Durch die Wiederholung des Hauptteils A entsteht die Form eines Chor- Rondos (Rondo:

Reihungsform, sozusagen mit einem leicht eingängigen „Refrain“, der sich immer

wiederholt).

(siehe Abbildungsverzeichnis)

Man vermutet, dass der Schlusschoral ursprünglich nicht zur ersten Fassung der

Johannes- Passion gehörte. Eigentlich ist sie nach dem Schlusschor beendet. Doch Bach

fügte diesen Choral an, um der Leipziger Kirchengemeinde entgegen zu kommen. Auf

den ersten Blick hat dieser Choral nämlich gar nichts mit dem Leiden Jesu zu tun. Erst in

der letzten Strophe kommt die Sprache auf Jesus, nachdem vorher das Bild vom armen

Lazarus bemüht wird. Trotzdem nimmt Bach mit diesem Choral die Auferstehung in seine

Passion hinein und wir werden sehen, wenn wir uns mit der Passion v.a. des 20. Jh.

beschäftigen, dies ist nicht ganz selbstverständlich. Die flehentlichen Rufe „Herr Jesu

Christ, erhöre mich“ verleihen dem Choral seine große Stärke, die übergeht in den Jubel

der auferstandenen Gemeinde „dich will ich preisen ewiglich. Bach komponiert hier die

Vereinigung von der Gemeinde mit dem König Jesus. Wir haben über die Tonarten

gesprochen und verschiedentlich Halt gemacht an den Stellen, an denen sie etwas zu

bedeuten hatten. Auch über Zahlensymbolik haben wir uns schon unterhalten. Die drei Bs

der Es- Dur- Tonart stehen für den auferstandenen König und entfalten eine warme und

helle Pracht.

Hören (NBA 39+40/EP 67+68)

Rezeptionsgeschichte

Über Reaktionen der Leipziger Hörer auf die Johannes- Passion ist uns nichts bekannt.

Sie dürfte allerdings nicht ohne Protest geblieben sein, da Bach sonst wohl kaum den

Eingangs- sowie den Schlusschor unserer Fassung ein Jahr später durch

Choralbearbeitungen ersetzt hat. Bach musste sich nach kirchlichen aber auch nach

personellen Gegebenheiten bei seinen Aufführungen richten. Die Solisten waren Schüler

1 nach: Alfred Dürr: Johann- Sebastian Bach, Die Johannespassion, Bärenreiter 1988

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der Tomasschule, die instrumentale Begleitung hing davon ab, wie viele Musiker der

Stadt gerade verfügbar waren. Der Chor umfasste für eine normale Aufführung, ebenfalls

Schüler der Thomasschule“ etwa 12 Sänger.

Mit einem ästhetischen und literarischen Stilwandel nach Bachs Tod 1750 distanzierte

man sich deutlich von der blumigen Metaphorik v.a. in den Dichtungen der Passionen.

Carl Philipp Emanuel Bach führte noch Teile der Matthäus- Passion zusammen mit

eigenen Kompositionen in Hamburg auf, eine längere „Lebensdauer“ war den Chorälen

beschieden. Die große Wende vollzog sich erst in Berlin durch Mendelssohns Aufführung

der Matthäus- Passion an der Berliner Singakademie 1829. Doch bereits in dieser viel

beachteten Aufführung ist zu sehen: das ehemals gottesdienstlich gedachte Werk von

Bach erfährt seine Wiederbelebung in einem Konzertsaal (s. FORUM). Über viele

Jahrzehnte wurden die Passionen nur als ästhetische Kunstwerke angesehen und

demnach auch nach eigenem Willen der Dirigenten und Interpreten gestrichen und

abgeändert. Selbst Mendelssohns Aufführung war keine komplette sondern eine

abgespeckte. Grundlage war die Angst, die Passionen seinen zu langatmig und zu

schwer verständlich. Erst 1912 und 1914 wurden Johannes- und Matthäus- Passionen

erstmalig vollständig und ohne Kürzungen musiziert. Bedeutsam ist auch die Frage der

