Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Eine Einführung
Mag.a Petra MichlerVerhaltenstherapeutin, psych. Psychotherapeutin
Anorexia nervosa Modekrankheit unserer Tage?
Zur Geschichte der Pubertätsmagersucht
Die Symptome gibt es schon seit Jahrhunderten
Die Heiligkeit des Fastens, der Abstinenzund der Keuschheit
Der Ruhm der Hungerkünstler
Vorbilder, Idole, Stars unserer Zeiten
In der Medizin erstmals erwähntRichard Morton 1689William Gull und Charles Lasegue 1873
Bulimie 1979 erstmals beschrieben durchengl. Psychiater Russell
„Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders.
Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt
Hätte ich sie gefunden, hätte ich mich vollgegessen wie du und alle.“
Franz Kafka`s Hungerkünstler
Umfrage bei 9-13-Jährigen zum Körpergewicht (754 Kinder, Gerlinghoff et al.)
„Ich will dünner sein“
50 % der Mädchen, 34 % der Jungen
„Ich habe mind. einen Diätversuch gemacht“
36 % der Mädchen, 30 % der Jungen
„Ich fühle mich zu dick“
21 % der Mädchen, 12 % der Jungen
F 50.0 Anorexia nervosa
F 50.1 Atypische Anorexia nervosa
F 50.2 Bulimia nervosa
F 50.3 Atypische Bulimia nervosa
F 50.4 Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen
F 50.5 Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen
F 50.8 Sonstige Essstörungen
F 50.9 Nicht näher bezeichnete Essstörung
F 50 Essstörungen
Selbstverursachter Gewichtsverlust oder unzureichende altersentsprechende Gewichtszunahme, die mit einer tiefverwurzelten Überzeugung einhergeht, trotz Untergewicht zu dick zu sein. Der Häufigkeitsgipfel liegt bei 14 Jahren.
Diagnosekriterien
Niedriges Körpergewicht (weniger als 85 % des zu erwartenden Körpergewichts)BMI: Gewicht (kg) : Körpergröße (m2)Norm Frauen: 19-24Norm Männer: 20-25Anorexie: 17,5 oder weniger
Große Angst vor Gewichtszunahme
Körperschemastörung (übertriebener Einfluss des Gewichts auf die Selbstbewertung, Krankheitsverleugnung)
Amenorrhoe
Magersucht – Anorexia nervosa
Restriktiver Typus
Während der aktuellen Episode der Anorexie hat Mädchen keine Fressanfälle und kein selbstinduziertes Erbrechen, sondern ißt durchgängig sehr kontrolliert und wenig
Binge-eating / Purging- Typus
Während der aktuellen Episode hat Mädchen regelmäßig Fressanfälle und hat Purging-Verhalten ( d.h. selbstinduziertes Erbrechen oder Mißbrauch von Abführmitteln, Diuretika oder Klistieren)
Unterscheidung 2 Subtypen
Epidemiologie(deutschsprachiger Raum)
Häufigkeit von Anorexie
Mädchen und junge Frauen zwischen 15 und 20 Jahren
Punktprävalenz 0,3 - 1%Lebenszeitprävalenz 1,3 %(van Hoecken et al. 2003, Jacobi et al. 2004)
Inzidenzrate bei Anorexie (Neuerkrankungen pro Jahr):8 Fälle pro 100 000 Einwohner(Jacobi et al. 2004)
Geschlechterverhältnis Anorexie
Mädchen : Jungen 11 : 1 (Hoeck et al. 1995)
Psychiatrische Begleiterkrankungen bis zu 25 %: Depression, Zwänge, Ängste
Körperliche Folgen des Hungerns
Untergewicht, Auszehrung
Magen-, Darmstörungenverminderte Wachstumsrate, Gefahr der Osteoporose
Bradykardie, HypothermieHerzrhythmusstörungen
Kreislaufstörungen und niedrigerBlutdruck
Amenorrhoe, Lanugobehaarung
Trockene Haut, AkrozyanoseHaarausfall, Ödeme
Blutbildveränderungen,Störungen des Elektrolyt- und Mineral-stoffhaushaltes
Stoffwechselstörungen
Nierenschädigung, Hirnatrophie
Psychologische Konsequenzen der Gewichtsreduktion
AngstDepression,Stimmungslabilität
rigides Denken, begrenzte Spontaneität
Unzulänglichkeitsgefühle
Reizbarkeit, Bedürfnis die eigeneUmwelt zu kontrollieren
Sozialer Rückzug, geringeInitiative, reduzierter emotionalerAusdruck
Fixierung auf Nahrung
Konzentrationsmangel
Zwanghaftigkeit/Perfektionismus
„…ein alles durchdringendes Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit“
Hilde Bruch
Bulimie – Bulimia nervosa
Häufig auftretende Essattacken, gefolgt von dem Versuch, dem dickmachenden Effekt der Nahrung durch unterschiedliche Verhaltensweisen (Erbrechen, Laxantienabusus, Fasten etc.) entgegenzuwirken, vor dem Hintergrund einer krankhaften Furcht, zu dick zu werden. Der Häufigkeitsgipfel liegt bei 18-20 Jahren.
