Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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Da werde ich wohl wieder vernehmen müssen, meine Philosophie sei trostlos - eben nur weil ich nach der Wahrheit rede, die Leute aber hören wollen, Gott der Herr habe Alles wohlgemacht. Geht in die Kirche und laßt die Philosophen in Ruhe.
Arthur Schopenhauer
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VORWORT ZUR NEUAUSGABE
Der Versuch über ein angeschwärztes Gefühl datiert aus dem Jahre 1985. Das ist eine
Weile her. Damals war ich, wie ein einziger Blick auf die folgenden Seiten verrät, ein be-
geisterter Schattenspieler und auch als Essayist mehr als willens, jeder mit der schwarzen
Galle einhergehenden Versuchung nachzugeben.
Mit der Neupublikation holt mich diese hitzköpfige Vergangenheit, die heißblütige Af-
faire mit einem angeblich unterkühlten Temperament ein, und ich habe die Wahl. Entweder
entscheide ich mich für Selbstkritik und lasse meinen damaligen furor melancholicus mit
inzwischen weitgehend tremorfreier Schreibhand zur Ader. Oder ich tue das Gegenteil und
öffne mir und dem geneigten Leser das immer noch gut geölte Hintertürchen in die Won-
nen der Unbelehrbarkeit. Denn ist es nicht so? Ein Vorwort nach fast einem Vierteljahr-
hundert Bedenkzeit wird automatisch zur Nachrede. Fragt sich nur, ob zur üblen oder zur
Apologie.
Was aber, wenn mein damaliges Ego scharfsinniger, reflektierter, geistig beweglicher
war als sein lebensgeschichtlicher Nachfolger und mir das Urteil also gar nicht zustünde?
Was, wenn der 85er Horstmann mit Fingern auf mich zeigte und zwischen diesen Zeilen
den Satz einbaute: »Da seht ihr, was ich im Langen Schatten gemeint habe«?
Bliebe als Ausweg aus dem Dilemma wohl nur die Stimmenthaltung, die ich hier prak-
tizieren will. Ist sie ein Zeichen des Sichdrückens und Aus-der-Verantwortung-Stehlens für
das, was man früher einmal autorisiert hat? Ich bestreite das nachdrücklich. Es gibt Bio-
graphien, die die statistisch ausgelobte Lebenserwartung keineswegs unterschreiten und in
denen doch der Achtzehn-, der Fünfundzwanzig-, der Dreißigjährige das letzte Wort behal-
ten. Möglicherweise sind sie gar nicht so selten. Jedenfalls will ich an dieser Stelle nicht
mein eigener Bevormunder sein, setze mich ab ins ›whiteout‹ der unbedruckten Seite und
überlasse dem Schwarzarbeiter das Wort, der meinen Namen trägt.
Zum Schluß nur soviel. Der Lange Schatten erzielte bei seiner Erstveröffentlichung
Verkaufszahlen, die alle Beteiligten melancholisch stimmen mußten. Gleichwohl hat er ein
Massenpublikum erreicht. Anfang Februar 1987 erschien unter dem Titel »Rückzugsge-
fecht für die Melancholie« eine extrem verschlankte Version als Spiegel-Essay. Die Mino-
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ritätensicht der Dinge hielt sich so eine Woche lang an den Kiosken und im Abo. Dann
waren die Adepten der ›schönen Kunst der Kopfhängerei‹ wieder unter sich.
U.H.
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1. EINLEITUNG
Machen wir uns nichts vor, im Umgang mit der Melancholie bleiben die meisten zeitlebens
blutige Anfänger, Stümper, Dilettanten, die über die flüchtigste Bekanntschaft nie hinaus-
gelangen und – nie hinauskommen wollen.
Offenbar gibt es nämlich eine tiefsitzende Scheu, ja Angst vor jenem Affekt, der nach
Schweppenhäuser »das Denken begleitet, welches zu Ende denkt« (Schweppenhäuser
1963: 281), und man hütet sich davor, die Psyche, die früher Gemüt hieß, den Sirenenklän-
gen der Schwermut für mehr als ein kurzes Intervall und ohne doppelte und dreifache Si-
cherungen auszuliefern.
Ein paar Zigarettenlängen, vielleicht auch einen Abend lang überläßt sich ein verant-
wortungsbewußter Zeitgenosse dieser abgründigen Stimmung, die er mit der richtigen Do-
sierung von Musik und Alkohol zu erzeugen, zu stabilisieren und vor der Infiltration des
Nachdenkens zu schützen weiß. Bei richtiger Handhabung erschwert am folgenden Mor-
gen nicht einmal ein emotionaler Kater die Ableistung jenes Pensums an Tatkraft und
Schaffensfreude, das ja auch nach anderen Stundenvergnügen ganz in dem gewohnten Um-
fang zu erbringen ist.
Die Beeinträchtigung der sozialen Funktionsfähigkeit, der Vitalität und des Unterneh-
mungsgeistes ist denn auch das Kainsmal, das der nicht zum Freizeitkitzel verdünnten
schwarzen Galle seit über zwei Jahrtausenden anhaftet, das für ihre Ausgrenzung als
Krankheit, Sünde, Unverstand verantwortlich ist und die Zurückhaltung einer doch sonst
so ungemein experimentier- und konsumfreudigen Leistungsgesellschaft erklärt.
Melancholie hat nämlich mit Ohnmachtserfahrungen, Überforderungserlebnissen, mit
existentiellem Scheitern, der Notwendigkeit und Ausweglosigkeit des Mißlingens zu tun.
Und obwohl wir alle schon Niederlagen hingenommen, Nackenschläge eingesteckt, per-
sönliche oder kollektive Katastrophen erlebt und durchlitten haben, wollen die wenigsten
Verlierer sein und wahrhaben, daß die sogenannten temporären Rückschläge nicht zum
Postament kommender Triumphe taugen, sondern nur die endlose Ausdehnung jenes
grundlosen Treibsandareals veranschaulichen, das unter privater Perspektive mein Leben,
unter globaler Weltgeschichte heißt.
Nach der Sprachregelung der Mehrheit handelt es sich bei ihrer lebenstüchtigen Igno-
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ranz um gesunden Optimismus, während die Minorität der Ernüchterten und Abgeklärten
sich aus einem breiten Angebot das passende Schimpfwort selbst auswählen darf. Daß
auch die Melancholie in diesem Katalog ihren Platz findet, versteht sich von selbst.
Schließlich hat der echte Melancholiker mit dem Prinzip Hoffnung so wenig im Sinn
wie der Macher mit der Resignation. Während dieser das Außerkurslaufen von Ereignis-
ketten als Herausforderung eines Zufälligen erlebt, das es in den Griff zu bekommen und
unter Kontrolle zu bringen gilt, ist jener ein Gourmet gerade des endgültigen Kontrollver-
lusts, der Entmächtigung der Planer durch die Kontingenz, der Resurrektion des ursprüng-
lichen Tohuwabohu.
Die Melancholie wird so in Trümmerfeldern geboren und macht sie erträglich, ja wohn-
lich und schön. Ihre Parteigänger sind Virtuosen des Verlusts, die nichts mehr zu verlieren
haben außer eben dieser teuer bezahlten Virtuosität – der Fähigkeit, jedem Ruin noch den
süffisanten Trost der Desillusion, jedem Untergang noch die Versöhnung des ›besser so‹
abpressen zu können, selbst wenn das letzte »Aus« wie in Lenaus gleichnamigem Gedicht
den eigenen Zusammenbruch keltert:
Ob jeder Freude seh ich schweben Den Geier bald, der sie bedroht; Was ich geliebt, gesucht im Leben, Es ist verloren oder tot. Fort riß der Tod in seinem Grimme Von meinem Glück die letzte Spur; Das Menschenherz hat keine Stimme Im finstern Rate der Natur. Ich will nicht länger töricht haschen Nach trüber Fluten hellem Schaum, Hab aus den Augen mir gewaschen Mit Tränen scharf den letzten Traum.
Die Melancholie ist nach Auskunft dieses vollendeten Adepten der Schwermut, dem
seine Arbeiten vielleicht deshalb nur »blutige Fetzen eines schlechten Verbandes« (Lenau
1911: 238) sein konnten, alles andere als weinerliche Gefühlsduselei. Sie basiert auf – al-
lerdings nicht optimistisch gefilterter – Lebenserfahrung, auf einer Akkumulation von Ent-
täuschung, die gerade auch mittels kathartischer Emotionalität – mag sie nun auf die Trä-
nendrüsen schlagen oder nicht – die Welt nicht rosarot verschwimmen läßt, sondern die
Sehschärfe erhöht. Und das bis zu dem äußersten Punkt, an dem der ›letzte Traum‹ zer-
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stiebt, die Basisfiktion einer Existenz sich auflöst, zwischen deren Ausformungen viel-
leicht von Mensch zu Mensch tatsächlich Welten liegen, die aber im Fall Lenaus sicherlich
eine poetische war: »Mein Fehler ist, daß ich die Sphäre der Poesie und die Sphäre des
wirklichen Lebens nicht auseinanderhalte« (ebd.: 212).
Lenau ist in beiden Bereichen gescheitert, in der Wirklichkeit, die er nicht poetisieren
konnte, und in der Poesie, in der er seine Ernüchterung noch kunstvoll zelebrierte, während
sich die Scheinsubstantialität des Schönen längst schon unter dem melancholischen Blick
zersetzte. In seiner Haltlosigkeit und in der Unaufhaltsamkeit seines Zusammenbruchs
dokumentiert er in idealtypischer Reinheit das, was wohl am ehesten mit einer astrophysi-
kalischen Metapher beschreibbar ist: den Gravitationskollaps der Melancholie.
Wie ein Stern in der Endphase seiner Entwicklung ›entarten‹ und unter dem Einfluß
seiner eigenen Schwere endlos in sich zusammenstürzen kann, kollabiert auch dem
Schwermütigen seine Welt. Es ist das ein gleichfalls unaufhaltsamer irreversibler Prozeß,
der ihn aus dem Kontinuum der Normalität herauslöst und schließlich und endlich ›unbe-
greiflich‹ werden, d.h. hinter dem Ereignishorizont des ›gesunden Menschenverstandes‹
verschwinden läßt.
Nun versichert uns aber die Astronomie, daß es bei der Reise in ›schwarze Löcher‹ ganz
grundverschieden hergeht, je nachdem ob ich ihr zusehe oder sie unternehme. Und ent-
sprechend sind auch bei der Melancholie Innen- und Außenperspektive inkompatibel. Was
dem Zuschauer als irrwitziges Unterfangen und willentliche Selbstauslöschung erscheint,
ist dem Schwermütigen ein spektakuläres Unternehmen, das jeden Einsatz lohnt, eine Ex-
pedition ins Herz der Katastrophe, die Erfüllung seiner von den Abgründen des Scheiterns
faszinierten Existenz.
Zu solcher Erkundung kann man von überall aufbrechen und zu jeder Zeit. Es bedarf
dazu keiner guten Gründe, die es im Sinne einer auf Existenzsicherung und Risikominde-
rung fixierten Umwelt ohnehin nicht geben kann, sondern nur des Gespürs für die Grund-
losigkeit unter unseren Füßen, eines momentanen Gewahrwerdens der Tatsache, daß wir in
Luftschlössern wohnen und auf Wolken gehen und daß nichts unseren Sturz aufhalten
kann, wenn wir uns erst einmal fallengelassen haben.
