01/10/12 Kritische Theorie & USA: Herbert Marcuse als CIA-Agent - taz.de
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01 10 201208.02.2011 3 Kommentare
Der Kalte Krieg ist vorbei; die Aktenschränke öffnen sich. Am
reizvollsten lesen sich noch immer Geheimdienstgeschichten. Im
Gefolge von 9/11 wurde vor allem die CIA zum Objekt voyeuristischer
Begierde. Wer sie für das inkarnierte "Reich des Bösen" hält, kann
sich, mit ihrer Entstehungsgeschichte konfrontiert, nur wundern.
Dieses Überraschungsmoment nutzt Tim B. Müller geschickt, um das
Interesse seiner Leser auf die geheimdienstlichen Aktivitäten Herbert
Marcuses und seines Freundes Franz Neumann in den Vierzigerjahren
zu lenken. Auf dem Höhepunkt von 1968 hatte die
parteikommunistische Presse, kolportiert vom Spiegel, Herbert
Marcuse als CIA-Agenten denunziert, spekulierend auf die allgemeine
Ahnungslosigkeit. Wer wusste damals schon, dass die Gründung der
amerikanischen Geheimdienste ein War Effort war, um den kaum
bekannten Feinden Deutschland und Japan Paroli bieten zu können?
Auch von den Wissenschaftlern wurde ein Beitrag zur Kriegsführung
verlangt. Viele meldeten sich freiwillig, um der Regierung ihr Wissen
zur Verfügung zu stellen. Progressive amerikanische
Sozialwissenschaftler hatten sich schon vorher mit dem New Deal
Roosevelts verbündet, um die USA aus der Existenzkrise von 1929 zu
ziehen. Viele trafen sich nach 1941 in Washington DC, wieder, um das
Office for Strategic Services aufzubauen. Nach der Auflösung dieses
ersten US-Geheimdienstes 1945 kehrten einige an die Universität
zurück, andere wurden 1947 zum Aufbau der CIA herangezogen oder
fanden Unterschlupf im immer noch liberalen State Department. Sie
wurden nun neben Hollywood ein bevorzugtes Hassobjekt McCarthys.
Die deutschen Emigranten Herbert Marcuse und Franz Neumann
waren immer dabei. Die Gerüchte überlebten sie. Noch 1999
behaupteten Allen Weinstein und Alexander Vassilev, Neumann sei ein
KGB-Maulwurf gewesen, auch die FAZ stellte es so dar. Von diesem
geheimdienstlichen Haut gout zehrt auch der spannende erste Teil
dieses Buches, das ein eigenes hätte werden können. Müller arbeitet
die Geheimdienst-Papiere der Research & Analysis Branch (R&A) auf,
die schon zum Teil als Herbert Marcuses "Feindanalysen" publiziert
wurden. Aber Müller stellt Marcuses Texte in Zusammenhang mit den
Arbeiten seiner Freunde in der Abteilung, Stuart Hughes, Hans
Meyerhoff und Carl Schorske, die bisher nur Spezialisten bekannt
waren. Auf diese Weise erhält man ein lebendiges Bild der recht
genauen Deutschland- und Mitteleuropavorstellungen, die für die
psychologische Kriegführung wie für die Nachkriegspolitik den US-
amerikanischen Administrationen zur Verfügung standen.
Müller möchte nun den Übergang der Wissenschaft im Dienste der
Geheimdienste in die akademische Wissenschaft, finanziert vom
philanthropisch-politischen Komplex der großen Stiftungen, aufzeigen.
Die institutionellen Verflechtungen von Rockefeller Foundation,
Eliteuniversitäten und Regierung in der Ära des Mc Carthyismus, die es
Marcuse ermöglichte mit Rußlandforschungen vom State Department
in die Columbia University überzuwechseln, lesen sich spannend wie
KRITISCHE THEORIE & USA
Herbert Marcuse als CIA-Agent
VON DETLEV CLAUSSEN
Lange hielt sich das Gerücht von Herbert Marcuse als CIA-Agent.
Tim B. Müllers "Krieger und Gelehrte" erzählt die Geschichte
von Linksintellektuellen und Geheimdiensten neu.
Bild: dpaAuf dem Höhepunkt von 1968 hatte die parteikommunistische Presse HerbertMarcuse als CIA-Agenten denunziert.
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01/10/12 Kritische Theorie & USA: Herbert Marcuse als CIA-Agent - taz.de
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ein Krimi. Auch die Diskussionen um das Begreifen des Totalitarismus
erscheinen in einem viel komplexeren Zusammenhang, als
ahnungslose Befürworter und Verächter einer angeblichen
Totalitarismustheorie es sich träumen lassen.
Aber Tim B. Müller wollte mehr. Seine Darstellung ist ambitioniert: Nicht
nur ein neues Marcusebild sollte gezeichnet werden, sondern eine
neue Perspektive, den Kalten Krieg zu verstehen, sollte mithilfe einer
nach Deutschland transferierten "Intellectual History" aufgezeigt
werden. Das akademische Innovationsgebot an Doktorarbeiten und
Habilitationsschriften wird in diesem Buch vielfach übererfüllt und wie
so oft leiden bei Planübererfüllungen Genauigkeit und Qualität. Müller
kann gut schreiben; aber er verwechselt of die Textsorten.
Journalistisches und Erzählerisches werden mit langen Belegen aus
theoretischen Texten und privaten Briefen vermischt. Auch die beste
Intellectual History hat damit zu kämpfen, Theorien in ihrer
Eigenständigkeit zu erfassen, ohne sie im
gesellschaftsgeschichtlichen Kontext zu paraphrasieren. Selbst
Thomas Wheatlands bahnbrechende, leider immer noch nicht
übersetzte Studie der "The Frankfurt School in Exile", hat mit diesem
Problem zu kämpfen, das der "Ideengeschichtler" Tim B. Müller
schlicht verleugnet.
