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Wien Med Wochenschr (2018) 168 [Suppl 1]:S1–S23https://doi.org/10.1007/s10354-018-0657-8

Die „Kultur-Hygiene“ des Eduard Reich – Ein Rückblick zur100.Wiederkehr seines Todesjahres

Heinz Flamm

Eingegangen: 9. März 2018 / Angenommen: 12. August 2018 / Online publiziert: 4. September 2018© Der/die Autor(en) 2018

Zusammenfassung Entgegen der in der zweitenHälfte des 19. Jahrhunderts steigenden Bedeutungder sich entwickelnden Bakteriologie und der Kennt-nis umweltbedingter chemischer und physikalischerNoxen sieht Eduard Reich als Hauptgrund für die Ent-scheidung zwischen Gesundheit und Krankheit dieFunktionen der „Seele“. Davon seien für das normaleLeben von Bedeutung: „Tugend“ (das ist Gemein-geist, Pflichterfüllung, Selbsterkenntnis), Vernunftzum Erkennen der Zusammenhänge, Sittlichkeit so-wie Nächstenliebe und „Barmherzigkeit“ (sozialesVerhalten). Das Ziel der Hygiene sei somit, das Gutezu fördern und das Böse zu verhindern. Sie bewirktdamit Gesundheit, Tugend und Glück, einerseits fürden ganzen Menschen oder einzelne seiner Organeandererseits auch für die Gesellschaft. Das Endziel derHygiene ist für Reich aber nicht bloß die Erhöhungder Leistungsfähigkeit der Bevölkerung für irgendwel-che ökonomische oder militärische Zwecke, sondernauch die Gesunderhaltung der Seele.Entsprechend den Aufgaben und Zielen der Hygieneteilt Reich diese in vier Gebiete.Die Moralische Hygiene will mit Hilfe von Erziehung,Unterricht und Religion die durch das Gehirn geleite-ten Handlungen, Gemütszustände und Leidenschaf-ten für den Normalzustand regulieren.Die Soziale Hygiene bemüht sich um das Wohl derganzen Bevölkerung. Das betraf zu Reichs Zeit beson-ders Fragen der Arbeit, als deren Grundpfeiler er Mo-ral, Hygiene und Ökonomie erkannt und bearbeitet

Univ.-Prof. Dr. Dr. Heinz FlammML ist ehem. Vorstand desKlinischen Instituts für Hygiene der Universität Wien. Diehier angegebene Adresse ist die Privatanschrift.

Univ.-Prof. Dr. Dr. H. Flamm,ML (�)Martinstraße 7, 3400 Klosterneuburg, Ö[email protected]

hat, und damals wie heute auch die Folgen von Mi-grationen.Die Diätetische Hygiene, wohl die historisch ältesteAufgabe der Gesundheitserhaltung, kümmert sich umdie leiblichen Bedürfnisse des Menschen und den Ge-brauch seiner Organe. Hierfür sind Vernunft und Vor-sicht, Übung und Mäßigung, also Moral und körper-liche Ertüchtigung Voraussetzung. Das Ziel ist nichtnur die Erhaltung der Gesundheit, sondern auch dieErreichung eines hohen Alters in Gesundheit.Die Polizeiliche Hygiene (Gesundheitspolizei) hatdurch Erlass und Sicherung der Einhaltung von Maß-nahmen für die Gesundheit des Volkes zu sorgen. Siemuss mit Barmherzigkeit und Menschenfreundlich-keit vorgehen und, da das Elend ihr ärgster Gegner ist,die falschen Ansichten einer gefühllosen Ökonomieparalysieren. Die Aufgaben der Gesundheitspolizei dereinzelnen Verwaltungsregionen sollen Wohlfahrtsrätemit je einem gesetzgebenden und einem vollziehen-den Teil übernehmen, und zwar je ein Wohlfahrtsratfür Gesundheit, für Erziehung und für Sicherheit.Reichs Auffassung von der Hygiene als Ergebnis derAnwendung von Moral und Nächstenliebe im Lebensowohl jedes Einzelnen als auch der ganzen Gesell-schaft rechtfertigt deren wieder vergessene Bezeich-nung als „Kultur-Hygiene“.

Schlüsselwörter Gesundheit · Seele · Tugend · Barm-herzigkeit · Moral · Ethik

Eduard Reich’s “Hygiene ofCulture”—A retrospective on the occasion of the100th anniversary of his death

Summary In contrary to the developing significanceof the bacteriology and the chemical and physicalnoxious influences of the environment for EduardReich the main cause of decision between health and

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illness are the functions of the “soul”. Componentsof this as important for the normal life are virtue (i. e.solidarity, performance of duty, self-knowledge), goodsense to realize correlations, morality, charity andmercifulness (social behaviour). The goal of the hy-giene therefore is to promote the good and to hinderthe evil, as well for a complete person or only one ofhis organs as for the whole society. The final aim isnot only the improvement of the common efficiencyfor any economic or military purposes but also thepreservation of health of the soul.In accordance to these duties and aims Reich dividesthe hygiene into four parts.The “Moral Hygiene” regulates the activities directedby the brain supported by education, training and re-ligion.The “Social Hygiene” cares for the wealth of the wholepopulation. In Reich’s time, it applied in particularto the labour, the basis for it are moral, hygiene andeconomy, but migration too played a great role.The “Dietetic Hygiene”—the oldest task of the preser-vation of health—cares for the human somatic neces-sities and the use of the organs. Prerequisite for thisare bodily exercise and moderation, hence moral andphysical training. The aim is not only preserving ofthe health but also gaining high age in health.The “Policed Hygiene” (Sanitary Police) has to care forthe observance of reassurances for the public health.It must be done with charity and kindness and has toparalyse a heartless economy as poverty is the worstenemy of health. The duties of the sanitary policein the various districts should be fulfilled by boardsof health, of education and of public safety. Each ofthese boards consists of a legislative and an executivepart.Reich’s concept of the hygiene as result of the appli-cation of moral and charity as well in the lifetime ofeach individual as of the whole society justifies thealready forgotten terminus “Hygiene of Culture”.

Keywords Health · Soul · Virtue · Charity · Moral ·Ethics

Die Hygiene, wie wir sie lernen, lehren und anwen-den, beschäftigt sich im Prinzipmit den von außen aufden Menschen einwirkenden Krankheitsursachen. Ei-ne andere Sicht beschrieb jedoch Eduard Reich 1870für die Gesellschaft der Ärzte in Wien. Für ihn wardie „Hygieine“ [sic! von Hygieia] „die Gesamtheit je-ner Lehren, deren Anwendung die Erhaltung der in-dividuellen und sozialen Gesundheit, der Sittlichkeit,der Zerstörung der Krankheitsursachen und die Ver-edelung des Menschen in physischer wie moralischerBeziehung abzweckt. Es umfasst also der Begriff Hy-gieine weit mehr, als man ehedem unter Diätetik undmedizinischer Polizei verstanden hat. Die Hygieinehat es mit dem ganzen Menschen, wie er als Indivi-duum, in Familie und Gesellschaft sich zeigt, zu tun,

mit seinen Zuständen und Verhältnissen; sie umfasstdemnach die ganze physische und moralische Weltund kommuniziert mit allen Wissenschaften, derenGegenstand die Betrachtung des Menschen und derdiesen umgebenden Welt ist“ [1]. Und „wenn es eineSeele gibt“, so „muss Hygieine des Leibes zuletzt über-einkommenmit Hygieine der Seele, beide müssen ein-ander bedingen, durchdringen, gegenseitig vorausset-zen, im Wesen die nämlichen sein und nur in derForm der Anwendung verschieden“ [2].

Für diesen weit gefassten Begriff der Hygiene wur-de in den 1920er-Jahren der Begriff „Kulturhygiene“gefunden und sogar für Kulturhygienische Ausstellun-gen [3] offiziell verwendet. Reich selbst wurde 1936 ineinem kurzen Gedenkartikel zum 100. Geburtstag [4]zu Recht als „Kulturhygieniker“ bezeichnet. Der Be-griff der Kulturhygiene ging danach wohl deshalb ver-loren, weil das 1931 gegründete Eduard-Reich-Archivdes Deutschen Hygiene-Museums im Zweiten Welt-krieg durch Luftangriffe auf Dresden vernichtet wor-den ist.

Eduard Maria Anton Johann Reich wurde am6. März 1836 in Sternberg in Mähren [heute: Šternberk,CR] als Spross österreichischer handwerklicher Fami-lien geboren. In späteren Jahren schrieb er einmal, er„gehöre nur geistig der deutschen Nation an“, seinBlut sei „das der slawischen Rasse, mit romanischenElementen“ [5]. Reich wurde nach dem Ritus der rö-mischen Kirche getauft, obwohl die Familien nichtbesonders katholisch waren, was Letzteres sich offen-bar auf das spätere Leben Eduard Reichs in seinerHaltung zum Klerus auswirken sollte. Im folgendenJahr zog die Familie nach Olmütz [heute: Olomouz,CR]. Nach Besuch der Trivial- und der Normal-Schuleund des k. k. akademischen Gymnasiums trat Reich indie Stabsschule eines Artillerie-Regiments ein. Nebendem dort mit Eifer und Fleiß gefolgten militärischenUnterricht betrieb er privat chemische Studien undExperimente, noch bevor er „Vorträge über diese herr-liche Wissenschaft gehört hatte“. Das strenge „Korpo-ral-Stocks-Regiment“ veranlasste ihn, der „Soldaterei“den Rücken zu kehren und sich auf das Studium derNatur-Wissenschaften, der Chemie und gesamtenMedizin zu werfen. In den folgenden zehn Semesternstudierte er die Natur- und Heilkunde, „und zwar in*****, ****** und ****“. Diese Anonymisierung wirddurch eine handschriftliche Eintragung im Exemplarder Autobiographie in der Forschungsbibliothek Go-tha als Brünn, Olmütz und Jena aufgelöst, wofür auchdie Anzahlen der Sterne stimmen. Schon im drittenSemester hielt Reich als Assistent des chemischenUniversitäts-Laboratoriums Vorlesungen über „reineund medizinisch-pharmazeutische Chemie, so wieüber Physik in ihrer Anwendung auf Medizin“. Da-rüber schrieb er in seiner Autobiographie stolz: „derachtzehnjährige Jüngling lehrte dreißig- und vierzig-jährigen Männern die vielgeliebte Wissenschaft derChemie und die Physik“ [5–8].

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Abb. 1 Portrait aus Fischer [4]

Bei seinem Studium widmete sich Reich nebender inneren Klinik und der Medizingeschichte „ganzvorzüglich der gesamten Hygieine [sic] mit allen ih-ren medizinischen, naturwissenschaftlichen und po-litisch-moralischen Hilfs- und Neben-Disziplinen“.Unter den Hilfswissenschaften kamen ihm ganz be-sonders die in einem Privatinstitut besuchte Vorträgeüber chemische und mechanische Technologie zu-statten. Seine Rigorosen absolvierte er in den Jahren1856 und 1857. Ganz bescheiden vermerkte Reich, erselbst habe es sich niemals zugetraut, was seine Prüferüber ihn sagten, nämlich, „dass seit mehr als zwanzigJahren kein Candidat vorgekommen sei, der mit soausgezeichnetem Erfolge seine Examina bestandenhabe“.

Im letzten Studiensemester Reichs hatten sich seinebis dahin sorgenfreien Verhältnisse zum Schlechtengeändert. „Bei den anstrengendsten und aufreibends-ten Geistes-Arbeiten“ als Assistent am Physiologisch-chemischen Universitätsinstitut in **** [Jena] mussteer „Hunger und Kälte leiden“. Die unter diesen bö-sen Verhältnisse erlittenen Beeinträchtigungen hätten„den Keim zu einem Psoas-Abszess“ gelegt, an dessenFolgen Reich noch jahrelang leiden sollte.

Zu den äußeren Traumen kam noch, dass für dieBezahlung der Promotionstaxen von fast 150 Talernihm und seinen Eltern das Geld fehlte und sehr reicheVerwandte „in der schmählichsten Weise“ ihre Hilfe

verweigerten. In der größten finanziellen Not kamjedoch Hilfe durch den Buchhändler Ferdinand Enkein Erlangen, der das als Dissertation vorgesehene Ma-nuskript der „Medizinischen Chemie“ um 300 Talerübernahm. So konnte Eduard Reich 1857 zum Doktorder Medizin und Chirurgie promoviert werden. Imfolgenden Jahr erschien sein zweibändiges Lehrbuch„Medicinische Chemie mit Berücksichtigung der ös-terreichischen und preussischen Pharmakopoe“ [9],das er „Seinem hochverehrten Lehrer, Herrn HofratProf. Dr. C. G. Lehmann, als geringfügiges Zeichendankbarer Verehrung und aufrichtiger Hochachtung“widmete. Die „Medizinische Chemie“ wurde übrigensein internationaler Erfolg. So begann Reich seine„hygieinischen, ätiologischen und anthropologischenSchriften herauszugeben“ und in den folgenden Jah-ren an einigen Universitäten „ernsthafte staatswissen-schaftliche, philosophische und historische Studien“zu betreiben. „Immer und überall als konsultierenderArzt und Gewissensrat tätig,“ suchte er „den Zusam-menhang der Physik mit der Moral zu erforschen unddie Angelpunkte einer allgemeinen Anthropologieund Hygieine zu gewinnen“ [5].

Die Beziehungen Reichs zu seinen sozialen Kontak-ten in Jena wurden zunehmend schlechter. Er wur-de, wie er meinte, „von verleumderischen Schuften inder schändlichsten Weise“ angegriffen. Und „Profes-sor *******“ [Carl Gotthelf Lehmann, 1812–1863], war– „so große Verdienste auch um die Wissenschaft ersich erworben hatte“ – „doch so charakter-schwach,dass er den Lügen und Verleumdungen endlich imvollsten Umfang Beachtung schenkte“. Als „Ursacheder niederträchtigen Behandlung“ schien Reich, dasser in seiner „Unschuld die Eitelkeit eines großen Eselsverletzt“ habe.

Im Herbst 1857 verließ Reich Jena, „den Ort sei-ner Qual“, seiner „wahren Höllen-Pein“. Selbst unterglänzendsten Verhältnissen hätte er niemals „in ei-nem so kleinen Neste, welches einem so lächerlichkleinen Klein-Staate [Sachsen-Weimar] angehört, sichakklimatisieren können“.

Nach einer größeren Ferienreise ließ sich Reich inder kurhessischen Universitätsstadt Marburg für zweiJahre nieder. In diesem durch „Engherzigkeit, Rohheitund Kleinlichkeit, sowie die Frömmelei“ Reichs Ent-setzen erregenden „prachtvoll gelegenen, aber halbtatarischen“ Neste lernte er aber auch „sehr gute Leu-te“ kennen, die seinem Verweilen einen Halt gaben.

Im ersten Marburger Jahr widmete sich Reich derAbfassung seines „Lehrbuchs der Allgemeinen Ätiolo-gie und Hygieine“ [10]. Darin stellte er sich die Auf-gabe, „die ätiologisch-hygieinische Wissenschaft zulehren, eine Disziplin, welche als solche bisher nochnicht existierte“, was wohl stimmte. Seine Überlegun-gen werden weiter unten mit späteren Ergänzungendargestellt.

Das „Lehrbuch der Allgemeinen Ätiologie und Hy-gieine“ wurde einerseits „in den Himmel erhoben“,andererseits „in die tiefste Hölle verdammt“. Nach

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seiner eigenen Einschätzung gaben sein jugendlichesAlter und sein „Bestreben, der Hygieine, dieser wahrenGrundlage aller heilenden Kunst und aller menschli-chen Wohlfahrt in den Ländern der deutschen ZungeEingang und Geltung zu verschaffen“ und sie „mitder Lehre von den Ursachen der Krankheit organischzu verschmelzen“ dem Buche ein „eigentümlichesGepräge“. Noch nach Jahren bezeichnete Reich inseiner Autobiographie [6] als Ursache der seinerzeiti-gen „Schmähungen“ seines Werks und insbesonderevon dessen „Verurteilung und Vernichtung in Bayern“einige von ihm als damaliger „jugendlicher Brause-Kopf“ geschriebene „eher unwesentliche und neben-sächliche Ausfälle, welche gegen Pfaffen, Missbräucheetc. gerichtet sind“. Er habe es so hingeschrieben wieseine Überzeugung und sein Herz es ihm befohlenhatten. Aber „allerhand Pfaffen, bezahlte Rezensio-nen-Schreiber, fromme Ärzte und große Esel versuch-ten es, Buch und Verfasser in den Staub zu ziehen“.Jedoch die Richter seines Werks, die „nicht von Lei-denschaft und Vorurteil durchdrungen waren, welchenur das Wesentliche in das Auge fassten und schäbigePrivat-Interessen aus dem Spiele ließen,“ also „reinenHerzens waren“, haben mit Würde und nur mit demVerstand geurteilt. Davon zeugen die Beurteilungen invielen Ländern. Also wieder ein Rundumschlag gegendie vermeintlich Bösen dieser Welt.

