Braucht die Volksschule eine ökonomische Betrachtung?
Prof. Dr. Stefan C. Wolter, Universität Bern & SKBF
KKV-Symposium, Grindelwald 2011
2011 Stefan C. Wolter 2
Was spricht für eine ökonomische Betrachtungsweise?
• Bildung beansprucht grosse individuelle und gesellschaftliche Ressourcen (ca. 10% des BIP p.a.)
• Die individuelle und öffentliche Zahlungsbereitschaft ist nur dann gegeben, wenn die damit erstrebten individuellen und gesellschaftlichen Ziele dies rechtfertigen (effektive, effiziente und gerechte Mittelverteilung).
• … und in Zeiten fiskalischer Engpässe oder anderer Bedürfnisse (demographische Alterung) verschärft sich der Ressourcenkampf zusätzlich.
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ABER!
Ökonomen sind keine Buchhalter!
Die bildungsökonomische Betrachtung des Bildungswesens ist etwas anderes!
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Was spricht für eine „bildungs“ökonomische Betrachtungsweise?
1. Bildung ist Komponente in vielen ökonomischen Teilgebieten (Arbeitsmarkt-, Personal-, Gesundheitsökononomie, Finanzwissenschaften, Wachstumstheorie etc.) = Grosser Fundus weltweiter ökonomischer Forschungsaktivitäten.
2. Grosser empirischer Methodenfortschritt in der Ökonomie bei gleichzeitiger Vernachlässigung der empirischen Forschung in der traditionellen Bildungs- und Erziehungswissenschaft.
3. Vernachlässigung der Systemforschung in der traditionellen Bildungsforschung (Primat historisch-philosophisch-ideologischer Betrachtungsweisen).
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Beispiel: Wachstumstheorie Wachstum und Schuljahre
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Was spricht für eine „bildungs“ökonomische Betrachtungsweise?
1. Bildung ist Komponente in vielen ökonomischen Teilgebieten (Arbeitsmarkt-, Personal-, Gesundheitsökononomie, Finanzwissenschaften, Wachstumstheorie etc.) = Grosser Fundus weltweiter ökonomischer Forschungsaktivitäten.
2. Grosser empirischer Methodenfortschritt in der Ökonomie bei gleichzeitiger Vernachlässigung der empirischen Forschung in der traditionellen Bildungs- und Erziehungswissenschaft.
3. Vernachlässigung der Systemforschung in der traditionellen Bildungsforschung (Primat historisch-philosophisch-ideologischer Betrachtungsweisen).
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Was ist Bildungsökonomie?
„Bildungsökonomie ist die Anwendung ökonomischer Theorien und Modelle auf
Fragen und Probleme des Bildungswesens und dies sowohl auf der Makroebene und auf der
Mikroebene des Bildungssystems wie auf systemexterne und systeminterne
Fragestellungen“
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Was ist Bildungsökonomie?
• Makroebene: Gesamtes Bildungswesen (systemische Betrachtung), bspw.: Steuerungsfragen und Qualität der Bildung, Bildung und Wachstum, etc.
• Mikroebene: Verhalten einzelner Akteure (Schüler/Lehrer /Schulleiter, Politiker) und Konsequenzen (bspw. Bildungs-erträge)
• Systemintern: Bildungsproduktion (Bildungsoutput)
• Systemextern: Wirkung von Bildung (Bildungsoutcome) auf Erwerbstätigkeit, Gesundheit, Glück, etc.
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Grundlagen ökonomischer Denkmodelle
Anreize (Rationalitätsannahme)• Der Mensch (homo oeconomicus) maximiert seinen Nutzen
• Der Nutzen beinhaltet immer monetäre und nicht-monetäre Komponenten; bspw. Status, Macht, Glück, etc.
Effiziente Mittelallokation• Alle wichtigen Ressourcen sind knapp (Zeit und Geld)
• Die letzte Ressource wird dort investiert, wo sie den grössten Nutzen verspricht = Wohlstandsmaximierung
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Beispiele
• Makroebene: Bildungssteuerung auf der Systemebene (Autonomie, Evaluationen und Wirkung)
• Mikroebene: Lohn als Anreiz für potentielle Lehrer/innen
• Systemintern: Fragen der Bildungsproduktion (Fachkenntnisse der Lehrer/innen): Kausalitäten!
