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BRIGIT TA BUSCH

Das sprachliche Repertoire oder Niemand ist einsprachig

Vorlesung zum Antritt der Berta-Karlik-Professur an der

Universität Wien

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B R I G I T TA BU S C H setzt als Sprachwissen-schafterin einen Schwerpunkt auf biographische Zugänge. Diplomstudium und Doktorat an der Universität Klagenfurt, 2004 Habilitation für Angewandte Sprachwissenschaft und Sozio linguistik an der Universität Wien. Forschungs- und Expertinnentätigkeit zu Fragen der Mehr sprachigkeit in Kärnten, Südosteuropa, Südafrika und Wien. Intensive internationale Publikations tätigkeit, darunter auch im Drava Verlag, wo zuletzt der Roman Winterweizen (2011) erschienen ist.

Mit dem Satz »Niemand ist einspra-chig« meine ich genau das: Eine Er-fahrung, die jede_r kennt, jene des Dazu-Gehörens oder eben nicht Dazu-Gehörens aufgrund unterschiedlicher Arten des Sprechens. Einsprachig wäre demnach nur, wer diese Erfahrung nie gemacht hat, wer sich im Sprechen nie als »anders« erlebt hat.

Der Begriff Sprachrepertoire macht deutlich, dass Sprechende nicht einfach »eine Sprache« sprechen, sondern immer über eine Vielfalt unterschiedlicher sprachlicher Mittel verfügen, aus denen sie jeweils kontext- und situationsadäquat eine bestimmte Wahl treffen. Brigitta Busch unternimmt es, das ursprünglich in den 1960er Jahren entwickelte Repertoire-Konzept um zusätzliche Dimensionen zu erweitern, wobei sie dem Spracherleben eine zentrale Stellung einräumt. Aus der Perspektive des erlebenden und sprechenden Subjekts wird es möglich, jene leiblich-emotionalen Dimensionen, aber auch jene Sprachideologien und Diskurse über Sprache in den Blick zu nehmen, die entscheidenden Einfluss darauf ausüben, welche Sprachen oder Sprechweisen uns in bestimmten Situationen oder Lebens-abschnitten tatsächlich zur Verfügung stehen.

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Brigitta Busch

Das sprachliche Repertoire oder Niemand ist einsprachig

Drava

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Vorlesung zum Antritt der Berta-Karlik-Professur an der Universität Wien am 7. Mai 2012

klagenfurt – wien · celovec – dunaj 9020 Klagenfurt/Celovec · Tarviser Straße 16 [email protected] · www.drava.at

© Copyright 2012 by Drava VerlagUmschlaggestaltung: Walter Oberhauser Gestaltung und Druck: Drava

isbn 978-3-85435-694-3

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Das sprachliche Repertoire oder Niemand ist einsprachig

»Je n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne.«Ich habe nur eine Sprache, und es ist nochnicht einmal meine – diese provokante undscheinbar paradoxe Aussage stellte JacquesDerrida (1996: 13) an den Anfang seinerSchrift Le monolinguisme de l’autre [Die Ein-sprachigkeit des Anderen], in der er am Bei-spiel seiner eigenen Sprachgeschichte dieMacht sprachideologischer Kategorisierun-gen darlegt. Der Untertitel, den ich der heu-tigen Vorlesung gegeben habe, »Niemandist einsprachig«, scheint Derridas Befunddiametral zu widersprechen. Ich hoffe aber,dass es mir gelingen wird, nachvollziehbarzu machen, dass die beiden Aussagen nichtso weit auseinanderliegen, wie es auf denersten Blick scheinen mag.

In den letzten zehn Jahren haben mirMenschen in Kärnten, im Balkanraum, inSüdafrika, in Wien und andernorts ihreSprachbiographien in Form von Interviewsoder autoethnographischen Darstellungenzur Verfügung gestellt, insgesamt sind dasweit über hundert mündliche und schrift -

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liche Texte. Eine weitere wichtige Quelle,um etwas darüber in Erfahrung zu bringen,wie Menschen ihre Sprachlichkeit erleben,waren literarische Texte mehrsprachigerAutor_innen (Busch und Busch 2008). Un-abhängig von der Form ist in jeder einzel-nen dieser Darstellungen von Spracherle-ben irgendwann die Rede von derErfahrung, dass das eigene sprachliche Re-pertoire nicht passend war, dass eigeneSprechweisen als auslösende Momente fürGefühle des Nicht-Dazugehörens, alsGrund für Ausschlüsse erlebt wurden.

Das Motiv der sprachlichen Nicht-Zuge-hörigkeit kommt auch in biographischenErzählungen vor, die von Erzähler_innen,weil sie sich als einsprachig sehen, als »lang-weilig« apostrophiert werden. Ich greifenun beinahe beliebig einen Text heraus, deneine Studentin, die zunächst meinte, sie seieinsprachig aufgewachsen, im Rahmen ei-ner Lehrveranstaltung verfasst hat. Ichwerde später, um Sachverhalte zu veran-schaulichen, ab und zu wieder auf diesenText zurückgreifen.

Die Studentin schildert den Moment desSchulwechsels vom Dorf in das in der Lan-deshauptstadt gelegene Gymnasium als je-nen, wo sie zum ersten Mal bewusst die Er-

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fahrung der Nichtzugehörigkeit machte:»Es war eine sehr hierarchisch strukturierteKlasse, die meisten Schülerinnen kamenaus eher ›höheren Schichten‹ und gegen-über manchem ›landeshauptstädtischenHochdeutsch‹ kam ich mir mit meinerländlichen Umgangssprache sehr unsicherund ein wenig defizitär vor.«

Mit dem Satz »Niemand ist einspra-chig« meine ich genau das: eine Erfahrung,die jede_r kennt, jene des Dazu-Gehörensoder eben nicht Dazu-Gehörens aufgrundunterschiedlicher Arten des Sprechens. Ein-sprachig wäre demnach nur, wer diese Er-fahrung nie gemacht hat, wer sich im Spre-chen nie als »anders« erlebt hat. Im Vorder-grund steht in dieser Sichtweise nicht dieFrage, über wie viele und über welche Spra-chen jemand verfügt, also ob er, um in derlinguistischen Terminologie zu bleiben, ne-ben seiner Erstsprache, der L1, auch eine L2,eine L3 oder Ln sein eigen nennen kann;noch ist das gemeint, was als innersprachli-che Mehrsprachigkeit bezeichnet wird, alsodie Vorstellung, wonach Vartietätenbündelbestehend aus Dialekten, Soziolekten, Re-gistern, Fachsprachen, Jargons usw. einerStandardsprache zugeordnet werden. Viel-mehr geht es mir darum, wie sprachliche Va-

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riation dazu dienen kann, Zugehörigkeitoder Differenz zu konstruieren und vor al-lem, wie solche Konstruktionen als sprach-liche Aus- und Einschlüsse erlebt werden.

Schon aus einem kurzen Auszug wie je-nem aus dem angeführten Text der Studen-tin wird klar, dass zur Analyse sprachlicherPraktiken eine Reihe verschiedener Fakto-ren in Betracht zu ziehen sind: Zum einengeht es darum, dass Sprecher_innen zu un-terschiedlichen Zeiten oder auch gleichzei-tig an unterschiedlichen sozialen Räumenteilhaben – im Beispiel der Schülerin dasDorf, die Stadt, die Familie, die Schule. Injedem dieser Räume gelten andere Regelndes Sprachgebrauchs, andere Gewohnhei-ten, sie werden, sagt man in der Soziolin-guistik, durch unterschiedliche Sprachre-gime konstituiert. Zum anderen geht es umSprachideologien, um Diskurse über Spra-che und »richtigen« Sprachgebrauch, dieHierarchisierungen zum Ausdruck bringenund festschreiben – in unserem Beispiel dasMachtgefälle zwischen der landeshaupt-städtischen »Hochsprache« und demdörflichen Dialekt. Und zum dritten geht esdarum, welches sprachliche RepertoireSprecher_innen in einen spezifischen Inter-aktionskontext mitbringen – und das ist

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das Thema, dem ich mich in dieser Vorle-sung widmen will.

Zunächst wird es notwendig sein, sichmit dem Konzept des sprachlichen Reper-toires auseinanderzusetzen, so wie es in derSoziolinguistik entwickelt wurde. Danngehe ich der Frage nach, wie der Repertoire-Begriff aus heutiger Sicht erweitert werdenkann, wenn man das Spracherleben – alsodie Perspektive des sprechenden Subjekts –als Ausgangspunkt nimmt. Im Speziellengeht es mir darum, wie sich leibliche, emo-tionale und historisch-politische Dimen-sionen des Spracherlebens im Repertoireniederschlagen. Im letzten Teil möchte ichanhand eines Ausschnitts aus einer Lebens-geschichte, die von Migration und Disloka-tion erzählt, die Relevanz der Forschung zuSpracherleben und sprachlichem Reper-toire aufzeigen.