Reich war überzeugt, dass ihm in Marburg die Wid-mung des Buchs an Prof. Dr. Carl Vogt (1817–1895)den größten Schaden, ja sogar die Verhinderung ei-ner erwarteten Heirat zugefügt habe. Vogt, ein eifri-ger Vorkämpfer des Materialismus und Anhänger desDarwinismus, hatte sich aktiv in der Revolution von1848 betätigt. Er war Oberst der Gießener Bürgergar-de, wurde ins Frankfurter Vorparlament, in die Deut-sche Nationalversammlung und ins Rumpfparlamentin Stuttgart gewählt, wo er 12 Tage Reichsregent war.Schließlich musste Vogt als einer der letzten Kämpferfür die Volksgrundrechte nach Bern fliehen [11, 12].

Im zweiten Jahr im kurhessischen Marburg begannReich sein Werk über „Nahrungs- und Genussmit-telkunde“ [13]. Diese Arbeit half ihm, die heftigenSchmerzen und prekären Verhältnisse zu ertragen.Als dann im Frühjahr 1859 der Krieg von Österreichgegen Piemont und Frankreich ausbrach, stand Reich„auf der Seite der Franzosen und Italiener“. Er bezich-tigte Österreich, Kurhessen und die angrenzendenLänder und „mikroskopischen Staaten“ einer Dumm-heit, die „Rhinozerossen und Büffeln selbst Schandegemacht“ hätte. Diese Haltung ließ Reich viel Unan-genehmes und Verletzendes erfahren und es erschiender Aufenthalt in Marburg für ihn wie auch „für jedenpolitisch Gesunden geradezu unmöglich“.

1859 entschloss sich also Reich, Marburg zu ver-lassen und nach Göttingen zu übersiedeln. Auch dorthatte er zuerst „eine sehr schwere Zeit“ und „litt au-ßerordentlich“. Dies besserte sich, als ihm von derVerlagshandlung Vandenhœck & Ruprecht für seinbegonnenes Buch ein Vorschuss gewährt worden ist.

Er fand eine gesunde Wohnung. Die sehr freundlicheAufnahme bei den Gelehrten und die Großherzigkeitin der Bevölkerung gaben ihm „neue Lebens-Hoff-nungen“. In der großen Bibliothek kamen ihm dieOberbeamten sehr gefällig entgegen. Doch ein „sehrpfäffisch gesinnter, sehr kleinlicher, beschränkter undseiner freien Richtung sehr feindlich gegenüber ste-hender Unter-Beamter war die Ursache, warum dieBenützung der Bibliothek zuletzt so sehr ihm verleidetwurde“.

Reich hatte schon länger die Absicht, sich derakademischen Laufbahn zuzuwenden. An deutschenUniversitäten verhinderte dies bisher der Mangel annötigen Mitteln für die Taxen wie auch „teils sei-ne [Geistes-]Richtung, teils seine Nationalität, teilsendlich hier und da die Verletzung der Eitelkeit ver-schiedener alter und junger Esel“ (Abb. 1).

So verließ Reich 1860 Göttingen und kam auf einemgroßen Umweg mit vielen Empfehlungen von liebenGöttinger Bekannten nach Bern um sich zu habilitie-ren. In seinem Gesuch an die Hohe Erziehungs-Direk-tion in Bern vom 20. April 1860 drückt er seine Über-zeugung aus, „dass die gesamte Hygieine nicht nurfür den Arzt und Sanitäts-Beamten von der äußerstenNotwendigkeit ist, sondern auch dem Erzieher, Lehrer,Richter u.s.w. tausende von Anhaltepunkten für dasLeben und Wirken bietet, dass daher deren Lesungauf Akademien von sehr großer Bedeutung ist“. In dernächsten Fakultätssitzung berichtet der Dekan, dassDr. Reich in seinen Publikationen „bei jeder Gelegen-heit über die Geistlichen in etwas roher Weise loszieheund sich selbst dadurch dekreditiert habe“. Die medi-zinische Fakultät kam zum Schluss, dass der Aspirantoffenbar „der betreffenden Fächer des medizinischenWissens vollkommen mächtig sein muss“, jedoch fürdie Beurteilung seiner Lehrfähigkeit eine Probevorle-sung zu halten hat. In dieser sprach Reich am 12. Mai1860 über den „Kaffee in hygienischer Beziehung“. Inder Schlussansicht der Fakultät vom 18. Mai wird zwarangegeben, dass der Probevortrag „in gewissen Bezie-hungen Einiges zu wünschen übrig ließ“, damit aberdie Abweisung des eingereichten Gesuchs nicht moti-viert werden könne. Hierauf erteilte der Direktor derErziehung des Kantons Bern Reich am 21. Mai die Ve-nia docendi für die gesamte Hygieine [14].

Als Dozent (Professeur agrégé) erging es Reich wieseinen „die Hygieine französisch lesenden Kollegenund vielen anderen braven Männern, die vor ihnendie Hygieine gelehrt“ hatten, dass sie nämlich fastgar keine Zuhörer bekamen. Die Studenten hättenkaum Interesse selbst für Fächer, die geprüft wur-den. Auch die Professoren, insbesondere diejenigenaus Deutschland, beurteilte Reich sehr negativ. Ne-ben seinem Fach hielt Reich auch Vorlesungen überGeschichte und Enzyklopädie der Medizin und überToxikologie.

Nach der Habilitation zog Reich in eine bessereWohnung im Haus einer ehemaligen Patrizierfamilie.Das rasch gediehene Liebesglück mit der Filia hospi-

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Abb. 2 Manifest an diedeutsche Nation!

talis wurde durch eine „alte Großmutter des Teufels“erfolgreich hintertrieben. Deswegen wechselte Reichim Herbst 1860 seine Unterkunft. Dies verschaffte ihmvielleicht die notwendige Zeit und Ruhe für gestei-gerte politische Aktivität. So hielt er im DeutschenBildungsverein Vorträge über Gesundheitspflege, aberauch über Geschichte und Politik.

Reich als verhinderter Revolutionär

Von seiner großen Sympathie für Deutschland veran-lasst, wollte Reich am liebsten die Vereinigung seinesVaterlandes Mähren mit dem Deutschen Reich, ei-ne Meinung, die er allerdings schon bald [1864] als„unheilvolle Täuschung“ bezeichnete. Doch vorerst

suchte er in der Schweiz für ein von ihm verfasstesRundschreiben mühsam einen Drucker. Im April 1861konnte er endlich in Solothurn sein „Manifest an diedeutsche Nation“ [15]! drucken lassen. Ein Exemplardieses einseitigen, jedoch dichten „Pamphlets“, wiees Reich drei Jahre später [6] bezeichnete, wurde jetzt[2015] durch intensive Bemühungen von Frau Mag.Wilma Buchinger der Österreichischen Nationalbi-bliothek im Staatsarchiv des Kantons Bern gefunden.

Nach der Anrede „Allen deutschen Brüdern Grußund Heil!“ wird über die Sonne der Freiheit ge-schwärmt, die über dem Lande der italienischenLeidensbrüder aufgegangen sei. Dessen heldenmüti-ge Söhne hätten „endlich das Joch zerbrochen undden Anfang zur Befreiung Europas aus den Klau-

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en der Tyrannen und Pfaffen gemacht“. „Indem wirmit ihnen, mit den Ungarn, Polen und Südslavenvereinigt, das vom Weltgerichte tausendfach verur-teilte Haus Habsburg-Lothringen vom Throne werfenund unschädlich machen“ werden die Grundfestendes einheitlichen und freien Deutschland geschaffen,dessen geplante Struktur beschrieben wird. In dieserTonart geht das Schriftstück weiter. Aus der Pflicht, inItalien und Deutschland für die Freiheit zu kämpfen,erwüchse die Notwendigkeit der „Konstituierung derdeutschenWest-Armee“. Zu deren Aufstellung werden„alle waffenfähigen deutschen Vaterlandsfreunde“aufgefordert. Es folgen darauf genaue Angaben, diebis zur Beschreibung der Knöpfe des Waffenrockesgehen. Unterzeichnet ist das datumsfreie Manifestmit „Das General-Direktorium“ (Abb. 2).

Der kurze Berner Polizeibericht [16] stellte fest, dassdas Manifest von einem Dr. Eduard Reich aus Ol-mütz verfasst worden war und dass die vermeintli-che Verbindung und das Generaldirektorium bloß ausihm allein bestehen. „Da diese kleinen Mittel gegen-über der großen Aufgabe ziemlich ungefährlich er-scheinen“, beschränkte sich die Polizei auf die An-drohung einer Landesverweisung im Wiederholungs-fall oder bei politischen Umtrieben. Rückblickend be-zeichnet Reich in seiner Autobiographie „diese ganzeManifest-Geschichte als eine große Torheit“ [6].

Trotz der Abweisung des Wunsches der Österrei-chischen Regierung an die Eidgenossenschaft, die-se möge gerichtliche Erhebungen für eine AnklageReichs wegen Hochverrats anstellen, sah dieser sichgezwungen, die Schweiz zu verlassen. Jetzt nahm er,nach mehrmonatlichem Leiden an seinem Bein ge-sundheitlich „fast an den Rand des Grabes gebracht“,die Einladung des Dekans der Straßburger medizi-nischen Fakultät an. Ohne das nötige Kapital zog ernach Straßburg, das er aber wegen eines „Ereignissesrein privater Natur“ trotz seiner großen Vorliebe fürFrankreich bereits im Sommer 1861 verließ.

In seiner nächsten Station, in Coburg, blieb er nurzwei Wochen. Bevor er jedoch nach Gotha weiterrei-sen konnte, musste er sich noch Geld für die Bezah-lung seiner Unterkunft ausleihen.

Anfang September 1861 in Gotha angekommen er-hielt Reich von Herzog Ernst II. von Coburg-Gothadie Zusicherung hindernisfreien Aufenthalts und dieErlaubnis, die herzogliche Schlossbibliothek benützenzu dürfen. Dort fand er bei den Beamten dieser öffent-lichen Bibliothek eine besondere Zuvorkommenheit.Aber auch hier konnte er nicht umhin, Negatives fest-zustellen, in dem er bekrittelte, dass die Gelehrten sichauffallend wenig um die wertvolle Bibliothek küm-mern. Die Ursache sah er im „Übermaß und Unwesendes gegenseitigen Besuchens“ und im „mit wahrhafti-ger Todesverachtung betriebenen Bier-Kultus“. Reichselbst aber hielt sich an die „Grundsätze der strengs-ten Hygieine, denn er lebte in Armut, Keuschheit undim Dienste der Wissenschaft.“ Er war Vegetarier, ba-

dete täglich zweimal in kaltem Wasser und wich Äu-ßerlichkeiten stets aus [17].

Reich hielt Vorträge über „die Lehre vomMenschenim Allgemeinen und von der Gesundheit.“ „Alles, wasdem Menschenwohle feindlich gegenüberstand, be-kämpfte“ er so heftig, dass ihm „grimmige Feindeerwuchsen“, die ihn verderben wollten. Im privatenUmfeld machte er sich durch politische Äußerungenmanche Feinde, die ihn bekämpften und seine Werkeals geistlose Schreibereien und als Pestgift verschrien.Er klagte, dass er als „der politisch Gebrandmark-te“ und auch durch seine „radikale wissenschaftlicheRichtung“ in der Unterbringung einiger seiner Wer-ke gehindert, sich kein „festes Brod“ [Einkommen]verschaffen konnte. Seine Geldnot war so groß, dasseinige seiner Gläubiger bei der Polizei seinen Passbeschlagnahmen ließen.

Aus seiner fürchterlichen Geldnot hätte Reich viel-leicht die Tätigkeit als praktizierender Arzt helfenkönnen, doch waren dafür der Erwerb der Gothai-schen Staatsbürgerschaft und eine Examinierungdurch Praktiker nötig, die nach seiner Meinung „um30 Jahre hinter der Wissenschaft zurück sind“. Dieswar für Reich aber eine Zumutung für sein Ehrge-fühl, hielt er sich doch als „Gelehrter von Rang undNamen“, als „damals schon eine international aner-kannte Autorität in der wissenschaftlichen Hygieine“.

Im Spätsommer 1862 begann Reich die Ausarbei-tung seiner „Geschichte, Natur- und Gesundheits-Lehre des ehelichen Lebens“ [6, 18]. Es sollten dieGrundlagen des „normalen Fortpflanzungs-Lebens inStaat und Gesellschaft“ ermittelt werden, um das „In-stitut der Ehe“ aus der bisherigen „ausschliesslichenGeneral-Pacht“ der „natur-unkundigen Theologenund Rechts-Gelehrten“ in die Hände der „hygieini-schen Aerzte zu legen“. Die Reaktionen auf diesesBuch waren unterschiedlich. Es wurde in Fachzeit-schriften, auch in der Wiener Medicinischen Wo-chenschrift, gelobt, aber eine „gewisse Klasse“, insbe-sondere „Ultramontane und andere Nacht-Eulen (inschwarzen Kutten) spieen Gift und Galle dagegen“.

Nachdem Reich zum Bibliothekar der herzoglichenBibliothek in Coburg ernannt worden war, ging er imMai 1869 die Ehe mit Mathilde Loewel, der Tochtereines Finanzrates, ein, die ihm bis zu ihrem Tod 1887neun Kinder schenkte [17]. Die Bibliothekarsstelle be-kleidete er bis 1873, war jedoch meist bei halbem Ge-halt beurlaubt. So konnte er verschiedene große undkleine Reisen ins Ausland, in Deutschland und auchin seine Heimat Mähren unternehmen, wo sein poli-tisches Abenteuer den für ihn unerwarteten Ausgangnahm. Nach der „Press-Amnestie“ vom 31. Juli 1865meinte er sich beim Besuch seiner Eltern in Olmützim Feber 1866 vor Verfolgung sicher. Er wurde jedochdurch einen Irrtum der k. k. Behörden elf Tage langwegen Hochverrats inhaftiert, ein Vorkommnis, dasauch in der Wiener „Presse“ mehrmals kommentiertwurde [19].

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Noch als herzoglicher Bibliothekar angestellt, über-siedelte Reich mit Familie nach Kiel, wo er „in den ge-lehrten Kreisen“ sehr freundlich aufgenommen wur-de. Auf sein formelles Gesuch an die medizinischeFakultät um die „Venia legendi für die gesamte Hy-gieine“ wurde in Gotha nachgefragt. Nach Eintreffeneiner „empörenden Verläumdung“ wurde ein nega-tives Gutachten über ihn durch „die (mit einem dieGesundheitspolizei der Abzugscanäle und Schlacht-häuser tradierenden Privatdocenten und Kreisphysi-ker innig befreundete) Fakultät“ erstellt (ein mildesBeispiel für seine Ausdruckweise; [5]). „In sehr wenigelastischen Ausdrücken“ forderte Reich seine Einga-ben zurück.

In der ersten Hälfte von 1870 ließ sich Reich „durchfalsche Vorspiegelungen eines in Würzburg wohnen-den von ihm massgebend gehaltenen“ Mann ver-führen, mit Frau und neugeborenem Sohn Napoleonnach Würzburg zu übersiedeln. Dort war dieser Ratge-ber jedoch nicht aufzufinden, sodass sich die Familienach wenigen Tagen über Coburg nach Erlangen be-gab. Reich stellte dort fest, dass er „in seinem ganzenLeben und in der ganzen Welt keine so grossen undsteifen Schwachköpfe“ gesehen hat. Er beendete inErlangen noch sein zweibändiges Werk „System derHygieine“ und übersiedelte danach auf das zu Bay-ern gehörende Schloss Banz bei Coburg. Im Herbst1871 wollte Reich direkt nach Coburg übersiedeln,musste aber wegen einer Intrige nach Weimar zie-hen. Mangels einer geeigneten Wohnung in der Stadtverbrachte die Familie den Winter in der Herrnhuter-Gemeinde Dietendorf. Im Sommer 1872 hauste dieFamilie in Sonderhausen, von wo sie im Herbst nachRostock übersiedelte. Dort verloren sie „irdisches Gut“durch einen der dortigen zahlreichen Betrüger. Reichfühlte sich trotzdem in Rostock wohl. Er kündigteim folgenden Jahr seine Anstellung als herzoglicherBibliothekar.

Das folgende persönliche Schicksal Reichs lässt sichMangels weiterer Autobiographien nur ganz ober-flächlich nachzeichnen, da das „Reich-Archiv“ desDeutschen Hygiene-Museums mit allen Unterlagendurch einen Luftangriff auf Dresden im 2. Weltkriegvernichtet worden ist.

