Christian Thies
Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie
Vorlesungan der Philosophischen Fakultät
der Universität Passauim Wintersemester 2009/10(Dritte Sitzung 3.11.2009)
3.11.2009 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10
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Dritter Termin (3.11.2009)
(0) Einladung Antrittsvorlesung 19.11.2009
(1) Wiederholung – Ergänzungen – FragenGrundbegriffe – Zusammenhang der drei Disziplinen – die Frage
(2) Kritik an der Geschichte
(3) Grundformen historischen Denkens
(4) Ausblick auf den nächsten Termin
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(1) Wdh.: Geschichtsphilosophie
Merkmale: • holistisch (auf das Ganze gerichtet)• evaluativ (mit begründeten Werturteilen)• praxisbezogen (Deutung der Vergangenheit vom
Standpunkt der Gegenwart mit Perspektive auf die Zukunft)
Grundfrage:• Was darf ich hoffen?
(Was dürfen wir begründeterweise an innerweltlichen Fortschritten
erwarten?)
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Die Grundfragen der Philosophie(nach Immanuel KANT)
1. Was kann ich wissen?Theoretische Philosophie (Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie)
2. Was soll ich tun?Praktische Philosophie (Ethik, Politische Philosophie usw.)
3. Was darf ich hoffen?Religionsphilosophie
Geschichtsphilosophie
4. Was ist der Mensch?(Philosophische) Anthropologie
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Philosophie
• formale, reflexive und normative Disziplinen – Logik und Argumentationstheorie– Sprachphilosophie– Erkenntnistheorie Wissenschaftstheorie– Ethik Rechtsphilosophie
• historisch-hermeneutische Ausrichtung Philosophiegeschichte
• interpretativ-integrative Disziplinen(a) Naturphilosophie(b) (philosophische) Anthropologie(c) Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie
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Denken und Forschen
• Immanuel KANT: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV A 51/B 75)
Es gibt zwar Kultur-, Sozial- und Geschichtswissen- schaft ohne Philosophie, aber diese sind „blind“! Ebenso wären aber auch Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie ohne Bezug auf die entsprechenden empirischen Wissenschaften „leer“!
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(2) neuer Abschnitt:Kritik an der Geschichte
1. inhaltlich(a) von Seiten der Theologie: „Heilsgeschichte“
(b) von Seiten der Naturwissenschaften: „Naturgeschichte“ Geschichtsphilosophie steht immer zwischen Theologie und
Naturwissenschaft
2. methodisch(a) Aristoteles
(b) Descartes
(c) postmodern
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Aristoteles‘ Kritik an der Geschichte
„der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht
dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in
Prosa mitteilt …; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der
eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen
könnte. Daher ist die Dichtung etwas Philosophischeres und
Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr
das Allgemeine, die Geschichtsschreibung das Besondere mit.“ (Poetik
IX, 1451b 1-8; vgl. Poetik XXIII, 1459a 22)
Die Geschichtsschreibung (historia) beruht auf der Erfahrung
(empeiria) des Besonderen. Wissenschaft (episteme) kann es aber
nur vom Allgemeinen geben. „Die Erfahrenen wissen zwar das ‚Daß‘;
doch das ‚Warum‘ wissen sie nicht.“ (Metaphysik I, 981a 28f.)
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Descartes‘ Kritik an der Geschichte
Die Historie ist wie die Ethnographie; jene richtet sich auf die Zeit,
diese auf den Raum: „Verwendet man jedoch zu viel Zeit aufs Reisen, so wird man schließlich im eigenen
Lande fremd, und interessiert man sich zu sehr für Dinge, die in vergangenen
Jahrhunderten geschehen sind, so bleibt man für gewöhnlich sehr unwissend in der
Gegenwart.“ (Diskurs über die Methode, 8. Abschnitt)
Weder das historische noch das ethnographisch-geographische
Wissen kann man technisch-pragmatisch einsetzen (Francis
BACON: „Wissen ist Macht“).
Maßstab wissenschaftlichen Wissens ist die Mathematik (auch bei
KANT).
Dagegen richtet sich vor allem Giambattista VICO (1668-1744,
Begründung einer „Neuen Wissenschaft“).
