Download - Detlef H. Rost: Handbuch Intelligenz. Weinheim und Basel: Beltz, 2013, 655 Seiten, gebunden € 68.-, ISBN 978-3-621-28044-0

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Rezension

Kundige werden staunen, wenn sie nach wenigen Jahren schon wieder und noch dazu mit einem schier monumentalen Werk des Autors über Intelligenz konfrontiert sind. Im Vor-wort erfahren sie die Begründung: Nach der überwältigenden Vielzahl einschlägiger For-schungsberichte seit dem Erscheinen von Intelligenz. Fakten und Mythen (Rost 2009 und 2010) wäre ein neuerlicher Nachdruck nicht angemessen gewesen. Autor und Verlag ent-schieden sich daher dafür, eine gründliche Neubearbeitung, verbunden mit einer beträcht-lichen Steigerung des Umfangs (von 450 auf 650 Seiten), als Handbuch auf den Markt zu bringen. Die nach wie vor gegebene Attraktivität des Themas und seiner mehr und leider auch minder seriösen Darstellungen1 liefert dafür ohne Zweifel die Berechtigung.

Viele mögen ein Herausgeberteam als für ein Handbuch dieses Umfangs verantwort-lich erwarten. Detlef H. Rost ist erfahren2 und selbstbewusst3 genug, um sich dafür auch allein als ausreichend kompetent einzuschätzen und für den gesamten Text die Autorschaft zu übernehmen. Verweise auf mehr als zwei Dutzend eigene Arbeiten im Text belegen, dass er damit nicht zu hoch gestochen hat. Seit vielen Jahren ist Rost als Gewährsmann beim Thema Intelligenz nicht zu umgehen.

Die Rezension eines Handbuchs birgt – abgesehen von dem enormen Aufwand einer genauen Auseinandersetzung – allerlei Tücken, auch wenn diese durch die Beschränkung auf einen Autor als reduziert erscheinen mögen. Ich möchte mich meiner Aufgabe anhand einer Liste von Merkmalen guter Handbücher nähern, die ich im Folgenden aufführe:

Gute Handbücher

● repräsentieren ihren Gegenstand umfassend, und zwar hinsichtlich

– der inhaltlichen Facetten, – der Varianten der in der Zunft gewählten formalen (z. B. wissenschaftstheoreti-

schen) Zugänge,

Z f Bildungsforsch (2014) 4:81–85DOI 10.1007/s35834-013-0083-3

Online publiziert: 20.11.2013© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Univ.-Prof. i.R. Mag. Dr. J. Thonhauser ()Akademiestraße 26, 5020 Salzburg, ÖsterreichE-Mail: [email protected]

Detlef H. Rost: Handbuch Intelligenz. Weinheim und Basel: Beltz, 2013, 655 Seiten, gebunden € 68.-, ISBN 978-3-621-28044-0

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– einer angemessenen Berücksichtigung seiner wissenschaftsgeschichtlichen Dimension;

● stellen ihren Gegenstand

– aktuell, auf der Höhe der Zeit dar, wofür der ausgewiesene Referenzrahmen ein wichtiger Indikator ist,

– hinsichtlich alternativer bzw. (nach Ansicht des Autors) strittiger Sichtweisen aus-gewogen dar;

● sind sprachlich gut verständlich, terminologisch korrekt und (trotzdem) anregend; ● verfügen über eine übersichtliche, möglichst vollständige (d. h. keinen wesentlichen

Aspekt aussparende), für Leserinnen und Leser gut nachvollziehbare und akzeptable Struktur (die nicht ein stetes Verlangen nach einer für besser gehaltenen Alternative provoziert);

● bieten (benutzerfreundliche) Hilfen für einen effizienten Gebrauch.

1 Repräsentanz des Gegenstandes

Das Handbuch dokumentiert sehr genau die langfristigen Bemühungen um eine zumin-dest brauchbare, wo nicht gültige Definition des Begriffs. Dabei nehmen die „alterna-tiven“ Theorien entstammenden Vorschläge (S. 109–195) etwa den gleichen Raum ein wie die der „traditionellen“ Theorien (S. 39–107). Die gewählten Bezeichnungen für die unterschiedlichen Theorien kündigen bereits die kritische Auseinandersetzung mit ihren unterschiedlichen methodologischen Zugängen an, wobei Leserinnen und Leser, die den Autor nicht kennen, dessen kritische Konnotationen bei „alternativ“ kaum ahnen können. Eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Intelligenzforschung in einem eigenen Abschnitt unterbleibt, integriert finden sich jedoch historische Aspekte in vielen Kapiteln.