Zwischen dem Eigenen und dem FremdenBevor ich mich dem Thema zuwende, schi-cke ich einige Grundannahmen über Spra-che oder Sprechen voraus, auf die meineAusführungen aufbauen:

Mit Karl Bühler (1999 [1934]) und Ro-man Jakobson (1979 [1960]) gehe ich davonaus, dass sprachliches Handeln grundsätz-

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lich einen multifunktionalen Charakteraufweist, d. h. dass in jedem Sprechakt nichtnur Inhalte vermittelt werden, sondern dassSprecher_innen immer auch etwas von sichzum Ausdruck bringen und sich zu anderenin Beziehung setzen: ein Ich wendet sich anein Du, um über ein Drittes zu sprechen. Jenach Sprechakt kann einer der drei Aspekte,Inhalts-, Ausdrucks- oder Beziehungs-aspekt, im Vordergrund stehen, zusammentragen sie zur Bedeutungsbildung bei. Ja-kobson betont, dass, wenn man einenSprechakt vom Standpunkt der übermittel-ten Information her betrachtet, man diesenicht allein auf den kognitiven Aspekt redu-zieren kann, sondern auch den Einsatz expressiver Mittel wie Zorn oder Ironie be-rücksichtigen muss, weil diese zur Konstitu-tion von Bedeutung beitragen. Eine eigeneStellung räumt Jakobson dem ein, was er alspoetische Funktion der Sprache bezeichnet,die nicht referentiell auf ein Objekt oder ei-nen Sachverhalt gerichtet ist, sondernselbstreferentiell auf die Form der Rede,ihre lautliche oder rhythmische Gestalt und»Spürbarkeit«, wie sie beispielsweise in Al-literationen, Reimen oder Wortspielen zumAusdruck kommt. Diese poetische Funk-tion, auf die ich noch zurückkommen

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werde, will Jakobson keineswegs auf dieDichtung beschränkt wissen, sondern spürtihr auch in der Alltagsrede nach.

Sprachliches Handeln ist nicht nur mul-tifunktional, sondern auch multimodal,weil das Verbale immer nur in Verbindungmit anderen Modi auftritt; das gesprocheneWort zusammen mit Prosodie, Mimik, Ges-tik usw., das geschriebene in Verbindungmit Schriftbild und Layout, oft auch mit vi-suellen Darstellungen. Bedeutung entstehtim Zusammenspiel aller zum Einsatz ge-brachten Modi.

Mit Bachtin gehe ich weiters davon aus,dass sprechen (genauso wie schreiben) im-mer dialogisch und intertextuell ist: Bedeu-tung entsteht erst im wechselseitigen Pro-zess von Äußerung und »antwortendemVerstehen«. Mit jeder Äußerung nehmenwir auf bereits Gesagtes Bezug – zustim-mend, widersprechend oder aufgreifendund weiterentwickelnd – und nehmen mög-liche Antworten antizipierend vorweg. DieSprache, schreibt Bachtin (1979 [1934–1935]: 185) bewegt sich »auf der Grenzezwischen dem Eigenen und dem Fremden.Das Wort der Sprache ist ein halbfremdesWort. Es wird zum ›eigenen‹, wenn derSprecher es mit seiner Intention, mit seinem

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Akzent besetzt, wenn er sich das Wort an-eignet.« Sprache ist kein Neutrum, sie ist»mit fremden Intentionen besetzt, ja über-besetzt« (ibd.), sie ist ideologisch akzentu-iert und daher immer Gegenstand ideologi-scher Auseinandersetzung.

Mehrsprachigkeit bzw. sprachliche Di-versität bezieht Bachtin demnach nicht nurauf eine Vielfalt an Sprachen oder Codes,vielmehr geht es ihm darum, dass wir uns imSprechen immer gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Diskursen und Sprech-weisen positionieren, die ihrerseits auf un-terschiedliche soziale Räume und Zeitab-schnitte verweisen. Jedes Sprechen spiegeltwider, was Bachtin Heteroglossie nennt: diegesellschaftlich vorhandene Redevielfalt,die in einer Vielfalt konkurrierender gesell-schaftlicher Diskurse [raznorečie], individu-eller Stimmen [raznogolosie] und sprachli-cher Codes [raznojayzčie] Ausdruck findet.

Der Repertoire-BegriffIn der Sprachwissenschaft geht des Konzeptdes sprachlichen Repertoires auf den An-thropologen und Linguisten John Gumperzzurück. Gumperz (1964) stellt die Analysesprachlicher Interaktion in den Mittel-punkt und entwickelt den Begriff des

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sprachlichen Repertoires auf der Grund-lage seiner Forschung in den 1950er/60erJahren in zwei ländlichen Gemeinden mitt-lerer Größe, beide in einer Öffnungssitua-tion hin zu urbanen Räumen: die eine,Khalapur, achtzig Meilen nördlich von De-lhi, die andere, Hemnes, im norwegischenRana-Fjord. Als Rahmen für seine Analysenimmt Gumperz die Sprechgemeinschaft,die er nicht essentialistisch definiert, son-dern als eine, die sich durch regelmäßige In-teraktion über einen längeren Zeitraumkonstituiert. Das sprachliche Repertoire,sagt Gumperz, »umfasst alle anerkanntenArten, Mitteilungen zu formulieren. Esstellt die Waffen der Alltagskommunika-tion zur Verfügung. Sprecher wählen ausdiesem Arsenal im Hinblick auf die Bedeu-tungen, die sie vermitteln wollen.« (Gum-perz 1964: 138, Übers. B. B.)

Das Repertoire wird als ein Ganzes be-griffen, das jene Sprachen, Dialekte, Stile,Register, Codes, kurzum alle Routinen um-fasst, die die Interaktion im Alltag charak-terisieren. Es umfasst also die Gesamtheitder sprachlichen Mittel, die Sprecher_in-nen einer Sprechgemeinschaft zur Verfü-gung stehen, um (soziale) Bedeutung zuvermitteln. Gumperz zufolge obliegt es

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zwar den einzelnen Sprecher_innen, eineEntscheidung in Bezug auf den Einsatzsprachlicher Mittel zu treffen, aber dieseWahlfreiheit ist sowohl grammatikalischenals auch sozialen Zwängen unterworfen. Sieist begrenzt durch allgemein anerkannteKonventionen, die dazu dienen, Arten desSich-Ausdrückens als informell, technisch,literarisch, humorvoll usw. zu klassifizie-ren. »Die soziale Etikette der Sprachwahlwird gleichzeitig mit den grammatikali-schen Regeln gelernt und wird, wenn sieeinmal internalisert ist, Teil der sprachli-chen Ausrüstung.« (ibd.)

Gumperz’ Konzept stellt einen wichti-gen Schritt dar, weil es nicht einzelne Spra-chen oder Varietäten als gegeben in den Mit-telpunkt stellt, sondern von der in sprachli-chen Interaktionen herrschenden Vielfaltausgeht. Gumperz schließt daraus auf einRepertoire, das – einmal erworben – wie ein»Arsenal« zur Verfügung steht, eine Werk-zeugkiste, auf die man jederzeit zurückgrei-fen kann. Gerade dieser instrumentale Cha-rakter, den Gumperz dem Repertoire zu-schreibt, muss meiner Meinung nach inFrage gestellt werden. Das Repertoire-Kon-zept bedarf aus heutiger Sicht einer Erwei-terung, weil Sprachwahl nicht nur von Re-

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geln und Konventionen geleitet wird, son-dern auch unter dem Einfluss dessen steht,was man mit Spracherleben bezeichnet.Dass Gumperz, der 1939 vor dem National-sozialismus in die USA geflohen ist und da-mit in eine neue sprachliche Umgebung ver-setzt wurde, sich dessen im Grunde schonbewusst war, als er das Konzept entworfenhat, geht aus seiner Bemerkung hervor, dass»stilistische Wahl zu einem Problem wird,wenn wir unsere gewohnten sozialen Umge-bungen verlassen.« (ibd.)