Ästhetik. Natürlich sind menschliche Hörgewohnheiten einem gesellschaftlichen und

modischen Wandel unterworfen. Mendelssohn hatte über 200 Ausführende bei seinen

Aufführungen dabei, die v.a. die Chöre sehr packend und dramatisch gestalteten. Gerne

wurden auch die Choräle sehr langsam und gedehnt musiziert, weil sie die besten

Erinnerungen bei den Zuhörern wachriefen, sie waren schließlich die bekanntesten

Stücke. Auf Applaus wurde zur Zeit Bachs selbstverständlich verzichtet, da es ja eine

Aufführung innerhalb einer Karfreitagsvesper war. Auch dies hat sich im Laufe der Jahre

verändert. Heute wird immer wieder im Programmheft darum gebeten, auf Applaus zu

verzichten, um damit die Anteilnahme am Geschehen der Passion auszudrücken. Anfang

der 1980er Jahre setzten die ersten szenischen oder tänzerischen Inszenierungen der

Bach- Passionen ein (John Neumaier, Hamburg; Vittorio Biaggi, Palermo 1985 und Bernd

Schindowski, Gelsenkirchen 1991) und trugen mit zur Reduzierung der Stücke auf ihren

ästhetischen Gehalt als Kunstwerk bei. In Holland werden immer wieder die Passionen

unter großem Publikumsandrang in Kirchen aufgeführt, wobei jeder der Anwesenden bei

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einer Art großem Mitmachkonzert an den Stellen singen darf, die ihm liegen. Das ist wohl

der stärkste Gegensatz zu denjenigen Künstlern, die sich um einen Originalklang

bemühen, wie auch die Künstler unserer CD- Einspielungen.

Abschluss: Gesprächsrunde über das Erleben der Johannes- Passion

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Akt V: „Grablegung“ (NBA 38-40/EP 66-68)

Conclusio: “Ruht wohl”: Aufbau des Chor- Rondos

Großform

Kleinform Teil A Teil B Teil A Teil B´ Teil A

a a´ b a a´ b´ a a´

1-12 12-32 32-48 48-60 60-72 73-76 76-96 97-112 112-124 12-32 32-48 48-60

Ritornell “Ruht

wohl”

“Ruht

wohl”

Ritornell “Das

Grab”

Ritornell “Ruht

wohl”

“Ruht

wohl”

“Das

Grab”

“Ruht

wohl”

“Ruht

wohl”

Ritornell

C- Moll C- Moll

G- Dur

C- Moll As- Dur C- Moll

G- Dur

C- Moll Es- Dur C- Moll

G- Dur

C- Moll

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Einheit II:

Die Entwicklung der musikalischen Passion nach 1750

1. Das 18. Jahrhundert

Das 18. Jh. steht im Wesentlichen unter dem Stichwort „Säkularisierung“. Die Absicht

hinter der Neukomposition von „Passionsoratorien“, wie sie genannt werden,

unterscheidet sich grundsätzlich von der J.S. Bachs. Sie geht einher mit Gedankengut

der Aufklärung und möchte nicht mehr primär Verkündigung sein im Sinne der barocken

Predigt [s. auch Einheit I: docere – movere – delectare – persuadere (belehren –

bewegen – erfreuen – überzeugen)]. Vielmehr glaubt man an eine allgemeine läuternde

Wirkung, die von der Erhabenheit und dem Ethos der Kunstwerke auf alle Menschen

ausgehen. Das Oratorium wird gleichsam zum Wegweiser aus der allgemeinen

Oberflächlichkeit und Sittenlosigkeit. Es motiviert die Komponisten und Dichter also ein

sozialer Besserungsaspekt. Manches Mal wird mit dem Eintrittsgeld für die

Passionsaufführungen oder dem Verkauf der Texthefte ein Armen- oder Waisenhaus

unterstützt. Carl Philipp Emmanuel Bachs eigene so genannte Spinnhaus- Passion

(Hamburg 1768) erklang wie der Name sagt im „Spinnhaus“, einem Gefängnis zum

Zwecke der Besserung seiner Insassen. Gerade die Hamburger Situation beleuchtet die

Entwicklung der Passion exemplarisch. Jedes Jahr wurde im Wechsel an einer der

Hauptkirchen eine Passion aufgeführt (immer ein Evangelium nach dem andern). C. Ph.

