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Uwe Gellert
Gemeinschaftliches Interpretieren mit Stndierenden nnd Lehrern. Ein kombinierter Ansatz ffir die Lehrerans- nnd
Lehrerweiterbildnng
Zusammenfassung
Der Beitrag reflektiert erste Versuche einer Kombination von Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung. Ausgehend von der theoretischen Pramisse, Unterrichtsalltag kanne nur dann substanziell modifiziert werden, wenn die im Unterricht Beteiligten mit einer veranderten Interpretationsfahigkeit Interaktionsverlaufe im Mathematikunterricht situativ anders deuten, wird eine an der Universitat Frankfurt realisierte' Veranstaltungskonzeption mit Studierenden und Lehrerinnen eriautert und dabei gewonnene Erfahrungen mit einer Praxis gemeinsamen Interpretierens von videographiertem mathematischem Grundschulunterricht zusammengefasst. 1m Fokus der Darstellung stehen die sozial verteilten Handlungsweisen innerhalb der heterogen zusammengesetzten Teilnehmergruppe.
Abstract
The paper reflects on a recent attempt to combine pre-service and in-service courses for future and for practising teachers of primary mathematics. The approach is based on the assumption that a substantial change of the practice of mathematics teaching can only be carried out, if the practitioners in the classroom come to perceive and interpret the classroom interaction differently. Accordingly, the courses involved pre-service and in-service teachers in collective interpretation of videotaped classroom interaction. The focus of analysis is made of the socially distributed action patterns ofthe participants.
1 Einfiihrung
Gerneinhin sind Lehrerausbildung und Lehrerfort- beziehungsweise Lehrerweiterbildung l voneinander getrennt. Dies gilt sowohl flir die Praxis des Aus- oder Weiterbildens als auch flir die theoretische Reflexion dieses Bereichs innerhalb der mathematikdidaktischen scientific community. Obwohl es prinzipiell gewiss problematisch ist, die Abwesenheit von etwas durch Angabe entsprechender Literatur zu belegen, kann an dieser Stelle auf zwei international renommierte Quellen, die ihrem Anspruch nach Uberblickswissen prasentieren, in denen aber dennoch (fast) keine Eintrage zur Verbindung von "pre-service" und "in-service" in der Mathematiklehrerbildung zu finden sind, verwiesen werden. Keines der 14 Kapitel des auf langjahriger Diskussion innerhalb der International Group for the Psychology of Mathematics Education (PME) beruhenden
Die Begriffe Lehrerfortbildung und Lehrerweiterbildung werden in diesem Beitrag synonym verwandt, ignorierend, dass manche Autoren mit ,Lehrerweiterbildung' eine weitere formale Qualifikation verbinden.
(JMD 28 (2007) H. 1, S. 31-48)
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Sammelbands Making Sense of Mathematics Teacher Education (Lin und Cooney 2001) thematisiert diese Moglichkeit und auch in den beiden im Buch enthaltenen Uberblicksartikeln iiber Forschungsansatze und Aus- und Weiterbildungskonzeptionen (Cooney 200 I, Lerman 200 I) finden sich weder Hinweise auf eine Aus- oder Weiterbildungspraxis noch auf Forschungsaktivitaten, die gemeinsame Elemente der zwei Bildungsphasen beriicksichtigen. Ahnliches lasst sich flir die aus sieben Kapiteln zusammengesetzte Section 4: Professional Practice in Mathematics Education des Second International Handbook of Mathematics Education (Bishop, Clements, Keitel, Kilpatrick und Leung 2003) feststellen. Lediglich im Beitrag von Jaworski und Gellert (2003) wird das Ideal formuliert, dass an Schulen unterrichtende Lehrerinnen und Lehrer, universitare Lehramtsausbilder und Lehramtsstudierende zusammenkommen, urn gemeinsam Mathematikunterricht, gleichsam aus praktischer und aus theoretischer Perspektive, zu konzipieren und zu reflektieren. Aber auch dieser Artikel diskutiert das genannte Ideal ausschlieBlich flir die Lehrerausbildung. Er ordnet unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrem die Funktion von Mentoren zu (vgl. Jaworski und Watson 1994) und enthalt sich jeglicher Aussage zum Potenzial einer Statusgruppen iibergreifenden Form flir die Lehrerweiterbildung. Auch der Sammelband Collaboration in Teacher Education. Examples from the Context of Mathematics Education (Peter-Koop, Santos-Wagner, Breen und Begg 2003), in dem verschiedene Formen von Zusammenarbeit im Kontext von Mathematiklehrerbildung aufgezeigt und diskutiert werden, sieht keinen Beitrag zum gemeinsamen Aus- und Fortbilden vor.