SpracherlebenGumperz ging in seinem Konzept von rela-tiv stabilen Sprechgemeinschaften mit ei-nem klar umgrenzten Repertoire aus. Einallfälliger Umgebungswechsel, mit demsich Probleme in der Sprachwahl einstellenkönnen, erscheint gewissermaßen als Son-derfall. Diese Annahme, die in den 1960erJahren ihre Berechtigung hatte, lässt sichheute nicht mehr aufrecht erhalten. StevenVertovec (2007) prägte den Begriff »Super-diversity«, um damit Phänomene globalexpandierender Mobilität zu bezeichnen,die neue, zunehmend komplexe soziale For-mationen hervorbringen und mit Prozessender Inklusion und Exklusion verbunden

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sind. Es bilden sich Netzwerkpraktiken jen-seits traditioneller Zugehörigkeiten heraus,was zur Folge hat, dass Sprecher_innenhäufig gleichzeitig an unterschiedlichen,temporär konstituierten und zum Teil ent-territorialisierten Netzwerken teilhaben.Der quasi permanente Wechsel der Umge-bung ist nicht mehr Sonderfall, sondern fürimmer mehr Menschen Teil ihrer Lebens-geschichte und ihres Alltags.

Schon ein Schuleintritt oder, wie im an-fangs zitierten Zeugnis, ein Schulwechselkann im Sinn von Gumperz als Problem beider Sprachwahl erlebt werden, als überra-schende, irritierende, manchmal erschüt-ternde Wahrnehmung, dass das mitge-brachte eigene Sprachrepertoire nicht odernicht ganz passt. Ein Gefühl von Out-of-place-Sein, Deplatziert-Sein, sich mit derfalschen Sprache am falschen Ort zu befin-den. In von mir im Lauf der Jahre erhobe-nen Sprachbiographien wird der Momentdes Schuleintritts immer wieder als ein sol-ches Schlüsselerlebnis thematisiert, als aus-lösendes Moment der Irritation in Bezugauf das eigene Sprachrepertoire. Die Kon-stellationen, in denen sich diese Irritationbei Schuleintritt oder Schulwechsel im kon-kreten Fall manifestiert, können sehr viel-

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fältig sein. Für die einen ist es die Erfah-rung, im Unterricht zum ersten Mal mit derNormativität von Standardsprache kon-frontiert zu werden. Für andere besteht dieHerausforderung umgekehrt darin, mit ei-ner standardnahen Familiensprache aufeine Peergroup zu stoßen, die ihnen dieAufnahme verweigert, weil sie sich über ei-nen lokalen Dialekt definiert. Wieder an-dere werden bei Schuleintritt in eine Umge-bung versetzt, in der sie so gut wie nichtsverstehen und sich nicht verständlich ma-chen können. Und einige stellen mit Erstau-nen fest, dass andere nur eine Familienspra-che haben, und nicht wie sie selbst eineMutter- und eine Vatersprache.

In all diesen Fällen haben wir es mit Spra-cherleben zu tun, mit Schilderungen, wiesich Menschen selbst und durch die Augenanderer als sprachlich Interagierende wahr-nehmen. Dass sie so etwas wie ein sprachli-ches Repertoire haben, wird Sprecherinnenmeist ex negativo bewusst, nämlich dann,wenn sie das Gefühl haben, dass sie von ih-rer Umgebung als »anderssprachig« wahr-genommen werden. Dieses Spracherlebenist nicht neutral, es ist mit emotionalen Er-fahrungen verbunden, damit, ob man sich ineiner Sprache bzw. im Sprechen wohl fühlt

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oder nicht. Das emotional besetzte Spra-cherleben ist ein Aspekt, dem in der Be-schäftigung mit Mehrsprachigkeit langeZeit zu wenig Beachtung geschenkt wurde,weil der Fokus zu exklusiv auf Sprachkom-petenzen und messbaren Leistungen lag –und viel zu oft noch immer liegt.

Jede Darstellung von Spracherleben istsingulär. Dennoch lassen sich einige grund-legende Achsen identifizieren, die auch imAnfangsbeispiel vom Schulwechsel in dieLandeshauptstadt zur Sprache gekommensind: Zum einen geht es um das Verhältnisvon Selbstwahrnehmung und Fremdwahr-nehmung. Die Studentin berichtet darüber,wie sie sich als Schülerin bemüht hat, denErwartungen der neuen Umgebung nachzu-kommen und »Hochdeutsch« zu sprechen.»Ich erinnere mich noch heute«, schreibtsie, »wie ich mir quasi selbst von außenbeim Reden zuhörte und mich wie eineSchauspielerin fühlte, so unecht kam mirmein Reden vor.« Die sprachliche Anpas-sungsleistung, die die Schülerin in der Hoff-nung erbringt, in den Augen der anderennicht mehr als »anders« wahrgenommenzu werden, hat zur Folge, dass sie sich nunselbst als eine andere, als Fremde wahr-nimmt.

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Zum zweiten geht es um die Frage nachZugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit. Daskann sowohl den Wunsch beinhalten, sichmit einer Gruppe zu identifizieren, als auchdie Erfahrung, von anderen ungefragt mit ei-ner bestimmten Gruppe identifiziert zu wer-den. In unserem Beispiel kommt beides zumTragen: die durch die Mitschüler_innen vor-genommene Identifikation der Erzählerinals »eine vom Land« und gleichzeitig ihrWunsch, der Klassengemeinschaft anzuge-hören, nicht ausgeschlossen zu werden.

Und schließlich geht es um das Erlebensprachlicher Macht oder Ohnmacht. In unse-rem Beispiel ist es ein Machtgefälle und einesprachliche Hierarchisierung, die dazu füh-ren, dass die Schülerin sich »sehr unsicherund ein wenig defizitär« vorkommt und esvorzieht, in manchen Situationen gar nichtmehr zu reden. Umgekehrt vermögen jenegut situierten Schüler_innen, die den Ton inder Klasse angeben, nicht nur, andere auf-grund ihres Sprechens abzuwerten, sondernauch ihre eigene privilegierte Positiondurch sprachliche Distinktion zu reprodu-zieren und zu festigen. Das Verstummen,von dem die Studentin berichtet, ist eine Re-aktion, die in vielen Sprachbiographien zurSprache gebracht wird – nicht immer übri-

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gens oder nicht nur als ein Zum-Schweigen-gebracht-Werden, sondern manchmal auchals Versuch, trotzendes Schweigen als Ge-genmacht zu etablieren.

Der Fokus auf das Spracherleben bringtdas sprechende Subjekt in die Sprachwis-senschaft zurück, von der es aufgrund einesstrukturalistischen Verständnisses vonSprache lange Zeit ignoriert wurde. Seit den1990er Jahren entstand ein stetig wachsen-des Korpus an sprachbiographischer For-schung. Diese rückt die subjektiven Erfah-rungen von Sprecher_innen in denMittelpunkt, um mehr über Fragen wie Mo-tivationen zum Sprachenlernen oder denZusammenhang zwischen Sprachen undIdentitätskonstruktionen in Erfahrung zubringen. Nicht zuletzt aufgrund der phäno-menologischen Wissenschaftstradition hatsich sprachbiographische Forschung geradeim deutschsprachigen Raum besondersstark entwickelt, und die Universität Wienwird heute international sicher als einer derKristallisationspunkte dieses jungenZweigs der angewandten Sprachwissen-schaft wahrgenommen.

Erst wenn wir in den Repertoire-Begriffdie Ebene des Spracherlebens einziehen,können auch Dimensionen in den Blick ge-

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nommen werden, die aus einer Außenper-spektive, also der bloßen Beobachtung vonInteraktionssituationen, nicht ausreichendgefasst werden können. Im Folgendenmöchte ich nun solchen Dimensionen desSprachrepertoires nachgehen, die über dasverinnerlichte Wissen grammatikalischerund pragmatischer Regeln hinausweisen:die leibliche Dimension, die emotionale Di-mension und die historisch-politische Di-mension.

Die leibliche DimensionErleben setzt ein wahrnehmendes, erleben-des Subjekt voraus, das Erleben kann nur inden Blick genommen werden, wenn einPerspektivenwechsel vollzogen wird: vonder beobachtenden Außenperspektive (dieGumperz eingenommen hat) zur Subjekt-perspektive – gewissermaßen also von derdritten Person zur ersten Person. DieserBlickwechsel liegt der von Edmund Husserlbegründeten Phänomenologie zugrunde,die neben anderen vom französischen Phi-losophen Maurice Merleau-Ponty weiter-entwickelt wurde. Merleau-Ponty (2009[1945]) sieht die Grundlegung des Subjektsim leiblichen Sein. Unser Leib, sagt er, istimmer mit uns da. Er situiert und verortet

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das Subjekt in der Welt. Merleau-Ponty un-terscheidet dabei begrifflich zwischen demKörper (corps physique) als einem Objekt,das beobachtbar und messbar ist, und demLeib (corps vivant) als Subjekt des Fühlens,Erlebens, Agierens und Interagierens. DieAmbiguität des Leib-Körpers als einem zu-gleich Berührenden und Berührten veran-schaulicht Merleau-Ponty am Beispiel derlinken Subjekt-Hand, die die rechte Ob-jekt-Hand ertastet.