E. Bach verfährt da äußerst kräfteschonend, indem er immer Teile von alten Passionen

für eine neue Aufführung übernimmt mit dem Wissen, in den jeweiligen Stadtteilen hören

immer andere Leute zu („Passionsrecycling“), er vertont manches Mal nur die Chöre neu,

ein anderes Mal nimmt er andere Choräle hinzu oder setzt Passagen aus den Passionen

seines Vaters ein. Die Passionsaufführungen werden zur alltäglichen Arbeit eines Kantors

und Musikdirektors. In Nebenkirchen oder auch Konzertsälen, die bekanntlich kein so

konservatives Publikum führen wie die Hauptkirchen, wird immer wieder auch mutig

experimentiert, so z.B. Georg Philipp Telemann, der Amtsvorgänger von C. Ph. E. Bach

(Seliges Erwägen, 1722).

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Inhaltlich unterliegt die Passionskomposition dabei folgender Wandlung: die empfindsame

Schilderung des Leidens Jesu steht weit mehr im Vordergrund als der biblische

Passionstext. Dabei geht es nicht um das Leiden des Erlösers, sondern um das Leiden

des gütigen, weisen und vorbildlichen Menschenfreundes. Die beliebteste

Passionsvertonung des 18. Jh. wird die Passions- Kantate Der Tod Jesu von Karl-

Heinrich Graun (1755) nach einem Text von Karl Wilhelm Ramler. Religion wird

volkstümlich als Kunst verstanden, sie soll bestenfalls zur Andacht anregen und „die

Seele bewegen“. Herder sagt darüber: „Es geht um die behutsame Anwendung der Regel

des Verstandes in den Sachen des Glaubens und der Gottseligkeit“. Der Mensch als

Individuum spielt eine immer wichtige Rolle. Er ist dabei auf sich (das Geschöpf) gerichtet

und verliert die Anbindung an Gott (seinen Schöpfer). Musikalisch gesehen geschieht

eine deutliche Anlehnung an die Oper, der Stoff wird dramatisch ausgestaltet, auf das

Bibelwort wird gänzlich verzichtet. Die Person Jesus kommt überhaupt nicht vor (als

Charakter und in wörtlicher Rede), das Geschehen wird aus der Retrospektive des Petrus

berichtet. Die ursprüngliche Vorlage des Librettos lieferte der Italiener Pietro Metastasio,

der zu vielen Mozart- Opern ebenfalls das Libretto schrieb. Seine Vorlage La passione

wird im 18. Jh. überall in Europa unzählige Male vertont. Sogar in Leipzig wird eine

Komposition nach dieser Vorlage aufgeführt, und zwar von Bachs Nachfolger im Amt,

Johann Gottlob Harrer.

Die Passionsgeschichte wird also zunehmend auf ihren dramatischen Gehalt reduziert,

auf die Deutung der Worte (wie bei Bach) meistens verzichtet. In dieser Tradition stehen

auch die Werke Joseph Haydns, die den Passionsstoff aufgreifen: Die sieben letzten

Worte unseres Erlösers am Kreuz: Sieben Sonaten mit einer Einleitung und am Schluss

ein Erdbeben, aus der Tradition der Summa passionis (1787) so wie die Orchesterfinfonie

La Passione nach Vorbild von Metastasio (1768).

Allgemein beobachtet erleben wir gegen Ende des 18. Jh. und zu Beginn des 19. Jh.

einen langsamen Niedergang der kirchenmusikalischen Grundlagen. Wenn Mozart,

Beethoven und Schubert Bachsche Werke studieren, dann nur um sich kompositorische

Grundlagen anzueignen, eine Pflege des barocken Erbes findet aber zumeist nicht statt.