Wieso ist das so? Wieso werden Lehreraus- und Lehrerweiterbildung stets separiert behandelt? Neben dem Argument, dass dies unter anderem an einer institutionalisierten Trennung von Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen liegt - die man in Forschungsprojekten natiirlich iiberwinden konnte und die de facto in mehreren "Zentren flir Lehrerbildung" bereits in Richtung einer Phasen iibergreifenden Kooperation aufzuheben versucht wird (Blomeke 1998, Hericks 2004) -, erscheinen vor allem die beiden folgenden Momente begriindungsmachtig:
Erstens ist Lehn:irbildung ihrer begrifflichen Fassung nach in einem Modell profess ioneller Entwicklungsstufen organisiert, die es in der vorgegebenen Reihenfolge zu durchschreiten gilt. (Ich beziehe mich im Folgenden auf die Auspragung dieses Modells in Deutschland; Keuffer und Oelkers 2001, Terhart 2000.) Eine erste Stufe oder, wie es gewohnlich heiBt, Phase der Lehrerausbildung an der Hochschule schlieBt mit einem Ersten Staatsexamen ab, das die Zugangsberechtigung zur zweiten Phase darstellt. Auch die zweite Stufe, die so genannte schulpraktische Phase, endet mit einer Staatspriifung, deren Bestehen notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung flir die Ausiibung des Lehrerberufs ist. Ais dritte Stufe zahlt die Zeit als angestellte oder beamtete Lehrkraft an Schulen. Wer sich darin bewahrt und zur Ubemahme weiterer Verantwortung berufen flihlt, kann die Aufgaben der Schulleitung oder Fachleitung iibemehmen, was man als eine weitere Stufe der professionellen Entwicklung bezeichnen konnte, in der zu der Ausbildung von Schiilerinnen und Schiilem nun auch die Anleitung oder Unterstiitzung von (zukiinftigen) Kollegen hinzukommt. In diesem Stufenmodell ist es nicht vorgesehen, Stufen zu iiberspringen oder Where Stufen nachzuholen (Ausnahmen im Zuge der Wiedervereinigung). Mit einer derart rigiden Hierarchie geht programmatisch einher, dass zum einen auf hoheren Stufen die Probleme der niedrigeren Stufen iiberwunden
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sind und zum anderen die Probleme hOherer Stufen von niedrigeren Stufen aus infolge dort vermeintlich herrschenden Erfahrungsmangels und Entwicklungs(riick)stands nicht angegangen werden konnen. Zudem grenzen die Stufen der universitaren Lehrerausbildung und der berufsbegleitenden Lehrerweiterbildung nicht einmal aneinander. Diese starre verwaltungsorganisatorische Stratifikation der Entwicklung beruflicher Kompetenzen ist einer Stufen ubergreifenden Perspektive auf Lehrerbildung nicht forderlich.