Deshalb tut sich die Melancholie auf, wo immer Wirklichkeit Risse bekommt, gleich ob
im Elend oder Überfluß, in der Bedrohung oder im Idyll, in Siechtum oder kraftstrotzender
Gesundheit, im tiefen Frieden, im heißen Krieg, im erschöpften oder waffenstarrenden
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Dazwischen.
Und jede Initiation hat ihr eigenes Gesicht. Manche verlieren den Halt im engsten Fami-
lienkreis wie Gotthold Ephraim Lessing, der am 3. Januar 1778 seinem Freund Johann
Joachim Eschenburg schreibt:
Mein lieber Eschenburg,
Ich ergreife den Augenblick, da meine Frau ganz ohne Besonnenheit liegt, um Ihnen für Ihren gütigen Antheil zu danken. Meine Freude war nur kurz: Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! – Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu so einem Af-fen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. – War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisern Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er sobald Unrath merkte? – War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? – Freylich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! – Denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. – Ich wollte es auch ein-mal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen. (Les-sing 1907: 259)
Andere brechen ein mitten im Alltäglich-Banalen, versinken in der Öde des Maschini-
sierten, Routinierten, Arrangierten, die Günter Grass im Tagebuch einer Schnecke glei-
chermaßen in Fabrikhallen wie an den Fließbändern der Touristikindustrie aufspürt. Und
etliche schließlich finden so bizarre Einstiege wie die pergamentenen Falltüren eines Ro-
bert Burton, der 1621 seine Anatomy of Melancholy vorlegt, die ihm später bis auf tau-
senddreihundert Seiten anschwillt – eine Enzyklopädie der schwarzgalligen Welt, der Tin-
tenkosmos eines quellensüchtigen, zitatwütigen, fabulierlustigen Bücherwurms, der seinen
skrupulösen Lesern einredet, er hielte sich die Schwermut dadurch vom Leibe, daß er sich
immer tiefer in sie hineinschreibe: »I writ of melancholy, by being busy to avoid melan-
choly« (Burton 1903 1: 17).
Natürlich war das eine Schutzbehauptung gegenüber einer zeitgenössischen Gesell-
schaft, die dem Melancholiker vom Liebeswahn des ›melancholy lover‹ und vom Revoluz-
zertum des ›malcontent‹ über Epilepsie und Lykanthropie bis zum Selbstmord alles Mögli-
che und Schlimme zutraute. Ihr verordnete er das Placebo des Heilsamen, dessen er selbst
nicht mehr bedurfte, denn Burton wußte wie alle Schwarzgalligen, daß niemand, der die
Reise angetreten hat, noch aussteigen könnte und wollte. Die Solidität unter den Füßen ist
auf immer dahin, der Sturz unaufhaltsam, und kaum daß der Schwindel weicht und der
Kopf klar wird, ist die Lust nicht mehr zu bändigen, die Lust der Schwermut am Denken –
am Denken im freien Fall.
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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2. VOM HOCHKOMMEN DER SCHWARZEN GALLE
Die angebliche Heiterkeit der Griechen war so ungebrochen nicht, und der dionysische
Taumel wohl immer schon ein Hinwegtaumeln über das Unwirtliche einer Welt, aus der
entfernt zu werden schon Theognis von Megara als die beste aller Lösungen erschien:
Nimmer geboren zu sein, ist Erdbewohnern das Beste, Nimmer mit Augen des Tags strahlende Leuchte zu sehen, Oder geboren, sogleich zu des Hades Toren zu wandeln, Hoch von der Erde bedeckt, liegend im hüllenden Grab.
Was sich hier als abwinkendes Dankeschön gegenüber den Verlockungen zur Existenz
zu Wort meldet, wußte die antike Medizin wenig später auf den ihr eigenen Begriff zu
bringen, d.h. krankzuschreiben und zu pathologisieren. In dem auf Hippokrates und seine
Nachfolger zurückgehenden Corpus Hippocraticum wird nämlich die dann von Galen tra-
dierte und ausgebaute Lehre von den Kardinalsäften entwickelt, deren richtiges Mi-
schungsverhältnis (Eukrasie) Gesundheit und Wohlbefinden garantiert, wogegen eine un-
ausgewogene Zusammensetzung (Dyskrasie) Krankheiten auslöst. Der theoriegeschichtlich
Letztgeborene dieser humores ist nach dem Blut, der gelben Galle und dem Schleim die
melaina cholƝ, die trockene und kalte schwarze Galle, deren Übermaß nach den Lehren der
Humoralpathologie eine Fülle körperlicher und geistiger Störungen im Gefolge hat, die
nach ihrem Auslöser unter dem Begriff Melancholie zusammengefaßt werden.
Als Affekt, welcher auch bei Theognis das Denken begleitet, das zu Ende denkt, wird
sie damit zum Krankheitssymptom und mit zahlreichen anderen Krankheitsbildern zu ei-
nem ›primitiven Konglomerat‹ (Starobinski) vergesellschaftet, dem Depressionen, Psycho-
sen und Schizophrenie ebenso zugeschlagen werden wie Epilepsie, Krebs oder schwärende
Wunden. Ja, Melancholie avanciert zum Inbegriff des Morbiden, bedeutet »letztlich immer
Mangel und Makel: Verlust gesunder Lebenskraft und Lebenswärme im physiologischen
Bereich, Fehlen der Lebenslust, des ›élan vital‹ im psychischen« (Obermüller 1974: 11).
Daß die Schwermut sich in solcher zumindest semantisch hochinfektiösen Nachbar-
schaft erholt und überhaupt von dem ihr zugewiesenen Krankenlager erheben kann, ist
Verdienst eines Autors, den wir konventionsgemäß Aristoteles nennen, obwohl die Pro-
blemata, von denen hier die Rede ist, sehr wahrscheinlich von einem seiner Schüler, viel-
leicht von Theophrast, aufgezeichnet worden sind.
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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Aristoteles leitet seinen Problemaufriß in Buch XXX mit der Frage ein: »Warum erwei-
sen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder
den Künsten als Melancholiker?« und durchbricht damit von vornherein die Quarantäne
des medizinischen Melancholiebegriffs. Unter Rückgriff auf die Mania- oder Enthusias-
muslehre Platos wird Schwarzgalligkeit mit dem Exzeptionellen korreliert, und zwar kate-
gorisch in Form eines All-Satzes. Gleichzeitig wird Plato, der solche Abnormität etwa des
künstlerischen Genies noch auf göttliche Intervention und Begeisterung zurückführte, ›na-
turalisiert‹. Der außergewöhnliche Mensch verfügt nicht deshalb über bewundernswerte
Talente und Fähigkeiten, weil er – momentan – als Sprachrohr oder Medium eines Trans-
zendenten fungiert, sondern weil er von Geburt an eine bestimmte Ausstattung und Dispo-
sition mitbringt, eine Anlage, über die andere nicht verfügen. Diese ›Mitgift‹ soll mit den
zeitgenössischen empirischen oder protoempirischen Methoden enträtselt werden, und Ari-
stoteles erklärt sie zunächst ganz unoriginell als ein bestimmtes Mischungsverhältnis der
Körpersäfte, das nämlich, bei dem die schwarze Galle überrepräsentiert ist.
Ein derartiger Ungleichgewichtszustand ist nun aber nach Auskunft der Medizin a priori
krankhaft, gleich welcher der vier Konstituenten überwiegt. Um der Schlußfolgerung –
wenn schon alle außergewöhnlichen Männer Melancholiker seien, dann seien sie eben
auch alle nicht gesund – zu entgehen, benötigt das Erklärungsmodell ein neues Gleichge-
wicht im Ungleichgewicht, das durch eine Redefinition des Untersuchungsgegenstandes
erreicht wird. Melancholie erscheint in den Problemata folgerichtig nicht mehr als bloßes
Konglomerat unterschiedlichster Manifestationen, sondern als strukturiertes Möglichkeits-
feld zwischen Extremen, wobei die Bandbreite der Erscheinungen aus den unterschiedli-
chen Wärmegraden der schwarzen Galle abgeleitet wird. Erfolgt eine Abweichung vom
Mittelwert in Richtung auf das Extrem äußerster Erhitzung, treten nach Aristoteles patho-
logische Phänomene wie »übersteigerte Hochgefühle mit Gesang, Ekstasen, Aufbrechen
von Wunden und anderes Derartiges« auf, kühlt der Körpersaft über Gebühr ab, löst das
»Schlagflüsse, Erstarrungen, Depressionen oder Angstzustände« (Aristoteles 1975 XIX:
253) aus. Pendelt sich die Temperatur aber im optimalen Bereich ein, führt das nicht nur
zur Symptomfreiheit, sondern befähigt eben zu den einleitend behaupteten außerordentli-
chen Leistungen:
Diejenigen aber, bei denen [die schwarze Galle] hinsichtlich ihrer allzu großen Wärme auf das Mittelmaß gemildert ist, sind zwar noch Melancholiker, aber ver-nünftiger und weniger abnorm. In vielen Dingen aber überragen sie die anderen, die
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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einen durch ihre Bildung, die anderen durch künstlerisches Können, andere durch po-litische Wirksamkeit. (ebd.)
Die Rehabilitierung des Melancholikers wird also auf durchaus elegante Art und Weise
bewerkstelligt, nicht durch Außerkraftsetzen oder Negation der orthodoxen medizinischen
Anschauungsweise – zu der darüber hinaus ja keine Alternative existierte –, sondern über
die Verfeinerung und Präzisierung des vorgegebenen Konzepts.
Im Spektrum des, wie man heute sagen würde, Manisch-Depressiven wird auf diese
Weise eine Oase ausgegrenzt, in der die gesunde Norm als Richtschnur des Verhaltens zu
relativieren wäre, weil »die Ungleichmäßigkeit gut gemischt sein und sich in gewisser
Weise richtig verhalten kann« (ebd.: 256), also ein sekundäres Äquilibrium besteht, und
weil im Sektor des Exzeptionellen eigene Gesetze gelten.
Die Problemata liefern in diesem Zusammenhang noch eine Reihe von Protokollsätzen,
die verdeutlichen, daß zumindest der Kernbezirk der Aristotelischen Melancholie mit unse-
rem Begriffsgebrauch übereinstimmt, wie etwa die Hinweise auf die »Mutlosigkeit, die
jeder Tag so mit sich bringt« (ebd.: 254) oder auf die Grundlosigkeit dieser Stimmung:
»Denn oft verhalten wir uns so, daß wir betrübt sind, ohne daß wir zu sagen vermöchten,
worüber« (ebd.).
Die eigentliche Leistung der Schrift besteht aber sicherlich darin, daß Melancholie ent-
pathologisiert wird und als Naturell erscheint, mit dem man auf die Welt kommt und leben
lernen muß wie mit anderen Gegebenheiten auch: »Alle Melancholiker [sind] außerge-
wöhnlich, nicht infolge von Krankheit, sondern infolge ihrer Naturanlage« (ebd.: 256).
Schwermut ist also kein Fluch, sondern im Gegenteil eine Auszeichnung, eine immense
Chance, die es zu nutzen gilt, die aber – hier lassen die Äußerungen Aristoteles' an Deut-
lichkeit nichts zu wünschen übrig – auch nicht minder große Risiken birgt. Denn die Ge-
sundheit des Melancholikers bleibt ihm immer eine prekäre, und dem Unachtsamen ver-
wandelt sich der schwermütige Sturz ins Denken und im Denken nur allzu leicht in einen
Absturz aus dem Denken, und aus dem freien Fall der Intelligenz wird ein Fall für die
Psychiatrie.
