Normale Wunder
Gott hat alles aus nichts geschaffen. Aber das Nichts scheint durch.
Paul Valery
Krisen sind wir gewohnt. Es ist nicht nötig, eine Zeitung zu le
sen oder den Fernseher einzuschalten; seit Jahren verfolgen uns die aktuellen Tatarennachrichten auf Schritt und Tritt, weil wir ständig eine kleine mobile Alarmanlage mit uns herumschleppen. Von unfaßbaren Katastrophen eingeschüchtert und von winzigen Störungen verfolgt, leben wir in einer durchlöcherten Normalität, durch die das Chaos uns höhnisch entgegengrinst. Daß fortwährend etwas schiefgeht, daran haben wir uns also gewöhnt. Der Flug ist gestrichen, das Callcenter antwortet nur mit endlosen, schmierigen Musikschleifen, die Rolltreppe ist außer Betrieb, die Autobahn gesperrt. Überall Parkverbot, Börsencrash, Computerabstürze, Fußballkrawalle, Tornados, Mieter
bähungen, Ozonlöcher, Staus und asymmetrische Kriege. So konfus zappt die Tagesschau zwischen Wichtigem und Belang
losem hin und her. Das Durcheinander ärgert und verwirrt uns, aber es wundert uns nicht. Wer Gedichte liest, wußte Bescheid:
» Überstehn ist alles«. Aber das ist auch nur die halbe Wahrheit. Wie sähe es wohl mit der anderen Hälfte aus, wenn wir probehalber die Perspektive änderten? Wenn wir uns fragten, wie es kommt, daß überhaupt irgend etwas »klappt« und nicht vielmehr nichts? Statt uns über
69
alles, was uns mißfällt, zu beschweren, sollten wir darüber staunen, daß mitten im Irrsinn das eine oder andere tatsächlich funktioniert, und zwar nicht nur gelegentlich oder ausnahmsweise, sondern sogar jeden Tag von neuem. Damit verletzt unsere Alltagsrealität nämlich den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der behauptet, der Zustand eines beliebigen Systems nähere sich unweigerlich der Entropie. Das hört sich geheimnisvoller an, als es ist. Das maximale Durcheinander ist nämlich zugleich der maximale Ausgleich aller Unterschiede. Man nennt das auch den Wärmetod. Wenn dieser Zustand erreicht ist, kann schlechterdings nichts mehr passieren. Es gibt keine Störung, und das heißt, kein Lebenszeichen. Natürlich wären wir dann nicht mehr da und könnten uns folglich auch nicht mehr ärgern. Allerdings hat selbst dieses unumstößliche Gesetz einen Haken. Es gilt nämlich nur für geschlossene Systeme. Nur wo sind die eigentlich zu finden? Das Universum etwa, um ein besonders
großes Beispiel zu nennen - ist es abgeschlossen und isoliert? Das weiß niemand genau, aber es könnte immerhin sein. Von der Erde jedoch kann das niemand im Ernst behaupten. Denn die Sonne sorgt, solange sie nicht ausgebrannt ist, für Strahlungsenergie von außen.
Bis es in ein paar Milliarden Jahren soweit kommt, sollten wir uns in Geduld fassen und mit zweierlei Einsichten abfinden. Erstens: Alle spontan ablaufenden Prozesse sind irreversibel. Zweitens: Systeme, die nicht früher oder später versagen, gibt es nicht. Und drittens: Das eigentliche Wunder besteht nicht darin, daß irgend etwas kollabiert, sondern daß viele Systeme wenigstens eine Zeitlang in einem labilen Gleichgewicht verharren. Sie sind zwar immer nahe daran zu kippen, aber wer in einem solchen Zustand
lebt, der hat das Gefühl, es habe damit noch gute Weile. Man wartet also zum Beispiel an der H altestelle an der Ecke, und
es begibt sich ein Wunder. Der Bus kommt wirklich. Man betritt den nächsten Supermarkt, und pünktlich liegt die Flasche
70
mit der frischen Milch bereit. Man überquert die Straße, und kein Maschinengewehrfeuer ist zu hören. Es klingelt an der Tür, und
nicht der KGB, der Verfassungsschutz oder die Mafia suchen uns heim, sondern nur unser griechischer Paketbote, der wie immer ein Ausbund an Zuverlässigkeit und guter Laune ist. Wir nennen solche Verhältnisse normal, obwohl sie alles andere als selbstverständlich sind. Um das einzusehen, reichen minimale Geschichts- und Geographiekenntnisse völlig aus. Hierzulande liegt der absolute Horror schließlich nur ein paar Jahrzehnte zurück, und in anderen Regionen der Erde ist er nach wie vor an der Tagesordnung. Dort ist das Leben oft so, wie der englische Philosoph Thomas Hobbes es beschrieben hat, »arm, gemein, brutal und kurz«. Was wir vor uns haben, wenn wir aus dem Fenster schauen oder vor die Tür treten, ist somit eine Ausnahmeerscheinung - extrem unwahrscheinlich, und schwer zu erklären.