Zweitens, und dies ist vermutlich eine Folge des Stufenmodells, konnen Aus- und WeiterbildungspHine, aber auch empirische Forschungsarbeiten, haufig auf zwei unterschiedliche Defizitannahmen zuriickgefiihrt werden. Fur Studienanfanger stellt sich das so dar, dass ihnen unterrichtstheoretische Kenntnisse und unterrichtspraktische Kompetenzen abgesprochen werden. Es wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass Studienanfanger zwar mit durchaus prazisen Vorstellungen davon, wie Mathematikunterricht funktioniert, ihre Studien beginnen, dass es sich dabei aber urn unreflektierte SchUlererlebnisse handelt. Was ihnen gemaB dieser Annahme fehlt, ist ein Rollen- und Perspektivenwechsel: Sie sollen in der Hochschule lemen, Mathematikunterricht aus Lehrersicht wahrzunehmen, und darauf abgestimmte Kenntnisse erwerben, urn spater Mathematikunterricht planen, realisieren und evaluieren zu konnen. Hingegen wird meist davon ausgegangen, dass unterrichtende Lehrerinnen und Lehrer diese Fahigkeiten besitzen (auch wenn manche Studien dies in Zweifel ziehen, etwa Ma 1999) und durch ihre Unterrichtstatigkeit gefestigt und ausgeformt haben. Das Defizit wird in diesem Fall darin gesehen, dass in einer Weise unterrichtet wird, die den kurrenten curricularen und unterrichtsmethodischen Entwicklungen nicht genugt (vgl. international auch Boaler 1997). Dies wird allgemein nicht als Ausbildungsmangel begriffen, sondern als Problem einer ungenugenden individuellen beruflichen Entwicklung (das Englischsprachige kennt hier den Begriff des teacher development). Dennoch beriicksichtigt Lehrerweiterbildung oft nicht die unterschiedlichen Voraussetzungen und BedUrfnisse einzelner Lehrkrafte und versucht stattdessen, das vermutete Defizit durch kurze Einweisung in so genannte innovative Verfahren oder Unterrichtshilfen zu beheben.
So gesehen, steUen Lehrerausbildung und Lehrerweiterbildung tatsachlich zwei voneinander deutlich getrennte Betatigungsfelder dar. Auf der einen Seite beschaftigt man sich mit Studierenden, urn ihnen Kenntnisse (und Fahigkeiten) zu vermitteln, auf der anderen Seite geht es urn die planmaBige Modifikation von Unterrichtspraxis. Wie es stets der Fall ist, konzipiert aber auch hier die (an einer gewissen Theorie orientierte) Problemformulierung das eigentliche Problem. Formuliert man es anders, legt man ihm eine andere theoretische Perspektive zugrunde, so erscheint es in einem anderen Gewand und andere Zugange werden moglich. Soleh ein anderer Zugang wird in diesem Beitrag vorgestellt. Es werden erste Versuche einer Kombination von Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung reflektiert. Dazu wird zunachst der Rahmen der theoretischen V oriiberlegungen abgesteckt, urn dann die Veranstaltungskonzeption zu erlautern und gewonnene Erfahrungen mit einer Praxis gemeinsamen Interpretierens von Mathematikunterricht zusammenzufassen.2
2 Die Veranstaltung wurde von Gotz Krummheuer und Uwe Gellert gemeinsam im Sommersemester 2004 an der Johann Wolfgang Goethe-Universitat Frankfurt durchgefiihrt. Bei der Planung und Finanzierung des Vorhabens (als BLK-Projekt "Netzwerk Wissenschaftliche Wei-
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Es wird nicht davon ausgegangen, dass die Kombination von Lehrerausbildung und Lehrerweiterbildung a priori eine bessere Form darstellt. M6g1icherweise steckt in ihr jedoch ein erhebliches, bisher nicht ausreichend beachtetes Potenzial. Aus Studierendensicht kann die gemeinsame Tatigkeit mit praktisch erfahrenen Lehrerinnen und Lehrem eine enthierarchisierende und Praxis demystifizierende Erfahrung bedeuten, die Mathematikunterricht gerade dadurch einer neuen Sichtweise zuganglich macht. Auf praktisch erfahrene Lehrerinnen und Lehrer bezogen, kann Studierenden das Moment des "Fremden" zukommen. Dieser Fremde muss in die routinierte Berufspraxis erst noch "eingeflihrt" werden, wobei in der Unterrichtspraxis Unhinterfragtes und Unausgesprochenes in den Frage- und Formulierungshorizont geraten kann.