Vielerorts (auch in Leipzig ab 1766!) wird bereits wieder die gesprochene Passion

eingeführt, in Magdeburg sogar der Vortrag in verteilten Rollen verboten. In pointierter

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Weise drückt das zurückgehende Interesse an Passionskompositionen der

Liturgiehistoriker Paul Graff 1939 aus: „Wenn die Passion zur lehrreichen Geschichte

wird, ist es in den Augen der Aufklärung unsinnig, diese Belehrungen durch

Gesänge zu unterbrechen“.

2. Das 19. Jahrhundert

Grund für das Zurückgehen der (meist protestantischen) Kirchenmusik ist unter anderem

das Verschwinden der Kantoreien und das gleichzeitig stark wachsende Interesse an

bürgerlichen Chorvereinigungen („Berliner Singakademie“, Musikfest Düsseldorf usw.).

Deutschsprachige Neuschöpfungen für den Gottesdienst nach dem Vorbild Luther/Walter

sind z.B. aus der Kirche St. Maria Magdalena in Karlsbad/Böhmen erhalten (1760 und

1840), ebenso gibt es zwei um 1800 entstandene Passionen im Archiv der

franziskanischen Mission in Kalifornien. Auch im spanischen Raum werden einige

Passionen für den Gottesdienst komponiert.

Beiden Konfessionen eigen ist eine allmähliche Rückbesinnung auf die Geschichte der

Passion des 16. Jh. Im katholischen Raum steht hierfür der Begriff „Cäcilianismus“,

ausgehend von der Gründung des Allg. Cäcilienvereins in Regensburg (1868), einer

Rückbesinnung auf das kirchemusikalische Schaffen von Palestrina, O. di Lasso und des

Gregorianischen Chorals (s. Rheinberger, Bruckner). Im evangelischen Raum wendet

man sich vermehrt Schütz und Bach zu („Schütz- Renaissance“ in der Mitte des 19. Jh.

mit Herausgabe einer Gesamtausgabe).

1829 erfolgt wie bereits besprochen die viel beachtete Wiederaufführung der Matthäus-

Passion durch F. Mendelssohn in Berlin und 1885 die Aufführung der Matthäus- Passion

von H. Schütz und der Veröffentlichung eines berühmten Aufsatzes über das Werk von

Heinrich Schütz durch Friedrich Spitta.

Allgemein (und nicht zuletzt durch die Mendelssohn- Aufführung der Matthäus- Passion)

löst sich die Passionsvertonung vom Gottesdienst und wird zu einem Stück

überkonfessioneller Konzertmusik. Dazu gehört nicht zuletzt auch Beethovens Passions-

Oratorium Christus am Oelberge, das am 05. April 1803 zusammen mit der zweiten

Sinfonie und dem Klavierkonzert C- Moll im Theater an der Wien uraufgeführt wird.

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Beethoven selbst empfand die literarische Vorlage des Wiener Singspiel- und

Komödiendichter Franz Xaver Huber als „opernmäßig“ und „äußert schlecht“.

3. Das 20. Jahrhundert

Zu Beginn des 20. Jh. entstehen schnell zwei wichtige Stücke in der Passionsgeschichte,

die in Stil und Kompositionsart eher zurück gewandt sind:

1926: Markus- Passion für Doppelchor a capella von Kurt Thomas (Schüler von Arnold

Mendelssohn und spätromantisch).

1932: Choralpassion für 5stimmigen gemischten Chor von Hugo Distler, die wohl nach

einem Besuch der Johannes- Passion in Lübeck und dem tiefen Eindruck auf den

Komponisten entstanden ist. Er lässt die Solisten (inkl. Evangelisten) unbegleitet

einstimmig singen und nimmt dabei die Schütz- Passionen zum direkten Vorbild.

Beide Komponisten schreiben anschließend ebenfalls eine Weihnachts- und eine

Auferstehungshistorie und bleiben damit in der Schütz- Tradition (s. Notenbeispiel).