Diagnosekriterien
Heißhungerattacken Kompensatorische Maßnahmen zur
Vermeidung einer Gewichtszunahme Frequenz der Heißhungerattacken und
der kompensatorischen Maßnahmen mindestens zweimal pro Woche über drei Monate
Ausgeprägte Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Körpergewicht und Figur
Störung tritt nicht ausschließlich bei einer Episode von Anorexia nervosa auf
Epidemiologie(deutschsprachiger Raum)
Häufigkeit von Bulimie
Auftretenswahrscheinlichkeit von Bulimie ist 3-mal höher als die der Anorexie Bulimie Punktprävalenz 1 - 3 %(de Zwaan und Schüssler 2000)
Inzidenzrate bei Bulimie 82 Fälle pro 100 000 Einwohner (junge Frauen zwischen 20 und 24 Jahren)(Hoeck et al.)
Geschlechterverhältnis Bulimie
Frauen : Männern (Neuerkrankungsrate) 33 :1
Körperliche Folgen von Erbrechen u. Abführmittelmissbrauch
Stoffwechselstörungen
Herzrhythmusstörungen
Austrocknung
Muskelkrämpfe
Schläfrigkeitsgefühle
Magenerweiterung
Menstruationsstörungen
Entzündung der Speiseröhren- schleimhaut
Nierenschäden
Zahnschäden,Schwellung der Ohrspeicheldrüsen
Psychologische Konsequenzen der Bulimie
Depression, Stimmungslabilität
Angstsymptome, vor allem soziale Ängste
Unzulänglichkeitsgefühle, perfektionistisches Denken
vermehrter Alkoholkonsumanderer Substanzmissbrauchautoaggressive Tendenzen, mangelnde Kontrollfähigkeit,Impulsivität können vorkommen
zwanghafte Symptome bezogenauf ritualisiertes Vorgehen bei Essanfällen, Putzen u.ä.
1/3 aller Bulimiepatienten zeigenMerkmale einer Persönlichkeits- störung
Verlauf Prognose Anrexie Bulimie
VERLAUF/ PROGNOSE
(Beobachtungszeitraum ca. 10 Jahre)
Magersucht: 25% symptomfrei 50% gebessert 25% chronisch krank
Bulimie: 40% symptomfrei 40% chronisch krank oder intermittierender Verlauf 20% andere Essstörungen
Günstige Prognose: Kurze Krankheitsdauer vor der ersten Behandlung
Caveca. 60% der anorektischen Patienten entwickeln eine Bulimie!
Mortalitätsrate Anorexie / Bulimie
0,56 % der Erkrankten sterben pro Jahr an der Anorexie oder damit assoziierten Folgen
Magersüchtige haben ein 4 Mal höheres Risiko zu sterben im Vergleich zu Gesunden gleichen Alters und Geschlechts, d.h. deutlich höhere Mortalitätsrate als bei allen anderen psychischen Erkrankungen
Sterblichkeit der Bulimie 0,4 %- 7,4% (cave: wenig wissenschaftliche Untersuchungen, daher dringender Forschungsbedarf)
Ess - Sucht oder Binge - eating - disorder
Episoden von Essanfällen, mit Verschlingen großer Nahrungsmengen und dem Gefühl des Kontrollverlustes während des Essens
Essanfälle, verbunden mit Ekelgefühlen gegen sich selbst, Niedergeschlagenheit und Schuldgefühlen
Keine kompensatorischen Verhaltensweisen zur Vermeidung der Gewichtszunahme (kein Erbrechen, kein Sport)
Folge der Essstörung ist eine mehr oder weniger kontinuierliche Gewichtszunahme
Unterscheidung zwischen Auslösern und Ursachen
Keine einfachen Ursache - Wirkungsbeziehungen,sondern multifaktorielle Ursachen
Soziokulturelle Einflüsse
Familiäre Einflüsse
Individuelle Einflüsse
Biologische Einflüsse
Ursachen der Essstörungen
Gesellschaftliche Bedingungen und Risikofaktoren
Schlankheitsideal über Mode und Werbung vermittelt
zunehmendes „Gesundheitsbewußtsein“
urbanisierte und industrialisierte Gesellschaft
Mittel/Oberschicht
verlängerte Jugendzeit
Kleinfamilie
weibliches Geschlecht Störungen der Selbst- und Körperwahrnehmung
Persönlichkeitsfaktoren (angepasst- perfektionistisch, hoher Leistungsdruck, abhängig)
Adipositas, insulinpflichtiger Diabetes, sehr frühe Pubertät
Zwilling
Diätvulnerabilität
psychiatrische Auffälligkeit
Hochbegabung
genetische Disposition
Individuelle Risikofaktoren
schwieriges Kommunikationsverhalten
familiäre Beeinträchtigung derAutonomieentwicklung
hohe Leistungsanforderungen
Essstörungen in der Familienanamnese
chronifizierte familiäre Konfliktsituationen
soziale Probleme
Risikofaktoren in der Familie
Therapieführer
Therapie - allgemein
Stationär, teilstationär, ambulantin Gruppen oder einzeln
Nach Abklärung körperlicher Symptome und Ausschluss eines lebensbedrohlichen Zustandes stehen psychotherapeutische Verfahren im Vordergrund der Behandlung von Essstörungen
In der Psychotherapie gilt heute ein multimodaler Ansatz als angemessen:
Verhaltenstherapie Gesprächstherapie Kreative Therapien Ernährungsprogramm Körperwahrnehmungstherapie Förderung der sozialen Kompetenz Familientherapie
+ regelmäßige Gewichtskontrollen!!