Die Bewegung des Leibes ist Merleau-Ponty zufolge die Basis des Vermögens, sichin Bezug zur Welt zu setzen, sich auf sie ein-zulassen. Die Hand, die nach einem Gegen-stand greift, ›weiß‹, wonach und wohin siegreift, auch ohne dass das Bewusstsein diePunkte, die die Hand durchläuft, in einemRaum-Zeit-Diagramm berechnen müsste.Eine Bewegung wird erlernt, indem derLeib sie »kapiert«, indem er sie sich ein-verleibt. Nicht das »ich denke« (je pense)steht Merleau-Ponty zufolge am Anfangunseres Zur-Welt-Seins, sondern ein »ichvermag« (je peux) (Merleau-Ponty 2009[1945]:171).

Die Relevanz dieses Ansatzes für dasVerständnis des sprachlichen Repertoiresergibt sich daraus, dass Merleau-Ponty zu-

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folge auch das Sprechen primär leiblich be-gründet ist. Wie die Gestik, wie die Emotionist Sprache zuerst und vor allem ein Sich-in-Bezug-Setzen, eine Projektion hin zum An-deren – und erst dann auch ein kognitiverAkt von Repräsentation und Symbolisie-rung. Sprache ist in der leiblich-emotiona-len Gestik verankert und sie ist Teil der In-tersubjektivität, also der Projektion von ei-nem Ich zu einem Du – von der erstengrammatikalischen Person zur zweiten. Siegehört zu jenem Bereich, den Merleau-Ponty als den der Zwischenleiblichkeit be-zeichnet.

Das sprachliche Repertoire, ließe sichdaraus folgern, ist nicht beliebig und auchnicht ohne weiteres austauschbar, es haftetdem leiblichen Subjekt an, ist ihm einver-leibt. Vergangenes Erleben bleibt, wie Mer-leau-Ponty mit Verweis auf Marcel ProustsSuche nach der verlorenen Zeit ausführt,dem Leib eingeschrieben und kann durcheine Körperhaltung, eine Geste, einen Ge-schmack oder einen Laut unvermutet wie-der gegenwärtig werden. Diese leiblicheKomponente von Spracherleben undSprach repertoire tritt auch im biographi-schen Text, der uns als Referenz dient, zuTage, wenn die Studentin darüber berichtet,

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wie sie sich als Schülerin beim »Hoch-deutsch«-Reden wie von außen zuhörteund sich wie eine Schauspielerin fühlte. Siehatte, so könnte man es mit anderen Wortensagen, den Eindruck, nicht in ihrem Leib zusein und mit ihrem Leib zu sprechen, son-dern in eine fremde Rolle, einen fremdenLeib zu schlüpfen. Den von Merleau-Pontyentwickelten Gedanken, dass sozial einge-lernte, habitualisierte Haltungen sich in denKörper einschreiben und ihm gewisserma-ßen anhaften, hat Pierre Bourdieu (1982) inseinem Konzept von Hexis und sprachli-chem Habitus aufgenommen.

Die emotionale DimensionTraditionell nahmen Vorstellungen vonSpracherwerb und Sprachverarbeitung denEinzelnen als Ausgangspunkt und warenmentalistisch geprägt, d. h. sie gingen vonModellen aus, die nicht das Intersubjektive,das Soziale in den Vordergrund stellten.Der Konnex Sprache–Emotion wird dabeikaum angesprochen. Dass in diesem PunktNachholbedarf besteht, wird nicht nur ausder sprachbiographischen Forschung deut-lich. Auch Erkenntnisse, die in anderen Dis-ziplinen gewonnen wurden – insbesonderein der philosophischen Beschäftigung mit

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Emotionen, seit einiger Zeit auch in derSpracherwerbsforschung und den Neuro-wissenschaften und länger schon in der Psy-choanalyse –, verweisen darauf, dass Ko-gnition und Emotion bei Spracherwerb undSprachproduktion wechselseitig eng ver-bunden sind. In einem aktualisierten Re-pertoire-Konzept wird man daher auchemotionale Dispositionen, die Einfluss aufdie Verfügbarkeit und den Einsatz sprachli-cher Realisierungsmittel ausüben, nichtmehr außer Acht lassen können.

Der Konnex Sprache–Emotion ist viel-fältig. Sprache spielt nicht nur eine Rolle imBenennen von und Sprechen über Emotio-nen, sondern es wird auch im Sprechen, imSinne von Bühler und Jakobson, Emotiona-lisierung zum Ausdruck gebracht bzw. her-vorgerufen. Emotionale Prozesse könnenauf allen Ebenen der Sprachproduktionwirksam werden. Auf der phonetisch/pho-nologischen zum Beispiel durch Vokaldeh-nung oder die Verwendung von lautmaleri-schen Wörtern, auf der morphologischenetwa durch Verstärkungs- oder Diminutiv -affixe, auf der lexikalisch/semantischenbeispielsweise durch Metaphern, auf dersyntaktischen durch Exklamationen oderauf der pragmatischen durch soziolektale

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Einsprengsel, Ironie und ähnliche Mittel.Auf der paraverbalen Ebene kann man bei-spielsweise beobachten, dass bei Angstnicht nur Atmungsrhythmus und Herz-schlag unregelmäßig und erhöht sind, son-dern sich auch Stimmintensität, Tonhöhe,Stimmrhythmus und Betonung verändern.Aus Alltagsbeobachtungen wissen wir zu-dem, dass Aufregung zu Stottern, Verhas-peln, Abbrüchen usw. führen kann und dasssich diese Phänomene weitgehend der be-wusstenKontrolle entziehen.

Aus philosophischer Sicht werden Ge-fühle, wie Demmerling und Landweer(2007) ausführen, als akute Widerfahrnissegesehen, die uns ohne unser Zutun leiblichergreifen. Sie haben einen intentionalenGehalt, intentional im Sinne von Gerichtet-Sein: Sie sind auf ein Objekt, einen Sach-verhalt, eine Person bezogen. Ich habeAngst vor etwas, ich freue mich über etwas,liebe jemanden. Gefühle haben eine subjek-tive Dimension, weil sie leiblich-affektiv er-greifen, und gleichzeitig auch eine intersub-jektiv-soziale, weil sie mit den Gefühlenanderer interagieren können. Freude oderAngst kann ansteckend sein, Liebe rezi-prok. Und schließlich haben Gefühle aucheine soziokulturelle Dimension, weil das

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Erleben auch damit zusammenhängt, wieüber Gefühle gesprochen wird.

Neuere Forschungen zum Spracherwerbvertreten zunehmend ein Kognitionskon-zept, das die Bedeutung der emotionalenDimension betont. In Abkehr vom menta-listischen Ansatz wird von einem intersub-jektiv-reziproken Prozess ausgegangen, dersehr prägnant etwa von Ulrike Lüdtke(2011) vertreten wird. Demnach wird dieBedeutung von Zeichen nicht statisch –durch rein kognitive Übernahme eines fest-stehenden eindeutigen Inhalts in ein indivi-duelles, isoliertes mentales Konzept und Le-xikon – erworben, sondern wahrnehmungs-basiert über sozial-intersubjektive Prozesse.Angenommen wird in diesem Zugang, dassdie Erwartung eines emotional antworten-den Anderen bereits pränatal angelegt ist.Zum Zusammenhang Sprache-Emotiongibt es erst in den letzten beiden Jahrzehntenvermehrt Forschung, aktuell zum Beispielim Rahmen des Clusters »Languages ofEmotion« an der Freien Universität Berlin.

Interessante Impulse, die ebenfalls aufden hohen Stellenwert von Emotionen imSpracherwerb und in der Sprachproduktionverweisen, kommen auch aus den Neurowis-senschaften. Vor allem die Mitte der 1990er

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Jahre erfolgte Entdeckung der Spiegelneu-ronen – Nervenzellen, die nicht nur dannaktiv werden, wenn man eine bestimmteHandlung selbst ausführt, sondern auch,wenn man andere dabei beobachtet, wie siediese Handlung ausführen – hat mit sich ge-bracht, dass die intersubjektive Spiegelungvon Emotionen als wesentlicher Organisa-tor der sprachlich-kommunikativen Ent-wicklung des Kindes gesehen wird. AntonioDamásio stellte mit seinen Forschungen, dieer u. a. unter dem pointiert formulierten Ti-tel »Descartes’ Irrtum« (Damásio 1994)publizierte, die in der westlichen Denktra-dition verankerte Trennung zwischen Kör-per, Emotionen und Bewusstsein radikal inFrage. Das Subjekt kann in einer solchenKonzeption nicht mehr als ein autonomesIndividuum gedacht werden, sondern eher– wie es in poststrukturalistischen Zugän-gen der Fall ist – als ein dezentriertes, inter-subjektiv vernetztes.