Nach dem Tod seiner Frau Mathilde im Jahre 1887heirate Reich 1892 Helene Stavenow, die Tochter einesHamburger Kaufmannes [17]. Als weitere Aufenthalts-orte sind 1891 Blankenese, 1892 Biebrich am Rhein,1893 Scheveningen (Niederlande) und 1902–1914 inBelgien die Städte Ostende (1902), Nieuport-Bains(1903) und La Panne (1909) bekannt. Anfang Sep-tember 1914, als Ausländer zum Verlassen Belgiensgezwungen, flüchtete er unter Zurücklassung seinesganzen Besitzes, einschließlich seiner großen Biblio-thek, in die Niederlande, wo er am 1. Februar 1919in Muiderberg bei Amsterdam starb [11, 17]. Reich istzwar in den üblichen medizinischen biographischenReferenzwerken mit langen Listen seiner zahlreichenBücher und Fachartikel enthalten, man findet aber

außer seinen autobiographischen Angaben [5, 6] nurzwei kurze biographische Bearbeitungen [8, 20] in dermedizinischen Literatur.

Die in Bern begonnene akademische Laufbahnfortzusetzen hatte Reich dreimal vergeblich versucht.So richtete er am 18. November 1867 an den Münch-ner Hygieniker Max von Pettenkofer (1818–1901) dieBitte, ihm zu einer Professur zu helfen. Er betonteseine Kenntnisse nicht nur der Chemie und Physio-logie, sondern auch der unerlässlichen „politisch-moralischen Wissenschaften und der Anthropolo-gie“ [21]. Am 3. August 1871 wandte sich Reich anden Zoologen und Naturphilosophen Ernst Haeckel(1834–1919), wobei er auf seine Verhältnisse „einesarmen Gelehrten“ hinwies, der „durch Collegien-Gelder den Betrag der Miethe u.s.w.“ decken muss.Da die medizinischen Fakultäten Deutschlands nichtzu Vorlesungen in seinem Sinne über Hygieine, überphysiologische, philosophische und soziale Anthropo-logie bereit seien und diese Disziplinen „viel mehr indie philosophische, denn in die medicinische Fakultätpassen“, wendete er sich an ihn [22]. Der Versuch derWiederaufnahme einer akademischen Lehrtätigkeitzuletzt in Kiel war ebenfalls erfolglos geblieben.

Reichs Prinzipien der Hygiene

Reich hat die Prinzipien seiner Auffassung der Hygie-ne 1862 im Buch „Volks-Gesundheits-Pflege“ [23] und1870–1873 umfänglicher im zweibändigen Lehrbuch„System der Hygieine“ [24] und im „Grundriss der Hy-gieine zum Gebrauche für akademische Vorlesungenund zum Selbstudium“ [25] ausführlich dargelegt. Er-gänzt wurden diese Werke durch eine äußerst großeAnzahl von weiteren Büchern und Artikeln, die Ergän-zungen undModifikationen, aber auch sehr viele Wie-derholungen enthalten. Diese Literatur habe ich, so-weit es mir erforderlich erschien, in die Besprechungvon Reichs Grundstruktur der „Hygieine“ eingebautund mit ihren Literaturangaben versehen. In der Fol-ge habe ich jedoch den heute üblichen Begriff „Hy-giene“ und in Zitaten die derzeitige Rechtschreibungverwendet.

Reich sah prinzipiell als Aufgabe der Hygiene nichtnur einer Erhöhung der Arbeitskraft, sondern die Hy-giene will die Menschen „vergeistigen, veredeln, ver-schönern und gesund machen“. „Weisheit und Tu-gend, Glückseligkeit und Gesundheit Aller, dies ist dasEndziel der Hygiene.“ Die Hygiene hat dabei mit demganzen Menschen sowie mit dessen einzelnen Orga-nen und Systemen zu tun, es muss also wer „die Hy-giene richtig begreifen will“, die Anthropologie, diePhysiologie und die Psychologie richtig verstehen. Dadie Hygiene aber nicht nur die Gesundheit zu erhaltenlehrt, sondern auch Krankheiten zu verhüten, ist dieKenntnis der Ätiologie der Krankheiten unumgäng-lich. Und „so wie die Hygiene des Individuums auf dieNaturlehre des Individuums sich gründet, so gründetdie Hygiene der Gesellschaft sich auf die Naturlehre

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der Gesellschaft“, also auf Nationalökonomie, Bevöl-kerungslehre, Politik, Polizeiwissenschaft und Statis-tik.

Nach Reichs Auffassung [10, 26] sind die Lebens-prozesse die Folgen der Einwirkung der Außenweltauf den Organismus. Wenn die „biogenetischen Fak-toren“ [Organismus, Außenwelt] derart zusammenwir-ken, dass der Stoffwechsel ohne Störung und mit „all-gemeinem Wohlsein, Gefühl von Kraft und Lust“ ab-läuft, sprechen wir von G e s u n d h e i t. Das bedeu-tet die Erhaltung des „vegetativ-irritablen, sensiblen,wie geistig-sittlichen Wohls des Einzelnen wie gan-zer Nationen“, das Bewahren vor gemeinen Affektenund Leidenschaften und vor allen Einflüssen, die dassomatische und psychisch-moralische Ich vernichten.„Je mehr Nerven- und Seelenkraft ein Mensch besitzt,desto weniger leicht werden ihm Krankheiten gefähr-lich“ und es stellt sich „ein ganz bestimmtes Verhältniszu der Erblichkeit von Eigenschaften des Körpers unddes Geistes, zu den ererbten Anlagen für Leiden undGebrechen“ ein [27].

„Um gesund zu sein, müssen wir gut und weisesein: um gut und weise zu sein, müssen wir gesundsein. Weise werden wir durch Unterricht, gut durchErziehung, gesund durch Pflege.“ Erziehung und Un-terricht sind Gesundheitspflege der moralischen Qua-litäten, Pflege schlechthin ist die Gesundheitspflegeder physischen Qualitäten, also des materiellen Da-seins. „Weil der Mensch die Einheit des Physischenund Moralischen ist und weil das Moralische nur ei-ne besondere Erscheinungsweise des Physischen ist:darum sind Erziehung, Unterricht und Pflege Eines,sie sind Gesundheitspflege oder Hygiene.“

In ihrer Art und Intensität abweichende Wechsel-wirkungen zwischen Organismus und Außenwelt be-zeichnet Reich als K r a n k h e i t. Ihre Ursache kannim Organismus selbst bestehen durch „Herabsetzungder Kräfte des organischen Haushalts, des Nervensys-tems und der Seele“. Sie kann aber auch in der Artund Stärke von physischen oder moralischen Umwelt-einwirkungen liegen. Aber auch an sich normale Au-ßeneinwirkungen können bei Veränderungen im Zu-stand des Menschen pathogen wirken. Zwischen Ge-sundheit und Krankheit bestünde nur eine „graduel-le Verschiedenheit“, aber kein Gegensatz, da physio-logische und pathologische Prozesse nach denselbenGesetzen, aber nur unter verschiedenen Bedingungenabliefen.

Zum Verständnis für das „physiologische Leben“der Einzelwesen wie auch ganzer Nationen mit denverschiedenen Zuständen und Bedürfnissen sowie fürdie Erkenntnis von deren Verhältnissen zur Außen-welt [heute: Umwelt] bedürfe es nach Reichs Überzeu-gung nicht nur der Kenntnisse der Physiologie, son-dern auch der Naturgeschichte, Physik, Meteorologie,Geologie, Chemie, Geographie, Geschichte und Sta-tistik. Alle diese Probleme und Umstände der Entste-hung von Krankheiten beschreibt die Ä t i o l o g i e.

Die H y g i e n e oder G e s u n d h e i t s p f l e g eist „die Philosophie, die Wissenschaft und die Kunstdes normalen Lebens; sie lehrt Krankheiten zu ver-hüten, das gesamte physische und moralische, daspersönliche und gesellschaftliche Wohl zu erhalten.Reichs Vision vom Ergebnis des „mächtigen Ineinan-dergreifens“ von Ätiologie und Hygiene ist die „Erhal-tung des Wohls des Einzelwesens wie ganzer Völker-schaften“, das Bewahren „vor gemeinen Affekten undLeidenschaften und vor all den Einflüssen, die das so-matische und psychisch-moralische Ich vernichten“;die „innige Wechselwirkung beider Doktrinen“ „mil-dert Pandemien und sporadische Krankheiten, erhältdie Gesundheit, verlängert das Leben und trägt sozur Entstehung gesunder Nachkommen bei“. Gestütztauf die Kenntnis der Krankheitsursachen und der Na-tur des Menschen, der sozialen Verhältnisse und dersittlichen Bedürfnisse, sucht die Hygiene überall dasGute zu fördern und das Böse zu verhindern, leitetzur Tugend ebenso wie zur Glückseligkeit.“ So sollen„Krankheiten unmöglich, die Medizin überflüssig“ ge-macht werden. Die Hygiene hat als Endziel aber nichtbloß die Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Bevölke-rung für irgendwelche ökonomische oder militärischeZwecke, sondern sie will die Menschen „vergeistigen,veredeln, verschönern, gesund machen“ für die Er-langung von „Tugend, Glückseligkeit und GesundheitAller“.

Reich beschreibt mit seiner ideellen Vorstellung be-reits 88 Jahre vor der Definition der Gesundheit durchdie Weltgesundheitsorganisation [28] als einen „Zu-stand völligen körperlichen, seelischen und sozialenWohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit vonKrankheit und Schwäche“.

Der Hygieniker müsse zur Erfüllung aller dieserAufgaben die Ätiologie der individuellen und so-zialen Krankheiten erkennen. Das heißt für Reich,der Hygieniker muss nicht nur die Naturlehre desIndividuums, also Physiologie, Psychologie und An-thropologie, sondern auch Naturgeschichte, Physik,Meteorologie, Geologie, Chemie, Geographie, Ge-schichte und Statistik, richtig verstehen und auch dieNaturlehre der Gesellschaft, also Nationalökonomie,Bevölkerungslehre, Statistik, Politik und Polizeiwis-senschaft, kennen.

Nach Reichs Vorstellung muss die „ätiologisch-hy-gienische Wissenschaft“ zum Gemeingut aller Men-schen gemacht werden. Als geeignete Mittel hierfürerschienen ihm außer dem Unterricht auch Predig-ten über Ätiologie und christliche Moral sowie Gesetzeund „staatliche heilbringende Einrichtungen“. Dabeidürfen die Politiker nicht in den Prozess der „Men-schen-Bildung“ störend eingreifen, sondern müssenihn fördern. Aus der so größeren Menge Studieren-der wäre es ein Leichtes, viele „freidenkende Indivi-duen aus der Menge herauszufinden, denn es kom-me darauf an, Wissenschaft und Staat in die Händedenkender Menschen zu legen“. Beschränkte Köpfemüssten jedoch „ihren Unterricht beständig in Sonn-

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tagsschulen und ähnlichen Anstalten genießen und esmüssen diese Institute unter der Leitung einerMedizi-nal-Zentralbehörde, unter der speziellen und persön-lichen Leitung eines tüchtigen Arztes stehen“. Die soerreichbare „hygienische Erziehung des ganzen Men-schen“ ist die Voraussetzung des Nutzens der Heil-kunst. Allerdings beklagt Reich auch den Mangel anKenntnissen der Ätiologie und Hygiene bei den Ärz-ten, was er auf das Versagen der Universitäten zurück-führt. Vielfach werden einschlägige Vorlesungen garnicht angeboten und wo dies doch der Fall ist, wer-den diese wegenMangels an Hörern nicht abgehalten.Dagegen würde eine landesfürstliche Verordnung derzwangsweisen Belegung und Prüfung dieser FächerAbhilfe schaffen. Darüber hinaus wäre es wünschens-wert, dass sich jeder Bewerber um eine Staats- odergeistliche Anstellung, sowie jeder Heildiener und je-de Hebamme einer Prüfung aus den wichtigsten Leh-ren der populären Physiologie, Ätiologie und Gesund-heitspflege unterziehen müsste.

In Vorwegnahme der zukünftigen Krankenhaus-Hygiene erkannte Reich, dass auch die Therapieüberall der Hygiene bedarf, denn „was nützen al-le Operationen ohne Ventilation, Desinfektion u.s.w.der Kranken-Räume?“ „Wo die Medizin wirksam seinsoll, kann sie dies nur in der Voraussetzung, dassdie Hygiene tätig ist.“ Die Hygiene verlangt also vomtherapeutisch arbeitenden Arzt, über das Heilen vonKrankheiten hinausgehend, das Verhüten der Leidenernst zu nehmen.

Reich unterteilt die Hygiene entsprechend ihrenAufgaben in eine Moralische, Soziale, Diätetische undPolizeiliche Hygiene. Weiters erwähnt er noch dievon Ribes [29] angegebene Therapeutische Hygiene,welche die Anwendung der Gesundheitspflege zumHeilen von Krankheiten darstellt.

Die Moralische Hygiene

Die Moralische Hygiene hat die Aufgabe, für den Ein-zelnen und für die Gemeinschaft die moralische Ge-sundheit zu erreichen und auf Dauer zu erhalten. Siemuss dazu das geistige und sittliche Leben, also diedurch das Gehirn des Menschen gesteuerten Vorgän-ge des Geistes, der Handlungen, des Gemüts und derLeidenschaften so regulieren, dass sich für den Ein-zelnen und die Gemeinschaft der normale Zustandergibt. Für diese Aufgaben bedient sich die Morali-sche Hygiene der Erziehung, des Unterrichts und derReligion.

„Die moralischen Handlungen erfolgen nach un-wandelbaren Naturgesetzen“. Sie sind Ausdruck desTriebes der Selbsterhaltung und der Fortpflanzung.Ihnen gegenüber hat „der sogenannte freie Wille keineBedeutung; er vermag nur die Form der Vollziehung,nicht den Akt selbst zu beeinflussen“.

Das moralische Leben ist durch Elend und Armut,aber auch durch Ungerechtigkeiten und manche Tra-ditionen bedroht. Das Elend zerstört die physischen

und moralischen Kräfte, es hemmt insbesondere dieEntwicklung von Wohlverhalten, Nächstenliebe undGemeinsinn.

Zur Beeinflussung der moralischen Handlungendarf nicht nur an den Willen der Menschen appelliertwerden, sondern es müssen auch deren natürlicheBedürfnisse befriedigt werden. Dazu gehören Verbes-serungen der gesellschaftlichen Einrichtungen, derSitten und Gebräuche und die Aufklärung [Erziehung,Unterricht, Berufsausbildung] zu Gunsten des Einzel-nen und der Gesamtheit.

Die Leidenschaften

Unter den einzelnen Aspekten der Moralischen Hy-giene stellt Reich die Leidenschaften an prominen-te Stelle. Diese beschreibt er als intensive mit demIch in Widerspruch stehende Vorstellungen, die mehroderminder starke Spannungen erzeugen, welche denWunsch nach Ausgleich auslösen. Die normalen, ge-sunden Leidenschaften harmonieren mit der Gesund-heit der Seele, die bösen, krankhaften vernichten die-se. „Bei allen Leidenschaften beherrscht ein gewissesEtwas die Kräfte der Seele und wirkt auf die rein kör-perlichen Funktionen hinüber“. Zuletzt wirkt die Lei-denschaft entkräftend, verdirbt das Temperament unddegeneriert den Charakter. Damit können die Leiden-schaften „zu Zerstörern der Gesundheit des Einzelnenund der bürgerlichen Gesamtheit, zu Veranlassungenblutiger Taten im privaten Leben und in der Weltge-schichte“ werden [2].

Reich stellt lange, durch reichliche Literaturzitateunterstützte Betrachtungen an über die Ausprägun-gen der Leidenschaften bei den einzelnen Tempe-ramenten, bei Mann und Frau verschiedener Alters-stufen und Gewohnheiten, auch in Abhängigkeit vonStand, Beschäftigung, Ehelosigkeit, Diät [Gesundheits-zustand], Klima, Religion, Vererbung und Politik. Erschildert als Leidenschaften Liebe, Selbstsucht, Hass,Zorn, Neid, Langeweile, Spiel, Trunk- und Fresssucht,Heimweh und übermäßiger Trieb zu Geistestätigkeitund noch weitere Gefühlsregungen.

Zur Regulierung guter und zur Verhütung böser Lei-denschaften müssen alle Mittel der körperlichen Hy-giene, der intellektuellen und moralischen Erziehung,der Religion und der Politik auf eine Stärkung des Wil-lens hinwirken [2]. Eine wichtige Voraussetzung ist dieSicherheit des Lebensunterhalts. Dazu sind auch gutepolitische Verhältnisse nötig, denn „je mehr die Par-teien auf gegenseitige Verfolgung, Prinzipienreiterei,Phraseologie, Rechthaberei u.s.w. bedacht sind, des-to ungünstiger werden die moralischen Verhältnissebeeinflusst, desto schlimmer die Leidenschaften auf-geregt“.