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Die postmoderne Kritik
Hayden WHITE: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen
(engl. 1978), Stuttgart 1991
Geschichtsschreibung unterscheidet sich nicht von Belletristik
(Dichtkunst). Denn sie arbeitet immer mit:
(a) rhetorischen Mitteln („Tropen“ wie Metapher, Synekdoche, Metonyme, Ironie)
(b) „modes of emplotment“ (Formen der Dramatisierung):• Romanze (Michelet)
• Komödie (Ranke)
• Tragödie (Tocqueville)
• Satire (Burckhardt)
(c) ideologischen Implikationen (anarchistisch, radikal, liberal, konservativ)
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Zur Verteidigung der Geschichte
• Geschichtswissenschaft braucht sich nicht an den methodischen Ansprüchen von Mathematik und Naturwissenschaft messen zu lassen.
• Sie hat eine „gegenstandsangemessene Genauigkeit“ (Aristoteles) und arbeitet mit sachbezogenen Methoden (u.a. „Sinnverstehen“)
• Im Unterschied zur Dichtkunst formuliert sie Aussagen mit einem Wahrheitsanspruch, der kritisch überprüft und falsifiziert werden kann.
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(3) Grundformen historischen Denkens
In der Antike finden sich bereits alle Grundformen
historischen Denkens.
In der Neuzeit setzt sich jedoch eine Form durch: das
Fortschrittsdenken.
Eine „entfernte Entsprechung des modernen
Fortschrittsdenkens“ ist das „Könnensbewußtsein“,
das sich Mitte des 5. Jh. v.u.Z. in einigen Kreisen
Athens ausbildete (Christian Meier).
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Die Grundtypen
(a) Werden und Vergehen
(b) Kreis
(c) Stillstand
(d) Abstieg
(e) Aufstieg
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(a) Werden und Vergehen
„biologische“ Deutung der Geschichte
(keine anorganische Materie, keine Kultur)
Die Geschichte (eines politischen Gebildes oder eines
Kulturraumes) ist wie ein Baum oder ein Mensch, der
wächst, altert und stirbt.
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(b) Der Kreis
in allen Kulturen verbreitet, als mythisches und nach-
mythisches Bild• alt-ägyptische Weisheit: „das Land dreht sich wie
eine Töpferscheibe“ (Anfang 2. Jt. v.u.Z.)• Indien: das Rad als Symbol des Hinduismus
Später kann das Wagenrad auch als Metapher des
Fortschritts dienen, etwa bei HERDER:
Staatsgeist lenkt das „Rad der Weltbegebenheiten“.
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Zwei Zitate
• Anaximander (Mitte 6. Jh. v.u.Z.)„Ursprung aller bestehenden Dinge ist das apeiron [das grenzenlos
Unbestimmbare]. Aus welchem Stoff den jeweils entstehenden
Dingen aber die Entstehung wird, dahin müssen sie auch zugrunde
gehen. Denn sie zahlen einander Strafe und Buße für die
Ungerechtigkeit, gemäß der Festsetzung (Ordnung) der Zeit.“
• Herodot (Mitte 5. Jh. v.u.Z.)„Menschendinge sind wie ein Rad, das dreht sich und läßt nicht
immer dieselben im Glück.“ (Historien I 207)
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Formen des Kreises
• kosmischer ZyklusHeraklit – Pythagoras – Platon („Timaios“, 25.800 Jahre) – Stoa gegliedert durch periodische Katastrophen (Weltenbrand bei Chrysipp u.a.)
• historisch-politischer RegelkreislaufVerfassungskreislauf (Platon – Polybios – Cicero)Monarchie Tyrannis Aristokratie Oligarchie Demokratie Ochlokratie Monarchie usw.
• ewige Wiederholung gleichartiger EinzelphänomeneEudemos von Rhodos (370-300 v.u.Z.) Nietzsche
• einmaliger historischer Zyklus: Rückkehr des Goldenen ZeitaltersVergil zu Augustus (oder einem Nachfolger)
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(c) Stillstand
THUKYDIDES (I 22)
„wer … das Gewesene klar erkennen will und damit
auch das Künftige, das wieder einmal, nach der
menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird …“
Denn die Menschen werden immer durch Ehrgeiz,
Habgier und vor allem Herrschsucht angetrieben (III 82,
vgl. I 76).