Früher schon wurde die Verbindung vonEmotionalität und Sprachlichkeit aus psy-choanalytischer Warte argumentiert. Beson-ders interessant in dieser Hinsicht sind dieArbeiten von Julia Kristeva, die eine psy-choanalytische und eine linguistisch-se-miotische Betrachtungsweise verknüpft.

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Sie trifft die Unterscheidung zwischen zweiDimensionen, die sie der Sprache zuweist:Auf der einen Seite sieht Kristeva (2002)die dem Kognitiven zuzuordnende sinnstif-tende Verbindung von Bedeutung, Zeichenund Bezeichnetem, die sie die symbolischeFunktion nennt: Das Subjekt wird als sol-ches durch den Eintritt in die Normativitätder Sprache, durch das Vermögen zur Sym-bolisierung begründet. Dieser symboli-schen Funktion stellt Kristeva eine semioti-sche Dimension gegenüber, die durchHeterogenität gegenüber Sinn und Bedeu-tung, durch Unbestimmtheit oder Vieldeu-tigkeit charakterisiert ist. Diese mit demVor- oder Unbewussten, dem Leiblich-Af-fektiven verbundene semiotische Dimen-sion, die Kristeva auf das frühkindlicheBrabbeln und rhythmische Intonieren zu-rückführt, wird im Aufwachsen zuneh-mend von der symbolischen Funktion ver-drängt, bleibt aber Kristeva zufolge injedem Sprechen präsent. Residuen des Se-miotischen macht sie beispielsweise im»psychotischen Diskurs« aus, wenn dasSubjekt durch den Zerfall der sinngeben-den Funktion bedroht ist. Präsent ist er aberauch in dem, was sie als »poetische Spra-che« bezeichnet: das spielerisch-fantasie-

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rende Unterlaufen und Außer-Kraft-Setz-ten der Geregeltheit und Genormtheit vonSprache. Die vorsprachliche Artikulationist, wie Jacques Hassoun (2002: 35) es for-muliert, »Trägerin unserer ältesten, stärks-ten Gefühle« – körperlicher Berührungen,unartikulierter Laute, Wörter, die das Kindhört, ohne sie zu verstehen, und die der Er-wachsene in einer sprachlichen Wendungoder einem Gefühlsumschlag plötzlich wie-derfindet. Eine ähnliche Unterscheidungtrifft Jacques Lacan (1975) in seinen spätenArbeiten, in denen er die Sprache einem vä-terlichen Pol, le langage, und einem mütter-lichen, der in einem Wort geschriebenenlalangue, zuordnet. Bereits Merleau-Ponty(2009 [1945]: 238) unterschied zwei Di-mensionen von Sprache: Als parole parlée(gesprochene Sprache) bezeichnete er dievorgefertigten Strukturen, auf die wir imSprechen zurückgreifen können. Auf dieGestalt als Ganzes gerichtet ist das, was erals parole parlante (sprechende Sprache) be-zeichnet, eine prozesshafte Bedeutungsge-bung, die er zum Beispiel im Sprechenler-nen des Kindes und in sprachlicherKreativität verortet.

Eines der ersten dokumentierten Zeug-nisse zu Mehrsprachigkeit und psychoaf-

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fektivem Erleben ist der Fall der Anna O.,über den Joseph Breuer (1895) und Sig-mund Freud berichten: Über Monatekonnte die Patientin ihre ErstspracheDeutsch nicht mehr sprechen und zeitwei-lig auch nicht verstehen und griff stattdes-sen auf das später erlernte Englisch, manch-mal auch auf Französisch oder Italienischzurück. Insgesamt wurde der Frage vonMehrsprachigkeit und Sprachwahl aberauch in der Psychoanalyse verhältnismäßiggeringe Aufmerksamkeit geschenkt (AmatiMehler 2010). Angeschnitten wurde dieserThemenkomplex vor allem von durch denNationalsozialismus ins Exil gezwungenenPsychoanalytiker_innen. Heute stellen sichdiese Fragen primär im Zusammenhangmit Therapien von Personen mit Migrati-ons- oder Fluchtbiographien.

Mit solchen Gedankengängen ist manschon recht weit weg von der Vorstellung,das sprachliche Repertoire sei eine ArtWerkzeugkiste, aus der man kontext- und si-tuationsadäquat die richtige Sprache, denrichtigen Code wählt. Eher könnte man dasRepertoire als einen Raum der Potentialitätsehen, der von sedimentiertem leiblich-emotionalem Erleben sowohl aufgespanntals auch eingeschränkt wird. Die Wahlmög-

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lichkeit, vor der ein sprechendes Subjektsteht, wird nicht nur durch grammatikali-sche Regeln und soziale Konventionen be-grenzt, sondern es können zum Beispiel be-stimmte Sprachen, Codes oder Sprechwei-sen so mit emotionalen Konnotationenbesetzt sein, dass sie in bestimmten Mo-menten nicht oder nur eingeschränkt zurVerfügung stehen. Das Repertoire wirdnicht nur dadurch bestimmt, was ein spre-chendes Subjekt »hat«, sondern manchmalgerade dadurch, was nicht zur Verfügungsteht und sich in einer gegebenen Situationals Leerstelle, Bedrohung oder Begehrenumso mehr bemerkbar macht: Sprachen,die mit dem tiefen Wunsch verbunden sind,sich mit einem anderen zu vereinen oder zuidentifizieren; Sprachen der Sehnsucht, ausdenen man durch Exil, durch Untersagung,durch freiwillige oder aufgezwungene Assi-milation vertrieben wurde; Sprachen, vordenen man zurückscheut aus Sorge sichbloßzustellen, oder weil man fürchtet, siekönnten eine andere verdrängen, um derenStelle einzunehmen; Sprachen, die manmeidet oder fürchtet, weil sie mit negativemoder sogar traumatischem Erleben verbun-den sind, mit dem Verlust von Autonomieund Handlungsmacht. Die Erforschung sol-

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cher Phänomene, aus der neue Erkenntnisseüber die emotionale Dimension von Spra-che gewonnen werden könnten, steht nochin den Anfängen.

Die historisch-politische DimensionErinnern wir uns noch einmal zurück an dieeingangs geschilderte Irritation, die hervor-gerufen wurde durch einen Schulwechselvom Land in ein städtisches Gymnasiumund auf die damit verbundene Erfahrungdes Eintauchens in eine neue sprachlicheUmgebung. Aufgrund ihrer Sprechweisewird die Schülerin als nicht-zugehörig iden-tifiziert. Ihr ländlicher Akzent funktioniertals Shibboleth – als sprachliches Unter-scheidungsmerkmal, mit dem eine Eintei-lung in die Kategorien »Wir« und »Ihr«vorgenommen wird. Shibboleth, das heb-räische Wort für Getreideähre, wurde, sowird im alttestamentarischen Buch derRichter erzählt, als Kennwort verwendet:Wer es als Sibboleth aussprach, wurde alsflüchtender Ephraimit identifiziert und ge-tötet, passieren durfte nur, wer das Sch aus-sprechen konnte. Im Fall der Schülerin siehtdiese sich, wie es im Textauszug heißt, einerhierarchisch strukturierten Klasse gegen-über, in der Mitschüler_innen aus höheren

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Schichten den Ton angeben. Die Machtkon-stellation wird mit Hilfe von Sprachideolo-gien, von Diskursen über Sprache und›richtigen‹ Sprachgebrauch produziert undreproduziert. Erst dadurch, dass Selbst- undFremdwahrnehmung nicht übereinstim-men, wird sich die Schülerin bewusst, dasssie jemand ist, der einer bestimmten Kate-gorie – jener der »Einfalt vom Lande« – zu-geordnet wird, dass sie, um mit Judith But-ler zu sprechen, als Subjekt diskursiv oderperformativ konstituiert wird.