Insofern also erkennt auch ein so beherzter und couragierter Verteidiger der schwarzen
Galle wie der Autor der Problemata ein gesellschaftliches Interventions- bzw. Ausgren-
zungsrecht gegenüber ›Extremformen‹ an und verlangt dem Gemeinwesen – und zwar zu
seinem eigenen Besten, denn es profitiert ja von den ›außergewöhnlichen Männern‹ – le-
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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diglich die Tolerierung ›wohltemperierter‹ Varianten ab.
Doch selbst diese eher moderate Forderung ließ sich eineinhalb Jahrtausende lang nicht
durchsetzen. Vielmehr reduzierte sich die soziale Toleranzbereitschaft gegenüber der Me-
lancholie zusehends, so daß sie das Christentum als acedia unter die Todsünden einreihen
und dort bis ins Spätmittelalter unwidersprochen unter Acht und Bann halten konnte.
Eine entscheidende Etappe in diesem Prozeß ist bereits die Melancholiedistanz der Stoa,
die die Erscheinungsformen schwarzgalliger Reflexion zwar noch als normales, ja weit-
verbreitetes Desorientierungsphänomen gelten läßt, im übrigen aber gerade den Anspruch
erhebt, ihre Anhänger von den periodischen Attacken der Schwermut zu befreien.
Das Ataraxie-Ideal des Stoizismus ist dezidiert antimelancholisch, und man kann die
therapeutische Konfrontation zwischen Unerschütterlichkeit hie und Instabilitätserfahrung
dort wohl nirgendwo deutlicher ausmachen als in Senecas Schrift Über die Seelenruhe.
Deren Adressat, Serenus, befindet sich zumindest im Vorhof der Melancholie, halb krank,
halb gesund setzt ihm ein immerwährendes Schwanken (fluctuatio), ein Pendeln, Schwe-
ben, eine quälende Seekrankheit (nausea) so zu, daß er befürchtet, es stehe schlimmer um
ihn, als er selbst zugeben wolle.
Seneca weiß sich sofort im Bilde und liefert ein ganzes Panorama psychischer Deran-
giertheiten von Wankelmut und Vielgeschäftigkeit über das »Verrotten einer inmitten un-
erfüllter Wünsche erstarrenden Seele« (Seneca 1971 II: 115) bis zu Reisewut und Ich-
Flucht, das er diagnostischen Oberbegriffen wie Überdruß (taedium oder fastidium vitae),
Niedergeschlagenheit (tristitia privata) und Menschenekel (odium generis humani) zuord-
net.
Wer sich solchen Anwandlungen überläßt, gerät unweigerlich in den Sog der Melancho-
lie: »Da wird die Seele in Nacht getrieben, und als seien alle Charakterwerte zerstört, [...]
breitet sich Finsternis aus« (ebd.: 163), endet in Verzweiflung und Selbstzerstörung. Ange-
sichts der Radikalität und der unterstellten Letalität der Bedrohung ist jedes Antidot will-
kommen, um die geistige Gesundheit wiederherzustellen, und Seneca erweist sich denn
auch als wenig zimperlich bei der Medikation, solange nur der gewünschte Desensibilisie-
rungseffekt erzielt wird.
Alkohol, bei Aristoteles noch Metapher für die Wirkungen der schwarzen Galle, soll sie
jetzt neutralisieren, wobei man es »bisweilen [...] auch bis zur Trunkenheit kommen lassen
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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[darf]: sie spült nämlich die Sorgen weg, bewegt in der Tiefe das Gemüt, und wie manche
Krankheiten, so heilt sie auch die Niedergeschlagenheit« (ebd.: 171). Im nüchternen Zu-
stand empfiehlt sich eine analoge Strategie des ›Alles-nicht-so-schwer-Nehmens‹, denn
bei der Betrachtung des Universums zeigt höhere Gesinnung, wer das Lachen nicht halten kann, als wer nicht die Tränen, weil er die leichteste Seelenregung gewähren läßt und nichts für groß, nichts für ernst, nicht einmal für unglücklich hält in dieser großen Welt. (ebd.: 163)
Und die ›richtige‹ Philosophie schließlich, die stoische also, raffiniert diese gleichsam
instinktiven und volkstümlichen Schutzmechanismen und überbietet sie gleichzeitig durch
die Verfertigung eines intellektuellen Panzers, durch den kein Gefühl mehr dringt und der
keine emotionale – und also möglicherweise melancholisierende – Anteilnahme mehr zu-
läßt:
Aber besser ist es, die allgemeine Sittlichkeit und die Schwächen der Menschen friedlich hinzunehmen und dabei weder in Lachen noch in Weinen auszubrechen; denn von fremdem Unglück sich quälen zu lassen, ist endloses Elend, an fremdem Unglück seine Freude zu haben unmenschliches Vergnügen. (ebd.)
Nun ist die hier vorgeführte stoische Zensur des Mitleids selbst inhuman und die Aus-
treibung der Schwermut eine Abtreibung von Wirklichkeit, eine Selbstblendung der Ver-
nunft gegenüber jenem permanenten Skandal sinnlosen Lebensverschleißes, der ja gerade
den Absturz des Melancholikers aus der Normalität des Einverständnisses und Mitmachens
einleitet.
Weil die schwarze Galle nicht erst Werther das Sensorium schärft für den Widersinn
von Welt:
Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Gra-bes [...] Ich sehe nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Unge-heuer (Goethe 1965: 48f.),
weil sie dieses Ungeheuerliche immer schon hervortreten ließ und die Harmonie-Illusion
gefährdete, betreibt die Stoa Selbstimmunisierung und trainiert ein Weg- und Absehen-
können von allen ›Störfaktoren‹. Das Christentum, das gleichermaßen an Gottes Schöp-
fung nichts Grundfalsches entdecken darf, macht sich diese Strategie zu eigen, aktiviert
gegenüber den Versuchungen des melancholischen ›bösen Blicks‹ sein Sanktionspotential,
indem es den Schwermütigen der ewigen Verdammnis überantwortet, und reißt sich so, der
biblischen Weisung getreu, das Auge aus, das es stört.
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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Die babylonische Gefangenschaft der Schwermut geht erst zu Ende, als Realität, und
zwar in positiver wie in negativer Hinsicht, wieder ungefiltert auf Menschen eindringen
kann, in der italienischen Frührenaissance also. Solche Wiedergeburt der Melancholie aus
dem Geist der Weltlichkeit und Weltoffenheit ist gleichsam urkundlich belegbar mit Pe-
trarcas 1342/43 in Vaucluse entstandenem Dialog De secreto conflictu curarum mearum,
gewöhnlich kurz als Secretum bezeichnet. Es handelt sich um ein fiktives Gespräch zwi-
schen Augustinus und Franciscus, also Petrarca selbst, das auf den ersten Blick als litera-
risch stilisierte Beichte erscheint, sich aber geradezu als Antithese, als Selbstbehauptung
eines Verstockten, entpuppt.
Im zweiten der drei Bücher geht es um die »geheimnisvolle Seelenkrankheit« Petrarcas,
die Augustinus in der klassischen Terminologie als aegritudo, in der zeitgenössischen als
acedia identifiziert (vgl. Petrarca 1910: 62). Trotz des eindeutig theologischen Begriffs ist
aber der Drohcharakter der Todsünde nahezu vollständig abgebaut zugunsten einer ganz
und gar säkularen Neufüllung, die eine bestimmte Form leidvollen Wirklichkeitserlebens
meint und in der deutschen Übersetzung folgerichtig als Weltschmerz wiedergegeben wird.
Petrarca ist der erste moderne Melancholiker, und seine Gemütsverfassung weist denn
auch schon jene Eigenheiten auf, die im Verlauf der folgenden Jahrhunderte immer prä-
gnanter hervortreten sollten, nämlich Selbstbeobachtung, Selbstgenuß und das Eingeständ-
nis der Unbegründbarkeit des vom Schwermütigen kultivierten Affekts.
Melancholie entsteht durch Illusionslosigkeit oder, wie Schleiermacher einmal formu-
liert hat, durch die »Elementaranschauung der sittlichen Welt, wie sie ist« (Völker 1983:
516), im Verbund mit Introspektion, d.h. der Bereitschaft, sich Rechenschaft darüber abzu-
legen, was solche »Elementaranschauung« im Beobachter selbst anrichtet. Und sogar Au-
gustinus kann seinem Gesprächspartner eine äußerste Intimität im Umgang mit seiner »tief
schmerzlichen Stimmung« nicht bestreiten, sondern gibt zu: »Du kennst deine Krankheit
gar gut.«
Dieses Zugeständnis des Therapeuten – und der Kirchenvater ist im Secretum nur noch
in diesem Sinne ›Seelsorger‹ – folgt auf die Selbstdiagnose des ›Kranken‹, die nun gerade
ein inneres Erleben herausgestrichen hat, das so gar nicht zum Leiden an der Welt zu pas-
sen scheint, nämlich dessen befremdlichen Lustaspekt:
Und dazu kommt, daß ich eine falsche Süßigkeit verspüre in allem, worunter ich lei-de. Dieser traurige Seelenzustand ist für mich eine Fülle von Schmerzen, Elend und
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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Schrecken, ein offener Weg zur Verzweiflung. Er kann eine unglückliche Seele ins Verderben treiben. Unter meinen anderen Leidenschaften habe ich ja oft, aber immer nur kurz und vorübergehend zu leiden. Diese Pest aber lastet zuweilen so hartnäckig auf meiner Seele, daß sie ganze Tage und Nächte mich fesselt und foltert. Ach, das sind Stunden, nicht des Lichtes und Lebens, sondern höllischer Finsternis und bitter-sten Todes! Und der Gipfel allen Jammers ist es, daß ich mit einer gewissen stillen Wollust mich an meinen Tränen und Schmerzen weide und nur ungern mich ihnen entreiße. (Petrarca 1910: 62f.)
Schon die Melancholie Petrarcas ist also, salopp gesagt, schrecklich schön, eine andere
medusische Laura, von der er den Blick nicht mehr abwenden kann und an die ihn eine Art
Verfallenheit kettet.
Deshalb sind auch die Auslöser schwarzgalligen Nachdenkens Legion, schwergewichtig
und gleichgültig zugleich, weil sie der melancholischen Enttäuschung, dem Nichtigkeitser-
leben, immer nur neue Nahrung zuführen, es aber nie bestimmen oder begründen. Die Su-
che nach der letzten Ursache, die Augustin – wie alle seine Nachfolger – unternimmt,
scheitert an einem beliebig fortsetzbaren Katalog von ›Legitimationen‹, der bei Petrarca
nicht nur
übelriechende Straßen voll kläffender Hunde und garstiger Schweine, dies Räderge-rassel auf allen Straßenpflastern, Pferdegespanne, die den Durchgang versperren, wi-derliche Menschen aller Art, das häßliche Bild von Bettlern neben übermütigen Rei-chen, von jammervollem Elend neben toller Freude, überall Zank und Streit, Lug und Trug, dies Durcheinander von schreienden Stimmen, dies Gewühl des sich drängen-den und stoßenden Pöbels (ebd.: 70),
sondern »alles, was ich sehe, höre und fühle« (ebd.: 64), umfaßt. Denn die Schwermut
heißt willkommen, was sie stimuliert, Kleinigkeiten wie Weltgeschichte, ein winziges
Mißgeschick und ein globales Desaster, die ›condition humaine‹ und den Störenfried von
nebenan.