2 Aktualität

Rost gehört zu jenen Wissenschaftlern, denen es nicht um vordergründige Popularität und schon gar nicht um ungeteilte Sympathien geht. Dem steht sein auch in diesem Buch zu Tage tretendes Temperament entgegen. Die Aktualität des Handbuchs kann man ihm jedoch keinesfalls streitig machen. Auf vielen Seiten zeigt er, wie intensiv und vielseitig er in den vergangenen Jahr(zehnt)en mit dem Thema befasst war – von der erstaunlich umfangreichen Rezeption der Fachliteratur (beinahe 30 Seiten stark ist das Verzeichnis der herangezogenen internationalen Literatur) bis zur Verfolgung des öffentlichen Dis-kurses in den Medien.

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3 Ausgewogenheit

Das Bemühen um Ausgewogenheit in der Darstellung alternativer bzw. (nach Ansicht des Autors) strittiger Sichtweisen entspricht hingegen nicht Rosts Temperament. Ab der ersten Seite des Vorworts macht er den Leserinnen und Lesern klar, über welchen Weg er wissenschaftlichen Fortschritt erwartet und wann er einen solchen gefährdet sieht. Sein Paradigma ist die kritisch-rationale, theoriegeleitete empirische Forschung (das „mühe-volle Bohren dicker Bretter“) – und nicht spekulativ entwickelte Konzepte, mögen sie (z. B. für mehr oder weniger betroffene Laien) als noch so attraktiv erscheinen und daher mühelos Verbreitung finden. Am deutlichsten wird das bei Rosts Darstellung „alterna-tiver“ Theorien (S. 109 ff.), obwohl solche fallweise auch von renommierten Psycho-logen als grundsätzlich interessant und weiterführend eingeschätzt werden4. Der Aufbau der fünf Abschnitte ließe zunächst eine sachliche, möglichst emotionsfreie Beschreibung erwarten, bevor in einem zweiten Abschnitt die Kritik folgt. Allein die Wortwahl (bunt-gemischtes Sammelsurium, fruchtlos, wenig Neues, vorschnelle Propagierung, seicht, Kaugummi-Definition, Eintopf-Spielart, usw.) verrät an vielen Stellen, wann sich Rost zu einem polemischen Umgang mit den Vorlagen provoziert fühlt und rasch mit negati-ven Urteilen bei der Hand ist. Ob das immer angebracht ist und er damit Leserinnen und Leser auf seine Seite zieht, soll dahingestellt bleiben. Den Erwartungen an ein klassisches Handbuch entspricht er damit kaum.

Rost nimmt hingegen ohne weiteres in Kauf, selbst da und dort als „erzkonservativ“ (vgl. S. 7) verschrien zu werden. Zum Beispiel, wenn er um Gerechtigkeit für den wegen Datenfälschungen vielfach inkriminierten Sir Cyrill Burt (Kasten S. 66) oder für den wegen seiner (in „Deutschland schafft sich ab“ getroffenen) Aussagen über die Vererb-barkeit der Intelligenz vehement angegriffenen Thilo Sarrazin (vgl. S. 8) wirbt. Auch mit seiner uneingeschränkten Wertschätzung von Hans-Jürgen Eysenck (S. 7 und passim) dürfte sich Rost selbst unter Psychologen nicht nur Freunde machen – was ihn, wie ich ihn kenne, allerdings nicht stören dürfte.5 Ebenso wenig ungeteilte Zustimmung dürfte er mit der sarkastisch-witzigen Begründung ernten, warum er es ablehnt, dem zunehmenden Anteil von Frauen unter der (adressierten) Leserschaft mit „politisch korrekten“ Formu-lierungen Rechnung zu tragen (vgl. S. 9).

4 Struktur

Rost hat keinen Anlass gesehen für das Handbuch die „bewährte Gliederung des Vor-gängerbuches“ zu ändern (S. 9). Ein kritischer Blick auf das Inhaltsverzeichnis wird ihm Recht geben. Rost liefert – nach einleitenden Bemerkungen – zunächst allgemeine (theo-retische) Grundlagen für eine Auseinandersetzung mit dem Thema (Kap. 2 und 3), bevor er differenzielle Aspekte, darunter Hochbegabung, Einflüsse von Geschlecht und sozio-ökonomischem Status, Ergebnisse der Gehirnforschung, Genetik, Veränderbarkeit der Intelligenz u.a.m. behandelt (Kap. 4 bis 8). Die Beschränkung auf das Arbeitsgedächtnis im Abschnitt über die Zusammenhänge von Gedächtnis und Intelligenz (S. 240 ff.) mag zunächst überraschen, wird jedoch mit der Lektüre plausibel. Hingegen erstaunt – zumal

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in einem Handbuch –, dass Rost, obwohl er mehrfach auf Gedächtnistheorien zu sprechen kommt, Eric Kandel und seine grundlegenden einschlägigen Arbeiten unerwähnt lässt.