Judith Butler geht in ihren Arbeiten zuGender, Diskriminierung, Macht und Per-formativität von der Ambiguität des Sub-jektbegriffs aus, der zufolge das Subjektnicht nur ein handelndes ist, sondern auchein unterworfenes, ein sub-jectum – wobeidie Unterwerfung unter die Macht bereitsvorhandener Diskurse, bereits gesproche-ner Sprache dem Agieren vorangeht. Sub-jekt wird man durch immer wiederholte Zu -ordnung zu vorgegebenen Kategorien wiemännlich–weiblich, inländisch–auslän-disch, heterosexuell–homosexuell usw. JedeAnerkennung ist zugleich ein Verkennen,weil sie auf Ausschlüssen beruht und Hete-rogenes auf Entweder-Oder-Kategorien re-duziert. Die Konstitution des Subjekts

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durch die diskursive Macht der Sprache be-zeichnet Butler als Subjektivierung: Sieprägt das Denken, das Sprechen, das Fühlenund sogar die Körperlichkeit. Judith Butler(2006) hebt den normierenden Aspekt vonSprache hervor, dem sie performative Machtzuschreibt. Die Normativität von Sprachelegt fest, was gesagt werden kann und wasnicht. Sie übt, wie Butler in Anlehnung anFoucault sagt, eine produktive Zensur aus.Butler unterscheidet zwischen einerseits je-ner »Verfahrensweise der Zensur, die still-schweigend das Subjekt des Sprechens bil-det, und jenem Akt der Zensur andererseits,der im nachhinein Zwang auf das Subjektausübt« (Butler 2006: 211). Die primäreZensur, der Eintritt des Subjekts in die Nor-mativität von Sprache, also das, was Kristevaals das Symbolische bezeichnet, wird »er-neut im Politischen aufgerufen, wenn dieFähigkeit zu sprechen erneut zur Überle-bensbedingung für das Subjekt wird«.

Über Sprachideologien werden soziale,ethnische, nationale und andere Zugehörig-keiten konstruiert. In Bezug auf das sprach-liche Repertoire bedeutet dies, dass die ein-schränkende Macht sprachlicher Kategori-sierungen besonders dann wahrgenommenwird, wenn Sprache nicht wie selbstver-

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ständlich zur Verfügung steht, wenn Men-schen zum Beispiel nicht als legitime Spre-cher_innen einer bestimmten Sprache aner-kannt werden oder sich selbst nicht als sol-che wahrnehmen. Das kann, wie wirgesehen haben, der Fall sein, wenn Personendie sprachliche Umgebung wechseln, dasheißt, wenn sie in einen sozialen Raum ein-treten, in dem andere als die ihnen gewohn-ten sprachlichen Praktiken vorherrschen.

Ein Gefühl von Dislokation, ein Gefühl,nicht (mehr) die ›richtige‹ Sprache zu spre-chen, kann sich aber auch einstellen, ohnedass Sprecher_innen ihren Aufenthaltsortwechseln. Eine Veränderung politischerMachtkonstellationen kann dazu führen,dass bestimmte Sprachen oder Sprechwei-sen anders bewertet werden als zuvor. Sowurden in Deutschland bestimmte Begriffeoder Bezeichnungen, die sich in der DDRabweichend vom Sprachgebrauch in derBundesrepublik eingebürgert hatten, nachder Wende zu einem markierten Erken-nungsmerkmal, um Sprecher_innen als»Ossis« zu identifizieren. In Südafrikawandten sich vor allem nach dem Ende derApartheid wachsende Teile jener Afrikaanssprechenden Bevölkerungsgruppen, die inder rassistischen Kategorisierung nicht den

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»Weißen« zugerechnet worden waren, vonihrer Erstsprache ab und orientierten sichstattdessen am Englischen. Im Raum desfrüheren Jugoslawien führte der Zerfall derFöderation Anfang der 1990er Jahre nichtnur zur Entstehung neuer Nationalstaaten,sondern auch zu einer sprachenpolitischenNeukonfiguration. Anstelle des Serbokroa-tischen bzw. Kroatoserbischen, das im 19.Jahrhundert als gemeinsame Standardspra-che mit einer großen Bandbreite regionalerVariation konstruiert und kodifiziert wor-den war, wurden zunächst drei, dann vierneue Nationalsprachen proklamiert: Bos-nisch, Kroatisch, Serbisch und Montenegri-nisch. Jede dieser Sprachen wurde daraufhinso kodifiziert, dass sie sich möglichst vonden anderen unterschied (Busch 2010a).Solche politischen Veränderungen zwingenSprecher_innen, wie aus zahlreichenSprachbiographien hervorgeht, sich gegen-über den veränderten sprachlichen Katego-risierungen neu zu positionieren, umsomehr wenn ihnen ein Bekenntnis zu einer»neuen Muttersprache« als Loyalitätsbe-weis abverlangt wird. Egal, wie die Positio-nierung ausfällt, ob zustimmend, widerstre-bend oder ablehnend, man entgeht ihr nicht.

Auch wenn Sprachideologien einem

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ständigen Wandel unterworfen sind, ändertdas nichts daran, dass immer wieder – wennauch andere – Kategorisierungen vorge-nommen werden. Diese Kategorisierungenüben dadurch Macht aus, dass sie immerwieder aufgerufen und immer wiederdurchgespielt werden. Sie lassen sich nichteinfach wegwünschen.

Ohne Kategorisierungen kommt mannicht aus. Wer zum Beispiel von einer unbe-kannten Person angerufen wird, nimmt au-genblicklich und unwillkürlich, ohne diePerson je gesehen zu haben, eine ganze Serievon Kategorisierungen vor – Geschlecht,Alter, Herkunft, Bildung, sozialer Status,Stimmung usw. Diese Identifizierung in situbeeinflusst, meist ohne dass man es merkt,auch die eigene Sprachwahl. Die Bildungvon Kategorien ist, wie Jacques Derrida(2009: 65 f.) betont, nie unschuldig, son-dern hat immer mit Oppositionen, Hierar-chien und Konflikten zu tun. Er warnt vorder Illusion, dass sich Kategorien einfachneutralisieren ließen oder dass man ohneweiteres in ein »Jenseits der Gegensätze«springen könne. Vielmehr geht es Derridazufolge darum, Kategorien als Konstrukt zubegreifen und sie einem fortlaufenden Pro-zess der Dekonstruktion zu unterziehen.

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Bezieht man das, wie es Derrida (1996) in Lemonolinguisme de l’autre [Die Einsprachig-keit des Anderen] tut, auf das eigene sprach-liche Repertoire, dann bedeutet dies zu-nächst, die eigene Sprachgeschichte undSprachlichkeit als eine zu interpretieren, dievon Kategorisierungen geprägt und fremd-bestimmt ist. Erst dann wird es, wie Derridaes anhand seines »Falls« ausführt, möglich,ihr wieder Spuren jenes Anderen einzu-schreiben, das durch die vorhergegangene(Fehl-)Identifizierung ausgeschlossenenwurde. Auf sich selbst bezogen spricht Der-rida von der Notwendigkeit, seiner Mono-sprache, dem Französischen, die Spuren sei-ner maghrebinischen Herkunft, des Judeo -ladinischen, Arabischen und Kabylischen,die ihm durch assimilatorische Kolonialpo-litik verwehrt wurden, einzuschreiben.

ChronotoposAusgehend davon, wie Sprache erlebt wird,habe ich mich dem sprachlichen Repertoireaus der Perspektive des sprechenden Sub-jekts, seiner intersubjektiven Einbettungund seiner diskursiven Konstituiertheit an-genähert und dabei nacheinander leibliche,emotionale und historisch-politische Di-mensionen von Sprache in den Blick ge-

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nommen. Im sprachlichen Repertoire ver-schränkt sich das Biographische mit demHistorisch-Politischen. Was Bachtin (2008[1937–1938]) unter Bezugnahme auf denRoman mit dem Begriff des Chronotoposherausgearbeitet hat, die Ko-Präsenz unter-schiedlicher Räume und Zeiten in einemeinzigen Text, kann auf das sprachliche Re-pertoire übertragen werden: Mit jeder imHier und Jetzt situierten sprachlichenHandlung positionieren wir uns nicht nurgegenüber unmittelbar Präsentem – alsoden jeweiligen Interaktionspartner_innenund Interaktionskontexten –, sondern im-plizit immer auch gegenüber Abwesendem,das im Hintergrund mitläuft oder mit-schwingt und dadurch, gewollt oder unge-wollt, mit anwesend (mit-anwesend) ist: an-dere für uns relevante Menschen, andereRäume und Zeiten, an denen wir uns orien-tieren. »Die Chronotopoi«, schreibt Bach-tin (2008 [1937–1938]: 190), »können sichaneinander anschließen, miteinander ko-existieren, sich miteinander verflechten, ei-nander ablösen, vergleichend oder kontras-tiv einander gegenübergestellt sein oder inkomplizierten Wechselbeziehungen zuei-nander stehen.« In jedem Fall mischen siesich in das Hier und Jetzt ein und tragen

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dazu bei, dass das sprachliches Repertoirenicht als Werkzeugkiste begriffen werdenkann, aus der sich die Sprecher_innen nachBedarf bedienen. Vielmehr stellt es einenheteroglossischen Möglichkeitsraum dar:Unterschiedliche Sprachen und Sprechwei-sen treten einmal in den Vordergrund, dannwieder zurück, sie beobachten einander,halten sich voneinander fern, mischen sichein oder verschränken sich zu etwas Neuem,aber in der einen oder anderen Form sind sieimmer mit da. Weil Sprache, um mit Bachtinzu sprechen, dialogisch ist, weil sie sich aufder Grenze zwischen dem eigenen und demfremden Wort bewegt, spiegelt sich imsprachlichen Repertoire das synchrone Ne-beneinander unterschiedlicher sozialerRäume, an denen Sprecher_innen teilha-ben, und es verweist diachron auf unter-schiedliche Zeitebenen: nicht nur nachrückwärts auf versunkene Zeiträume, in de-nen es sich konstituiert und umgeformt hat,sondern auch antizipierend und projektivnach vorne – auf das, was bevorsteht undworauf man sich einstellt.