Die allgemeine Zufriedenheit der Menschen mit ih-rer Lebenslage ist die wesentliche Grundlage des mo-ralischen Wohlseins und damit der Regelung der Lei-denschaften und somit auch einer Hygiene des Geis-tes und des Herzens.

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Das geistige Leben

Im zweiten Abschnitt der Moralischen Hygiene be-handelt Reich das geistige Leben. Er meint damit die„Gesundheitspflege des Gehirns“, das heißt die „derNatur gemäße Kultivierung des Geistes“. Gemeinsammit dieser „Erziehung im weitesten Sinne des Wor-tes“ muss immer die Pflege der Gesundheit gehen,sonst „weicht das geistige Leben bald von der Normab und gestaltet sich mehr oder weniger krankhaft“.Seine Intensität und Extensität hängen von der jewei-ligen Individualität ab, also insbesondere von Alter,Geschlecht, Konstitution und Temperament. Im Laufedes Lebens erweitert sich der Kreis der Ideen, der Ver-stand entwickelt sich und überwiegt in einem gewis-sen Alter die Phantasie. Wegen der allfälligen Schäd-lichkeit der Geistesarbeit solle ein Jeder nur so vielKopfarbeit verrichten, wie er ohne Schaden leistenkann. „Auch die frühzeitige Anstrengung des Geistes[im Kindesalter] hat einen sehr nachteiligen Einflussauf die physischen und moralischen Kräfte“.

Elend und Verwahrlosung zerstören die Geistestä-tigkeit und machen den Menschen zum Idioten. Gu-te soziale Verhältnisse dagegen sind die Vorausset-zung für reges geistiges Leben, da man weniger andie Befriedigung der Lebensnotwendigkeiten denkenmuss. Einfluss auf das geistige Leben haben aber auch„Naturerscheinungen“ wie Gebirge, Gewässer, Gewit-ter und Klima, also die Umwelt. Von großer Bedeu-tung sind auch Arbeit und Beschäftigung, die „demArbeiter die Mittel in die Hand geben, sich und seineNachkommen vor der Versumpfung zu bewahren“.

Als oberste Aufgabe der Hygiene des geistigen Le-bens bezeichnet Reich die Verhinderung von Geistes-störungen, wobei er die damaligen Auffassungen derPsychiatrie diskutiert.

Die Erziehung

Als dritten Grundpfeiler der Moralischen Hygienesieht Reich die Erziehung, von der mehr als von an-deren äußeren Einflüssen Gesundheit und Wohlfahrtabhängen. Der „kerngesunde, lebenskräftige Mensch,der halbwegs gut geleitet und nicht durch Erziehung,Schule u.s.w. verdorben wurde“ [27], hat keine Nei-gungen zu Gewalttätigkeit, Rachsucht, Lastern undVerbrechen. Ohne Erziehung können sich aber diesebösen Leidenschaften und Triebe entwickeln.

„Aber ein Übermaß unfruchtbaren Wissens undAufspeicherung von Tatsachen ohne Kraft geistigerVerwertung und praktischer Anwendung“ wirkenschädlich durch Verkleinerung des Spielraums desDenkens und Lähmung des Handelns. „Völker wieEinzelne, denen die Schule ein Übermaß von Kennt-nissen einprägte, sind schwach im Denken, linkischund unbeholfen im Handeln“, sie sind gleichgültigfür das Gemeinschaftsleben und hängen an unprak-tischen Normen.

Die Kinder sind mit Bestimmtheit und Strenge un-ter humanem Entgegenkommen und liebevoller Be-handlung zu erziehen und dürfen nicht durch Züchti-gung und andere physische Handlungen genötigt wer-den. Zur Erreichung der moralischen Gesundheit istder Wille der Kinder zu erziehen, wo er fehlt ist erzu wecken und wo er allzu stürmisch braust ist er zudämpfen. Von der größten Bedeutung für den gutenErfolg des Unterrichts bleibt immer seine Freiheit. Jemehr die Schule von dazu nicht Befähigten beeinflusstwird, desto weniger ist der Lehrer im Stande, zu indi-vidualisieren und im Geiste der Wahrheit und einerechten Praxis zu unterrichten. „Die Freiheit der Lehreist die beste Bürgschaft des Gedeihens wahrer Gesit-tung.“

Ganz wesentlich ist es, den Eltern das Interesse fürdie Bildung der Kinder beizubringen und ihnen auchdie Mittel dafür bereitzustellen. „Die geringste Steu-ererleichterung vermehrt die Zahl der Schreib- undLese-Kundigen im Staate stärker als eine Legion vonSchulmeistern.“

Religion und Sittlichkeit

Die Besprechung von Religion und Sittlichkeit be-schließt das Kapitel der Moralischen Hygiene. Imausführlichen Text kann Reich seine auch sonst oftgeäußerten Angriffe auf Geistliche und Religionsaus-übungen unterbringen, die hier nicht weiter ausge-führt werden.

Er anerkennt aber den Zweck der Religion, dasgesellschaftliche Gleichgewicht zu erhalten und demEinzelnen in den Wechselfällen des Lebens zur Stüt-ze zu dienen. Je nach der Größe der Geistesbildungund moralischen Kraft, ist sie dem Einen mehr Moral,für den anderen mehr Glauben, für den Philosophennur Moral, für den „Pfaffenknecht“ nur Glauben;demnach für einen Jeden etwas Anderes. „Das Indivi-duum muss nach dem eigenen Bedürfnis die Religionin den Einzelheiten gestalten; sie darf nur in allge-meinen Umrissen und nicht mit Zwang ihm gebotenwerden und muss so elastisch sein, dass sie leicht derBesonderheit des Menschen entspricht.“

Die Grundlagen der Religion sind Gemüt und Ge-wissen. Das Gemüt als Sammelbegriff sittlicher Quali-täten betrifft Empfindungen der Lust und Unlust unddie davon abhängenden Triebe, Begierden und Hand-lungen.

„Eine wahre Religion, die das Gemüt veredelt unddie Leidenschaften bannt, im Glücke den Übermut,im Unglücke die Verzweiflung nicht erwachen lässt,die wesentlich dazu beiträgt, den Menschen temper[ausgeglichen] zu machen und mit Liebe und Tugendzu erfüllen, sichert der Hygiene, der wirklichen Be-glückung des Menschen am besten Bestand.“

BeimGewissen, unterscheidet man das persönlicheund das moralische Gewissen. Ersteres gibt uns dieVorstellung von uns selbst, von unserer Person undvon der Tätigkeit unseres Geistes. Das moralische Ge-

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wissen ist jene innere Stimme, die angibt, was an sichgut oder böse ist. Es vermittelt die Pflicht, das Gute zutun und das Böse zu unterlassen. Das sittliche Gefühlals Grundpfeiler der Moral ist nur in seiner entwickel-baren Anlage angeboren. Es wird durch die Lebens-verhältnisse, durch Erziehung, politische und sozialeEinflüsse und durch die Umwelt in seiner Entwicklungbeeinflusst. Es muss durch eine sich auf wahre Moralstützende Erziehung entwickelt werden.

Reich schließt das Kapitel der Moralischen Hygienemit der Erkenntnis, dass Unwissenheit und Materia-lismus (übermäßige Selbstsucht und Herrschaft desGeldes) Krankheit und Elend erzeugen; Vernunft undLiebe jedoch sind die besten Mittel dagegen, die bes-ten Maßnahmen der Gesundheitspflege.

Die Soziale Hygiene

Die Soziale Hygiene nimmt das Wohl der ganzen Be-völkerung wahr. Mit Hilfe der Statistik überblickt siedie Gemeinschaft in deren verschiedenen Zuständenund verfolgt die Erscheinungen des gesellschaftli-chen Lebens. Dieses kann Krankheitsursache für denEinzelnen sein durch z.B. schlechte Gesetze und Ein-richtungen, falsche Erziehungsgrundsätze, üble Mo-ral, böse Beispiele, Übermut Einzelner, Elend, Kriege,verkehrte nationalökonomische Fakten, falsche Ge-richtsbarkeit, unzureichende Gesundheitsbetreuung,mangelnde öffentliche Sicherheit [30]. Das körperli-che und soziale Wohlergehen einer Bevölkerung wirdauch sehr durch genügende Ernährung gefördert,denn je leichter ein Mensch sich seinen Unterhaltverschaffen kann, desto weniger hat er es notwen-dig, seine Lage durch unethische oder kriminelleHandlungen zu verbessern. Überall wo „Knechtschaft[Abhängigkeit] und Massenarmut innerhalb eines Ge-meinwesens“ herrschen, ist dessen Bestand durchentstehende rohe Gewalt und blinde Wut gefährdet.Schlechte gesellschaftliche Zustände können auchepidemische Krankheiten fördern, die ihrerseits diesozialen Verhältnisse noch verschlechtern können.

Will man also eine Bevölkerung glücklich und ge-sund erhalten, so sind viele Maßnahmen gleichzeitignotwendig, insbesondere eine geordnete Staatsver-waltung, gute Gesetze und Normen, Gerechtigkeit imRichteramte, Verminderung von Steuern und Abga-ben, Verhütung der Unwissenheit der Bevölkerungdurch guten Unterricht und Förderung von Wissen-schaft und Kunst, Begünstigung gemeinnütziger Un-ternehmungen, Abschaffung der Standesvorrechteund des „Parasitentums“ [Korruption], Ehrlichkeit inden öffentlichen Geldgeschäften und überhaupt gutesBeispiel der in der Öffentlichkeit stehenden Personen.Länder, in denen dies fehlt und deren Herrschaft undKampf der Parteien den Besitz in Frage stellen, vergif-ten die Moral und zeigen das Bild von sozialer Erkran-kung wie geistige Störungen, Verbrechen, Selbstmordund Laster.

Eine wesentliche Ursache sozialer Gesundheit istdie Arbeit, die auf den drei Grundpfeilern Moral,Hygiene und Ökonomie beruht. Darum müssen dieUnternehmer „barmherzig“ sein [sozial handeln] und[in Innungen] „zusammentreten, um ohne wirklicheSelbstschädigung das materielle und moralische Wohlder Arbeiter sicher zu stellen“. „Wo die Arbeit nichtausreicht, tritt die Barmherzigkeit [soziale Fürsorge]ergänzend ein, wo die Arbeit Übermaß gewährt, trittdie Vernunft regulierend ein“. Dafür ist es unerläss-lich, dass Arbeit und arbeitende Menschen geachtetwerden und diese nicht nur als bloßeMittel undWerk-zeuge für den Gewinn Anderer dienen. Die Arbeiterselbst „müssen sich assoziieren, Groll und Bitterkeitwider ihre Arbeitgeber fallen lassen“. Also „Moralund Ökonomie schließen bei Arbeitern und Arbeit-gebern einen unauflöslichen Bund zum Zwecke, aufbeiden Seiten den Grundsatz zur Geltung zu bringen,Jedem das Seinige‘, um auf beiden Seiten Tugendund Glückseligkeit zu ermöglichen und zu fördern.“Die Gemeinschaft kann durch freie Vereinigungen al-ler Beschäftigten, Hilfsvereine, Vorschusskassen undSparbanken dazu beitragen. Und es „kommt die Hy-giene und sagt den Arbeitgebern, bauet Häuser fürDie, deren Fleiß euch Reichtum, Bildung, Gesundheitund Ehre gibt“, ermöglicht ihnen ein ordentlichesLeben, „erhellt ihren Geist, veredelt ihr Herz“, machtsie „selbstständig, kräftigt ihre Assoziation, erhaltetsie gesund“.

Jeder Mensch muss immer von seiner Arbeit lebenkönnen und der Lohn der Arbeit muss wenigstens hin-reichend sein, den Unterhalt für ihn und seine Fa-milie zu sichern. Die Höhe des Lohns hängt von derAusbildung des Arbeiters, aber auch von äußeren Ver-hältnissen ab. Die Arbeit soll dem Arbeiter aber auchFreude bereiten, wozu auch die Möglichkeit beiträgt,in seiner Freizeit seinen Geist zu bilden. „Je mehr sichdie Gesellschaft entwickelt, desto vollkommener wirddie Arbeit, desto mehr wird sie vergeistigt, desto mehrendlich stellt sie den Menschen sicher.“

Armut kann aber nicht nur die Folge mangelhaftenLohnes sein, sondern ist auch häufig genug das End-ergebnis unpassender Anwendung eines allzu großenLohnes mit der „Folge von Üppigkeit und Ausschwei-fung, von Überkultur und Überreizung“. Überhauptist die Art der Verwendung der materiellen Güter vonhervorragender Wichtigkeit für die soziale Gesund-heit, denn ein sehr großer Teil des Nationalvermö-gens wird von allen Klassen der Gesellschaft teils un-produktiv, teils zur Zerstörung der produktiven Kräfteverwendet.

Einfluss auf die soziale Gesundheit haben auchdie soziologischen Bewegungen, also die Zahlen derGeburten und Todesfälle, der Eheschließungen und-scheidungen. Diese werden u.a. beeinflusst durchMoral, Stand der Aufklärung, Wohlstand, Beschäfti-gung, Konstitution, Verhältnis des Alters beider Ge-schlechter und auch vom Klima. Es muss also dernatürliche Ausfall von Mitgliedern durch gesunde

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und kräftige Nachkommen gedeckt werden, die zugesunden, vernünftigen und anständigen Menschenerzogen werden. Es ist daher Aufgabe der SozialenHygiene, durch Beeinflussung der Zeugenden fürdie Gesundheit der Gezeugten zu sorgen, somit dieFruchtbarkeit der Menschen normal zu erhalten, alsosie weder über das Maß hinaus zu vermehren, nochauch künstlich zu beschränken. Dafür dient die Eheals „Grundlage der Familie und dadurch derjenigenAnstalt [Institution, Einrichtung], worauf die Überlie-ferung aller menschlichen Sitte und Bildung beruht.Sie ist die Grundlage der Staaten, weil der Menschin der Familie die sittlichen Eindrücke, die Gewöh-nung an Zucht und Ordnung, und die Ehrfurchtvor der Autorität empfängt, ohne welche kein Staatbestehen kann.“ Dieser soll Ehen „zwischen Indivi-duen mit ähnlichen Familienanlagen, Menschen mitwirklichem Kretinismus, mit Epilepsie und ähnlichenLeiden“ sowie unter Verwandten verhindern. Er solljedoch Sorge tragen, „dass Verbindungen zwischenvollkommen fremden, einander sogar in Nationalitätverschiedenen Menschen zu Stande kommen“ [10,31]. Ein weiterer Zweck der Ehe ist das Einstehen derEhepartner für einander. Durch die Förderung derlegitimen Ehen in den arbeitenden Klassen wird dieSäuglings- und Kindersterblichkeit verringert. In derFolge ergibt sich eine der wichtigsten sozial-hygie-nischen Maßnahmen, die Verpflichtung der Kinderund Minderjährigen zum Schulbesuch. Die Schulemuss die notwendigen Kenntnisse und die bürgerli-chen Tugenden vermitteln, sie darf jedoch nicht fürdie Interessen politischer und kirchlicher Parteienmissbraucht werden.

Soziologische Bewegungen entstehen auch durchMigration und betreffen Auswanderungs- und Ein-wanderungsländer. Die Folgen der Auswanderungkann für manche Länder ein Gewinn, für andereein Verlust sein. Die ausgewanderten Menschen ausnicht oder schlecht ausgebildeten Schichten werdenin ihrer Heimat bald ersetzt. Dagegen hat die Auswan-derung von beruflich und geistig fähigen Menscheneine größere Nachwirkung, da die zurückbleiben-de Gesellschaft meist nicht die Mittel besitzt, dieserasch zu ersetzen. Andererseits kann aber auch imEinwanderungsland die soziale Gesundheit beein-flusst werden. Wenn nämlich gesunde Menschen ingenügender Zahl in ein Land einwandern, „dessenBewohner in Entartung begriffen sind“ [31], so istgesunder Nachwuchs und ein verlängertes Leben derganzen Bevölkerung zu erwarten.

Die Diätetische Hygiene

Die Diätetische Hygiene oder Diätetik kümmert sichum das körperliche Wohl des Einzelnen, um die Nor-malerhaltung aller Verrichtungen, die außerhalb derbewussten Gehirntätigkeiten liegen. Das Wohlsein desMenschen wird davon bestimmt, wie er die leiblichenBedürfnisse befriedigt und wie er von seinen Organen

Gebrauch macht. Für die Erhaltung der Gesundheit istalso die richtige Verwendung der Nahrungs- und Ge-nussmittel, der Kleidung, der Körperübungen und derKörperpflege, das Maßhalten in Schlafen und Wach-sein und in den Aktivitäten der Fortpflanzung wich-tig. Auch einen großen Einfluss können manche dervon einem großen Teil der Bevölkerungen nicht odernur schwierig zu beeinflussenden Umstände haben,wie insbesondere die Wohnverhältnisse, aber auch dieEinflüsse von Atmosphäre, Licht, Boden, Klima unddie Veränderungen durch Wechsel des Aufenthaltsor-tes. Für die Erhaltung der Gesundheit bemüht sich dieDiätetische Hygiene, Maßnahmen für positiven Ein-fluss auf diese bestimmenden Faktoren zu finden undanzuwenden.