• Systemextern: Kapitel „Kumulative Erträge“ im Bildungsbericht Schweiz ∣ 2010
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Makroebene: Bildungssteuerung auf der Systemebene
• Die verantwortende und somit steuernde Ebene (Politik = Principal) ist nicht ausführende Ebene, sie delegiert die Aufgabe an Schulleiter/innen und Lehrer/innen (Agent)
• Die ausführende Ebene ist im Informationsvorteil, d.h. der Principal bekommt seine Informationen vorgefiltert durch den Agenten (Informationsasymmetrien (typische Principal-Agent – Situationen: auch eine Mikrofrage)
• Aufheben der potentiellen Konflikte: Hierarchie (Bürokratie) oder Anreize; beides bedarf aber wiederum Informationen, die teuer sein können ( ⇨ Kosten/Nutzen)
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Mögliche Principal-Agent Beziehungen
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Handlungen des Principals Vor- und Nachteile
Direktiven Geringe Informations- und Kontrollkosten – völliges Vertrauen auf den Agenten (intrinsische Motivation)
Stichproben (Feueralarm) Mittlere Informations- und Kontrollkosten – Wirkung abhängig von der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit der Kontrolle und der Sanktionshöhe
Ständiges Überwachen mit Sanktionen (Polizeipatrouille)
Hohe Kosten – potentiell hoher Wirkungsgrad – potentiell negative Motivationswirkungen bei den Agenten
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Empirie zu verschiedenen Steuerungsformen• USA: Schaffung des „National Assessment of Educational Progress“
ermöglichte den Vergleich von drei Möglichkeiten für die Bundesstaaten:
1. Messung der Leistungen (keine Verwendung der Informationen)2. Messung und Publizierung der Leistungen3. Messung und Publizierung der Leistungen und Massnahmen bei
Nichterfüllung der Ziele
• Beispiel: Hanushek & Raymond (EER, 2006): Nur Strategie 3 führte zu Leistungsfortschritten
• Vom Wägen wird das Schwein nicht fetter aber ohne Wägen auch nicht
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Steuern über Anreize
• Selbst wenn man es weiss und kann, braucht es trotzdem Anreize etwas zu tun: Steuerung über Anreizstrukturen anstelle von Direktiven: bspw. erfolgsabhängige Lehrerentlöhnung
• Erkenntnisse aus der Bürokratietheorie: Interessen von Steuerungsverantwortlichen – Ausführenden und Betroffenen (Schülern, Eltern) sind selten deckungsgleich.
• Kunst: Anreizstrukturen schaffen, welche die Nutzenfunktion aller Parteien gleich beeinflussen:
• Beispiel: Autonomie (Delegation von Steuerung) führt zur Nutzung lokalen Wissens, aber ohne Kontrolle (Zentrale Leistungstests) nicht unbedingt zu besseren Leistungen wegen divergierenden Anreizen
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Autonomie und zentrale Leistungstests
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Ja
Nein
0
5
10
15
20
25
30
35
40
Ohne LT
Mit LT
Schulautonomie bei Lehrergehältern
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Quelle: Wössmann (2005)
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Kosten und Nutzen der Steuerung
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• Jede Steuerung kostet auch:
• Minimalbedingung: Wenn die Steuerungskosten grösser sind als der durch die Steuerung kausal verursachte Mehrnutzen (konterfaktuale Situation wäre eine ohne Steuerung), ist die Steuerung garantiert ineffizient.
• Bsp. Schulaufsicht und –inspektorat: L. Rosenthal (EER, 2004):
„It is found that there exists a small but well-determined adverse, negative effect associated with the Ofsted inspection event for the year of the inspection.“
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Mikroebene: Beispiel Lehrerentlöhnung und Lehrerangebot
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• Typische Anwendung aus der Arbeitsmarktökonomie: Arbeitnehmer wählen sich Beruf und Arbeitgeber nicht nur – aber auch wegen dem Lohn aus (ceteris paribus)
• Personen reagieren nicht auf absolute Löhne, sondern auf relative Löhne (Lohnvorteile oder –nachteile)
• Die Frage, die nur empirisch zu beantworten ist, ist jene: wie stark potentielle Arbeitnehmer auf Löhne reagieren = Lohnelastizität des Arbeitskräfteangebotes
• Nutzen für die Bildungspolitik: Welches relative Lohnniveau muss ich bezahlen, damit meine Stellen besetzt sind!
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Empirische Probleme
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• Untaugliche Forschung: Wären Sie auch bei einem tieferen Lohn Lehrer/in geworden? (Sozialer Erwünschtheitsbias, retrospektive Rationalisierung von Entscheiden, fehlende Kontrollgruppe?)