Medikamentöse Therapie nur vorübergehend, unterstützend
Stationäre Therapie in der KJP
medizinische Betreuung und regelmäßigeKontrollen
individuelles Ernährungs- und Essensprogramm
Kunst- und Musiktherapie Einzel- und Gruppentherapie
Familiengespräche/Elterngruppe
Leben in einer Gruppe von Jugendlichen als therapeutisches Mittel Klinikschule oder externe Beschulung
Beratung und Hilfe durch Sozialpädagogin
Ambulante Nachbetreuung/Anschlussbehandlung
„Das Essstörungssymptom ist eine erste eigene Lösung“
„Menschen mit Essstörungserkrankungen halten nicht viel oder gar nichts von sich!“
Janet Treasure
Janet Treasure, Maudsley Hospital, London 1980
Pflegeleicht sein ist nicht Starksein
Mädchen mit Essstörungen haben eine anlagebedingte hohe Einfühlsamkeit und Sensibilität mit der dadurch gegebenen Möglichkeit ein besonders vernünftiges und pflegeleichtes Kind zu sein. Dies geht einher mit einer tief verankerten Fremdbestimmtheit und einem Mangel an gesunder Aggressivität und Selbstbehauptung.
Wie soll man mit Menschen mit Essstörungen umgehen?
Die hohe Sensibilität und Einfühlsamkeit wertschätzen !
Selbstwertförderlich !
Empfindlichkeiten, Belastungen, mächtige Zuschreibungen reduzieren !
Wie verhalte ich mich gegenüber Betroffenen?
Vorschläge von PatientInnen für Eltern, Lehrer, Gleichaltrige
sprich mich nicht auf Essen, Figur, Gewicht an, sondern frage mich lieber, wie es mir geht
nicht mit anderen über mich reden, sondern mit mir
mir konkrete Hilfen anbieten, z. B. mich zu einer Beratungsstelle begleiten, ruf nicht für mich bei einem Therapeuten an
es ist sinnlos, wenn du versuchst, mich zu therapieren
behandle die Essstörung nicht als Tabu, sondern sprich offen mit mir darüber
behandle mich nicht wie ein rohes Ei, sondern wie einen normalen Menschen
reduziere mich nicht auf meine Essstörung, sondern nimm mich in allen Beziehungen ernst
zwinge mich nicht zum Essen, ich kann einfach nicht mehr normal essen
halte mich nicht von einer Therapie ab, meine Krankheit ist kein Spleen oder Schlankheitstic
Pause
trEATit
Multimodale ambulante Gruppe für Jugendliche mit
Essstörungen
trEATit - spezialisierte ambulante Gruppe für Essstörungen
Alter Mädchen zwischen 13 und 18 Jahren
Diagnosen Anorexia nervosaBulimia nervosaBinge - eating - disorder
Multiprofessionelles Team Psychologin/PsychotherapeutinÄrztin KunsttherapeutinDiätassistentinTanz- /Bewegungstherapeutin
trEATit - spezialisierte ambulante Gruppe Konzept
Diagnostikphase
Motivationsphase
Therapiephase
Wöchentliche Gewichtskontrolle
offene ambulante Gruppe
2 x 2,5 Std. Gruppentherapie pro Woche
1x pro Monat ein Samstagsworkshop
Ehemaligentreffen
Verhaltenstherapie/Selbstmanagement
Gesprächspsychotherapie
Elternberatung und/oder Familientherapie
Tanz- und Bewegungstherapie
Kunsttherapie
Ernährungstherapie
Psychoedukative Elterngruppe
trEATit Therapiebausteine
Anleitung zu besserer Selbststeuerung
Aktive eigenständige Problembewältigung
Langfristige Ziele:Autonomie und Selbstregulation
Aus: Selbstmanagementtherapie: F.H. Kanfer, H.Reinecker, D. Schmelzer, 2.Auflage, 1996, Springer-Verlag
Prinzip des Selbstmanagements
Ziele und Behandlungselemente bei der Verhaltenstherapie von