Und wenn Augustinus den am Anfang seiner Anamnese stehenden Wortwechsel ernst
genommen hätte:
A.: Du hältst dich für unglücklich? E.: Für den Allerunglücklichsten! A.: Und warum? E: Aus tausend Gründen! (ebd.: 64),
hätte er sich seine diagnostische Sisyphusarbeit sparen können und möglicherweise begrif-
fen, daß der einzige Grund der Melancholie in ihrer Grundlosigkeit liegt, und zwar im
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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Doppelsinn des nicht mehr zu Begründenden und dessen, das keinen Grund, keinen Boden
mehr unter sich hat.
So aber bekämpft er mit untauglichen Mitteln ein unverstandenes ›Übel‹ und greift so-
gar expressis verbis auf seinen Vorläufer zurück, wenn er seinem Gesprächspartner nichts
Besseres anzuraten weiß als existentielle Komparatistik, d.h. den Vergleich der Mißlich-
keiten des eigenen Lebens mit dem durchaus härteren Los vieler anderer:
Folge dem Rate Senecas: Wenn du siehst, wie viele dir voran sind, so denke daran, wie viele noch hinter dir zurückgeblieben. Willst du dankbar werden gegen Gott und dein Geschick, so denke daran, wieviel glücklicher du bist als viele Menschen. (ebd.: 66)
Natürlich ist es Petrarca ein leichtes, Seneca mit Seneca zu widerlegen, der – wie erin-
nerlich – in De tranquillitate animi die Freude an menschlichem Unglück als unmenschlich
bezeichnet hatte. Eben solche ganz und gar unrühmliche Schadenfreude und Inhumanität
steckt für Petrarca nämlich auch hinter dem Therapievorschlag Augustins, und er demas-
kiert und demontiert die Kunstfigur, indem er ihr am Schluß des zweiten Buchs eine Visi-
on in den Mund legt, die jeder christlichen Ethik hohnspricht:
Ein heiteres und ruhiges Gemüt bleibt unberührt [...]. So wirst du dann einmal am si-chern, trockenen Ufer stehen und anderer Menschen Schiffbruch betrachten und das jammervolle Klagen der Ertrinkenden ruhigen Herzens hören. Und neben dem Mit-leid, das dieses traurige Schauspiel in dir erregen mag, wirst du eine tiefe Freude empfinden über dein festbegründetes sicheres Glück, das du aus so vielen Gefahren dir errettet hast. (ebd.: 74)
Mitleid wir hier ebenso zur Karikatur wie ein im Stoizismus seine letzte Rettung su-
chender Kirchenvater, dem der nur scheinbar ›beichtende‹ Franciscus im übrigen schon am
Beginn des Gesprächs seine Hilflosigkeit gegenüber der Melancholie attestiert und auch
sonst die Leviten gelesen hatte:
Gib mir ein anderes Mittel, wenn du kannst. Ein solches hilft mir nichts. Denn ich gehöre nicht zu denen, die sich in ihrem Unglück an fremdem Elend freuen. Biswei-len schmerzt mich anderer Leute Unglück mehr als das eigene. (ebd.: 65)
Natürlich ist der Dialog inszeniert und in Wirklichkeit ein Selbstgespräch, ein Verstän-
digungsversuch zwischen dem Melancholiker Petrarca und seinem anti-melancholischen
Alter ego. So gelesen erscheint das Secretum als Melancholie-Analyse und Melancholie-
Maschine zugleich, denn das Nachdenken über sich selbst mit verteilten Rollen führt nicht
aus der Schwermut heraus, sondern – wie bei Burton – immer tiefer in sie hinein. ›Francis-
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
17
cus‹ wird nicht geheilt, vielmehr wird er durch die offenkundige Borniertheit ›Augustins‹
so weit melancholisiert, daß er das Gespräch mit der rhetorischen Floskel abbricht: »So
will ich die Waffen niederlegen, ehe ich völlig geschlagen werde« (ebd.: 74). Dieser Satz
ist tief ironisch – Augustin hat wenige Zeilen zuvor seine stoische Kapitulation unter-
schrieben – und ehrlich zugleich, denn die Niederlage des Alter ego macht auch jenen Sieg
Petrarcas über sich selbst und seine Disposition unmöglich, dem er nachtrauert, ohne ihn je
wirklich gewollt zu haben.
Petrarcas Grunderfahrung ist eine des Scheiterns großer Hoffnungen und des Absturzes
in die Uneigentlichkeit – »Du klagst, nicht dir selbst gelebt zu haben.« Dieser Abfall des
Ich von seinem Ideal, an dem es sich gleichwohl weiter mißt, manifestiert sich in Ohn-
machts- und Überforderungserlebnissen, die aber erst dann aufbrechen, wenn verinnerlich-
te religiöse oder ideologische Melancholieverbote ihre Unverletzlichkeit verlieren. Diese
Situation ist im Secretum eingetreten, und Petrarca reagiert auf seine Inauthentizität auf so
authentische Art und Weise, daß Melancholie trotz der sie belastenden theologischen ace-
dia-Tradition und ihrer weiter virulenten medizinischen Pathologisierung zum Signum des
humanistischen Intellektuellen aufrückt und als der Preis, der für die Freiheit des Geistes
zu entrichten ist, gleichsam nobilitiert wird.
Der Adelsbrief wird ihr knapp eineinhalb Jahrhunderte später von Marsilio Ficino, dem
führenden Kopf der Florentiner Akademie, ausgestellt. Seine 1489 erschienene Schrift De
triplici vita, deren außergewöhnliche Breitenwirkung an Übersetzungen ins Italienische,
Französische, Deutsche sowie an den nahezu dreißig Nachdrucken bis zur Mitte des 17.
Jahrhunderts abzulesen ist, greift dabei auf den Ansatz der pseudo-Aristotelischen Proble-
mata zurück, den sie ausbaut und erneut mit dem hippokratisch-galenischen Erbe zu ver-
söhnen sucht.
Im Kontext des ersten Buches »De vita sana« räumt das sechste Kapitel dabei kompro-
mißlos mit allen Vorbehalten gegenüber einer – allerdings kontrollierten – Schwarzgallig-
keit des Gelehrten auf, die geradezu als Synonym intellektueller Kompetenz und Inkarnati-
on des Forschungsdrangs erscheint. Das melancholische Gemüt wird von Ficino aufgewer-
tet zu einem ›Instrument der göttlichen Dinge‹,
da von so es erfult wirt von oben herabe durch gotliche influß und gespreche, er-dencket es alwegen etlich nuwe und ongebruchte ding und verkunnth kunfftige ding. (Benesch 1977: 202)
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
18
Es ermöglicht demnach nicht nur Entdeckungen und eine wissenschaftliche Prognostik,
sondern verleiht auch das notwendige Beharrungsvermögen – »duth es forschen hefftiglich
und behart lenger in der Forschung« (ebd.) – und die Fähigkeit zur richtigen Zentrierung
und Fokussierung der philosophischen Wißbegier:
[Schwartzgall] begert alwegen das centrum aller ding und durchdringt alle ding, die da zu durchdringen sint. Das gemutt ist auch einhellig mit Mercurio und Saturno. Und so Saturnus ist der hochste under allen andern planeten, furte er den menschen, der heymlich ding erforscht, zu den aller hochsten dingen. Und da von erwachsent die sonderlichen großen philosophi. (ebd.)
Angesichts solcher Wirkungen ist es nicht verwunderlich, daß der Autor empfiehlt, die
Melancholie »zu suchen und zu neren, als die allerbest«, was aber wie bereits bei Aristote-
les nicht ein Sichausliefern an beliebige, also auch pathogene Erscheinungsformen meint,
sondern im Gegenteil Moderation, Temperierung und Kultivierung einer der Wissenschaft
allein zuträglichen ›Ausgeglichenheit‹.
Die Risikofaktoren liegen auf der Hand; sie resultieren nach Ficino zum einen aus der
physischen Untätigkeit, die die Kontemplation erzwingt und die Körper und Geist mit ei-
ner »schlymig feuchtigkeit« verseucht, dem Phlegma, das die Vernunft lähmt und »be-
dempfft«. Zum anderen besteht bei allzu sorglosem Umgang mit der Melancholie und dem
sie begleitenden ungezügelten Wissensdurst auch die Gefahr der Selbstvergiftung, denn –
so die Paraphrase D. Beneschs –
die Feuchtigkeit im Gehirn und die natürliche Wärme im Herzen werden durch gei-stige Anstrengung verbraucht. Die Folge ist, daß das Gehirn ›kalt und trocken‹ wird [...] Das Blut wird ebenfalls ›kalt und trocken‹: einmal, weil neuer spiritus aus dem ›subtilsten und klarsten‹ Teil des Blutes nachproduziert werden muß und zum zwei-ten, weil Magen und Leber überlastet werden durch die Produktion des Blutes. Sie vermögen die Speisen nur noch unzulänglich [zu] ›kochen‹ und [zu] verwerten, wo-durch ebenfalls kaltes, dickes und schwarzes Blut in der Leber entsteht. (ebd.: 53)
Die Melancholieproduktion ›entgleist‹ durch diese verhängnisvolle Rückkoppelung, die
Selbstüberforderung des Forschers endet in der Depression; statt die Erkenntnis der ›höch-
sten Dinge‹ voranzutreiben, verliert sich das jetzt »forchtsam gemute« in »innerlich fin-
sterkeit«, in »trurigkeit und schrecken« (ebd.: 197).
Wenngleich sich die physiologischen bzw. psychosomatischen Erklärungsversuche Fi-
cinos im folgenden durch die Einführung der »verbrendt melancoli«, d.h. des überlieferten
Konzepts einer aus der »Entzündung« eines beliebigen Körpersafts entstehenden melan-
cholischen Verschlackung (cholera adusta), weiter komplizieren, wird doch aus der Be-
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
19
schreibung des vor sich hinbrütenden und verängstigten Opfers unmittelbar deutlich, wor-
auf die Rekonstruktion von Erkrankungsverläufen ohne Ausnahme hinausläuft, auf Pro-
phylaxe nämlich.
Die schwarze Galle ist wie bei Aristoteles ein Segen, der zum Fluch werden muß, so-
bald der Intellektuelle die Sorgfaltspflicht gegenüber dem eigenen Naturell vernachlässigt
und der entscheidende Körpersaft einem genau definierten Aggregatzustand und einem
ebenso genau vorgegebenen Mischungsverhältnis nicht mehr entspricht. Das Leben des
Humanisten ist deshalb nicht nur ein ständiges Ringen um höheres Wissen, es ist auch ein
steter Kampf um die optimalen leiblich-seelischen Voraussetzungen, um ein – wie man
heute sagen würde – Fließgleichgewicht, bei dem »die schwartzgall [...] zymlich temperirt
[...] und sie so also gemeßigt ist« (ebd.: 200).
Der Erreichung dieses Ziels dient eine ausführliche Diätetik, die etwa das Verhältnis
von Muße und geistiger Anstrengung festlegt, die Nachtarbeit verbietet, von der es heißt,
sie »wydderstrebt der ordenung der gantzen welt« (ebd.: 206), zur körperlichen Sauberkeit
mahnt, von einem Wohnsitz in »schwerer und umnyebelter lufft« abrät, Ernährungsemp-
fehlungen formuliert, auf gelegentliche Abwechslung pocht und überhaupt bei aller zeitge-
bundenen Skurrilität als beachtenswertes Dokument einer Genüssen keineswegs abholden
Mäßigkeit und einer intuitiven Einsicht in die Rahmenbedingungen körperlichen und psy-
chischen Wohlbefindens gelten darf.