Nach dem zweiten Weltkrieg entstehen im Zusammenhang mit der Rückbesinnung auf

die reformatorischen Wurzeln der Ev. Kirche einerseits und mit der neuerlichen

Aufwertung von Ausbildung und Berufsstand der hauptamtlichen Kirchenmusiker

andererseits und dem Wirtschaftswunder auf der dritten Seite bedeutende Werke in der

Gattung Passionsoratorium. Jedenfalls besinnt man sich auf die Impulse, die zwischen

den Kriegen von Thomas und Distler ausgegangen waren (s. o.) und so entstehen in den

nächsten 20 Jahren um die 60 neue Werke. Dies ergibt sich aus den

Aufzeichnungsberichten der Zeitschrift Musik und Kirche. Die früheste Passion stammt

von dem damaligen und langjährigen Dresdner Kreuzkantor Rudolf Mauersberger. Das

Hauptwerk und damit auch eines der Hauptwerke der evangelischen Kirchenmusik des

20. Jh. ist der Passionsbericht des Matthäus von Ernst Pepping für Doppelchor (1949).

Pepping vertont erstmals wieder einen vollständigen Bibeltext und unterbricht diesen

durch die Hinzunahme von Choralstrophen nach dem Vorbild Bachs und unterlegt

manche Chorpassagen mit Abschnitten des lateinischen Glaubensbekenntnisses.

Ein zentrales Werk des 20. Jh. und gleichzeitig eine nichtliturgische Komposition ist das

Oratorium Golgotha des Schweizer Komponisten Frank Martin mit französischem Text

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aus dem Jahr 1948. Martin kürzt auf der einen Seite den Evangeliumsbericht und fügt der

Passionsgeschichte andererseits biblische „Vorgeschichten“ an, z.B. der Einzug Jesu in

Jerusalem, die Auseinandersetzung Jesu mit den Schriftgelehrten im Tempel und das

letzte Abendmahl. Eingeschoben sind daneben Texte, die eine etwas völlig Neues in der

Gattungsgeschichte bringen, da sie Passagen aus den Schriften des Kirchenvaters

Augustinus enthalten (aus Confessiones und aus Augustinus zugeschriebenen Schriften,

von denen bereits Schütz Ausschnitte vertont hatte). Als biblische Figuren treten bei

Martin nur Jesus, der Hohepriester und Pilatus solistisch hervor. Der Evangelistenbericht

wird unterschiedlich von Solostimmen, Stimmpaaren oder auch chorisch vorgetragen.

Weitgehend eliminiert sind die Aussagen der Juden (der Eindruck des Holocaust liegt

noch nicht weit genug zurück). In der Wahl der kompositorischen Mittel geht Martin sehr

sparsam vor. Er schätzt große Farbigkeit des Orchesters und eher verhaltenen Ausdruck.

Selten setzt er auf oberflächliche Effekte, sondern beschränkt sich auf einfache

akkordische Begleitung im Orchestersatz.

Martin wurde 1890 in Genf als Kind eines Pfarrers geboren und besuchte nach eigenen

Aussagen als Zwölfjähriger eine Aufführung der Matthäus- Passion von Bach, die ihn tief

beeindruckte. Seine ersten Gehversuche als Komponist orientieren sich an der

Zwöltonlehre der Neuen Wiener Schule um Arnold Schönberg, er führt jedoch den

konsequenten Weg der Selbstständigkeit der Töne nicht im Schönbergschen Sinne

weiter, sondern verlässt in seinen Kompositionen nie die sichere tonale Basis. Zu seinen

berühmtesten Werken gehört die doppelchörige Messe für Chor a capella. Von Martin

existieren interessante Aussagen über das Verhältnis von Komponist zu geistlicher

Musik, die auch ein gesellschaftliches Bild zeichnen „Gerade aufgrund des Umstandes,

dass eine allgemeine religiöse Übereinstimmung heute nicht mehr existiert, steht der

Künstler, der ein religiöses Werk schaffen will, seinerseits vor der Unmöglichkeit, eine

Basis für eine wirkliche und generelle Übereinstimmung mit dem Hörer zu finden“, schrieb