2 Theoretische Voriiberlegungen zu einer Praxis gemeinsamen Interpretierens
Die theoretischen VOliiberlegungen grunden in einer phanomenologischen und wissenssoziologischen Sichtweise (Berger und Luckmann 1969, Schutz und Luckmann 1975, Soeffner 1989), die Mathematikunterricht als den Alltag der darin Handelnden begreift (vgl. Gellert 2003b, S. 8-26). Auf der Ebene seines Alltags stellt sich Mathematikunterricht als ein situativ emergierender Prozess mit prinzipiell offenem Ausgang dar. Sein Verlauf und seine Ergebnisse sind davon abhangig, in welcher Breite und Tiefe die Beteiligten seinen Interaktionsverlauf zu deuten und zu beeinflussen in der Lage sind. Je nachdem, wie die situativen Momente einer Unterrichtsstunde verstanden werden, ergeben sich andere Handlungs- und Gestaltungsspielraume. Mathematikunterricht ist, wahrend er ablauft, immer so, wie ihn die Beteiligten sehen. 1st es ihnen m6glich, den Unterricht neu oder genauer wahrzunehmen, so kann der Unterricht ein anderer werden, sofem die veranderte Wahmehmung zu veranderten Handlungen Anlass gibt.
Vor diesem Hintergrund wird eine in Krummheuer (2004, S. 123ff.) beschriebene Perspektive Interpretativer Unterrichtsforschung auf Emeuerung der mathematischen Unterrichtspraxis eingenommen: Der Unterrichtsalltag lasst sich nur dann substanziell verandem, wenn die im Unterricht Beteiligten mit einer veranderten Interpretationsfahigkeit Interaktionsverlaufe im Mathematikunterricht situativ anders deuten k6nnen; der Unterrichtsalltag wird sich vor allem dann emeuert zeigen, wenn die Bedingungen flir das Erzeugen interaktionaler Verdichtungen im Mathematikunterricht verbessert werden.
Diese Sichtweise in begrundet erstens durch flinf empirisch rekonstruierte Strukturierungsdimensionen flir Interaktion im Mathematikunterricht (Krummheuer und Brandt 2001; vgl. Krummheuer 2004, S. 115ff.) und zweitens durch Folgerungen aus der empirischen Rekonstruktion von Prozessen der Emeuerung alltaglichen mathematischen Grundschulunterrichts (Gellert 2003a, 2003b).
terbildung fur Lehramtsberufe" im Programm "Wissenschaftliche Weiterbildung") oblag die Federfuhrung G5tz Krummheuer, die vorliegende Dokumentation und Analyse, vor allem die Schwerpunktsetzungauf sozial verteilte Handlungsweisen innerhalb der Teilnehmergruppe, verantwortet Uwe Gellert.
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Zum ersten Ansatzpunkt: Das als komplex erkannte Gefuge von Interaktion im alltag lichen Mathematikunterricht lasst sich durch folgende flinf Dimensionen strukturie-ren:
• Die thematisierten mathematischen Inhalte • Die hervorgebrachten Argumentationen • Die Muster in der Interaktion • Die Partizipationsformen der sich aktiv beteiligenden SchUlerinnen und SchUler • Die Partizipationsformen stiller SchUlerinnen und SchUler
Diese funf Dimensionen dienen sowohl als ein Minimalmodell fur das eigene Verstehen von beobachtetem Mathematikunterricht als auch fur die Verstandigung mit Lehrerinnen, Lehrem und Studierenden. Sie stellen das Destillat einer empirisch begriindeten Theorie dar, auf deren Grundlage zwei Auspragungen mathematischel,l Unterrichtsalltags deutlich unterschieden werden konnen: Mathematikunterricht im interaktionalen Gleichfluss versus Mathematikunterricht in interaktionaler Verdichtung. Den interaktionalen Gleichfluss charakterisieren fragmentarische Argumentationen, Interaktionsmuster mit starren Rollenzuteilungen und wenig produktive Partizipationsweisen fur alle SchUlerinnen und Schuler. Interaktionale Verdichtungen liegen im Wesentlichen vor, wenn Argumentationen kollektiv relativ umfassend hervorgebracht, Rollen flexibel zugeteilt und den Lemenden Entscheidungsspielraume bezuglich ihrer Beteiligung eingeraumt werden (Krumrnheuer 2004, S. ll6f.). Diese beiden Auspragungen konstituieren fur die Schulerinnen und SchUler offensichtlich unterschiedlich gunstige Moglichkeiten des Mathematiklemens. Zwar kann Mathematikunterricht kaum permanent interaktional verdichtet sein. In Hinblick auf die Entwicklung mathematischer Unterrichtspraxis erscheint es jedoch fundamental, uber ein Kriterium zu verfugen, um Lemmoglichkeiten situativ einschiitzen zu konnen.