Schon seine Übertragung von Begriffen ins Deutsche verzerrt
absichtsvoll. Weder Marcuse noch Hughes und Schorske waren
"Krieger" und daher auch keine "Kriegskameraden", wie er nicht müde
wird, sie zu nennen, sondern Freunde. Politisch entstammten sie dem
linken, sozialistisch-liberalen Teil der New Dealer, der eben nicht
"sozialdemokratisch" war und ist, während Herbert Marcuse politisch
aus der deutschen Rätebewegung hervorgegangen ist und sein New
Yorker Freund Franz Neumann aus der der linken klassenkämpferisch-
reformistischen Weimarer SPD kam.
Im War Effort fanden sie alle eine gemeinsame antifaschistische
Aktivität. Aber theoretisch divergierten sie; Marcuse und Neumann
waren als Kritische Theoretiker nach Amerika gekommen; sie waren in
einer überindividuellen gemeinsamen Sache mit Max Horkheimer,
Theodor W. Adorno und Leo Löwenthal an der Columbia verbunden
geblieben. Dort, also vor seiner Geheimdienstzeit, ist auch Marcuses
bahnbrechende Arbeit "Some Social Implications of Modern
Technology" ("Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie")
1941 erschienen, in der alle Aspekte, die später in seinen Studien
"Soviet Marxism" ("Die Gesellschaftslehre des sowjetischen
Marxismus") und "One-Dimensional Man" ("Der eindimensionale
Mensch") entfaltet wurden, keimhaft angelegt sind.
Seine Unempfindlichkeit für theoretische Begriffsarbeit lässt Tim B.
Müller bestimmte Sachverhalte verkennen. So fuchtelt er wild mit dem
Ideologiebegriff herum, der in einer kritischen Gesellschaftstheorie eine
genaue Bedeutung hat, in der Alltagssprache nur eine vage. Auch
seine Attribuierungen wie "marxistisch" haben keine Präzision. Die
Kategorie der "immanenten Kritik", ein Kernstück kritischer Theorie,
wird zur verflachten Antragsfloskel. Seine bonmothafte Umformulierung
der "Dialektik der Aufklärung" zu einer geheimdienstwissenschaftlichen
Erkenntniskategorie im Gegensatz zur theoretischen Spekulation ist
eine irreführender Gag. Für Tim B. Müller zählen aber nicht die Worte
und ihr Sinn, sondern die Aktenlage.
Die "Kriegskameradschaft" aus R&A und Auftragsforschung im Kalten
Krieg soll einen engeren Zusammenhang stiften als die
Gemeinsamkeit der Kritischen Theoretiker. Um diese kontrafaktische
Behauptung plausibel erscheinen zu lassen, scheut er sich nicht einen
optimistischen, empirisch guten Marcuse gegen einen
pessimistischen, praxislosen Theoretiker Adorno auszuspielen. Er
behauptet gegen die Tatsachen, Marcuse habe in den 60er Jahren die
Studenten für das neue revolutionäre Subjekt gehalten. Sein
Briefwechsel mit Adorno, den Tim B. Müller als Beleg heranzieht,
spricht eine andere Sprache, die Müller schlicht fehlinterpretiert.
Marcuse und Adorno stritten 1969 um eine gemeinsame "Sache",
nämlich die der Kritischen Theorie, die für eine emanzipatorische
Praxis, das richtige Leben, die Tür offenhalten sollte. Mit Praxis war
hier weder die akademische Lehre noch die Geheimdienstprosa
gemeint, sondern Marxs "Thesen über Feuerbach".
Marcuse wollte noch in den 50er und 60er Jahren mit Horkheimer und
Adorno zusammenarbeiten, egal wo. Seine akademische Existenz in
den USA war gerade, als er weltberühmt geworden war, keineswegs
ungefährdet. Seine Tätigkeit in amerikanischen Institutionen hat
Marcuse keineswegs verherrlicht, sondern sie fand unter der Maxime
statt, "to play the rules of the game, while still maintaining our
intellectual integrity". Herausgearbeitet zu haben, was Marcuse
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Großartiges aus diesen Jobs gemacht hat, das ist Tim B. Müllers
Verdienst. Die in diesem Kontext entstandenen Bücher "Reason and
Revolution" ("Vernunft und Revolution"), "Eros and Civilisation"
("Triebstruktur und Gesellschaft") und "Soviet Marxism" verdienen es,
wieder gelesen zu werden.
Tim B. Müller: "Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die
Denksysteme im Kalten Krieg". Hamburger Edition, Hamburg
2010, 736 Seiten, 35 Euro
Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Hannover.
Von ihm erschien die Adorno-Biographie "Theodor W. Adorno. Ein
letztes Genie"
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LESERKOMMENTARE
Kommentar schreiben >
22.02.2011 09:14 | REBLEK
"Von diesem geheimdienstlichen Haut gout zehrt auch der
spannende erste Teil dieses Buches, das ein eigenes hätte werden
kö ...
11.02.2011 16:30 | UDO WEINRICH
Selbst wenn Marcuse CIA-Agent gewesen wäre: So what? Es ging
damals um die Befreiung Europas vom deutschen Faschismus. Die
...
09.02.2011 15:33 | KATOW
Sehr gut geschriebener Artikel. In der Zeitung muß man es mit der
Präzision der Begriffe auch nicht so genau nehmen, wie in ...
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