Narrative der De-PlatzierungAm Anfang der Vorlesung stand eine Dar-stellung des Erlebens sprachlicher Nichtzu-

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gehörigkeit aufgrund eines schulbedingtenOrtswechsels von einer ländlichen Ge-meinde in die Landeshauptstadt. Schondiese minimale Verschiebung von einer ver-trauten sprachlichen Umgebung in eineleicht anders geschichtete wird als Irritationempfunden, die die gewohnte Selbstwahr-nehmung in Frage stellt. Bei dem im Fol-genden vorgestellten Sprachportrait habenwir es mit der visuellen Darstellung einessprachlichen Repertoires zu tun, das vonFlucht und Migration, von displacement ge-prägt ist und in dem eine Vielzahl vonCodes sichtbar werden. Es ist hier nicht derOrt, auf diese multimodale Erhebungsme-thode näher einzugehen (Busch 2010b,2010c), doch möchte ich nicht verabsäu-men darauf hinzuweisen, dass als Erster inWien Hans-Jürgen Krumm (Krumm undJenkins 2001) mit Sprachportraits gearbei-tet hat. Nur so viel zur Methode: Was manhier sieht oder wovon erzählt wird, zeigtnicht das sprachliche Repertoire, »wie esist«, sondern kombiniert eine visuelle undnarrative Repräsentation des Repertoires,die in einem spezifischen Kontext, in die-sem Fall einem sprachbiographischenWorkshop, entstanden ist. Etwas anders alsbei den Sprachportraits, die im Sprachlehr-

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Page 44: BRIGITTA BUSCH - heteroglossia.net · Soziolinguistik entwickelt wurde. Dann gehe ich der Frage nach, wie der Repertoire-Begriff aus heutiger Sicht erweitert werden kann, wenn man

und -lernkontext eingesetzt werden, fragenwir in der Darstellungsaufforderung nichtnach einzelnen Sprachen, die Sprecher_in-nen besitzen, sondern laden sie ein, über ihrsprachliches Repertoire nachzudenken,über sprachliche Ausdrucksmittel, die inbestimmten Situationen, mit bestimmtenPersonen eine Rolle spielen oder gespielthaben. Was sie als Sprache definieren,bleibt ihnen überlassen. Im Fall des hierwiedergegebenen Portraits zum Beispielwerden auch die Sprache der Religion, dieSprache der Gefühle oder der Literatur alsKategorien verwendet.

Ich habe das Portrait von Frau S. (sieheAbbildung) aus zwei Gründen gewählt: Ers-tens lässt sich daran vieles von dem erken-nen, was Thema dieser Vorlesung war, und

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Armenisch

Deutsch

Persisch

Italienisch

Krieg, Unruhe

Sprache meiner Gefühle

Literatur

Religion

Arabisch und Afghanisch

Sprache meiner Gefühle

Krieg, Unruhe

Sprache meiner Gefühle

Krieg, Unruhe

Sprache meiner GefühleArmenisch

Deutsch

Armenisch

Literatur

Religion

Arabisch und

Literatur

Religion

Arabisch und

Deutsch

Persisch

ItalienischItalienischArabisch und

AfghanischArabisch und

Afghanisch

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vermag ihm konkretere Konturen zu verlei-hen. Zweitens verweist es auf den KonnexSprache und traumatisches Erleben, mitdem ich mich im Rahmen der Berta-Karlik-Professur in den nächsten Jahren verstärktauseinandersetzen möchte.

Die bildliche Darstellung und die Erzäh-lung von Frau S., die als Angehörige der ar-menischen Minderheit im Iran aufgewach-sen ist und gelebt hat und später alsAsylwerberin nach Österreich gekommenist, zeugen von einem mehrsprachigen undvielstimmigen Repertoire mit komplexerzeiträumlicher Schichtung.

Da ist zunächst Armenisch, das Frau S.rot als Herz sowie im Kopf einzeichnet undvom dem sie sagt, sie sei damit »auf die Weltgekommen« und von Kindheit an aufge-wachsen. »Das hat mich geprägt, damit binich vertraut geworden.« Sehr deutlich wirdauch der leibliche Bezug zu Armenisch, dassie als ihre Muttersprache bezeichnet:»Diese Sprache ist Teil meines Körpers, dassind meine Erinnerungen.« Dann fügt sieeinen Satz hinzu, der auf eine mit dem Ar-menischen verbundene historisch-politi-sche Dimension hinweist: »Das ist meineKultur und meine Herkunft, die armenischeHerkunft.« Noch deutlicher wird diese Di-

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mension, wenn sie von ihrer Aversion gegendas Türkische spricht, die sie seit der Kind-heit mit sich trage und mit dem Genozid ander armenischen Bevölkerung zur Zeit desErsten Weltkriegs begründet. Diese leid-volle Erfahrung, sagt sie, sei immer »in un-serer Vorstellung und in unserem Gefühl«.Das Trauma des Völkermords bleibt, von ei-ner Generation zur anderen tradiert, im kol-lektiven Gedächtnis ebenso verhaftet wie inihrem individuellen Sprachrepertoire.

Persisch lernt Frau S. in der Schule ken-nen, es wird zur Sprache ihrer Bildung, ihresAllgemeinwissens, ihres Kontakts zur Um-welt außerhalb jener des armenischsprachi-gen Verwandtschafts- und Bekanntenkrei-ses, zur Verkehrssprache mit Kolleg_innenund »normalen persischen Leuten«. Siebrauche es mit Hand und Fuß. Persischnimmt, sagt sie, einen wichtigen Platz in ih-rem Kopf und ihrem Leben ein, besonders»Hochpersisch«, das sie mit Literatur undDichtung verknüpft. Aber ihr Verhältnis zudieser Sprache ist ambivalent, gebrochen:Es ist zugleich die Sprache der islamischenRevolution, eine Sprache der Politik, des Fa-natismus, die Frau S., um sie vom »ande-ren« Persisch abzugrenzen, auch anders be-nennt: Farsi. Farsi, sagt sie, trage den Ge-

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ruch von Blut, es rufe »eine große Bedrückt-heit« in der Seele hervor. Die Überschnei-dung des Historischen und des Biographi-schen zeichnet Frau S. in ihr Sprachportraitals zwei durchgestrichene Augen, die für dastraumatische Erleben stehen, das immerwieder »wie ein Foto« in ihren Kopfkommt und das sie – wie es beim Sprechenüber traumatische Ereignisse nicht seltender Fall ist – mit der Formulierung »Kriegund Unruhe – Erinnerung daran« im Vagenlässt.