Zum zweiten Ansatzpunkt: Konnen Lemmoglichkeiten situativ begrundet (d.h. mit Verweis auf ein durch theoretische Einbettung gesichertes Kriterium) einschiitzt werden, so lassen sich diese auch verandert denken und realisieren. Das Leitbild der interaktionalen Verdichtung fungiert dabei als Impuls, um Mathematikunterricht altemativ umzugestalten. Dazu ist es zunachst notwendig, Unterrichtsinteraktion uberhaupt als komplex und kontingent und nicht einer vermeintlichen Zwangslogik des Mathematikunterrichts folgend zu begreifen (sonst gabe es da auch nichts zu interpretieren). Mit Lehrerinnen, Lehrem und Studierenden Handlungsaltemativen zu konstruieren bedeutet, zu Fixierungen von Unterrichtswirklichkeit zunachst eine Einschiitzung situativer Lemmoglichkeiten vorzunehmen und darauf autbauend Variationen zu entwickeln. Die zu diesem Zweck erzeugten Videoaufnahmen oder Transkripte werden nicht nur als Mittel verstanden, um raumliche und zeitliche Distanz und Loslosung von Handlungszwangen zu konstruieren (vgl. Jungwirth, Steinbring, Voigt und Wollring 1994), sondem vor allem als Instrument, um Deutungskontingenzen in den Bewusstseinshorizont zu rucken. Dabei setzt Kontingenz "die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mogliche uberhaupt, sondem das, was von der Realitat aus gesehen anders moglich ist" (Luhmann 1984, S. 152). Dies ermoglicht es auch, dass Unterrichtsaufzeichnungen nicht nur fur die in diesen Aufzeichnungen Handelnden bedeutsam werden, sondem daruber hinaus situations- und intentionsubergreifend zur Veranderung von Unterricht und zur Ausbildung und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrem herangezogen werden konnen. Immer
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dann, wenn Handlungsaltemativen flir Mathematikunterricht erkannt, entworfen oder umgesetzt werden, kann dies als Moment der Ausbildung oder Fortbildung begriffen werden. Der gewohnte funktionale Zusammenhang wird dabei allerdings auf den Kopf gestellt: Es sind nicht mehr die Qualifizierungsveranstaltungen, welche die Handlungsaltemativen (oder gar Handlungsanleitungen) vermitteln, sondem es ist die Erkenntnis von Deutungskontingenz und Handlungsaltemativen, die eine Qualifizierung bewirkt (Gellert 2003a, S. 147ff.). Die entsprechende Qualifikation wird im Folgenden als lnterpretationskompetenz bezeichnet.
Die individuelle Wahmehmung von Mathematikunterricht hangt prinzipiell davon ab, aus welcher Position man Unterricht betrachtet. Sie ist perspektivisch und somit zwangslaufig nicht umfassend; sie blendet immer auch aus. Gleichzeitig bewirkt diese Perspektivitat, dass Unterricht uberhaupt gestaltbar wird, denn Unterricht wird immer aus einer bestimmten Position gestaltet. Mit einem gewissen Ausblenden muss also einerseits gelebt werden. Andererseits besitzt der Unterrichtsalltag anscheinend die Tendenz, zu einer unangemessenen Perspektivenverengung zu flihren. Diese Verengung ist Ausdruck verfestigter Deutungsmuster. 1m "kognitiven Stil der Praxis" (Soeffner 1989, S. 16) werden Situationen moglichst als bekannt angesehen und unmittelbar einer Situationskategorie zugeordnet, urn unverzogertes Handeln zu gewahrleisten. Dieser Scg zur Normalitat sorgt daflir, dass die Unterrichtspraxis so bleibt, wie sie ist (bzw. sich unauffallig langsam andert). Der dargestellte soziologische Zusammenhang wird psycho log isierend oft als "Veranderungsresistenz" diskreditiert.