Ihr weitergehendes Ziel ist nicht nur die Erhaltungder Gesundheit, sondern auch ihre Ausdehnung aufein möglichst hohes Alter. Die Quelle eines langenLebens ist die gute Konstitution des Menschen, dieeinerseits von seiner körperlichen Anlage abhängt,welche ein Ergebnis des Zustandes seiner Erzeu-ger ist. Andererseits sind auch die Mäßigkeit unddie Gleichmäßigkeit in sittlicher und leiblicher Bezie-hung, sowohl hinsichtlich der Nahrung, des Beischlafswie aber auch jeder anderen Sache notwendig. Reichmeint, dass mit solchem gutem Verhalten das langeLeben erblich wird und dass alle Völker mit langer Le-bensdauer diese der genauen Befolgung diätetischerVorschriften verdanken.

Nach Reichs Auffassung beruht die Diätetische Hy-giene auf dem Einsatz von Vernunft und Vorsicht, vonÜbung und Mäßigung, somit gründet sich wahre Diä-tetik auf Moral und leiblicher Erstarkung. Sie kann nurin kleinen Schritten vorankommen, weil sie nur durchBeraten und Belehren, nicht durch Zwang wirkt. Siemuss sich vor allem mit der Erziehung verbünden,weil nur diese der Diätetik Eingang, Geltung und Herr-schaft sichert. Gewiss ist der Erzieher immer der besteVerkünder und Sachwalter der Diätetik, weil er, mehrals andere, den Menschen und zumal die Jugend be-einflusst.

Der Arzt soll beim Kranken durch diätetische Heil-methoden Gesundung erreichen und dem Gesundendurch Empfehlung entsprechender Maßnahmen derDiätetischen Hygiene Wohlbefinden und Lebens-freunde verschaffen.

Bei den einzelnen Maßnahmen für eine gute Diä-tetische Hygiene steht die Ernährung für Reich anerster Stelle, denn „alles dreht sich ums Futter“. DieDiät muss alle im Stoffwechsel verloren gegangenenStoffe ersetzen und auch noch die dem Organismusfehlenden Substanzen einbringen, aber auch die imÜbermaß vorhandenen verringern. Je naturgemäßerdie Nahrung ist, desto gewisser hilft sie, die Gesund-heit zu erhalten, die Krankheit zu verhüten. Die Aus-wahl der Nahrungsmittel wird durch individuelle undäußere Verhältnisse bestimmt, von Lebensalter, Sitten,Gebräuchen, Vorurteilen und vermeintlichen Bedürf-nissen, von äußeren Einflüssen wie Klima und Be-

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schäftigung. Reich bespricht die verschiedenen Nah-rungs- und Genussmittel und ihren Gebrauch in denLebensaltern.

Bei der Diätetik des Körpers kommt der Pflege derHaut eine große Bedeutung zu, denn sie dient unterder jeweils geeigneten Kleidung dem äußeren Schutzdes Körpers. Bei ihrer Reinigung spielt das Bad eineunerlässliche Rolle. Es nimmt nicht nur den Schmutzvon der Haut, es wirkt auch positiv auf die darunter-liegenden Muskeln, Blutgefäße und Hautnerven. DieHaut wird auch von der Kosmetik mehr oder wenigerbetroffen. Die „hygienische Kosmetik“ soll empfeh-len, sich mit klarem, frischem Wasser vom Schmutzder Geschäfte, des Tuns und des Nichtstuns zu rei-nigen und keine wohlriechenden Wässer, Pomaden,Salben und Öle zu verwenden. Die „weltliche Kosme-tik“ sorgt durch gepflegtes Äußeres und die der jewei-ligen Situation angepasste Kleidung und entsprechen-den Schmuck für die soziale Akzeptanz.

Eine unerlässliche Voraussetzung gesundheitsge-mäßer Entwicklung des Leibes ist die Gymnastik. IhreVernachlässigung hat nicht selten Siechtum und Lei-den zur Folge. Systematische Leibesübungen müssenGegenstand der Erziehung sein. Reich bespricht dieVor- und Nachteile des Turnens, Reitens, Tanzens,Laufens, Marschierens, Schwimmens und auch vonkörperlich getätigten Spielen.

Er legt Wert auf die „Harmonie der Sinneswerk-zeuge“ als Voraussetzung voller Gesundheit. Diese be-dürfen schon in frühester Jugend der Pflege, denn jerichtiger die sinnlichen Wahrnehmungen sind, destomehr besteht die Möglichkeit korrekter Schlüsse undeiner normalen Lebensanschauung. Für die Entwick-lung und Pflege der Sinne werden verschiedene Maß-nahmen angegeben.

Als hygienische Regeln für den lebensnotwendi-gen Schlaf sagt Reich: man soll in geräumigen, küh-len oder mäßig warmen, gut ventilierten, trockenenRäumen ohne grelles Licht schlafen, vor dem Schla-fengehen esse man nicht zu viel, entleere Harn undStuhl und vermeide, sich durch Leidenschaften undGefühle stark aufzuregen. Jedoch möge „wer ausge-wachsen ist, den erforderlichen Überschuss von Krafthat und ohne künstlich angeregt werden zu müssen,den wahren Drang zur Begattung fühlt, das Geschäftder Fortpflanzung besorgen“.

Der Wohnsituation des 19. Jahrhunderts entspre-chend sieht Reich gesundheitsgemäße Wohnungenfür Arme und Arbeiter als ersten Schritt aus dem Elendund den Umbau ganzer Stadtteile als beste Möglich-keit, die allgemeine Gesundheit zu verbessern. Dichtbevölkerte Wohnorte haben hohe Krankheits- undSterblichkeitsverhältnisse und in weiterer Folge einehöhere Kriminalität. „Ungesunde, unter den schäd-lichen Einflüssen der Dunkelheit, der verdorbenenLuft, der Feuchtigkeit, der Kälte, des Hungers lebendeBevölkerungen verharren in ungeregelten Instink-ten und in Leidenschaften. Die Macht der Erziehungbleibt eine ihnen unbekannte, eine gegenüber ihnen

unwirksame Macht.“ Zu Verlängerung des Lebensund Verbesserung der Gesundheit wird die Wohnungbeitragen, wenn sie in guter Gegend, auf gutem Bo-den steht, den nötigen Raum bietet, trocken ist, Lichtund Luft durch große, gut schließende Fenster ein-lässt und frei ist von übelriechenden Ausströmungen[wegen noch fehlender Kanalisation].

Der Mensch ist ein Produkt des Klimas, von demer abhängt. Er muss sich ihm anpassen und ihm auchWiderstand leisten, um die Gesundheit zu bewahren.Aber „auch die Moral wird vom Klima bedingt.“

Jeder Mensch lebt innerhalb seiner klimatischenVerhältnisse, denen er mehr oder weniger durchwechselndes Wetter ausgesetzt ist. Im einheimischenKlima beeinflusst es ihn umso weniger je gesünder,elastischer und abgehärteter er ist. Im Allgemeinenist mildes Klima für den Menschen am förderlichs-ten. Lebt er in ihm fremden Klimazonen, so hängenGesundheit und Wohlergehen davon ab, wie sehr erFähigkeit und Willen besitzt, sich zu akklimatisie-ren. Er „muss strenge nach der Hygiene leben undsich selbst mit eiserner Gewalt beherrschen, mussvorsichtig und klug sein“. So wurden die verheeren-den Gefahren des tropischen Klimas, die „aus demMiasma der Sümpfe entspringenden Wechselfieber“[Malaria], überwunden, nachdem „man angefangenhatte, sich hygienisch zu bilden und die Hygieneauszuüben“. „Es genügt aber nicht, vermittelst derHygiene und der Bildung dem Klima Widerstand zuleisten; es ist auch nötig, das Klima öfters durch Rei-sen zu wechseln“.

Die Polizeiliche Hygiene

Die Polizeiliche Hygiene oder Gesundheitspolizei(Staats-Hygiene) bemüht sich um das Wohlbefindender ganzen Bevölkerung und hat die Gesundheits-behörde als vollziehendes Organ. Ihre Aufgabe istdie „Aufsuchung und Zerstörung oder Beseitigungder Krankheits-Ursachen und die Anordnung derVorschriften und Regeln, deren Beachtung die unmit-telbar leibliche Gesundheit des Volkes sichert“. [Diesmüssenwir heute durch das seelische und sozialeWohl-befinden ergänzen, WHO, 1946.] Die Gesundheitspoli-zei hat sich um die Verhinderung von Verfälschungender Nahrungs- und Genussmittel und um jene Ins-titute zu kümmern, die den Zwecken der sanitärenVerhältnisse der Wohnsitze, Schulen, Kasernen, Ge-fängnisse, Fabriken, Lager und Reinigungsanstaltenwie auch der Verhütung und Bekämpfung endemi-scher und epidemischer Krankheiten dienen.

Die Polizeiliche Hygiene muss „nicht predigen,nicht bitten, nicht vorschlagen, unterbreiten, un-maßgeblich glauben: sondern befehlen wird sie aufGrund wissenschaftlicher Überzeugung“. Denn trotzder Achtung der bürgerlichen Freiheit des Einzelnenund seiner Ablehnung einer Einmischung des Staatesin private Angelegenheiten muss man jedoch „Je-dermann nötigen, sich dem Gesetze der Gesundheit

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zu unterwerfen, Maßregeln der Gesundheitspflege zuvollziehen und das Amt der Gesundheit zu respek-tieren“. Die Polizeiliche Hygiene fordert daher „Ge-horsam wegen des allgemeinen Besten, wegen derallgemeinen Glückseligkeit; sie rügt den Saumseligen,sie bestraft den Übertreter ihrer Vorschriften“, weil „erseine und seiner Mitbürger Gesundheit gefährdet“. Esist also kein Widerspruch, wenn der Staat „in denTopf, in das Bett, in den Abtritt [Abort] des Staatsbür-gers seine Nase steckt“. Der Staat fragt dabei nichtnach dessen Glauben und Überzeugung, er will nurdas Verhalten jedes Staatsbürgers in gesundheitlicherHinsicht reglementieren.

Die Hygiene anerkennt also nicht eine utopischeabsolute Freiheit, sondern nur jene relative Freiheit,durch die „der Einzelne befähigt wird, das Gute zuvollbringen, das Böse, das Schädliche zu erkennenund zu beseitigen“. Diese „Selbsthilfe“ genügt alleinebenso wenig wie eine ausschließliche „Staatshilfe“für die Erreichung der Ziele der Gesundheitspolizei.Diese soll die Anleitung und Führung geben, dennwenn sie allein tätig ist, „kommt nur zu leicht einbürokratischer Geist in die Maschine und nicht mehrdas Heil der Menschen ist der rote Faden, sondern dasVorurteil, der Dünkel und die Borniertheit des Schrei-bertums ist es.“

Die ausübende, insbesondere die Polizeiliche Hy-giene muss, da ihr schlimmster Gegner das Elend ist,mit Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit ein-her gehen und „immer und überall die falschen Fol-gerungen einseitiger und gemütloser Nationalökono-men paralysieren“. Es ist also „dringend geboten, derfalschen und unsittlichen Ökonomie kräftigst entge-gen zu arbeiten, die Barmherzigkeit und Humanitätanzufachen und durch Förderung des Vereinswesens[Hilfsvereine, Vorsorgekassen, Sparbanken] und sonsti-ger die allgemeine Wohlfahrt bezweckender Institutedas Sinken Einzelner zu verhüten, bereits Gesunkenedem normalen Leben wieder zu geben.“

Der Rat der Wohlfahrt

Im Bereich der Polizeilichen Hygiene konzentriertReich seine „Ansichten und Wünsche“ darauf, dass„Alles, was in die Breite der Gesundheit, Erziehung,öffentlichen Wohltätigkeit und Sicherheit fällt, vordas Forum eines Rates der Wohlfahrt gehöre“. DieserWohlfahrtsrat gliedert sich in einen „Rat der Gesund-heit“, einen „Rat der Erziehung“ und einen „Rat derSicherheit (Polizei und öffentliche Hilfe)“. Alle dreiRäte bestehen aus einem „gesetzgebenden Teil“ undeinem „vollziehenden Teil“. Die Mitglieder des ge-setzgebenden Teils sollen vom Volk gewählt und demRat zu einem Drittel ständig, zu zwei Dritteln wech-selnd angehören. Sie sollen „Hygieniker, Pädagogen,Moralisten, Naturforscher, Ärzte, Apotheker, Veteri-näre, Kameralisten, Polizisten, Techniker und höherGebildete ohne bestimmtes Fach sein“. Die selbst ge-wählten Vorsitzenden sollen jährlich wechseln. Solche

Wohlfahrtsräte sollen ihre Tätigkeit als Departemen-talrat, als Provinzialrat und für den Gesamtstaat alsGeneralrat ausüben. Sie müssen frei von Einflüssenaus Parteien, Politik, Regierung und Kirche sein, denn„der Rat der Wohlfahrt kann eine Autorität über sichnicht dulden“.

„Nur der Rat der Wohlfahrt soll, nach Anhörung deröffentlichen Meinung, Gesetze der Gesundheit be-schließen und ausführen.“ Diese müssen alles umfas-sen, was sich auf die Beseitigung oder Verhinderungder Wirkung von Krankheitsursachen bezieht, somitprimär auf alle physischen Verhältnisse, die auf denMenschen einwirken. „Nicht Vorschriften des Ver-haltens, sondern Vorschriften eines die Gesamtheitder Bürger umfassenden hygienischen, oder spezi-ell bezeichnet: nosophthorischen [nosos=Krankheit,phthora= Zerstörung], Regiments sind die Gesetze derGesundheit.“ Sie müssen „dem Zustand des Staateswie dem Geiste des Volkes, für welche sie gegebenwerden, angemessen sein“. Die Gesundheitsgesetzesollen eine klare, jedes Missverständnis ausschlie-ßende Sprache führen. Wenn diese Gesetze alldementsprechen, „ist man berechtigt, den Übertreter, denVerletzer derselben zu bestrafen“.

Aber „das strengste Gesetz der Gesundheit und des-sen exakteste Durchführung beseitigen nur Sympto-me und dies nur für den Augenblick; ohne eine mitder Moral harmonisch vereinigte Ökonomie, ohne Be-seitigung des Elends und Tilgung der übermäßigenSelbstsucht, ohne naturgemäße Bildung des Geistesund Veredelung des Herzens hat das Gesetz der Ge-sundheit keine Basis“.

Den unter den Mitgliedern der Wohlfahrtsräte anerster Stelle genannten Hygieniker beschreibt Reichals „Mann, der auf Grund philologischer, mathemati-scher, philosophischer, historischer und literarischerBildung die Naturwissenschaften, die Medizin unddie politisch moralischen Wissenschaften studierteund, auf dieser Basis stehend, die gesamte Hygienesich zu eigen machte. Es kann die Hygiene in ihremganzen Umfang und als Philosophie, Wissenschaftund Kunst des gesunden Lebens, der Erhaltung derGesundheit und der Abwendung wie Zerstörung derKrankheitsursachen, nur auf der bezeichneten Basisstudiert und begriffen werden, und es wird in allendie Wohlfahrt und Gesundheit betreffenden allgemei-nen Fragen nicht der Arzt als solcher, der Moralist alssolcher, der Techniker als solcher, sondern nur derHygieniker als solcher kompetent sein.“

Zur Behebung des Mangels einer universitären Aus-bildung von Hygienikern, die sich ja bisher ihr Wissenselbst aneignen mussten, fordert Reich die Errichtungvon Lehrstühlen für moralische, soziale und diäteti-sche Hygiene und solche für polizeiliche Hygiene anden Universitäten. Daneben sind für das Studium derWohlfahrt auch die von den Universitäten angebo-tenen Unterrichtsfächer der Medizin, der Pädagogikund der Politisch-moralischen Wissenschaften, alsoder Moral, der Sozialwissenschaft, der Politik und

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der Polizei notwendig. „Für ein erfolgreiches Studi-um der Medizin und für das genaue Verständnis derganzen Hygiene“ ist nämlich eine geläuterte, abseitsaller Systeme gelegene Philosophie von besondererWichtigkeit. Beide können weder in der Lehre noch inder Ausübung bei den gefundenen Tatsachen stehenbleiben, denn sie müssen „dieses Gewirr trügerischerund eingebildeter Verbindungen von Ursache undWirkung“ entwirren und „von denen trennen, welchewirklich den physischen und moralischen Gesetzender Natur gemäß sind“. Hierfür bedürfen Medizinallgemein und Hygiene nicht der Schulphilosophie,„sondern jener reinen und, weil systemlosen, darumnaturgemäßen Philosophie, die aus dem unbefange-nen Studium unbestreitbarer Tatsachen quillt“.