Ficino ist Renaissance-Gelehrter; er kennt die philosophischen Autoritäten ebenso gut
wie das Korpus medizinischer Traktate, und er argumentiert entsprechend auf der Höhe
seiner Zeit. Ob er dabei aus der Unmittelbarkeit melancholischer Selbsterfahrung schreibt,
ist im Gegensatz zu Petrarca kaum mit letzter Sicherheit auszumachen. Denn wenn er auch
in einem Brief an Giovanni Cavalcanti sein melancholisches Temperament beklagt, das
ihm als »etwas äußerst bitteres« erscheine, so endet die Einlassung doch mit dem gerade
für De triplici vita aufschlußreichen Satz:
Was soll ich also tun? Ich werde einen Ausweg suchen und entweder sagen, daß die Melancholie, wenn Du so willst, nicht vom Saturn kommt – oder, wenn anders sie notwendig von ihm kommen muß, dann will ich dem Aristoteles beistimmen, der ge-rade sie für eine einzigartige und göttliche Gabe erklärt. (ebd.: 39)
Wer steckt hinter diesem Programm? Ein Melancholiker oder ein sich seiner überlege-
nen Bildung und seiner argumentativen Fähigkeiten nur zu bewußter Intellektueller, der die
Probe aufs Exempel ankündigt und sich bei seinen Umwertungsversuchen ein möglichst
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
20
negativ besetztes Phänomen vornimmt, das der schwarzen Galle und des ihr astrologisch
zugeordneten Saturn nämlich?
Ficino steht für Auskünfte zur Person nicht mehr zur Verfügung. Unbestritten aber ist,
daß dieser Planet im Aszendenten seines Horoskops stand und daß Saturn landläufig als
denkbar ungünstige Einflußgröße galt. Er wurde mit Alter, Behinderung, Kummer, Elend
und Tod assoziiert und prädestinierte als Erdgott die unter seinem Zeichen Geborenen zu
so unattraktiven Existenzen wie denen des Latrinenreinigers, Totengräbers, Krüppels, Bett-
lers oder Verbrechers (vgl. Panofsky 1948: 166). Das ›Sozialprestige‹ entsprach damit
durchaus dem des ›saturnischen‹ Temperaments, des Melancholikers also, der infolge der
Vulgarisierung der acedia-Vorstellung und des Absinkens galenischen Gedankenguts in
der zeitgenössischen Literatur als unleidlicher, von allen möglichen Gebresten heimge-
suchter Asozialer figurierte (vgl. Babb 1951: 9ff.). Der Herausforderungscharakter für ei-
nen Betroffenen wie Ficino bedarf keiner Erläuterung, und er entledigte sich der selbstge-
stellten Aufgabe der Verwandlung eines astrologisch-humoralpathologischen Handicaps in
eine Auszeichnung mit der seinen geistigen Horizont dokumentierenden Bravour. Die De-
monstration der eigenen Kompetenz, der der Ehrgeiz späterer Umwerter so fremd wohl
nicht war, ist gelungen. Aber hinter der glanzvollen Fassade verschwindet die Innenwelt
der Schwermut, der das Privileg des Bildungsadels notwendig so äußerlich bleibt wie alle
anderen Wertzuweisungen auch.
Es sind zwei Kunstwerke des 16. Jahrhunderts, die dieses bei Ficino verheimlichte In-
nen auf eine bergende und ganz unexhibitionistische Art enthüllen und Melancholie damit
auf nie wieder erreichte unvergleichliche Weise einsichtig machen: Albrecht Dürers 1514
entstandener Stich Melencolia I und William Shakespeares wahrscheinlich um 1599 abge-
faßter Hamlet.
Dürer hat die vita contemplativa innerhalb eines Jahres in zwei atmosphärisch höchst
unterschiedlichen Arbeiten verbildlicht, nämlich in der Melancholia und einem weiteren
der sogenannten Meisterstiche: Hieronymus im Gehäus. Während der Mönch Hieronymus
in einem lichtdurchfluteten Raum seinen Studien obliegt und offenbar mit sich und der
Welt im reinen ist, suggeriert die nächtlich-düstere Szenerie der Melencolia I eine tiefe
Disharmonie und Zerfallenheit.
Die Menetekel am Himmel – Fledermaus, Mondbogen und Komet – signalisieren ein
heraufziehendes Unheil, dessen lähmender Schatten schon über der Landschaft liegt; eine
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
21
Art Ruhe vor dem Sturm hat sich breitgemacht, jene falsche Idylle, die Katastrophen zu
präludieren pflegt und mit der das Kommende gemeinhin seine eigene Unausweichlichkeit
annonciert.
Die drei Figuren im Vordergrund verhalten sich zu solchen bösen Omina auf je ganz ei-
genartige und doch repräsentative Manier. Da ist zunächst die ›animalische‹ Reaktion des
Hundes, ein schon gänzlich entkräftetes, apathisches Sichfügen in das Unabänderliche, ein
Sicheinrollen, Verdösen und Hinüberdämmern, das viele jener Züge trägt, die die Volks-
meinung mit der zur pigritia vergröberten und verdumpften Melancholie in Verbindung
brachte. Dann findet sich als zweite Variante die mürrisch-eingefahrene ›business as usu-
al‹-Haltung des auf seinem Mahl- oder Schleifstein hockenden Putto, der den Griffel nicht
aus der Hand legt und seine Kalkulation nicht aus den Augen verliert, komme, was da wol-
le.
Hund und Putte veranschaulichen und karikieren so gleichsam eine mißverstandene ver-
tierte und eine nicht zu sich selbst kommende, in ihren Kinderschuhen steckengebliebene
infantile Schwermut, von der sich die das Bild dominierende Frauengestalt als Inkarnation
der wahren Melancholie deutlich absetzt.
Diese Figur ist zunächst einmal Auge, dessen Weiß aus dem im Schatten liegenden Ge-
sicht hervorsticht und hervorspringt. Der Blick ist jedoch nicht wie bei dem ›fachidioti-
schen‹ Engelchen auf das Nächstliegende, die zu bewältigende Aufgabe, gerichtet, sondern
über den Bildrand hinaus in die Ferne und auf das noch Entfernte. Weitblick im buchstäb-
lichen Sinne also, der gekoppelt ist mit einer zur Lethargie des Hundes und den Scheu-
klappen des Putto in schärfstem Kontrast stehenden ›Überwachheit‹ (Panofsky).
Melancholia befindet sich in einem Zustand äußerster intellektueller Anspannung und
Konzentration, der gleichwohl keine praktischen Konsequenzen zeitigt, sondern gerade
zum Abbruch aller schöpferischen Tätigkeiten geführt hat. Ist die Nachsinnende doch na-
hezu eingekreist von auf dem Boden verstreuten und achtlos aus der Hand gelegten Utensi-
lien wie Nägeln, Hammer, Hobel, Säge, Zange, Profilholz und Schmelztiegel, aus dem
noch die Flammen schlagen. Wie die Holzkugel und der polyedrische Block sind diese
Werkzeuge dem Zimmermannshandwerk und der Baukunst zugeordnet, und die im Hin-
tergrund an das Gebäude gelehnte Leiter läßt ahnen, daß die Aufgabe, der sie sich noch vor
kurzem widmete, keineswegs abgeschlossen ist. Trotzdem scheint sie unwillig, sie wieder
aufzunehmen, denn die Attraktivität des Zweckhaften, Konstruktiven und Nützlichen ist
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
22
verblaßt angesichts dessen, was der Titelfigur unmittelbar vor Augen steht, der Bildbe-
trachter aber gerade nicht sieht, sondern nur über die Rückspiegelung in ihrer Person und
Umgebung zu erschließen vermag.
Die Sanduhr neben dem Planetensiegel und magischen Quadrat, in dem sich auch das
Todesdatum von Dürers Mutter, der 16.5.1514, verbirgt, läuft. Etwas nähert sich, rückt
heran, unaufhaltsam, übermächtig. Etwas, das alles entwertet und zunichte macht, worin
menschliches Ingenium, technische Erfindungsgabe und Schaffenskraft eben noch ihren
ganzen Stolz gesetzt hatten. Und die Vernunft der Melancholia sieht und weiß.
Ohnmächtig wie ein Hund, hilflos wie das Lockenköpfchen, dem die eigene ›kindische‹
Geschäftigkeit immerhin noch barmherzig die Augen verschließt, besitzt sie doch das
schärfste Bewußtsein eben ihrer Ohnmacht und Hilflosigkeit, eines Ausgeliefertseins, das
der bis an die Grenze seines Leistungsvermögens beanspruchte Geist nicht nur nicht wen-
det, sondern im Gegenteil nur immer noch plastischer, noch konturierter, noch unabweis-
barer hervortreten läßt.
Diese Nichtigkeitserfahrung spricht aus dem Blick der Melancholia wie aus der geball-
ten Faust, die den Kopf stützt. Aber in den Augen ist auch noch etwas anderes, ein Ab-
glanz von Stolz nämlich – Stolz darüber, das Denken zu Ende gedacht zu haben, seine
Niederlage, sein prinzipielles Scheiternmüssen eingestehen, einsehen zu können und damit
dem Vegetieren des Kreatürlichen und dem hochrechnenden Zweckoptimismus engstirni-
gen Spezialistentums entronnen zu sein.
So ein Entkommener, der von seiner Umwelt als verkommener behandelt und ausge-
grenzt wird, ist auch Hamlet – eine literarische Figur, mit der Shakespeare das auf der zeit-
genössischen Bühne längst installierte Melancholikerstereotyp zugleich aufgreift und radi-
kal durchbricht.
Denn Hamlet spielt die zum Klischee erstarrten Rollen vom ›melancholy lover‹ und
›melancholy scholar‹ bis zum ›malcontent‹, um sich, seine existentielle Melancholie und
seine Rachepläne hinter solchen Masken zu verbergen, verfängt sich aber zusehends in
seinen Inszenierungen, verirrt sich und verliert sich in dem von ihm selbst angelegten La-
byrinth von Identitäten, die ihn sozial definieren und die er doch niemals ist.
Wie bei Petrarca angedeutet, erscheint Melancholie auch in Shakespeares Tragödie als
grundlos und als den angeblich sicheren Grund von Welt und innerweltlicher Aktion auflö-
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
23
send. Der Mord an Hamlets Vater und das quasi inzestuöse Verhältnis des Mörders zu sei-
ner Mutter verwandeln Hamlet nicht urplötzlich in einen Schwermütigen, sondern aktivie-
ren als zwei von Petrarcas »tausend Gründen« nur eine Disposition, die sich auch anders-
wie, wenngleich vielleicht schleichender, durchgesetzt hätte. Hamlet verweist angesichts
des Vorwurfs, seine maßlose Trauer um den Vater sei unecht, zu Recht auf diese Anlage:
»But I have that within which passes show« (I, ii, 85). Und er beschreibt wenig später im
Gespräch mit Rosencrantz und Guildenstern die melancholische Umpolung und Negativie-
rung seines Welterlebens, den Absturz aus Renaissance-Optimismus und -Humanisus mit
den Worten:
This goodly frame the earth seems to me a sterile promontory, this most excellent canopy the air, look you, this brave o’erhanging firmament, this majestical roof fret-ted with golden fire, why, it appeareth nothing to me but a foul and pestilent congre-gation of vapours. What a piece of work is a man, how noble in reason, how infinite in faculties, in form and moving how express and admirable, in action how like an angel, in apprehension how like a god: the beauty of the world, the paragon of ani-mals – and yet, to me, what is this quintessence of dust? Man delights not me. (II, ii, 298ff.)