Mit beiger Farbe, die für Deutsch steht,füllt sie Arme und Beine aus. Sie möchte diedeutsche Sprache »in perfekter Weise«sprechen lernen und damit vertraut werden»wie mit einer zweiten Muttersprache«.Eindringlich schildert sie, wie sie sich beiihrer Ankunft in Österreich, weil sie sichnicht verständigen konnte, während desAsylverfahrens und bei einem Kranken-hausaufenthalt als völlig hilflos, abhängigund ohnmächtig erlebt hat: »Ich habe ver-standen, dass ich selbst null bin, ich kannnicht selbst sprechen, nicht selbst die For-mulare ausfüllen.« Aus dieser Erfahrungheraus richtet sie ihr ganzes Verlangen da-rauf, sich Deutsch anzueignen, das sie wieeine Verlockung als »süß« und »liebens-

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würdig« bezeichnet. Zugleich ist es für sie»ein bisschen düster und dunkel« wegender Mühen, die mit dem Lernen verbundensind, und der »Unmöglichkeit«, das selbstgesteckte Ziel zu erreichen, das immer »aufder anderen Seite« ist: »Zur Zeit, meinganzer Körper, mein Hirn, meine Seele, dasalles hat sich auf Deutsch konzentriert.Weil es ein Ziel ist. Und mein Leben undmeine Zukunft hängen von dieser Spracheab. In dem Moment, wo ich Deutsch kann,gewinne ich mein Selbstvertrauen wieder,ich kann mein Recht einfordern.« Nochdeutlicher tritt die leibliche Dimensiondieses Verlangens, das auch als Bemühenverstanden werden kann, sich vom Vergan-genen zu lösen, in der folgenden Formulie-rung hervor: »[…] und meine Augen undmeine Zunge, mein Mund, meine Händeund meine Füße, all diese Teile sind be-wegt, sind bemüht, auch meine Ohren fürdas Hören der Artikel, das richtig Ausspre-chen, all diese Teile arbeiten zusammen,damit ich mein Ziel erreiche.«

Und schließlich gibt es in dem von FrauS. angefertigten Portrait noch eine Gruppevon Sprachen, die sie, ganz im Gegensatzzum Deutschen, eher im Vorbeigehen auf-gelesen hat und mit Fröhlichkeit und Leich-

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tigkeit assoziiert: Italienisch, das für sie»wie ein Meer« ist, »für die Ruhe meinesLeibes und meiner Seele«, oder Arabisch,das sie mit Musik und Tanz verbindet undals Teil ihrer selbst wahrnimmt, oder Dari,die in Afghanistan gesprochene Varietät desPersischen, in der sie ihre Therapie absol-viert. Kraft und Ruhe schöpft Frau S., wiesie sagt, auch aus der Literatur und aus derReligion, die sie als eigenen sprachlichenResonanzraum erlebt, wenn sie eine Kirche,gleich welcher Konfession oder Liturgie-sprache, betritt. Die sprachlichen Zeichenund Laute dieser letzten Gruppe bilden zu-sammen eine Art dritten Raum, einen ent-lastenden Gegenpol zu jenen anderen Spra-chen, die mit Anstrengung verbunden, alsbedrohlich empfunden oder mit traumati-schem Erleben verknüpft sind. Gesamthaftbetrachtet wird aus dem Sprachportrait vonFrau S. so wie aus anderen, die im Lauf derJahre erhoben wurden, deutlich, wie unzu-lässig es ist, ein komplexes heteroglossi-sches Repertoire auf simple Dichotomienwie jene zwischen Herkunftssprache undZielsprache, zwischen Erstsprache undZweitsprache, zwischen Minderheiten- undMehrheitssprache reduzieren zu wollen.

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AusblickZum Zusammenhang zwischen Mehrspra-chigkeit und traumatischem Erleben liegenerst bruchstückhafte Beobachtungen undErkenntnisse vor. Auch wenn eine systema-tische Erforschung noch aussteht, so lässtsich doch eine Reihe von Fragenkomplexenidentifizieren, an denen sich künftige For-schung orientieren kann.

Ausgehend davon, dass Erinnern eng mitSpracherleben zusammenhängen kann,stellt sich zunächst die Frage, inwieweit be-stimmte Sprachen, Codes oder Akzente imStande sind, traumatisch Erlebtes unverse-hens aufzurufen, also sogenannte flashbacksauszulösen. Dies könnte unter Umständenauch eine Erklärung dafür sein, warum es inFällen von traumatischem Erleben gehäuftzu Sprachaufgabe oder Sprachwechsel kom-men kann, wie das Monika Schmid (2004) inihrer Forschung mit Überlebenden des Ho-locaust gezeigt hat. Im Weiteren wäre auchdanach zu fragen, welche im Repertoire vor-handenen sprachlichen Ressourcen zur Ver-fügung stehen, um über traumatisches Erle-ben zu sprechen. In welchen Fällen stehengerade emotional stark besetzte Sprachendafür nicht zur Verfügung, sondern eher sol-che, mit denen sich eine Distanz herstellen

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lässt? Diese Frage ist nicht nur im Zusam-menhang mit Sprachwahl im Rahmen einerTherapie wichtig, sondern beispielsweiseauch im Asylverfahren. Und schließlich:Wie können im sprachlichen Repertoirevorhandene Ressourcen als Resilienzfaktorzur Stärkung von Abwehrkräften im Thera-pieprozess gezielt genützt werden? Können›entlastende‹ Drittsprachen dabei helfen,sich beispielsweise einem durch Loyalitäts-konflikt erzeugten Druck zu entziehen odereinen ›sicheren Ort‹ jenseits sprachlicherZuordnungen zu schaffen? Wie kannsprachliche Diversität mobilisiert werden,um im Sinn der Traumaexpertin Luise Red-demann (2001) einen inneren Dialog mitfrüheren (und künftigen) Ich-Anteilen zuunterstützen? Vor uns liegt ein weites Feld,das nur interdisziplinär bearbeitet werdenkann. Noch lässt sich nur spekulieren, wassich dabei auf längere Sicht an praktisch Ver-wertbarem ergeben könnte, aber damit an-zufangen lohnt sich zweifellos.

Dem Text der Vorlesung ist ein leererKörperumriss beigefügt. Gedacht ist das alseine Einladung, mit Hilfe von Buntstiftenüber das eigene sprachliche Repertoirenachzudenken. Manche werden überraschtsein, was da zum Vorschein kommt. Dass

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niemand einsprachig ist, erläuterte MichailBachtin, indem er einen des Lesens unkun-digen russischen Bauern weitab von jedemstädtischen Zentrum heraufbeschwor, des-sen sprachliches Repertoire dennoch durchRedevielfalt geprägt ist, da es auf unter-schiedliche Welten verweist, von denen jedeauf ihre Weise sprachlich und ideologischverfasst ist: die vertraute der Familie, die alt-kirchenslawische der Orthodoxie, die pa-piersprachene der Bürokratie oder die städ-tische des Arbeiters, der zu Besuch in dasDorf seiner Herkunft kommt. Dannschreibt Bachtin (1979 [1934–1935]: 187)über den imaginären Bauern:

»Im Grunde genommen ist es ja so, daßein solcher Mensch es nicht mit einer Spra-che, sondern mit Sprachen zu tun hat, dochist der Platz jeder dieser Sprachen festgelegtund unstrittig, das Über-gehen von der ei-nen in die andere ist vorherbestimmt und ge-schieht unbewußt, wie der Gang von einemZimmer ins andere. Diese Sprachen treffenin seinem Bewußtsein nicht aufeinander; erversucht nicht sie aufeinander zu beziehen,versucht nicht, eine seiner Sprachen mit denAugen einer anderen zu betrachten.«

Genau darum geht es: diese Sprachbe-wusstheit zu entwickeln, eine Sprache mit

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den Augen einer anderen zu betrachten,sich bewusst zu werden, welche Irritationenhervorgerufen werden können, wenn manstatt in einem gewohnten plötzlich in einemfremden Zimmer steht, oder in einem frem-den Haus, und wahrnimmt, dass das mit -gebrachte sprachliche Repertoire nicht»passt«. Sich der eigenen Heteroglossiebewusst werden heißt zugleich, sich besserin die von anderen Menschen hineinden-ken zu können.

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Brigitta BuschWinterweizenRoman

Ein langer Abschied, gleichzeitig die Geschichte eines Wiederfindens – liebevoll und minutiös proto-kolliert, zugleich mit einer solchen Eindring lichkeiterzählt, als könnte der lebensbedrohlich erkrankteFreund, indem man nicht aufhört mit ihm zu spre-chen, am Leben erhalten werden. Der Fragilität des Körpers und seiner Abhängigkeitvon den erhofften Wirkungen und unverhofften Nebenwirkungen einer hochtechnisierten Medizinein Stück selbstbestimmtes Leben abzutrotzen – darauf scheint alles gerichtet zu sein: die unerwar-tete Wiederannäherung nach Jahren der Unterbre-chung, das Sich-Aufeinander-Einlassen und gegen-seitig Teilhaben-Lassen, das Entwerfen vonZukunftsplänen ebenso wie das Beschwören einerweit zurückliegenden gemeinsamen Geschichte, dievon Aufbruch, Utopie, Arbeit und Liebe handelt.

Brigitta Busch · WinterweizenRoman · Geb. m. Schutzumschl., 248 Seiten ISBN 978-3-85435-652-3 · € 21,80/CHF 31,50

www.drava.at