• Taugliche Methode: Beobachtung tatsächlicher Entscheide von potentiellen Lehrkräften bei sich ändernden Lohndifferentialen zwischen den Optionen Lehrer/in – Nicht-Lehrer/in
• Herausforderung: Daten & Methoden
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Empirisches Verfahren
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Schätzung der Wahrscheinlichkeit „pL“ der Person „i“, Lehrer/in zu werden (0/1)
pLi = Xi + Ldiffi
In Abhängigkeit von beobachtbaren Merkmalen X und dem individuellen Lohndifferential Ldiff
Ldiff = Lohn Lehrer/in – Lohnalternative
Problem: Lohnalternative kann nicht beobachtet werden
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Studie zu Quereinsteiger/innen: am Beispiel der Berufsbildung
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• Lehrer/innen berufskundlicher Fächer sind zwingendermassen Quereinsteiger/innen
• Hier stellen sich zwei Fragen: – a) Haben neue Lehrer/innen im angestammten Beruf mehr
oder weniger verdient als jene, die im Beruf verblieben sind? (Positive oder negative Selektion in den Lehrberuf)
– b) Würde ein höherer Lohn mehr Lehrer/innen in den Beruf bringen? (Lohnelastizität)
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Systeminterne Fragestellungen: Welche Faktoren machen Bildung effektiver?
• Potentiell tausende von Fragestellungen: Klassengrössen, Unterrichtsstil, Lehrmittel, Fachkenntnisse der Lehrpersonen, etc., etc., etc.
• Bildungsökonomische Forschung rollt erst richtig an. Der Grund hierfür ist das zu häufige Fehlen von Outputdaten (Kompetenzmessungen), ohne diese auch keine Effektivitätsanalysen gemacht werden können.
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Einschub: Von Korrelationen und Kausalitäten – von Inputs und Outputs
• Beurteilungen von effektiven Bildungsmassnahmen und –settings unterliegen konsequent einem „Halo-Effekt“
⇨ Korrelationen und Kausalitäten werden fast immer vermischt und verwechselt.
• Quantität (Input) und Qualität (Output) werden häufig verwechselt ⇨ Ersteres wird mit grossen Kosten gefördert und letzteres nicht überprüft.
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Beispiel: Welchen Einfluss haben die Fachkenntnisse der Lehrpersonen auf die Schülerleistungen?
Empirische Schwierigkeiten:
1. Kompetenzen bei Lehrpersonen und Schüler/innen messen
2. „Gute“ Lehrer/innen unterscheiden sich von schlechten „Lehrer/innen auch in anderen, nicht beobachtbaren Dingen: sind es wirklich die Fachkenntnisse?
3. „Gute“ Lehrer/innen unterrichten vielleicht auch andere Schüler/innen.
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Lösung: Difference-in-Difference Messungen
Empirische Strategie: ΔSli = ΔLlj + Xz + ɛ
ΔSli = Differenz zwischen Schülerleistung in Fach x und Fach z für Schüler/in „i“
ΔLlj = Differenz in der Fachleistung von Lehrer/in j in Fach x und z
Xz = Andere Schulfaktoren und Schülermerkmale
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Empirische Anwendung: Metzler/Wössmann (2010)
• Schülertests in der 6. Klasse in Spanisch und Mathematik in Peru
• Gleichzeitig Tests des Fachwissens der unterrichtenden Lehrpersonen in beiden Fächern.
• Alle Lehrer/innen unterrichten beide Fächer.
• Eine Standardabweichung im Fachwissen in einem Fach (relativ zum anderen) verändert die Schülerleistungen um 10% einer Standardabweichung einer Schülerleistung.
• Metaebene: Wie evaluieren eigentlich Pädagogische Hochschul-en ihre Ausbildungskonzepte, wenn man über die Wirksamkeit von Lehrpersonen praktisch nichts weiss?
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Vier Gründe warum die Bildung die Ökonomie braucht:
• Klar: Bildung kostet – „nur Dummheit gibt‘s gratis“
• Der ökonomische Nutzen von Bildung ist relevant (muss aber zuerst berechnet werden): Ohne wahrgenommenen Nutzen, keine Investitionsbereitschaft.
• Menschen reagieren auf ökonomische Anreize (auch im Bildungswesen!) Bildungsökonomie generiert Steuerungswissen.
• Die Wirtschaftswissenschaften haben Modelle und Methoden entwickelt, die sich auch bei Bildungsfragen gewinnbringend einsetzen lassen (Effektivitätsforschung).
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