Wie kann es überhaupt zu »geordneten Verhältnissen« kommen -was immer das heißen mag-, in einer Gesellschaft, die zu nicht
unerheblichen Teilen aus Kostgängern, Hütchenspielern, Staatssekretären im einstweiligen Ruhestand, Anlageberatern, Werbefuzzis, Lifestyle-Gurus, Showmastern, Subventionskünstlern, Sicherheitskräften und Skinheads besteht, die sich davor hüten, irgend etwas Brauchbares herzustellen? Natürlich spricht es nicht gegen, sondern für eine Republik, wenn sie alle Arten von Luftmenschen ohne Murren erträgt und füttert. Aber zu dieser Teilmenge tritt auch noch der Anteil der Unmotivierten, der Sturköpfe, der Pfuscher und der Querulanten unter den ordentlichen Leuten, die man früher gern als N ormalos bezeichnet hat. Wie viele das sind, weiß keine Statistik zu sagen, und keine Psychologie vermag die tiefen Dunkelzonen der Intelligenz auszuloten.
Undtrotz alledem funktioniert das Ganze, wenn man nicht allzu genau hinsieht, reibungslos. Es müssen also verborgene Ressourcen am Werke sein, Reste von freiwilliger Bemühung, unbeirrbarer Gutmütigkeit und mysteriösem Fleiß, die unsere Zustände
71
am Laufen halten. Anders ist das Behagen im Unbehagen nicht zu erklären.
Oder sollte das Geheimnis der Bewohnbarkeit Europas am Ende in den Institu tionen zu suchen sein? Reste von Rechtsstaat und D emokratie sind immerhin vorhanden. Gewöhnlich kommt, wenn es brennt, die Feuerwehr, die Stadtgärtnerei sorgt für Stiefmütterchen, und die Amtsgerichte verknacken regelmäßig kleine Ladendiebc. An Strafzetteln und Steuerbescheiden mangelt es nicht. Trotzdem fragt man sich, ob es an einer weisen Regierung liegt, daß irgendeine untergründige Tatkraft unser Überleben ermöglicht, oder ob es sich nicht umgekehrt verhält; ob das, was hier floriert, floriert, nicht weil, sondern obwohl es Regierungen gibt, die immerzu mit neuen Vorschriften, Erlassen und Direktiven jede produktive Regung zu lähmen suchen.
Ein kleines Land, das selber daran zweifelt, daß es wirklich existiert, das Königreich Belgien, hat bewiesen, daß man auch oh
ne O brigkeit ganz gut auskommen kann. Denn seit dem April 20 10 herrschte dort über ein Jahr lang ein Als O b. Der belgisehe Ministerpräsident tat nur noch so, als wäre er Ministerpräsident, und dieser Zustand schien niemanden zu stören. Ganz im Gegenteil, den Belgiern gefiel es offenbar, daß man sie in Ruhe ließ. Die Stadtgärtner gossen weiter die Blumen im Park von Laken, als ginge sie die permanente Regierungskrise nichts an. Die sauberen und die schmutzigen Geschäfte gediehen wie eh und je, die Zöllner legten die Hand in den Schoß, und die berühmten Pralinen waren nach wie vor von bester Qualität.
Woran mag das liegen? Von Urvertrauen zu reden, wäre sicherlich eine maßlose Übertreibung. D enn nur wer von Sinnen ist, würde alles für bare Münze nehmen, was die Medien erzählen
oder was von den zahllosen Krisengipfeln verlautet. Jedes Wahlversprechen wird von den Stimmberechtigten sofort diskontiert. Eine Bank, die ihren Kunden einreden wollte, daß sie ihr Vertrauen verdient, würde sich nur lächerlich machen. Niemand läßt sich gerne über den Tisch ziehen.
72
Und trotzdem verlassen sich die Leute darauf, daß der Türke am Gemüsestand bereit ist, gegen einen buntbedruckten Zettel Radieschen und Kartoffeln herauszurücken. Wirte und Taxifahrer glauben daran, daß der Gast bezahlen wird. Wer spät nach H ause kommt und auf den Schalter drückt, ist nicht verdutzt, wenn
es hell im Zimmer wird. Es gibt Wurstbuden, die ohne H ausdetektiv und Kioske, die ohne Überwachungskamera auskommen.
Dieser entwaffnende Optimismus könnte fröhlich stimmen, wäre er nicht zugleich von einer eingefleischten Skepsis begleitet.
Wir haben es also mit einer mysteriösen Mischung aus Argwohn undVertrauen zu tun. Ein einfaches Experiment könnte vielleicht zur Lösung dieses Rätsels beitragen. Man nehme einen Topf mit weißer Ölfarbe, gieße einen Schuß Schwarz dazu, nehme ein Stöckchen zur Hand und rühre den Inhalt um. Sogleich entsteht ein Muster von wunderbarer Komplexität, eine Marmorierung, die sich jeder exakten Berechnung entzieht. Natürlich kann man immer weiter im Topf herumrühren, bisamEnde ein ödes, monochromes Grau herauskommt. Soweit kommt es aber nur, wenn unsere Mischung sich wie ein geschlossenes System verhält. Aber in der Realität ist das so gut wie nie der Fall. Im
mer neue Ingredienzen treten hinzu, so als gösse irgend jemand fortwährend neue Farbe nach, in unserem Experiment also einen
Schwall von schwarzem oder weißem Pigment. Wir selber sind es nämlich, die dafür sorgen, daß die Turbulenz nicht ab-, sondern
zunimmt, daß das Unwahrscheinliche die Oberhand behält und das Unvorsehbare siegt.
73
Top Related