Die Universitäten sollen „unabhängig vom Staat,von der Kirche und den herrschenden Parteien, Rot-ten, Sekten“ sein wie auch von „Geckentum undVorurteilen der Gesellschaft“ und auch „frei von Kas-ten- und Zunftgeist“. Es erscheint zweckmäßig, dassneben den Staats-Universitäten auch von einzelnenStaatsbürgern unterstützte freie Universitäten gegrün-det werden, die alle aber nicht in Fakultäten gegliedertsind. Es seien nur eine einzige Art von Professorenmiteinem für ein anständiges Leben reichenden Gehaltzu bestellen, und zwar von der Universität selbst undnicht vom Staat. Für „jeden Zweig des menschlichenWissens und Könnens“ genüge im allgemeinen einProfessor und daneben eine nicht beschränkte Zahlvon Dozenten. Die Kollegiengeldzahlungen und diePrüfungen würden für Studenten entfallen. Die „Doc-tors-Würde“ soll beibehalten werden, jedoch wegender geforderten Aufhebung der Fakultäten nur vonder Universität selbst und nur für wissenschaftlicheVerdienste erteilt werden. Niemals aber solle man dasDoktorat aus eigenem Bestreben in einem Studiumerwerben können, sodass „kein Praktiker genötigtwerde zu promovieren“. Die Venia legendi könnejedem, der sich durch wissenschaftliche Arbeiten be-kannt gemacht hat, ohne Weiteres erteilt werden.

Nach dieser Erörterung seiner Forderungen für dieAusbildung der Hygieniker und für die Universitätenallgemein kommt Reich zu den Aufgaben der politi-schen Hygiene, zum Einsatz der Gesundheitspolizeiin ihren Teilgebieten.

Die Gesundheitspolizei der Nahrungs- und Genuss-mittel muss verhüten, dass die Konsumenten durchverdorbene oder vergiftete Nahrung krank werdenoder sterben. In der Gesellschaft wird aus „Gewinn-sucht, Gemeinheit, Herzens-Härtigkeit der Einen undNot der Anderen“ deren Gesundheit durch die Abgabeschlechter oder unzureichender Nahrung gefährdet.„Solange es Arme und diesen gegenüber Feigheit undNichtswürdigkeit unter den besser Gestellten gibt,muss die bürgerliche Gemeinschaft ihre schützendeHand über die Unglücklichen halten“. Reich nimmtdie Gesamtheit der Bürger in die Pflicht, „Vorräte un-verfälschter, guter Nahrungsmittel zu sammeln undin der Zeit der Not an alle Bedürftigen zu verteilen“.

Gerade in Notzeiten stehen „dem leider nicht spora-dischen, gewissenlosen Betrug Türen und Tore offen;gerade in diesen Zeiten wird des Leibes Bedarf, undinsbesondere jener der Armen, ammeisten verfälscht.Der Arme hat nicht die Mittel, gute und unverfälschteNahrung sich zu verschaffen; es muss somit durchdie öffentliche Autorität reichlich ihm geboten wer-den.“ Damit aber nicht auch einzelne ihrer Organeaus Gewinnsucht Fälschungen vornehmen, „soll eineaus Unparteiischen, aber großenteils Sachverständi-gen zusammengesetzte Behörde über die Güte derVorräte wachen, und zumal vor jeder öffentlichenAusteilung von Lebensmitteln dieselben genau aufEchtheit prüfen“.

Gerade pflanzliche Speisen sind für Missbrauchdurch „Gemeinheit und Gewinnsucht“ geeignet.„Man kann behaupten, dass die Fabrikanten, weil mitKenntnissen aus der Chemie mehr oder weniger starkgeschwängert, diese Kenntnisse und ihre natürlichenGeschicklichkeiten nicht zum Wohle, sondern zumVerderben der Menschen anwenden“. Den Unter-schied zwischen Betrug und Gesundheitsgefährdungder Bevölkerung macht Reich an einem Beispiel deut-lich. Wird an irgendjemandem guter Weißwein stattechter Champagner verkauft, so wäre dies Betrug,aber ohne irgendwelchenNachteil für die Gesundheit;wenn aber dem Brot Kupfervitriol oder der Schoko-lade Quecksilberoxyd zugesetzt werden, dann ist diesein schwerer Angriff auf Leben und Gesundheit derBevölkerung.

Reich bespricht die Vor- und Nachteile der ver-schiedenen Gruppen von Nahrungs- und Genussmit-teln und von Geschirren.

Gesundheitspolizei der Institute und derWohnsitze

Das Herz zieht sich Reich krampfhaft zusammen,wenn er „Anleitung dazu geben soll, die Menschenstrotzend von Gesundheit zu machen, damit sie mehrKraft“ haben, als Soldaten einander abzuschlachtenoder als Arbeiter sich „im Interesse der Gewinnsuchtdes Fabrikanten von der Maschine zermalmen undWeib und Kinder in Hunger, in Elend zurück zu las-sen“.

„Harte, schwere Kämpfe verursachte das Eindrin-gen der Hygiene in das Labyrinth der Institute; aberWohlsein der Menschen war die letzte Folge“. Denn„von dem Geiste der Nächstenliebe durchdrungen,wünschen wir, dass alle Institute den Zwecken der Lie-be, der Barmherzigkeit und des allgemeinen Nutzensdienen“. Weil nunMenschen, freiwillig oder unfreiwil-lig, in solchen Anstalten etwas zu ihrem Nutzen su-chen, „darum werden alle Institute von dem Späher-Auge der Gesundheitspolizei beobachtet und kontrol-liert“.

Unter „Gesundheitspolizei der Wohnsitze“ erörtertReich die hygienischen Bedürfnisse und Maßnahmenfür die Menschen in Häusern, „welche sie mit ver-

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schiedenen Namen benennen und verschiedenen gu-ten und schlimmen, vernünftigen und tollen Zweckenwidmen. Diese Häuser und all’ das Volk und all’ dieSachen, welche dazu gehören, die Namen, die Zah-len, die Titel, die Kleider und die Hantierungen, dieszusammen genommen macht das Institut aus.“

Von der Besprechung der Hygiene der Wohnsitzesei nur die in den 1870er-Jahren heftig diskutierte„Entwässerung und Fortschaffung der Auswurfstoffe“aufgegriffen. Reich schloss sich der Meinung an, dassdie Entfernung der Exkremente über Wasserklosettsund Kanäle sehr verderblich ist. Es sei nämlich un-vermeidlich, dass durch deren Einleitung in Bächeund Flüsse, selbst wenn sie stark wie der Mississippiwären, diese verpesten und in der Folge das Grund-wasser verunreinigen. Besonders bei Überschwem-mungen treten die bekannten Darminfektionen auf.Es ist deswegen der Entfernung der Exkremente auftrockenem Weg, sei es pneumatisch oder durch Ab-fuhr, vorzuziehen.

Institute von Kultus und Unterricht

Die „Institute des Kultus und des Unterrichts“ habenteils allgemeine, teils ihre eigenen, speziellen Proble-me.

Wenn die Kirche „das Feuer der Liebe entzündetin den Herzen alles Volkes und erstickt den Schwefel-brand des Hasses und der Selbstsucht, des Neides unddes Geizes“, dann bewirkt sie „Gesundheit der Herzenund Heil und sie beglückt“. Es ist gleichgültig, ob „derHalbmond oder das Kreuzenzeichen sie schmücke, obMoses darin walte oder Buddha oder Brahma“. „Aberunterstützt muss werden das Gute und Edle durchwohl gelungenen Bau der Kirche, durch Wärme, Lichtund trockene Luft, denn wer mit Freude lauschen sollden Worten des Verkündigers der Liebe, des Spen-ders des Trostes, des Mahners der Pflichtvergessenen,muss auch leiblich sich wohl fühlen in den Räumendes Friedens, der Ruhe, der Erbauung.“

Der Rat der Wohlfahrt hat „die Pflicht, der Ausfüh-rung gemeinschädlicher Anordnungen und Gebräu-che entgegen zu treten: er darf nicht gestatten, dasszumal während des Herrschens einer Seuche das Volkstundenlang auf kalten Steinen kniet“ oder Wallfahr-ten durchführt, er muss Kasteiungen und schädlicheBußübungen untersagen.

Reich, der in seinen Publikationen sehr oft seineantiklerikale Einstellung, zum Teil auch recht aggres-siv, deutlich macht, stellt aus gesundheitspolizeilicherSicht die Frage, ob es Klöster geben soll. Er bezeich-net diese jedoch objektiv als „Orte, wo Unglückliche,Lebensmüde, Gebrochene Ruhe und Erhebung fin-den; aber diese Orte sollen nicht die Ehe ausschlie-ßen, nicht Schauplätze von Übungen sein, welche dieGesundheit zerstören und das Leben in Frage stellen;sie sollen den Menschen nicht für Lebenszeit bindenund stets nützlichen Dingen dienen, z.B. dem Unter-richte der Jugend, der Krankenpflege, der Besserung

Verwahrloster, der Erziehung von Verbrechern, der Til-gung vonNot und Elend etc.“. Reich ist durchaus nichtfür die sofortige Schließung der Klöster, bleibt aberseiner Einstellung treu, wenn er für deren allmähli-ches Erlöschen durch das Vermeiden der Aufnahmeneuer Mönche und Nonnen ist. Andererseits meinter aber, es müsse „Stätten geben, wo der Unglückli-che Zuflucht findet, Ruhe des Gemüts, den ersehn-ten Frieden und das liebe Brot: Klöster der Kirche derMenschheit“. Letztere beschreibt er aber nicht.

Das Institut des Unterrichts ist ein wichtiger Teil derPolizeilichen Hygiene, denn eine gute Bildung ist, wieReich in seinen Schriften sehr oft betonte, eine ganzwesentliche Grundlage für erfolgreiche Hygiene. Es istinteressant, dass er dabei eine besondere Aufmerk-samkeit auf die Belastbarkeit der Schüler lenkt. „Derdurch Überhäufung beim Lernen gelähmte Geist kannnämlich das Dargebotene nicht verarbeiten, und diesdient also nur dazu, dass die Knaben dem Examen ge-nügen können und hierauf das Unverarbeitete wiedervergessen. Gleichzeitig werden aber solche mit Arbeitüberhäufte Schüler sowohl der Natur als auch ihrerFamilie entfremdet und überdies erfolgt in spätererZeit eine Abstumpfung“ als Folge der Überreizung inder Jugend. Aber noch rascher leidet die körperlicheAusbildung durch das lange Sitzen in der Schule undbei den Hausaufgaben. Die Pädagogen überbürden oftdie Schüler mit einer „Last großenteils nutzloser Ge-dächtnis-Sachen“. Deswegen ist es „sehr notwendig,die Zahl der Schulstunden zu beschränken, die Haus-aufgaben abzuschaffen, Nachmittags-Unterricht nichtzu erteilen, und die Schüler, außer Gymnastik im vol-len Umfange“, auch Arbeiten in Garten und Werkstattverrichten zu lassen. Denn so können in der Jugendauch gewisse, dem praktischen Leben sehr zu Stat-ten kommende Kunstfertigkeiten und handwerklicheFähigkeiten ausgebildet werden. „Der Gesundheit ge-mäß wäre die Scheidung des Schuljahres in drei Schul-quartale und ein Ferienquartal.“

„Wenn der Lehrer wirklich ein geistiger Vater desKindes sein und dieses auch sittlich leiten soll, darfer den jugendlichen Geist nicht in die Fesseln tro-ckener Kenntnisse und unfruchtbarer Regeln schla-gen, sondern muss, da er dem Schüler mit dem erfor-derlichen Spielraum des Geistes zugleich den unmit-telbaren Verkehr mit der Natur gestattet, Geist undHerz und Leib mit einem Male pflegen“. Je wenigerdas Kind von Kenntnissen erdrückt wird, desto leich-ter wird erreicht, dass aus dem Herzen des Kindes alleLaster und zerstörenden Einflüsse verbannt werden,dass sein Gedächtnis gestärkt, sein Urteil befestigt undseine Einbildungskraft vergrößert werden.

Für den Unterricht in Schulen gibt Reich Hinwei-se auf Bau und Einrichtung der Schulgebäude, wobeidie „Subsellien“ [Sitzbänke], der umfangreichen da-maligen Literatur entsprechend, ausführlich behan-delt werden.

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Krankenhäuser und soziale Einrichtungen

„Leider erzeugen Unvernunft, Lieblosigkeit und me-chanische Verhältnisse eine Legion von Übeln, phy-sischer und moralischer Art, machen unzählige Men-schen hilflos und zum Gegenstande des Mitleids“. Danun „der Mensch in der größeren Mehrzahl der Fäl-le nur sehr beschränkt dasteht“, werden „öffentlicheOrte benötigt, wo Unglückliche und Leidende Auf-nahme, Hilfe, Heilung der Leiden finden, oder wo dieBarmherzigkeit das Scheiden ihnen leicht macht unddie Überreste der ewigen Ruhe teilhaftig werden lässt:Hospitäler“.

Krankenhäuser sollte es überall geben und „in derTat sollte die Gemeinschaft aller Bürger möglichst vie-le Hospitäler gründen und reiche Private sollten, nichtum bewundert und in Zeitungen gepriesen zu wer-den, sondern aus wahrer Menschenliebe das Gleichetun“. Die Krankenhäuser müssen, ohne nach Vermö-gen, Herkunft, Nationalität u.s.w. zu fragen, jedem Be-dürftigen offenstehen. Die angebotene Krankenpfle-ge muss freiwillig sein, denn es ist gewiss, „dass derKrankenpfleger, welcher sein Amt des Brotes wegenverrichtet und nicht aus reiner Nächstenliebe dazugeführt wurde, in der Mehrzahl der Fälle der Mensch-heit keinen erheblichen Nutzen bringen werde. DerRat der Wohlfahrt tut danach am besten daran, Phil-anthropen zur Krankenpflege aufzufordern, und nurjene Posten, welche Berührungmit den Kranken nichterheischen, durch menschliche Maschinen zu erset-zen.“

Alle Krankenhäuser eines politischen Gebietes sol-len dem Gesundheitsrat dieser Region unterstehen.Dieser wird für deren Errichtung außerhalb von Städ-ten und Dörfern Plätze mit gutem Boden in der Nähevon Gehölzen bevorzugen. Eine Versorgung mit gu-tem Quellwasser ist notwendig, jedoch soll das Spitalnicht in unmittelbarer Nähe von Gewässern stehen,was eine Gefahr für die Gesundheit wäre; wie ja ausder Geschichte der Cholera zur Genüge bekannt ist.So ist auch die Einleitung der „Unreinigkeiten einesKrankenhauses“ in ein Gewässer verboten.

Danach stellt sich die Frage nach der Größe einesKrankenhauses. Am besten besteht es aus einer An-zahl kleiner Häuser, die nicht mehr als eine Treppehoch sind. Jedes hat bis zu vier Zimmer, deren jedesmit höchstens vier Kranken belegt wird. Diese klei-nen Häuser müssen getrennt mitten in einem Gar-ten stehen. Ein solches Pavillon-System vereinigt diegesundheitlichen Qualitäten einzelner kleiner Spitälermit den ökonomischen und administrativen Vorteilenvon großen Krankenhäusern.

„Ein Gegenstand, welcher der größten Fürsorge vonSeite der Polizei der Gesundheit bedarf, ist die innereEinrichtung der Hospitäler“. Das Hauptaugenmerk istauf gute Reinig- und Desinfizierbarkeit, Vermeidungvon Staub und üblen Gerüchen und guter Durchlüf-tung zu legen.

„Leider sind Krankenhäuser häufig Brutstätten en-demischer Krankheiten und tragen zur Verbreitungherrschender Epidemien sehr wesentlich bei“. EtlicheMenschen, die mit irgendeinem leichten Übel aufge-nommen worden sind, verlassen die Spitäler als Lei-chen oder als von einem im Spital erworbenen Übelwieder Genesene. Als Ursachen gelten Feuchtigkeitund mangelhafte Lüftung der Räume, Unsauberkeit,Gerüche der Leibstühle und Aborte, schlimme Nach-barschaft der Kranken. „Im Großen und Ganzen lässtsich sagen, dass außer der Geschicklichkeit der Ärz-te und der Gewissenhaftigkeit der Krankenwärter, dieHygiene es ist, welche die Sterblichkeit der Spitälerherabsetzt; je besser also ein Krankenhaus gebaut,eingerichtet, gehalten wird, desto geringer muss da-rin die Mortalität [recte: Letalität] sein“.