Die Beschwörung der verlorenen Illusionen, in die sich Hamlet hier zweimal mit rheto-
rischer Autosuggestion zurückzureden versucht, scheitert am Veto des schwarzgalligen
Skeptizismus, der alle Solidität unterwühlt und unterhöhlt und neben der Ordnung der Na-
tur auch den Wertkosmos des Protagonisten zum Einsturz bringt.
Um den Racheauftrag des Geistes, der im übrigen auch durch den zeitgenössisch gülti-
gen Moralkodex sanktioniert wird, überhaupt noch ›guten Gewissens‹ in die Tat umsetzen
zu können, benötigt Hamlet zweierlei, nämlich erstens einen unumstößlichen Schuldbe-
weis und zweitens einen Letztwert, der die Vergeltung ebenso unzweifelhaft postuliert wie
legitimiert.
Die Tatsächlichkeit des Mordes, und um die Identifikation auch nur einer feststehenden
Tatsache geht es im melancholischen Globalkollaps, kann durch eine Geistererscheinung,
die nach Hamlet jederzeit im Verdacht steht, Höllenspuk, also halluzinatorisch und fiktiv
zu sein, nicht zweifelsfrei belegt werden. Glaubhaft ist nur ein Geständnis des Täters, das
Hamlet aber paradoxerweise mittels einer Theateraufführung, also einer Bühnenfiktion,
herbeiführt, die das Faktum der – wortlosen – Königsreaktion von vornherein infiziert, d.h.
erneut interpretationsbedürftig und zumindest tendenziell mehrdeutig werden läßt.
Hamlet führt die Zersetzung dieses ›Datums‹ in Analogie zur Infragestellung der an ihn
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
24
gerichteten Botschaft aus dem Reich der Toten nicht mehr vor; aber nicht, weil er sich bei
ihm beruhigen könnte, sondern weil die Wahrheitsfindung in bezug auf den Mord längst
zweitrangig geworden ist gegenüber dem moralischen Begründungsdilemma, in dem er
sich befindet. Was nützt mit anderen Worten selbst die felsenfeste Gewißheit, daß sein
Onkel und jetziger Stiefvater ein Mörder, seine Mutter dessen Komplizin ist, solange die
ethischen Normen und Werte, die die Vergeltung rechtfertigen, ihrerseits nicht als zwei-
felsfrei gewiß, sondern als rechtfertigungsbedürftig erscheinen.
Möglicherweise nämlich sind sie nichts als Einbildungen, über die sich Menschen in
Aktion hineinsteigern, so wie sich der Schauspieler, den Hamlet um eine Probe seiner
Kunst bittet, in der Rezitation von Erdichtetem selbst zu Tränen rührt und auf diese Weise
demonstriert, wie Unwirkliches Wirkungen zeitigt:
Is it not monstrous that this player here, But in a fiction, in a dream of passion, Could force his soul so to his own conceit That from her working all his visage wann'd, Tears in his eyes, distraction in his aspect, A broken voice, and his whole function suiting With forms to his conceit? And all for nothing!
(II, ii, 545ff. )
Und ist diese Monstrosität einer Selbstanstachelung durch Fiktionen, einer Animation
für nichts und wieder nichts, so räsoniert Hamlet weiter, nicht durchgängiges Merkmal
unseres Willens zur Tat? Rennen wir nicht Hirngespinsten hinterher, Wertmärchen von
Anstand oder Ruhm und Ehre, wie jener Tatmensch Fortinbras, der am Ende des Stücks
die Herrschaft über Dänemark antritt und dessen Vorbildlichkeit und Größe doch nur darin
besteht, daß er es fertigbringt, für die ›Eierschale‹ militärischen Triumphs in Polen einzu-
fallen und diesem Ziel Tausende von Menschenleben zu opfern:
[…] to my shame I see The imminent death of twenty thousand men That, for a fantasy and trick of fame, Go to their graves like beds, fight for a plot Whereon the numbers cannot try the cause, Which is not tomb enough and continent To hide the slain? (IV iv, 59ff.)
Und bleibt der Wert der ›Loyalität‹, an den das Kanonenfutter glaubt, nicht genauso
irrwitzig wie die ›hehre‹ Motivation seines Feldherrn? Und korrumpieren die Leichenberge
derjenigen, die für ein jeweils ›höchstes Gut‹ zu sterben bereit waren, nicht gerade die
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
25
Normen, denen sie folgten, statt sie zu heiligen?
So gerät Hamlet in einen Sumpf von Fragwürdigkeiten, in dem auch die ethische Vor-
bildlichkeit und Unbedenklichkeit seiner Vergeltung und Rache versinkt. Wenn zwanzig-
tausend Tote einer Handlung keinen Wert verleihen, wie soll ein abgestochener König
dann die moralische Integrität seines Stiefsohns wiederherstellen, dessen Person schon
längst so in Rollen zerfasert ist, daß jeder Versuch, aus einer davon herauszuschlüpfen, in
einer anderen endet, und dessen Verhaltensideale zerfressen werden von der Einsicht:
Rightly to be great Is not to stir without great argument But greatly to find quarrel in a straw When honour's at the stake (IV, iv, 53ff.)
Deshalb handelt Hamlet ebensowenig wie Dürers Melancholia, und was noch den An-
schein der Aktion besitzt, sind im Wortsinn Unüberlegtheiten wie der Mord an Polonius
oder durch den Gang der Ereignisse, dem er nicht steuern will, erzwungene Reflexe. Aller-
dings wäre es ein grobes Mißverständnis, diese Handlungsblockade auch nur in die Nähe
der Apathie zu rücken, ist sie doch – in erneuter Parallele zu Dürer – Resultat beispielloser
intellektueller Agilität, einer Überreflektiertheit, die nicht nur ständig Fakten in Fiktionen
auflöst, Wertzuweisungen skeptisch unterläuft und annulliert, sondern sich dabei auch
noch selbst beobachtet und das auf den Begriff bringt, was sie tut und was sie immer wei-
ter von jeder Tat entfernt:
And thus the native hue of resolution Is sicklied o’er with the pale cast of thought, And enterprises of great pitch and moment With this regard their currents turn awry And lose the name of action. (III, i, 84ff.)
Aus dem Mahlstrom melancholischen Nachdenkens zieht sich niemand an den eigenen
Haaren heraus, aus seinem Sog gelangt keiner mehr ans feste Ufer der Dogmen, Selbstver-
ständlichkeiten und blutdurchtränkten absoluten Wahrheiten. Der sterbende Hamlet, dem
nach eigenem Bekunden das Gift schon die Sinne trübt, gibt seine Stimme dem ›realitäts-
tüchtigen‹ Fortinbras und prophezeit seine Wahl zum König; der lebende hätte zu keinem
Zeitpunkt mit der Blindheit dieses Glücksritters getauscht, der, wo er geht und steht, Be-
gräbnisse mit allen militärischen Ehren veranstalten läßt.
Wem die schwarze Galle hochsteigt, mit dem ist – jedenfalls im Fleische – aber auch
andersherum für einen Fortinbras kein Staat mehr zu machen, denn seine Begeisterungsfä-
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
26
higkeit, sein Opferwille, seine Bereitschaft zum bedingungslosen Gehorsam gegenüber
Menschen und Idealen sind unwiederbringlich dahin. Und eben solche generelle ›Untaug-
lichkeit‹ des Melancholikers erklärt, warum in der Geschichte der Schwermut nur sporadi-
sche Kapitel die Handschrift von Sympathisanten tragen, der Wust der einschlägigen Aus-
lassungen aber von um das Gemeinwohl besorgten Exorzisten stammt.
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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3. ROSSKUREN GEGEN DIE SCHWERMUT
Die schwarze Galle ist – so ließe sich humoralpathologisches Gedankengut aktualisieren –
die Schlacke des Enthusiasmus, die Asche jener Flächenbrände, zu denen lodernde Begei-
sterungsfähigkeit sich regelmäßig auswächst und deren Abfolge die überlebenden Hitzköp-
fe und die Brandstifter von morgen als Weltgeschichte in ehrendem Andenken halten.
An ihrer Anciennität ist schon deshalb nicht zu zweifeln, weil mit dem ersten Triumph
auch die erste Niederlage, mit der Euphorie des Siegers auch die Enttäuschung und Melan-
cholie des Besiegten in die Welt kam, in der der Schattenzwilling aber nie wohlgelitten
war, denn der Umgang mit Geplünderten und ihren nachschwelenden Seelen gereicht den
neuen Herren nicht zur Ehre und ist der kampfesstolzen Vorfreude auf die nächste Erobe-
rung nicht förderlich.
So könnte einen, gäbe es den Anschauungsunterricht der ›großen‹ Historie nicht, schon
die Binnengeschichte der Melancholie melancholisch werden lassen angesichts jenes un-
ermüdlichen Verkleinerns, Verkennens, Verunglimpfens und Verketzerns, das in ihr den
Ton angibt.
Über Zeiträume, in denen Zivilisationen entstehen und verschwinden, Weltreiche die
Saat der Gewalt ausbringen und ihren Hunnensturm ernten, Erlöser geboren und ihr letzter
Priester verscharrt wird, hört das Kesseltreiben gegen die Schwermut nicht auf. Und es
sind keineswegs Einzelkämpfer, die diesen Feldzug führen, es ist eine unheilige Allianz
von Medizinern, Theologen und Philosophen ansonsten höchst unterschiedlicher Couleur,
die sich zum Zweck der Pathologisierung und Diabolisierung des Melancholikers zusam-
mengefunden haben.
Melancholie ist ihnen allen das ganz andere ihrer selbst, den Gläubigen die gottlose
Verzweiflung, den Heilenden das chronische Siechtum, den Geistreichen der Ungeist, der
wider Vernunft, Fortschritt und Freiheit löckt. Immer geht es damit im Kampf gegen das
Kranke auch um den Beweis der eigenen Gesundheit und Normalität, der sich am ehesten
in der Überwältigung und Reformation des Widerparts, in der Auslöschung seiner Gegen-
bildlichkeit erbringen läßt.
Dazu ist jedes Mittel recht. Und wie die Wahrheit bekanntlich stets obsiegt, so können
sich auch die Legionen der Gottesfurcht und die Kohorten des Äskulap zum Erfolg ihrer
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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Kampagnen gegen Trübsinn und Kopfhängerei immer nur selbst gratulieren.
Ihre Triumphe sind endlos, während die Melancholie von Niederlage zu Niederlage
taumelt und – sich in jeder einzelnen erkennt und wiedergebiert.
3.1. Die ärztliche Kunst
In die von einem Pharmakonzern finanzierte Anthologie zum Thema sind dezente Hinwei-
se auf drei hauseigene Medikamente eingelegt, von denen eins als »sedierend, antidepres-
siv, vegetativ stabilisierend in einem«, das andere als »unerreicht in seiner thymoleptischen
Wirkung« angepriesen und dem dritten bescheinigt wird, es befreie von Hemmung und
Depression (vgl. Oeschger 1965). Insbesondere die enthemmende Wirkung glaubt man den
Produzenten aufs Wort, die ihre chemische Konterbande auf Abendhimmelblau zwischen
Montaigne und der Marquise du Deffand, zwischen Leopardi und Schopenhauer an den
Mann zu bringen wissen, und zwar mit der unausgesprochenen Versicherung, daß sich nur
jene den Kopf über ihre Melancholie zerbrechen, die der Segnungen von Insidon, Tofranil
und Pertofran noch nicht teilhaftig werden konnten.