Die hier fokussierte Qualifikation cler lnterpretationskompetenz bezweckt nun, diesen Antagonismus aufzuheben. Dabei wircl zum einen davon ausgegangen, dass jegliche Interpretation von Mathematikunterricht aus einer bestimmten Perspektive erfolgt. Somit ist es flir die Interpretierenden stets moglich, an die eigenen Alltagskonstruktionen anzuschlieBen. Interpretationskompetenz meint an dieser Stelle nicht Versiertheit bezuglich einer mikrosoziologischen Forschungsmethode, sondem richtet sich auf den Alltag des Mathematikunterrichts, also das (spatere) Handlungsfeld von (angehenden) Lehrerinnen und Lehrem. Zum anderen deutet Interpretationskompetenz auf die Fahigkeit, von einer eingenommenen Perspektive aus das so erOffnete Blickfeld auszuloten. In diesem Sinn besteht Interpretationskompetenz auch schon darin, uberhaupt den Uberblick tiber mogliche Situationskategorien wahren zu konnen und sich der Kontingenz von Situationsdeutungen auszuliefem. Interpretationskompetenz, wenn sie denn auf die eigene Tatigkeit bezogen ist, beinhaltet die Bereitschaft, die eigenen Deutungsmuster und bewahrten Handlungen zur Disposition zu stellen. Dies kann man durchaus praxeologisch als Element einer sich immer wieder verandemden Berufspraxis ansehen.
W ohlgemerkt ist Interpretationskompetenz kein Mechanismus - und schon gar kein Garant - flir berufliche Entwicklung oder Emeuerung von Unterrichtsalltag. Ohne die Moglichkeit aber, Mathematikunterricht anders als gewohnt wahrzunehmen, verengen sich Gestaltungsspielraume erheblich. Auch das Konstrukt der Interpretationskompetenz entkommt aber nicht vollig den kritischen Anmerkungen Jungwirths (2004), die in Kompetenzen Idealisierungen normativen Charakters sieht und in Anschluss an Ehrenspeck und Rustemeyer (1996) von einer "gewohnheitsmassige[ n] Konstruktion einer Differenz zwischen Gegebenem und Erstrebten" (Jungwirth 2004, S. 88) spricht. Der normative Charakter des hier berichteten Ansatzes ist offensichtlich: Es wird darauf ge-
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zielt, dass Studierende, Lehrerinnen und Lehrer die interaktionalen Dimensionen von Mathematikunterricht bewusster wahrnehmen, urn auf einer praziseren und mehrperspektivischen Wahmehmung aufbauend vermehrt interaktionale Verdichtungen des Unterrichts initiieren und damit die Lemmoglichkeiten fur Schiilerinnen und Schiiler erhOhen zu konnen. Ein konkretes, prazises Bild eines optimalen Mathematikunterrichts, sozusagen das Erstrebte, das Virtuelle in der konstruierten Differenz, wird hingegen nicht verfolgt. Das ist aus der eingenommenen Perspektive (als Unterrichtsforscher und nicht Unterrichtspraktiker) auch nicht moglich, denn solch ein optimaler Unterricht entsteht, wenn iiberhaupt, der in diesem Beitrag begriindeten theoretischen Auffassung gemaB erst in der Situation des Unterrichts und lasst sich iiberdies ob seiner interaktionalen Emergenz und Mehrperspektivitat nicht im Detail ausmalen. Vermutlich liegt in diesem Zusammenhang gar eine potenzielle Schwierigkeit in der Umsetzung des Ansatzes begriindet: Interpretationskompetenz wirkt sich im Mathematikunterricht mittelbar und unter der Oberflache aus und ist demnach fur Lehrerinnen und Lehrer, die direkte Differenzkonstruktionen gewohnt sind, nicht sofort als Gewinn fur ihren Unterrichtsalltag erkenntlich. Darauf wird bei der Reflexion der gewonnenen Erfahrungen zUriickgekommen.