In der damaligen Diskussion, ob Findel-Häusernotwendige oder sogar schädliche Institutionen fürdie Unterbringung von Findelkindern [ausgesetzteSäuglinge und Waisenkinder] sind, lehnt Reich dieseab und wünscht die Errichtung von Findel-Koloni-en „unter Leitung der Wohlfahrtsbehörde und unterspezieller Aufsicht eines Hygienischen Direktors“.Diese Kolonien sollen „in einer durchaus gesund-heitsgemäßen Gegend mit gutem Trinkwasser undNadelholzwäldern sich befinden, und wohlwollendeFamilien wie einzelne Frauen herbeiziehen, die gegenÜberlassung von Haus, Garten und Feld der Erzie-hung der Findelkinder“ sich annehmen. Natürlichmüssten in diesen Kolonien Schulen u.s.w. bestehen,so dass den Kindern außer körperlicher Gesundheitund sittlicher Erziehung auch eine Geistesbildung si-cher wäre. Solche Kolonien würden aus den Kindernbrave, fleißige Menschen erziehen und nicht die Un-zucht fördern, wie sie von den Findel-Häusern jenerZeit bekannt war.

„Die Hygiene der Entbindungs-Häuser ist im Gro-ßen und im Ganzen mit der Hygiene der Kranken-häuser gleich bedeutend“. Die Sterblichkeit ist untergleichen hygienischen Verhältnissen dort am gerings-ten, wo die Räume mit gesundester Luft versorgt undnicht überfüllt sind und sich die kranken Wöchne-rinnen streng gesondert aufhalten. Die Entbindungs-Häuser sollen außerhalb der Städte und im Pavillon-System errichtet und nicht mit Spitälern oder Findel-Häusern kombiniert werden.

Gefängnisse

Gefängnisse als Institute der Bestrafung durch Entzugder Freiheit und der bürgerlichen Rechte dienen aberauch der Erziehung und Besserung. „Da es nicht derZweck humaner Gesetzgebung sein kann, den Men-schen zu martern und Vergeltung an dem Unglück-lichen zu üben, muss das Gefängnis durch Bau undEinrichtung geeignet sein, die leibliche Verfassungdes Verbrechers, des sittlich und meistens physischKranken zu bessern; denn erst ein leiblich normalerMensch ist moralischer Besserung und Vervollkomm-

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nung fähig. Gefängnisse, die wirklich Nutzen gewäh-ren sollen, müssen Erziehungshäuser und Hospitälermit einem Male [zugleich] sein. Die Gefängnisse altenSchlages sind Folterkammern, deren Wirkung vervoll-ständigt wird durch die Vorurteile der Bevölkerungwider die aus der Haft entlassenen Bestraften.“

In jedem Gefängnis müssen den Gefangenen Licht,gute Luft und genügend Wasser zum Trinken und Wa-schen und genügende Ernährung zur Verfügung ste-hen, die Räume müssen frei von Feuchtigkeit, üblenGerüchen, Unreinlichkeit, Hitze und Kälte sein. Da dashierfür günstige Pavillonsystem für Zellen-Gefängnis-se nicht möglich ist, sollen diese, wie für Spitäler an-gegeben, auf freiem Felde erbaut werden. Geeignetsind Gefangenen-Häuser mit höchstens zwei Stock-werken und nicht mehr als zweihundert Insassen. Dadie Fenster stets nur ins Freie und nicht in den Hof ge-richtet sein dürfen, ist den Gefangenen das beliebigeÖffnen zu gestatten.

„Die Beschäftigung der Gefangenen übt mittelbarwie unmittelbar Einfluss auf Gesundheit und Wohldieser Unglücklichen. Es ist ein köstlicher und wahr-haft menschenfreundlicher Grundsatz, Neigungenund Fähigkeiten des Gefangenen bei der Wahl seinerBeschäftigung obwalten zu lassen.“ Schwierig ist es,die jeweils bestgeeignete Arbeit und ihre Dauer zuermitteln. Es empfiehlt sich immer, „die Gesetze derHygiene und nicht die des Eigennutzes zur Grund-lage der Arbeitsangelegenheiten in Gefängnissen zumachen“.

„Aus dem Gesichtspunkte der polizeilichen Hygie-ne wird die Frage sich geltend machen, ob man denStrafgefangenen Genüsse erlauben und Gymnastikempfehlen soll.“ „Beischlaf und Gefängnis schließeneinander aus. Arbeit und Gymnastik sollen die Hit-ze des Zeugungstriebes während der Haft dämpfen.“Genuss des Tabaks in jeder Art soll ausnahmsweiseund in beschränktem Ausmaß gewährt werden, umEntziehungserscheinungen von Körper und Gemützu vermeiden. Kleine Mengen von Bier und Weinkönnen schwer arbeitenden Gefangenen von Vorteilsein. „Gymnastik und Promenade, und zwar täglichausgeführt, sind dem Gefangenen ein wahrhaftesBedürfnis.“

Die Frage, ob gemeinsame oder Einzelhaft der Ge-sundheit mehr schadet, lässt sich nicht eindeutig be-antworten. Erstere ist moralisch schädlich, weil sieden Verhafteten Gelegenheit gibt, sich gegenseitig inden Lastern zu unterrichten. „Die Einzelhaft ist derGesundheit und dem Leben im allgemeinen weni-ger vorteilhaft; doch wenn sie gut geleitet wird, wennder Einzelzellen-Gefangene von Menschenfreunden,vom Arzt, Lehrer, Prediger, Direktor häufig besuchtwird, wenn er human behandelt und entsprechendverpflegt wird, dann dürfte die Einzelhaft der Sitt-lichkeit, Gesundheit und Lebensdauer wohl förderlichsein.“

„Wie bei den Hospitälern so ist auch bei den Ge-fängnissen die Sterblichkeit der Bewohner ein Maß-

stab der Salubrität des Hauses“. Der Vergleich ver-schiedener Anstalten führt Reich „zu dem Schlusse,dass es unerlässlich sei, alle physisch herabgekomme-nen, schwächlichen, schlecht genährten Gefangenendurch entsprechende, kräftigende Nahrung und denEinfluss einer umfassenden Hygiene zuvor gesund,stark zu machen. Erst unter dieser Voraussetzung wirdder Erziehung Erfolg gesichert, wird die Arbeit zu ei-nem Mittel, Gesundheit und Sittlichkeit zu erhöhen,[sie]überhaupt zu erzeugen.“

„Weil der Verbrecher durch das von der bürgerli-chen Gemeinschaft verursachte Elend dazu getriebenwurde, das Gesetz zu verletzen, ist es die Pflicht derGemeinschaft, in Gefangenenhäusern durch Gewähr-leistung einer umfassenden Hygiene aus dem Verbre-cher einen vollen Menschen, einen gesunden Men-schen zu machen, ihn zu bilden, zu veredeln und zueinem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu erzie-hen.“ Tut sie das nicht, dann ist sie „eine Gesellschaftvon Schurken und Vampiren, von gewissenlosenGeiz-hälsen und Teufeln“ und „verdient den Strick“.

Die Verantwortung des Rates der Wohlfahrt endetnicht mit der Entlassung aus der Haft. Ihm obliegtder Schutz der Entlassenen zumindest bis sich dafürgeeignete Vereine gebildet haben, die „unter seinemAuge das Werk der Liebe fortführen“.

Institute der Gewerbetätigkeiten und desHandels

DemRat der Wohltätigkeit obliegt es auch, sich der In-stitute der Gewerbetätigkeiten und des Handels anzu-nehmen. Er muss die Besitzer und Verantwortlichenvon Fabriken und Werkstätten verpflichten, die „Sa-lubrität der Arbeitsstätten“ zu erhalten. Die Gesund-heitspolizei soll dies überwachen und „die Arbeits-zeiten feststellen, die Verwendung allzu jugendlicher,schwächlicher, gebrechlicher Menschen zur Fabrikar-beit verbieten und die Arbeitgeber für das Wohl derArbeitnehmer, so weit überhaupt dies möglich ist, ver-antwortlich machen“.

„Da aber durch dieses von der Hygiene diktierteVerfahren verschiedene wirkliche oder vermeintlicheInteressen geschädigt werden, so müssen ökonomi-sche Institute [Maßnahmen], vorzüglich abermuss dieBarmherzigkeit [das soziale Verhalten] hier ergänzendwirken, den Schaden gut machen, die schützendeHand über die Jugend, das Alter und die Gebrechlich-keit halten und den Ermatteten neue Kräfte einflößen.Nur durch das Gegengewicht guter, die Sicherheit ge-währender Institute, und andererseits der Barmher-zigkeit, werden Fabriken und Werkstätten das Wohlder Arbeitenden nicht [schädigend] beeinflussen.“

„Die Fabriken sind leider für das zivilisierte Lebenunentbehrlich geworden. Es wäre ein großes Glückfür die Menschheit, wenn man diese Institute aus-tilgen könnte, ausrotten samt der Gewinnsucht, diesie auch zur Qual für Millionen errichtete. Nun aberfragt es sich, ob das Elend der Fabriken oder jenes desLandes größer sei; ob die Sklaverei des Fabrikproleta-

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riats schwerer wiege als das Joch der Hörigkeit, derArmut mancher Bauernbevölkerungen?“ In Erfüllungder Aufgabe als Hygieniker und als „Freund und Ver-teidiger der geknechteten, ausgesaugten, verachtetenarmen Teufel, der Fabrikarbeiter und Ackerbauern“,fordert Reich im Namen der Gerechtigkeit und Liebe,„dass die Arbeitenden geschützt werden vor Krank-heit und frühzeitigem Tod, vor dem physischen undmoralischen Verderben, vor den Übergriffen der Ge-winnsucht, der Gewissenlosigkeit und des Egoismus“.„Dieser Schutz wird ihnen zu Teil durch pünktlicheAusführung der Gebote der Hygiene, teils durch dieHand ihrer Arbeitgeber, teils durch ihr eigenes Zutun,teils durch das Wirken des Rates der Wohlfahrt.“

Fabriken sollen nicht innerhalb von Städten errich-tet werden, sondern, wo es möglich ist, in „Arbeiter-städten“ und zwar so, dass „der Arbeiter zugleich einStück eigenes Feld bebauen und einen eigenen Gar-ten pflegen kann“. Wo dies nicht möglich ist und dieFabrik in bewohntem Gebiet errichtet werden soll, soist es, selbst wenn sie für ihre Arbeiter hygienisch ein-wandfrei ist, trotzdem möglich, dass ihr Betrieb dieGesundheit von in der Nähe Wohnenden schädigt.Deswegen sind alle Menschen berechtigt, vor der Er-richtung einer Fabrik in ihrer Nachbarschaft durch ih-re Zustimmung oder Ablehnung die eigenen Gesund-heitsinteressen zu wahren.

Die Hygiene einer Fabrik oder einerWerkstätte wirdbestimmt durch gute Ventilation, Reinhaltung, schnel-le Fortschaffung aller Schädlichkeiten. Die Hygienedes Fabrikarbeiters verlangt „sorgfältige Reinhaltungder Haut, Wechsel der Kleidung, genügende Nah-rung, Gymnastik, Exkursionen [Bewegung im Freien],Vorsicht, Mäßigkeit, Sittlichkeit“ und „zeitweiligen Be-trieb des Landbaues“. Unter diesen Voraussetzungenwird der Arbeiter gesund bleiben. Ganz besonderskommt es darauf an, den Arbeiter vor den einzelnenSchädlichkeiten, die ihn während der Arbeit tref-fen können, zu schützen, z.B. vor Schwermetallenund ihren Verbindungen oder Phosphor. Für mancheBerufe, z.B. Bergleute, ist es wegen ihrer besonde-ren Arbeitsbedingungen sehr schwierig, den ihnen inihrem Beruf begegnenden Gefährdungen zu widerste-hen. „Für jede Örtlichkeit treten Modifikationen imGesundheitsregiment ein, und es ist Sache des Ratesder Wohlfahrt, diese Modifikationen zu bestimmen.“

Ganz wesentlich ist die Bestimmung der Arbeits-dauer und der Zulassung von Frauen und Kindern zurFabrikarbeit. Eine auf Dauer zu lange tägliche Arbeits-zeit schädigt die Gesundheit. Ihre Verminderung istaber auch „nötig, um den Arbeiter besser in den Standzu setzen, geistig sich zu bilden“. „Das Gesetz darfKinder gar nicht, Frauen nur in beschränktem Maßezur Arbeit zulassen und muss die Zahl der Arbeits-stunden der Hygiene vollkommen gemäß feststellen.In einem Lande wird diese Zahl eine größere sein kön-nen, in dem anderen wird sie kleiner sein müssen, jenach der Rasse, der Nahrung und anderer Verhältnis-se.“

Die tatsächlich gültigen Gesetze über Kinderarbeitsollen die Situation der Familie berücksichtigen. Ambesten ist es, wenn der Vater die Sorge für die Fami-lie und seine Kinder selbst tragen kann, weil er einengenügenden Lohn erhält und vielleicht sogar ein eige-nes Konto in der Bank seiner Genossenschaft besitztoder bei Notwendigkeit durch seine Berufsassoziationunterstützt wird. In solchen Fällen mag das Gesetz dieArbeit der Kinder in Fabriken bis zu ihrem sechzehn-ten Jahr verhindern. Ist der Vater jedoch auf den Lohndes Kindes angewiesen, „dann darf das Gesetz ent-weder nur sehr wenig fordern oder aber es muss dieGemeinschaft aller Bürger die Kinder der Fabrikarbei-ter bis zu deren sechzehnten Jahr ernähren, erziehenund unterrichten“.

Zur Tageseinteilung arbeitender Kinder ist es ambesten, den Vormittag für die Schule, den Nachmit-tag für die Arbeit einzuteilen, sodass die Kinder denTag ausgeruht und geistig aufnahmefähig beginnenkönnen. Da dies nicht immer möglich ist, sind Schu-len für diese armen Kinder ohne oder nur von gerin-gem Nutzen. „Fabrikarbeit und Schule schließen ein-ander aus.“ Erst wenn es erreicht sein wird, „dass keinMensch vor dem zurückgelegten fünfzehnten Lebens-jahr die Fabrik oder die Werkstätte als Arbeiter oderLehrling betreten darf, wird die Schule Nutzen brin-gen“.

Der Gegensatz von Fabrikarbeitern und in Luxuslebenden Bevölkerungsgruppen wirft soziale Fragenauf. „Der allzu große Luxus ist nicht die Ursache, son-dern die Wirkung der Fabriken. Da es nicht in unsererMacht steht, die Fabriken auszutilgen, so sollen wirdoch deren fieberhafte Tätigkeit durch Verminderungdes Luxus beschränken.“ Die gänzliche Abschaffungder Fabriken würde aber den Arbeitern die Löhne neh-men und Tausende verhungerten. Hier sieht Reich alseinzigen Ausweg, die durch die Beseitigung des über-mäßigen Luxus ersparten Summen zum Bau von Ar-beiterhäusern, zur Beschaffung leiblicher Bedürfnisseund geistiger Nahrung für die Armen zu verwenden.Es ist also „ein gewisses Maß von Luxus zulässig, jawünschenswert, solange die Geldwirtschaft noch be-steht; es wird dieses bescheidene Maß [von Luxus] dieKinderarbeit und auch die Arbeit während der Nachtnicht erforderlich machen“.

Reich bespricht die speziellen Obliegenheiten derGesundheitspolizei für einzelne Handwerke und Fa-brikarbeiten wie auch der Beschäftigten in Handelund Verkehr.