Martin 1946, zwei Jahre vor der Komposition von Golgotha. Den Anstoß zur Komposition

des Werkes gab Martin das Bild von Rembrandt „Die drei Kreuze“. Dabei war Martin sich

bewusst, dass es eine Anmaßung bedeutete, „eine Passion zu schreiben, nach

denjenigen, die uns J.S. Bach hinterlassen hat. Bach ist gestern heute und immer. Sein

Werk war Kirchenmusik, geschrieben für seine Kirche. So drücken seine Passionen vor

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allem die Gefühle der Gläubigen angesichts der Passion aus. Das „Golgotha“, das ich

schreiben will, versucht das Geschehen an sich darzustellen, und überlässt es dem

Hörer, daraus Schlüsse zu ziehen. Das Oratorium kann wohl in einer Kirche aufgeführt

werden, aber es wird keine Kirchenmusik sein.“

Hören: Golgotha Nr. 3

Als herausragende Passionskomposition des 20. Jh. gilt allerdings die Lukas- Passion

von Krzysztof Penderecki aus dem Jahr 1966. Sie macht den bislang eher regional

bekannten polnischen Komponisten mit einem Schlag weltberühmt. Penderecki gilt als

einer der innovativsten und kreativsten Komponisten des 20. Jh. und ist maßgeblich dafür

beteiligt, dass viele etablierte „Klassik“- Hörer den Zugang zu moderner E- Musik

gefunden haben. Penderecki kann einen beeindruckenden Lebenslauf vorweisen.

Zahlreiche seiner Kompositionen gewannen die bedeutendsten internationalen

Kompositionspreise, er ist Ehrendoktor ganzer 17 Universitäten auf der ganzen Welt

gewesen. Zu seinen bekanntesten Kompositionen gehören Die Psalmen Davids,

Threnos, Flourescences und Atmosphère. Es sind alles große Klangemälde. Penderecki

experimentiert mit den Grenzen der Instrumente und der menschlichen Stimme. So auch

seine Lukas- Passion. Sie war eine Auftragskomposition des Westdeutschen Rundfunks

zur 700 Jahr- Feier des Doms in Münster. Penderecki gedachte in seinem Werk daneben

aber auch des 1000. Jahrestages der Christianisierung Polens im selben Jahr 1966.

„Mein Ziel“, so Penderecki, war die Abkehr von einer statischen Schilderung, von einer

reinen Nacherzählung des Evangeliums. Die Passion ist von ihrem Ansatz her ein

dynamisches, manchmal sogar grausames Erlebnis.“ Penderecki besetzte die ukas-

Passion mit einem Knabenchor, drei gemischten Chören, drei Solostimmen, einem

Sprecher und einem Sinfonieorchester. Textgrundlage ist der lateinische Text des

Lukasevangeliums und lateinische Hymnen und Psalmen der Passionszeit. Das Stück

dauert ca. 80 min und besteht aus 24 Teilen. Das musikalische Material besteht im

Wesentlichen aus zwei Zwölftontreihen, Penderecki zitiert aber wiederholt Bach, z.B.

durch B-A-C-H- Formeln. „Es ist mir egal, wie man die Lukas-Passion bezeichnet, ob nun

als traditionell oder avantgardistisch. Für mich ist sie einfach authentisch. Und das muss

genügen. Es reicht dabei nicht aus, nur gewisse religiöse Überzeugungen zu haben, und

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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007

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den Wunsch, ihnen Ausdruck zu verleihen. Ich habe nichts dagegen, wenn meine Musik

als Glaubensbekenntnis angesehen wird.“

Hören: Penderecki

Weitere Komponisten:

1969: Olivier Messiaen, La transfiguration des Notre- Seigneur Jésus- Christ

1975: Kurt Fiebig, Ein Lamm geht hin, eine Chorpassion

1985: Oskar Gottlieb Blarr, Jesus- Passion (hebräisch und deutsch)

1985: Maurizio Kagel: St. Bach- Passion

1985: Arvo Pärt: Johannes- Passion