Nun kann man dem hochmütigen Professionalismus von Pillendrehern, die sich etwas
darauf einbilden, die Schwermut ihres klaren Verstandes beraubt zu haben, sicher nicht
energisch genug entgegentreten, und ein Kritiker wie Hans Sattes hat fraglos recht, wenn
er schreibt:
Seelische Bedrängnisse kann man nicht materiell, chemisch, d.h. medikamentös in Form von Tranquillizern beseitigen. Die oberflächliche Gelassenheit, die Indolenz und die Gleichgültigkeit, die durch entsprechende Medikamente hervorgerufen wer-den können, haben mit einer echten Beruhigung natürlich nichts zu tun. Die flüchtige Verdeckung der Lebensangst, die Entschärfung eines Konflikts, indem man medika-mentös nur den Blick für die Schärfe verdunkelt, bleiben untauglich zur Lösung aller seelischen Probleme, die mit ihrer Melancholie das Wesen des Menschen und das Leben erst ausmachen. (Sattes 1974: 4)
Nur ist die hier praktizierte Methode, die die »melancholische Nachdenklichkeit [...]
entwürdigt, ihrer Funktion beraubt und als Neurose gleichsam ab[schiebt]« (ebd.), keine
Erfindung unserer Gegenwart, sondern von Anbeginn Bestandteil des Arsenals medizini-
scher Bewältigungstechniken.
Denn immer schon war Melancholie für die ärztliche Kunst eine eindeutige Krankheits-
erscheinung, die folglich den Heilungsauftrag implizierte, und immer schon war die Be-
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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handlung mit Gefährdungserlebnissen auch für den Behandelnden, mit der Infragestellung
seiner diagnostischen und therapeutischen Fähigkeiten verbunden, so daß mit der Schwer-
mut zugleich der latente Zweifel an der eigenen Kompetenz auskuriert werden mußte.
Man lasse sich in diesem Zusammenhang von abwertenden Äußerungen über die »me-
dikamentösen Absurditäten mit ihren Laxantia, mit dem uralten Helleborus niger, der
schwarzen Nieswurz« (Schipperges 1967: 732) sowie über die generelle Unwissenheit der
antiken und mittelalterlichen Praktiker nicht irre machen. Die moderni mit ihren »Versu-
chen zur indirekten Bewertung der Nor-Adrenalinhypothese«, ihren »endokrinologischen
Erfahrungen bei Zyklothymien« und den Untersuchungen zur »Glukosetoleranz bei Me-
lancholie« – alles Beitragstitel zu dem Sammelband Melancholie in Forschung, Klinik und
Behandlung – gleichen ihren Vorgängern nicht nur in ihrer Vorliebe für massierte Irrele-
vanz, sondern treten auch in manch anderer Hinsicht unbekümmert fortschrittlich mit Ga-
len und Constantinus Africanus auf der Stelle.
Dabei beginnt die Anmutung des Altbekannten schon bei den ätiologischen Beschrei-
bungsmodellen, denn in jedem Fall ist etwas aus dem Lot und aus den Fugen geraten, das
wieder eingerenkt oder neu justiert werden muß. Früher betraf solche Normabweichung
das Mischungsverhältnis der Körpersäfte, wobei der Patient dann an einem Übermaß
schwarzer Galle laborierte, oder aber der Verdauungsvorgang schien gestört bzw. unter-
brochen. Nach dieser Vorstellung können im Magen, im Darmtrakt, aber auch in der Milz
und anderen nach vormoderner Lehrmeinung mit der Nahrungsverwertung befaßten Orga-
nen unverdaute Speisereste übrigbleiben, die sich zersetzen und in Fäulnis übergehen, wo-
bei sich Dämpfe und Gase entwickeln. Diese etwa im England des 18. Jahrhunderts gras-
sierenden und mit dem ›Spleen‹ in enger Verbindung stehenden ›vapours‹ steigen als hy-
pochondrische Dünste zu Kopf und umnebeln das Gehirn, das sich folglich mit Wahnvor-
stellungen, unbegründeten Ängsten und anderen Trugbildern anreichert, die den Geist ver-
düstern.
Neben der Anschaulichkeit solcher Saft- und Rauchmetaphorik nehmen sich aktuelle
Erklärungsversuche seltsam blutleer aus, wenngleich auch sie dasselbe Muster reproduzie-
ren. Denn wieder ist es eine Störung – diesmal des ›Stoffwechsels‹, zu dem sich das alte
Zusammenspiel der humores gemausert hat –, die es zu beseitigen gilt. Obschon dem wis-
senschaftlichen Vernehmen nach nunmehr »Verschiebungen im Hormonhaushalt, insbe-
sondere der Nebennierenrinde und Schilddrüse« (Schulte/Mende 1969: 230) auftreten und
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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auch »Veränderungen in der Bilanz der biogenen Amine« (ebd.) zu konstatieren sind, rea-
giert der Spezialist unserer Tage ganz wie jener hippokratische Halbschamane, mit dem er
nichts mehr zu tun haben will: Er führt nach Tellenbach ein »neues Gleichgewicht« herbei,
indem er zum einen – allerdings psychopharmakologisch statt diätetisch – in körperliche
Regelkreise eingreift und zum anderen »pathogene Situationen, aus deren endotroper Wir-
kungsmacht die Melancholien als endo-kosmogene Abwandlungen jeweils hervorgehen«
(Tellenbach 1976: 192), saniert.
Neben dem geradezu archaischen Vertrauen in Wortmagie und fachterminologischen
Beschwörungszauber, von dem die angeführten Zitate durchdrungen sind, belegt auch der
Begriff der ›Sanierung‹ die ungebrochene Kontinuität medizinischer Sichtweisen.
Schwermut gilt als eine Geisteskrankheit, von der der Arzt den Melancholiker zu befreien
hat; und es ist in diesem Zusammenhang höchst sekundär, ob er die daraus resultierende
Vorgehensweise mit der Diagnose einer endogenen Psychose rechtfertigt oder wie im spä-
ten 11. Jahrhundert der aus arabischen Quellen schöpfende Constantinus auf Kephalose
und Hypochondria verfällt und von der Speicherung getrübter spiritus spirituales im Ven-
trikelsystem mit anschließender Schädigung der virtus digestiva ausgeht, um die Unum-
gänglichkeit der vorgeschlagenen medizinischen Maßnahme vor Augen zu führen.
Nur wer krank ist, bedarf des Arztes. Und eben bei dieser Banalität beginnen die
Schwierigkeiten der Heilkunst mit der Melancholie, die sie ganz selbstverständlich dem
Zwang zur Gesundung unterwirft, obwohl sie bis heute über kein klar umgrenztes Krank-
heitsbild verfügt und obwohl der angebliche Patient gar nicht genesen will. Diese Konstel-
lation erklärt das, was oben Gefährdungserlebnis hieß, und es ist nur zu plausibel, daß die
Medizin kein ungestörtes Verhältnis zu einem Phänomen entwickeln konnte, das ihr a prio-
ri als pathologisch gilt, wobei sie die ›Krankheit‹ weder definieren noch auf die Kooperati-
on des ›Erkrankten‹ rechnen kann.
Auch die befremdliche Heterogenität des medizinischen Melancholiekonzepts hält sich
dabei historisch durch. Und es ist keineswegs so, daß das 20. Jahrhundert die Begriffskon-
fusion der Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit endlich überwunden und besei-
tigt hätte. Jede diesbezügliche Äußerung wie etwa die Feststellung Jean Starobinskis:
Dès l'instant où les anciens constataient une crainte et une tristesse persistante, le dia-gnostic leur paraissait assuré: aux yeux de la science moderne, ils confondaient de la sorte des dépressions endogènes, des dépressions réactionelles, des schizophrénies, des névroses anxieuses, des paranoïas, etc. (Starobinski 1960: 9)
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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ist schönfärberisch und tut den Tatsachen Gewalt an, wie schon ein flüchtiger Blick in ein
modernes Standardwerk wie das Tellenbachs belegt.
Dort findet sich nämlich gegen Ende der Monographie eine »Gliederung endogener Me-
lancholien«, die von »situationsunspezifischen Melancholien« über »Melancholien im Ver-
lauf schizophrener Psychosen«, »Gestationsmelancholien«, »Melancholien bei Hochdruck,
Cerebralsklerose, Hirnkrankheiten« bis zu »Umzugs- und Entlastungsmelancholien« (Tel-
lenbach 1976: 77) ein nur mühsam kaschiertes Sammelsurium der unterschiedlichsten psy-
chischen Normabweichungen auflistet, die trotz des Anspruchs auf klinische Systematik
wohl wenig mehr verbindet als die vom Autor in der Nomenklatur durchgehaltene Be-
griffskonstanz.
Angesichts solcher Defizite erscheinen die klassifikatorischen Leistungen beispielswei-
se der Renaissance-Medizin als durchaus ebenbürtig, zumal hier szientifische Camouflage-
Techniken noch ganz unzulänglich ausgebildet sind und es an der Willkür der Zuordnun-
gen wenig zu deuteln gibt:
Some authorities use the term melancholy in referring to mental diseases due to adust humours; others, however, call the same diseases mania, or madness. There is, in-deed, no discoverable line of distinction in the old psychiatry between melancholy and madness. The difference, if any, is one of degree. Next to melancholy and mad-ness, the mental maladies most often discussed in medieval and Renaissance medical works are amor (the lover’s melancholy), lycanthropia (the wolf madness), hydro-phobia, the falling sickness (epilepsy), and frenzy. The lover’s malady and the wolf madness [...] are usually considered species of melancholy. Hydrophobia and epi-lepsy are sometimes characterized as melancholic diseases, and occasionally frenzy is attributed to adust humors. It looks somewhat as if melancholy embraces all irra-tionality, for there is hardly a mental disease which is not associated with melan-cholic humors by one author or another. (Babb 1951: 36)
Aus dieser Bestandsaufnahme schließt Lawrence Babb: »Clearly the melancholic cate-
gory is very indefinitely bounded« (ebd.), und entdeckt dabei den Tatbestand der Diffusität
des Melancholiekonzepts neu – ein Faktum, aus dem aber die Theoretiker des 16., 17. und
18. Jahrhunderts im Gegensatz zu ihren modernen Nachfahren nie ein Hehl gemacht ha-
ben. Vielmehr zelebriert etwa Robert Burton die kategoriale Entgrenzung in seiner Vorre-
de:
For indeed who is not a fool, melancholy, mad? - Qui nil molitur inepte, who is not brain-sick? Folly, melancholy, madness, are but one disease, delirium is a common name to all. [...] All the world is melancholy. (Burton 1903 I: 39/38)
Und noch der schottische Arzt George Cheyne, der 1733 mit The English Malady ein auch
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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für das kontinentale Englandbild folgenreiches Traktat über »spleen, vapours, lowness of
spirits, hypochondriacal, and hysterical distempers« vorlegt, weist auf den ›proteischen
Charakter‹ seines Untersuchungsgegenstandes hin. Zu dessen Erscheinungsbild führt er
aus: »The Symptoms are many, various, changeable, shifting from one Place to another,
and imitating the Symptoms of almost every other Distemper« (Cheyne 1976: 135) und gibt
seinen Adressaten die Warnung mit auf den Weg: »The Reader is neither here to expect
Accuracy nor Certainty« (ebd.).