Die reichhaltigen Anmerkungen werden zugunsten des Leseflusses an das jeweilige Kapitelende verbannt, ihre (empfehlenswerte) Nutzung somit der Verantwortung der Leser/innen anheimgestellt. Eine Präferenz für das jeweilige Seitenende mag zwar bei manchen Leserinnen und Lesern gegeben, aber kaum als in jeder Hinsicht bessere Alter-native zu begründen sein. Die (z. T. sehr kritischen) Zusammenfassungen in den grau hinterlegten Kästen dürften hingegen auf alle Fälle willkommen sein.

5 Qualität der sprachlichen Darstellung

Rost schreibt auch in diesem Handbuch in klarer, gut verständlicher Sprache. Da er sich – im Unterschied zu einer von ihm skeptisch betrachteten Ratgeber-Literatur – an ein fachlich vorgebildetes Publikum wendet, zögert er nicht, auch dann Fachterminologie bzw. (z. B. im Zusammenhang mit empirischen Forschungsmethoden) die eingeführten Symbole zu verwenden, wenn er gewärtig sein müsste, dass diese nicht allen legitimen Interessenten gleich geläufig wie ihm selbst sind. Vor den Preis eines vollständigen Lektü-re-Ertrags hat Rost – trotz allen amüsanten Einsprengseln – jedenfalls auch den Schweiß gesetzt. Sein Ziel ist ja nicht die Popularisierung des Intelligenzbegriffs, sondern die evidenzbasierte Versachlichung des wissenschaftlichen Diskurses unter den Leuten, die dafür kompetent sind bzw. sein sollten. Diesem Ziel hätte es nach meiner Ansicht nicht widersprochen, in entsprechenden inhaltlichen Zusammenhängen öfter, als der Autor das (z. B. auf Seite 47) getan hat, beispielhafte Aufgaben (ggf. mit Kommentar) – quasi als „anregende Zusätze“ – aufzunehmen.

6 Benutzerfreundlichkeit

An die Benützer/innen hat der Autor wohl auch bei den bereits erwähnten Kästen und beim ausführlichen Stichwortverzeichnis (S. 635–655) gedacht. Auf ein (beim Nach-schlagen fallweise auch nützliches) Personenregister hat man hingegen verzichtet.

Resümee. Das vorliegende Handbuch entspricht zwar insgesamt eher einer Monogra-phie.6 Sein Ziel hat der Autor jedoch ohne Zweifel erreicht: ein umfassendes, grund-legendes, wissenschaftlich fundiertes Werk vorzulegen, das all jenen helfen kann, die in ernsthafter Auseinandersetzung über das komplexe Thema Intelligenz mit seinen vielfäl-tigen politischen Implikationen mehr Klarheit gewinnen wollen. Wie viele das sind wird der Verkaufserfolg zeigen.

Josef Thonhauser

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Anmerkungen

1 Der Autor macht wiederholt seinem Ärger darüber Luft, dass sich Laien – z. T. mit großen Namen (z. B. Angela Merkel oder Sigmar Gabriel [Anm. 8, S. 36] – sehr zweifelhaft, wenn auch ungeniert, über Intelligenz äußern.

2 Vgl. das von Detlef H. Rost herausgegebene, in mehreren Auflagen vorliegende Handbuch Pädagogische Psychologie.

3 Der auf dem Cover mit lediglich den drei Wörtern Rost Handbuch Intelligenz auffallend kurze Buchtitel mag dafür ein Indiz sein.

4 Zum Beispiel – wenn auch durchaus nicht unkritisch – Sternbergs Theorie der Emotionalen Intelligenz in der Beurteilung von Julius Kuhl (Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie. Göt-tingen u. a.: Hogrefe 2010, S. 333 ff.). Dabei überraschte mich, dass Kuhl und Rost – trotz gegebener Anlässe bei beiden – einander völlig ignorieren.

5 Eysenck sah sich wiederholt dem Vorwurf der political incorrectness ausgesetzt, wenn er es wagte, auf die Bedeutung genetischer Einflüsse auf Intelligenz und Persönlichkeit hinzuweisen (vgl. J. Kuhl, a. a. O. S. 138 f.). Ich selbst habe 1984 im Rahmen eines Otto-Glöckel-Sym-posiums in Wien miterlebt, wie Eysenck nach einem auf Einladung gehaltenen Vortrag von fanatischen „Milieutheoretikern“ niedergeschrien wurde.

6 Auf das vorliegende Handbuch trifft sehr genau zu, was in Brockhaus‘ 24-bändiger Enzyklo-pädie, Band 15, Mannheim 1991, über Monographie steht: „eine in sich abgeschlossene wis-senschaftliche Abhandlung über einen begrenzten Gegenstand mit dem Ziel einer möglichst gründlichen Analyse und Beurteilung, in Form einer Einzelschrift (Buch) veröffentlicht.“