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(d) Abstieg(nach Kant, Anfang von
„Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“
„Daß die Welt im Argen liege, ist eine Klage, die so alt ist als die
Geschichte, selbst als die noch ältere Dichtkunst, ja gleich alt mit der
ältesten unter allen Dichtungen, der Priesterreligion. Alle lassen gleich-
wohl die Welt vom Guten anfangen: vom goldenen Zeitalter, vom
Leben im Paradiese oder von einem noch glücklicheren, in Gemein-
schaft mit himmlischen Wesen. Aber dieses Glück lassen sie bald wie
einen Traum verschwinden; und nun den Verfall ins Böse (das Mora-
lische, mit welchem das Physische immer zu gleichen Paaren ging)
zum Ärgeren mit acceleriertem Falle eilen, sodaß wir jetzt (dieses Jetzt
aber ist so alt als die Geschichte) in der letzten Zeit leben, der jüngste
Tag und der Welt Untergang vor der Tür ist …“
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HESIOD (ca. 740 bis 670 v.u.Z.)
„Theogonie“ (dt. Göttergeburt) – der Mythos von der Entste- hung der Welt und der Götter
„Werke und Tage“Dort findet sich die Lehre von den fünf Weltaltern:1. Goldenes Zeitalter2. Silbernes Zeitalter3. Ehernes (bronzenes?) Zeitalter4. Heroisches Zeitalter5. Eisernes Zeitalter(geht vielleicht auf eine persische Erzählung zurück, die wiederum aus Indien stammt)
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(e) Aufstieg
„Neuer, aber weit weniger ausgebreitet ist die entgegengesetzte
heroische Meinung, die wohl allein unter Philosophen und in unseren
Zeiten vornehmlich unter Pädagogen Platz gefunden hat: daß die Welt
gerade in umgekehrter Richtung, nämlich vom Schlechteren zum Bes-
seren, unaufhörlich (obgleich kaum merklich) fortrücke, wenigstens die
Anlage dazu in der menschlichen Natur anzutreffen sei. Diese Meinung
aber haben sie sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft …;
sondern es ist bloß eine gutmütige Voraussetzung der Moralisten von
Seneca bis Rousseau, um zum unverdrossenen Anbau des vielleicht in
uns liegenden Keimes zum Guten anzutreiben …“ (KANT, Die Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1. Stück, 1793)
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Das jüdische Geschichtsdenken
(a) Geschichte ist wichtig. Jahwe manifestiert sich in der historischen Zeit, nicht in der Natur (wie die meisten anderen orientalischen Götter).
(b) Es gibt eine privilegierte Zeitlinie, ein auserwähltes Volk, dessen Geschichte von Anfang bis Ende erzählenswert ist (Partikularismus).
(c) Geschichte ist auf ein Ende ausgerichtet. Zukunft ist wichtiger als Vergangenheit. Allerdings gibt es keine lineare Annäherung an das Ziel; vielmehr erscheint der Messias plötzlich und unerwartet.
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Das christliche Geschichtsdenken
(a) Geschichte ist sehr wichtig. Gott greift nicht nur in diese ein, sondern hat selbst in ihr Gestalt angenommen, und zwar nur dieses eine Mal.
(b) Es gibt nur eine Geschichte, die der Menschheit (Universalismus).
(c) Nicht das Ende, die Mitte ist der Bezugspunkt der Heilsgeschichte. Die Zeit ist erfüllt, aber noch nicht vollendet. Zwischen Heils- und Weltgeschichte besteht jedoch eine große Kluft.
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Frühneuzeitliches Geschichtsdenken
Noch die meisten Renaissance-Denker lehnten das
Fortschrittsmodell ab. Vorbild blieb die Antike.
Das ändert sich aber bald:• Jean BODIN (1530-1596) bestreitet die Überlegenheit
der Antike.• Francis BACON (1561-1626) bestreitet, Zwerg auf
den Schulter eines Riesen zu sein. • Galileo GALILEI (1564-1642) meint, die neuen
Kenntnisse seien besser, weil die Menschheit reifer geworden sei.
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„Der Streit der Alten mit den Neuen“
vor allem in der Kunst
und zwar (zuerst) in Frankreich seit 1687
Kann die antike Kunst (etwa die Tragödie) weiterhin als
Vorbild dienen?
Nach welchem Prinzip sollen Künstler wirken:• imitatio (nachahmen) Boileau, Racine u.a.• aemulatio (nacheifern)• inventio (Neues hervorbringen) Charles Perrault
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