Zu solcher herzerfrischenden Offenheit mag sich die Heilkunst unserer Tage schon lan-
ge nicht mehr aufraffen, obwohl die Kluft zwischen der »Reichhaltigkeit der beobachteten
Phänomene und der Armseligkeit des definitorischen Instrumentariums« (Schipperges
1967: 723) nach wie vor weiterbesteht und nicht nur jene ›älteren Texte‹ charakterisiert,
auf die Schipperges seine Feststellung begrenzt sehen möchte.
Bliebe die Frage, warum die Heilkunde die Melancholie nicht in den Griff bekommt
und die Buntheit der bis heute diesem Terminus subsumierten Erscheinungen nicht ihrem
analytischen Habitus gemäß in besser zu handhabende Teilbereiche auflöst. Die Antwort
kann nur lauten, daß ihr an einer – an sich unbequemen und irritierenden – Heterogenität
gelegen ist, weil sie etwas weitaus Irritierenderes verwischt und unter einer Lawine im
Grunde beliebiger Abnormitäten begräbt, jene wahre und kerngesunde Schwermut näm-
lich, die kein Heil und keine Heilung mehr kennt und deshalb das Selbstverständnis des
Heilenden auf das unwiderruflichste zerrütten müßte:
Der Begriff der Melancholie wurde auf alle kommensurablen Formen der Traurigkeit [und des abweichenden Welterlebens, U.H.] ausgedehnt, um die inkommensurable, in ihrer Andersartigkeit beharrliche und unversöhnliche Trauer zu verdecken, sie gleichsam in einer Menge von Pseudo-Melancholien verschwinden zu lassen und ihr so ihre Andersartigkeit zu nehmen. (Ricke 1981: 31)
Das unkonturierte medizinische Krankheitsbild der ›Melancholie‹ ist also Produkt einer
Abwehrreaktion, die Schwermut mit Geistesstörungen und -krankheiten vergesellschaftet,
um sich ihrem subversiven Einfluß zu entziehen, die sie hospitalisiert, um nicht zum Hos-
pitieren verführt zu werden. Da die Gefahr des Zuhörens aber beim therapeutischen Ge-
spräch mit dem Patienten ständig auftritt, muß er um jeden Preis mundtot gemacht und für
mitteilungsunfähig und uneinsichtig erklärt werden.
Die Methode, auf die die Medizin verfallen ist, um sich verläßlich gegenüber der Wi-
derrede der Melancholie zu verstocken, besteht nun darin, dem Melancholiker ständig sei-
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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ne eigene Verstocktheit vorzuhalten, wobei die Kontinuität der Sicht- und Behandlungs-
weisen hier auch von modernen Fachvertretern nicht geleugnet wird.
Nach medizinischem Dafürhalten ist die Melancholie ein entmündigendes Leiden. Der
Patient gesteht sich nicht ein, daß er krank ist, und er will sich folglich auch vom behan-
delnden Arzt nicht helfen lassen. Burton, der sich als Melancholiker so oft im feindlichen
Lager der Schulmedizin aufgehalten und von dort Bericht erstattet hat, führt entsprechend
aus:
In all other maladies we seek for help; if a leg or an arm ache, through any distem-perature or wound, or that we have an ordinary disease, above all things whatsoever we desire help & health, a present recovery, if by any means possible it may be pro-cured [...] but to a melancholy man nothing so tedious, nothing so odious; that which they so carefully seek to preserve he abhors, he alone. (Burton 1903 I: 499)
Diese Unvereinbarkeit zwischen schwermütigem Beharrungswillen und dem Sanierungs-
streben des Arztes wird nun endlich, um nicht erneut Zweifeln an der Richtigkeit der Zu-
schreibung Nahrung zu geben, zum Bestandteil des Symptomkomplexes erklärt und als
»Unzugänglichkeit des Melancholikers gegen Zuspruch und Trost«, als »Störung der trans-
zendentalen Konstitution« (Binswanger 1960: 18) oder »Krankheitsuneinsichtigkeit« (Reu-
ter 1962: 382) auf der diagnostischen Habenseite verbucht. Die Einkreisung ist damit
komplett. Das entmündigte Gegenüber bestätigt mit jedem Protest gegen seine Bevormun-
dung deren Berechtigung und Notwendigkeit.
Wird die Verweigerung des zu Behandelnden hier gleichsam zum Siegel seiner Krank-
heitserklärung, so zielt die Kur auf Brechung dieses Widerstandes, und sie tut das – gegen
die landläufige Humanisierungsthese – seit mehreren Jahrhunderten mit immer rabiateren
Methoden. Die Therapiegeschichte der Melancholie ist folglich keine des Abbaus, sondern
eine der Steigerung der Behandlungsvirulenz, wobei der erste Schritt zur Besserung para-
doxerweise dann konstatierbar ist, wenn der Patient sich krank zu fühlen beginnt, d.h. die
Diagnose des Arztes akzeptiert.
Während die antike und mittelalterliche Medizin – wohl auch mangels geeigneter In-
strumentarien – auf sanfte Behandlungsformen setzt, die im wesentlichen wie noch die
Diätetik Ficinos eine fehlerhafte Lebensweise zu reformieren suchen und mit Bewegung,
Luftveränderung, musikalischer Unterhaltung arbeiten, ist seit der Renaissance nicht nur
ein plötzlicher Prestigegewinn des Intellektuellenleidens der Schwarzgalligkeit zu ver-
zeichnen, sondern auch eine analoge, allerdings phasenverschobene Eskalation der medizi-
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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nischen Interventionsbereitschaft.
Neben den pharmazeutischen Mitteln der ›alteratives‹, die die schwarze Galle durch
Verdünnung, Befeuchtung und Erwärmung entgiften, und den ›comfortatives‹, die den
Patienten aufmuntern sollen, werden nach Applikation sogenannter ›preparatives‹ zuneh-
mend auch ›unsanfte‹ Behandlungstechniken wie Purgation, Aderlaß oder gar chirurgische
Eingriffe empfohlen, bei denen man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, sie dienten
angesichts der Renitenz des Melancholikers eher der Erzeugung eines Krankheits- und
Leidensdrucks als der medizinischen Rehabilitation.
So berichtet Burton von Brenneisen, die auf die Schädelnaht aufgesetzt wurden, oder
vom Durchbohren des Schädelknochens, um die melancholischen Dämpfe und Dünste
entweichen zu lassen. Und selbst der äußerst zurückhaltende Cheyne hat gegen Brechmittel
und Opiate keine Bedenken. Von den Exzessen der Psychiatrie des 18. und 19. Jahrhun-
derts, die eine qualitativ neue Dimension der Pathologisierung markieren, sind solche
Formen medizinischer Körperverletzung allerdings noch weit entfernt, denn sie werden
zum einen von dauernden Appellen zur Vorsicht und Mäßigung begleitet, zum anderen
fehlt ihnen jener Grundzug des Sadismus, den der Medizinhistoriker Starobinski bei den
Autoritäten der folgenden Periode konstatiert.
Dabei haben die Patienten nur höchst selten das Glück, Stellvertreter für die sadistische
Zuwendung ihrer Psychiater zu finden wie bei jenem Katzenklavier, das Philippe Pinel
1816 in seinem Melancholie-Artikel für die Encyclopédie méthodique beschreibt und das
die Musiktherapie vergangener Tage in grotesk-tierquälerischer Weise persifliert:
Les chats étaient choisis d’après la gamme, et mis en rang avec la queue tournée en arrière. Des marteaux garnis de clous pointus pouvaient s’abattre sur ces queues, et le chat ainsi atteint émettait sa note. Lorsqu’on jouait une fugue sur cet instrument, et surtout si le malade était placé de façon à ne rien perdre de la physionomie et des grimaces de ces animaux, la femme de Loth elle-même eut été tirée de sa rigidité et rendue à la raison. (Starobinski 1960: 60)
Normalerweise nämlich sind es nicht die voces brutorum, von denen die Anstalten wi-
derhallen, sondern die Schreie der Internierten selbst. Wo die ›elementaren‹ Disziplinie-
rungsinstrumente des Hungers, des Durstes und der Schläge nicht mehr ausreichen, taucht
man sie fast bis zum Ertrinken in eiskalte Bäder oder stellt sie unter Duschen, über deren
Wirkung ein zeitgenössischer Beobachter folgendermaßen Auskunft gibt:
Le réservoir de liquide était élevé de 10 pieds au dessus de sa tête; l'eau était à dix
Ulrich Horstmann, Der lange Schatten der Melancholie
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degrés au-dessous de la température atmosphérique; la colonne d’eau avait quatre lig-nes de diamètre et tombait directement sur sa tête; il lui semblait à chaque instant qu’une colonne de glace venait se briser sur cette partie: la douleur était très aiguë lorsque la chute de l’eau avait lieu sur la suture fronto-pariétale [...] la tête resta com-me engourdie plus d’une heure après la douche. (ebd.: 64)
Eine derartige, ›Hydrotherapie‹ genannte Tortur ließ noch Raum für die Anwendung
anderer ›klassischer‹ Remeduren, also Niesmittel, Hautschnitte, Verbrennungen, Zugpfla-
ster, Ansteckung mit Krätze (ebd.: 62), oder für das Hantieren mit glühenden Eisen, die
dem Melancholiker allerdings nur noch einen kleinen Vorgeschmack – »un léger avant-
goût« – auf die medizinische ultima ratio vermitteln sollten.
Diese sonderbare Art auskurierender Vernunft, die offenbar verrannter und derangierter
ist als die der Mehrzahl ihrer Opfer, brachte nach Abklingen ihrer Wassersucht noch die
Drehmaschine hervor, die dem Kranken seine Halsstarrigkeit aus dem Leib pirouettierte,
dann den Magnetismus, den Hypnotismus, die ›Faradisierung‹ des Schwermütigen, darauf
seine Ätherisierung und Chloroformierung und schließlich – nach Versuchen mit Ha-
schisch, Opium und anderen Drogen – seine bis zum heutigen Tag praktizierte pharmako-
therapeutische Depersonalisation.
Sie ist als scheinbar violenzfreie Behandlungsform in Wirklichkeit die radikalste Vari-
ante medizinischer Freiheitsberaubung, eine chemische Zwangjacke, die nicht mehr nur
physisch ruhigstellt, sondern die Entkernung des Ich gestattet. Mit dem Einsatz der Psy-
chopharmaka ist das Ziel ärztlicher Bemühungen, nämlich den Melancholiker zunächst
krank zu machen, damit er dann gesund gepflegt werden kann, in greifbare Nähe gerückt.
Denn während die Vorläufermethoden nur extern angriffen und den Schwermütigen allen-
falls dazu veranlassen konnten, seine Schwermut zu verheimlichen und zu verbergen, setzt
eine zeitgemäße Medikation im Kopf selbst an und bewirkt ein tiefes Koma des melancho-
lischen Selbstbewußtseins. Insidon, Tofranil und Pertofran sind so geeignet, jedes lebendi-
ge Gedankenkonvolut, zwischen dessen Seiten sie sich einnisten, ganz und gar unleserlich
zu machen und zu zerfressen, weshalb ihre Hersteller mit feinem Gespür für die Anregung
der Nachfrage und einem Bruchteil des erwirtschafteten Profits Textsammlungen über die
Schwermut subventionieren.
3.2. Das göttliche Heil
Was die Medizin und ihre Zulieferindustrie chemisch zersetzt und verätzt, war auch für das
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