Anorexia und Bulimia nervosa
Stabilisierung des Gewichts und Normalisierung des Essverhaltens
Behandlungselemente:
Informationsvermittlung
Selbstbeobachtung
Maßnahmen zur Gewichtsstabilisierung
Einhalten vorgeschriebener Mahlzeiten
Stimuluskontrolle
Techniken zur Reduktion von Heißhungeranfällen und Erbrechen
Kognitive Techniken
Selbstdokumentation- Verhaltenstherapeutische Aufgaben
Therapievertrag
Krankheitsverlauf
Leben in Bildern
Symptomliste / Symptomcollage
ABC
Auslösebedingungen
SORC
Lern- und Leistungsanalyse
Zwischen- / Abschlussbilanz Dysfunktionale Gedanken / kognitive Verzerrungen
Engel/Teufel
Symptomabgabe
Bearbeitung der zugrundeliegenden Konflikte
Behandlungselemente
ProblemanalyseSelbstbeobachtungKognitive TechnikenSoziales KompetenztrainingRessourcenaufbauRückfallprophylaxe
Spezifische Techniken
SeelenvogelSymptomcollageStimmungsbildStarphotosSymbolische SymptomabgabeEngel/TeufelAbschiedsritual
Gesprächspsychotherapie
Themen in der Gruppe
Gewicht und Essverhalten
Bulimie / Anorexie - Freundin oder Feindin?
Vorbilder und Schlankheitsideal
Selbstwert und Selbstabwertung
Eltern und Familie
Autonomie und Selbstbehauptung
Beziehungen, Freundschaft, Liebe
Perfektionismus und Leistungsideal
Elternberatung und/oder Familientherapieund psychoedukative Elterngruppe
Die Familie ist ein wichtiger Einflussfaktor und eine Ressource in der Behandlung von Essstörungen
Elternberatung bei unkomplizierter Familienstruktur(Eltern, Tochter, zuständige Therapeutin zu Beginn wöchentlich, später alle 2 Wochen)
Familientherapie bei dysfunktionalenFamilienstrukturen (Eltern, Familienangehörige, Tochter, zuständige Therapeutin, wöchentlich)
Psychoedukative Elterngruppe als prognose-verbesserndes Therapiemodul (Eltern und 2 von der Behandlung unabhängige Therapeutinnen, monatlich)
Ziele und Behandlungselemente
Körperschemaarbeit
Bewegung und Wahrnehmung verschiedener Körperteile
Im Körper heimisch werden - im Körper heimisch sein (Verbesserung der Körperakzeptanz)
Stärkung des Selbstbewusstseins
Sinneswahrnehmung
Stabilität und Gefühl der Integration
Dynamik - die eigene Kraft spüren
Eigener Schutzraum - Abgrenzung
Sicherheit und Geborgenheit
Gefühlszustände mit dem Körper ausdrücken
Tanz- und Bewegungstherapie
Körperumrissbild
Symptomskulptur vorher/nachher Stimmungsbilder auf Stoffstreifen
Mutter-/Vaterbild, Geschwisterbeziehung
Collage Familienaufstellung
Beziehungen zueinander in der Gruppe, Gemeinschaftsbild
Symptomabgaben
Themen aus dem Therapieverlauf (Beziehungen zu Freunden, Verlusterfahrungen, Gefühlen ect,)
Medien: Malen mit verschiedenen Materialen Malen mit verlängertem Pinsel „Sekundenbilder “ Malen mit den Fingern Tonarbeiten Gipsabdrücke, Pappmache Collagen mit Pappe, Stoff, Karton
Kunsttherapie
Ernährungstherapie
Ernährungsberatung
Anti - Diät – Plan
Bilanzbuch
Aufbau von eigenverantwortlichemEssen
Esstraining mit gemeinsamen Mahlzeiten
1Mal pro Samstagsworkshop mit gemeinsamen Einkaufen, Kochen und Essen
Essenskritik
Buffet
Essen im Restaurant
Gewichtsverlauf Anorexie n=4
Gewichtsverlauf binge-eating-disorder, n = 1Gewichtsverlauf n=1 Binge-eating-disorder
Top Related