Militärwesen

Der Besprechung der Hygiene der Schlachthäuserreiht Reich „die Erörterung über den Krieg und des-sen Institute“ an und vergleicht beide. Der Menschwird nicht wie andere Säugetiere des Fleisches we-gen geschlachtet, „sondern um ihn im Erdreiche denWürmern als Speise anzubieten, daweilen auf demErdboden die Weiber und Kinder der Geschlachteten

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wegen Mangel an Fleisch verkümmern, verschmach-ten, verhungern“. Die Menschen „begeistern sich fürden Krieg, weil die Nächstenliebe nicht in ihren Her-zen, sondern nur auf ihren Zungen residiert“. Weilsie noch nicht „vom Viehischen sich emanzipierten,um die ganze Verruchtheit des systematischen Mor-dens zu begreifen und aus der Tiefe der Überzeugungzu verabscheuen, zu verdammen, zu brandmarken“.„Krieg und Tugend, Krieg und Glückseligkeit, Kriegund Gesundheit“ schließen einander aus. Aber es wer-den die Kriege und damit deren Hygiene und Medizinnicht aufhören, solange Menschen ihre Mitbrüderals für ihren Eigennutz und ihre Blutgier geeigneteObjekte halten. „Die beste Hygiene des Krieges istTilgung der Selbstsucht, Tilgung der Armut, Hebungder Moral. Die Abschaffung der stehenden Heere istnur ein palliatives Mittel.“

Da der Krieg sicher noch lange unvermeidlich seinwird, müssen Männer zum Militärdienst. Für ihreAufnahme in die Nationalgarde oder Volkswehr solldie Konskription [gesetzlich geregelte Einberufung derwehrfähigen Männer], in die Armee das Werbesystemeingesetzt werden. „Durch das Werbesystem werdendem bürgerlichen Leben Kräfte nicht entzogen, eswird aber die Gesellschaft von Individuen befreit, dieihr besondere Vorteile nicht eingebracht hätten, dieaber als Krieger ganz am Platze sind.“ „Die Konskripti-on für das stehende Heer ist durchaus unhygienisch“,denn sie führt zum späten Heiraten der Gesündestenund Kräftigsten aus der Bevölkerung. Sie ist aber auchvom „Gesichtspunkt der Moral und der Ökonomie zuverdammen, denn sie wirkt mittelbar entsittlichendund befördert, besonders durch das Moment blutigerKriege, die Massenarmut.“

Die Sterblichkeit der Soldaten ist selbst im Friedenhoch, auch wenn die Kasernen in trockenen Lagenstehen, aber durch fehlerhaften Bau feucht und „me-phitisch“ [Mephitis (lat.)= schädliche Ausdünstung derErde] sind und Luft und Licht nicht genügendenZutritt haben. Dazu kommen noch u.a. Unregel-mäßigkeiten des alltäglichen Lebens, Entbehrungen,Überanstrengungen und klimatische Schädlichkei-ten. Solche Einflüsse und Krankheiten fordern imKrieg mehr Soldatenleben als Feindeinwirkungen. AlsAbhilfe sieht Reich „eine umfassende Hygiene, aus-geführt zunächst vom Rat der Wohlfahrt durch dieMittel freier Militärärzte, und alsdann von den Solda-ten selbst durch das Mittel hygienischer Bildung undhygienischen Lebens“. Für eine wahre Militärhygienezur Verhütung der großen Sterblichkeit in den Armeenmüssen die Militärärzte selbständig sein, eine in allenmedizinischen und hygienischen Dingen entschei-dende Stimme haben und vom Rat der Wohlfahrtkräftig unterstützt werden. Tatsächlich verrichten dieMilitärärzte in den meisten Ländern ihre schwere Auf-gabe voll Verantwortung, wofür sie jedoch schlechtenLohn und die Verachtung von Staat und Offizieren er-halten. Somit wäre es am besten, wenn sie nicht zumSoldatenstand gehörten, sondern Organe des Rates

der Wohlfahrt wären. Dieser müsste als oberster Lei-ter der Kasernenverwaltung die alleinige Instanz derEntscheidung über alle hygienischen Entscheidungenund somit auch des Baues der Kasernen sein. Ambesten wäre es, die Kasernen niederzureißen und sie,durch ein System kleiner Häuser für je sechs bis achtSoldaten zu ersetzen. Sie könnten aber auch durchBauten „nach Art der Zellengefängnisse oder Klöster“ersetzt werden, in denen jedem Soldaten eine Zellezugewiesen wird.

Soziales Leben

Bei der sanitären Überwachung von Volksfesten hatdie Gesundheitspolizei insbesondere auf die Verhin-derung von Stuhlentleerungen in Nähe der Budenund auf die Wahrung der Sittlichkeit durch Entfer-nung Betrunkener und Verhinderung des Beischlafsauf dem Festplatz zu achten. Aber „einerlei, ob eineHure in oder außerhalb des Bordells ihr Handwerktreibt: wenn sie gut überwacht, täglich ärztlich unter-sucht und im Erkrankungsfall sofort in das Hospitalgebracht wird, steht für die öffentliche Gesundheitwenig zu besorgen“.

Es ist die Vermeidung der Prostitution überall undin allen Schichten der Bevölkerung anzustreben. Dieunbedingte Voraussetzung dafür ist die Beseitigungdes Elends. Aussicht auf das allmähliche Erlöschender Prostitution kommt, wenn die Gesellschaft „aufder Höhe der moralischen Bildung steht“, wenn siealso „von Nächstenliebe und nicht von Selbstsucht re-giert wird“. „Moralische Vervollkommnung und Ban-nung des Elends sind hier die prophylaktischen undheilenden Mittel.“

Die Institution des Leichen- und Begräbniswesenhatte als wichtige Aufgabe, der Furcht der Menschenvor dem Lebendig-begraben-werden entsprechend,Vorkehrungen zur sicheren Feststellung des Todeszu treffen. Dann mussten die Umstände bestimmtwerden, unter denen der Tote begraben, verbranntoder einem Oberflächenwasser übergeben werdensoll. Dazu gehörte auch die Regelung von Anlage undBetrieb der Friedhöfe durch die Gesundheitspolizei.

Gesundheitspolizei der Epidemien

Reich hat seine anfangs der 1870er-Jahre geäußerteMeinung [24–26] über Epidemien in seinen 1894 er-schienen „Studien über die epidemischen Krankhei-ten und deren Verhütung“ [32] gänzlich geändert dar-gestellt, nämlich wie folgt:

Jedes organisierte Wesen ist ununterbrochen voneiner Hülle aus Gasen und Dämpfen umgeben. Strö-men diese rasch in den großen Luftkreis, so werdensie zersetzt und bleiben ohne jeden nachteiligen Ein-fluss auf beseelte Geschöpfe. Je weniger sich einePersönlichkeit in physischer, moralischer und gesell-schaftlicher Beziehung wohl zeigt, destomehr sind dievon ihr ausgeschiedenen Gase und Dämpfe schädlich,

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desto mehr setzt ihr Einfluss das leibliche und see-lische Widerstandsvermögen des Individuums selbstund anderer Individuen herab. Wird sodann der Or-ganismus von irgendeiner Schädlichkeit getroffen, sokann er dieselbe nicht überwinden und erkrankt.

„Im Großen und Ganzen fallen Persönlichkeitenmit vollkommen normaler Lebensweise und kon-zentriertem, die niederen Leidenschaften beherr-schendem Seelenleben physischen und psychischenSeuchen nicht zum Opfer.“ Besonders reine, tugend-hafte, nüchterne, willensstarke Menschen erkrankennicht während der bösartigsten Seuchen oder durchBerührung von Kranken. Ob man von einer Seucheerfasst wird oder nicht hängt nämlich vom Zustandder Seele ab, „denn alle Widerstandskraft ist See-lenkraft und jedes leibliche Verhältnis ist durch einseelisches Verhältnis bedingt“. Die Seelenkraft wirdvermindert durch heftige Gemütsbewegungen, Aus-schweifung in Bauch und Liebe, Einfluss von Elend,Mangel, Lebensnot jeder Art, Aufnahme geistiger Ge-tränke und gesellschaftliche Beziehungen, welche dieSeele niederdrücken.

Für die Entstehung einer epidemischen Krankheitist das Zusammenwirken eines schlechten Zustandesder Seele und eines Genius epidemicus Vorausset-zung. Dieser ist eine Gesamtheit von Verhältnissen injenem Teil des Weltenraumes, den die Erde zu denbetreffenden Zeiten durchfliegt, und dazu kommennoch Verhältnisse der Sonne, des Mondes, der Pla-neten, innere Vorgänge der Erde selbst und Vorgängein den diese bewohnenden Organismen. Der Geniusepidemicus ist also „keine Entität, sondern eine großeGesamtheit von kosmischen und tellurischen, physi-schen und magischen Umständen und Beziehungen“.

Bei der Kombination von epidemischem Geniusund kranker Seele hat Letztere weniger Einfluss auf die„Zellen-Staaten gewisser Gewebe und Flüssigkeitendes Körpers“ und es werden diese in Mikroorganis-men umgewandelt. Unter diesen Umständen könnensich auch Mikroorganismen der einfachsten Art au-ßerhalb des Körpers bilden und in diesen eindringen.Der ganze Organismus wehrt sich durch Aufgebotder Kraft der Seele, die sich mit Hilfe von Chemie undPhysik gegen die Wirkungen des epidemischen Geniusrichtet. Aber eine gesundheitswidrige Gesamtlebens-weise setzt die Seelenkraft herunter und vermindertdadurch das Widerstandsvermögen des Organismus.

Zur Verhütung und Bekämpfung der Entstehungeiner epidemischen Krankheit muss man, da die Ent-wicklung des Genius epidemicus nicht verhindernwerden kann, die Entwicklung der höheren See-lenkräfte, der Ästhetik und Moral und die Tilgungder brutalen Leidenschaften durch umfassende Ge-sundheitspflege des Körpers, der Seele und auch derGesellschaft erreichen.

Zur Heilung epidemischer Krankheiten ist es not-wendig, dem Kranken das höchste Maß von psychi-schen Kräften zu sichern, um die Seele von den Hin-dernissen ihrer freien Wirksamkeit zu entlasten. Dies

geschieht „durch unmittelbaren psychischen und ma-gischen Einfluss des Arztes, des Priesters, des Pflegers,der Freunde“ des Kranken sowie durch dessen eigeneWillenskraft und die gesamte körperliche Hygiene. Esist ein Irrglaube, es könne durch Arzneien eine epide-mische Krankheit kuriert werden, denn diese für denKörper fremden Stoffe veranlassen unnütze Abwehr-reaktionen und damit schädlichen Kraftaufwand.

Epidemische Krankheiten können Seuchen hervor-bringen. Diese entstehen aus den „eigentümlichenVerhältnissen der Welt außerhalb des Menschen“und vorzüglich durch diesen selbst, nämlich durch„Vorurteil, Unkenntnis, Selbst- und Habsucht, unge-eignete Sparsamkeit und Lieblosigkeit“. Diese sinddie „Wirkungen des leiblichen und sittlichen Elends“.Denn „aus dem Elend fließt Vernachlässigung derGesundheitspflege“ und auch „Übermut und Üppig-keit“ als „Disposition zu den seuchenartigen Leiden“.Die Ausbreitung einer Seuche wird, wie man von derCholera weiß, nur gehemmt durch eine Lebensartnach den Regeln der Hygiene, also durch Seelenkraft,welche die Fantasie meistert und die Zellen-Staatenin der Bildung von Mikroorganismen psychisch undmagisch beherrscht. Daraus geht hervor, wie wertlosDesinfektion, Impfen, Medikamente, Grenzsperrenoder Quarantänen sind.

Selbst wenn durch irgendwelche chemische oderphysikalische Desinfektionsmaßnahmen alle Mikro-organismen abgetötet würden, so wäre die Seuchenoch nicht aus der Welt geschafft. Die Verhältnis-se, welche die Mikroorganismen entstehen ließen,wären dadurch nicht im Geringsten verändert. Siewürden ununterbrochen die epidemische Krankheiterzeugen, so lange „seelen-unkräftige“ Individuen dasind, deren Seelenkraft durch schlechte hygienischeVerhältnisse geschwächt wird, oder bis anderen epi-demische Konstellationen auftreten. Impfungen sinddeswegen ungeeignet, weil die in den Körper einver-leibten Stoffe dort einen Kampf auslösen und diesernimmt dem Körper und der Seele Kraft.

Jene edlen Menschenfreunde, die ihre finanziel-len Mittel „dazu anwenden, ihren Arbeitern gesund-heitsgemäße Wohnungen zu bauen, die Bildung undVeredelung ihnen sichern“, haben den Weg zur Vor-beugung von Epidemien gezeigt. „Sie erziehen massi-ge, reinliche, gebildete, gesunde Menschen, die guteLuft atmen, gutes Wasser trinken, wohl sich kleidenund angemessen wohnen, vor Schädlichkeiten sichzu schützen und in Augenblicken der Gefahr sich zuhelfen wissen“.

Das Ende der epidemischen Krankheiten ist erstdann zu erwarten, wenn die epidemischen Konstel-lationen auf körperlich und seelisch gesundheitsge-mäß lebende Menschen treffen werden, also „wennUngesundheit, Gesundheitswidrigkeit, Hab- und nie-dere Genusssucht gebannt sind“.

„So wie das Elend die somatischen Seuchen ver-schuldet, so verursachen Dummheit und Aberglaubedie psychischen Seuchen“. Deren Verhütung verlangt

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„Erziehung zu Vernunft und Nächstenliebe, geeig-netes diätetisches Verhalten und Vorsicht, sittlicheReinheit, Desinfektion fanatischer Lehren, Lüftungder Räume, die durch das Gift der Selbstsucht, derLieblosigkeit, der Herzens-Härtigkeit, des praktischenMaterialismus, der Unduldsamkeit und Verfolgungs-sucht verpestet sind“.

Reich fasst zusammen, dass die Volkskrankheitenaus Fehlern des Menschen oder aus besonderen Ver-hältnissen der Umwelt entstehen. Zur Bekämpfungund Vernichtung der Epidemien gehört also zweier-lei: die Verbesserung von uns selbst und die Verände-rung der Außenwelt in einer unserer Wohlfahrt ent-sprechenden Weise. Dafür gibt es nur ein einzigesRezept: „die Hygiene – zunächst die polizeiliche, inzweiter Linie die diätetische, soziale und moralischeHygiene. Sie ist das Zeichen, in dem der Mensch überdie Epidemien zu siegen vermag.“

Zusammenfassung

Entgegen der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts steigenden Bedeutung der sich entwickelndenBakteriologie und der Kenntnis umweltbedingter che-mischer und physikalischer Noxen sieht Eduard Reichals Hauptgrund für die Entscheidung zwischen Ge-sundheit und Krankheit die Funktionen der „See-le“. Davon seien für das normale Leben von Bedeu-tung: „Tugend“ (das ist Gemeingeist, Pflichterfüllung,Selbsterkenntnis), Vernunft zum Erkennen der Zu-sammenhänge, Sittlichkeit sowie Nächstenliebe und„Barmherzigkeit“ (soziales Verhalten). Das Ziel derHygiene sei somit, das Gute zu fördern und das Bösezu verhindern. Sie bewirkt damit Gesundheit, Tugendund Glück, einerseits für den ganzen Menschen odereinzelne seiner Organe andererseits auch für die Ge-sellschaft. Das Endziel der Hygiene ist für Reich abernicht bloß die Erhöhung der Leistungsfähigkeit derBevölkerung für irgendwelche ökonomische oder mi-litärische Zwecke, sondern auch die Gesunderhaltungder Seele.

Entsprechend den Aufgaben und Zielen der Hygie-ne teilt Reich diese in vier Gebiete.

Die Moralische Hygiene will mit Hilfe von Erzie-hung, Unterricht und Religion die durch das Gehirngeleiteten Handlungen, Gemütszustände und Leiden-schaften für den Normalzustand regulieren.

Die Soziale Hygiene bemüht sich um das Wohl derganzen Bevölkerung. Das betraf zu Reichs Zeit beson-ders Fragen der Arbeit, als deren Grundpfeiler er Mo-ral, Hygiene und Ökonomie erkannt und bearbeitethat, und damals wie heute auch die Folgen von Mi-grationen.

Die Diätetische Hygiene, wohl die historisch ältesteAufgabe der Gesundheitserhaltung, kümmert sich umdie leiblichen Bedürfnisse des Menschen und den Ge-brauch seiner Organe. Hierfür sind Vernunft und Vor-sicht, Übung und Mäßigung, also Moral und körper-liche Ertüchtigung Voraussetzung. Das Ziel ist nicht

nur die Erhaltung der Gesundheit, sondern auch dieErreichung eines hohen Alters in Gesundheit.

Die Polizeiliche Hygiene (Gesundheitspolizei) hatdurch Erlass und Sicherung der Einhaltung von Maß-nahmen für die Gesundheit des Volkes zu sorgen. Siemuss mit Barmherzigkeit und Menschenfreundlich-keit vorgehen und, da das Elend ihr ärgster Gegner ist,die falschen Ansichten einer gefühllosen Ökonomieparalysieren. Die Aufgaben der Gesundheitspolizei dereinzelnen Verwaltungsregionen sollen Wohlfahrtsrätemit je einem gesetzgebenden und einem vollziehen-den Teil übernehmen, und zwar je ein Wohlfahrtsratfür Gesundheit, für Erziehung und für Sicherheit.

Reichs Auffassung von der Hygiene als Ergebnis derAnwendung von Moral und Nächstenliebe im Lebensowohl jedes Einzelnen als auch der ganzen Gesell-schaft rechtfertigt deren wieder vergessene Bezeich-nung als „Kultur-Hygiene“.

Interessenkonflikt H. Flamm gibt an, dass kein Interessen-konflikt besteht.

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