Van Huizen, van Oers und Wubbels (2005) differenzieren drei "paradigms in teacher education" (S. 267 ff.): (1) "competency-based teacher education", (2) "personal orientation to teaching" und (3) "reflection and inquiry". Trotz der, oberflachlich betrachtet, begrifflichen Nahe zum ersten Ansatz, mit dem jedoch eine privilegierte Perspektive auf instrumentelle Aspekte des Unterrichtens begriindet und auf definierte Standards fur Lehrerbildung gezielt wird, ist der Begriff der Interpretationskompetenz innerhalb dieser Klassifikation eher der dritten Konzeption zuzuordnen: " ... professional repertoires are not established once and for all and are not given from outside a practice, but have to be continually reappraised, reaffirmed, or modified by questioning experiences ... " (S. 270). Der mogliche Einwand, mit dem Begriff Interpretationskompetenz ein idealisierendes Konstrukt entworfen zu haben, trifft dann, wenn iiberhaupt, nur noch in abgeschwachter Form.
Wie bildet sich nun Interpretationskompetenz aus? Dies lasst sich gewiss nicht normieren. 1m Rahmen einer kombinierten Ausbildungs- und Weiterbildungsveranstaltung ist von hoher Bedeutung, dass durch gemeinsamens Deuten ein sozialer art geschaffen wird, der einen mehrperspektivischen interpretativen Zugang zu Mathematikunterricht gestattet. Von den im kontrollierten Interpretieren von Szenen aus dem Mathematikunterricht Erfahreneren (die Veranstaltungsleiter) zunachst angeleitet und unterstUtzt, formen die "Interpretationsneulinge" diesen sozialen art aus. Sie iibemehmen allmahlich grundlegenden Denk- und Vorgehensweisen und gestalten diese von ihren spezifischen Blickwinkeln aus aus. 1m giinstigen Fall bildet sich eine "Interpretationsgemeinschaft". SoIche Interpretationsgemeinschaften stellen im Sinn von Lave und Wenger (1991) Loci dar, in denen Neulinge durch legitimate peripheral participation lemen. Mag es anfangs noch ungewohnt sein, etwa extensional zu deuten oder tum-by-tum vorzugehen, so stellt sich doch allmahlich ein kompetenter interpretativer Umgang mit Unterrichtsdaten ein. Dieser allmahliche Kompetenzgewinn hangt wesentlich von der aktiven Teilnahme und sukzessiven Verantwortungsiibemahme in der Interpretationsgemeinschaft abo Er findet seinen Ausdruck darin, dass beim gemeinsamen Interpretieren die zentralen lnterpretati-
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onen immer haufiger von den Interpretationsneulingen hervorgebracht werden. In gewisser Weise liisst sich dieser Kompetenzgewinn als Ausbildung eines gruppenspezifischen shared knowledge bezeichnen: ein innerhalb der Interpretationsgemeinschaft geteiltes Wissen uber den Ablaufund die Funktionsweise gemeinsamer Interpretation von Szenen aus dem Mathematikunterricht.
Fur die Lehreraus- und Lehrerweiterbildung liisst sich allerdings nicht ohne wei teres auf Laves und Wengers Theorie verweisen. Die universitare Veranstaltung ist nicht Teil der Praxis von Lehrerinnen und Lehrern und auch nicht der Wirkungsbereich, flir den Studierende ausgebildet werden. Dennoch erscheint eine Ankopplung an die erwahnte Praxis gemeinsamen Interpretierens in der heterogen zusammengesetzten Interpretationsgemeinschaft als hochst geeignet, urn auch im Aus- und Weiterbildungsbereich (und also mit veranderter Zielsetzung) Interpretationskompetenz auszuformen. Die Interpretationsgemeinschaft stellt dabei gewissermaBen einen Schutzraum dar, in dem gemeinsam Mathematikunterricht gedeutet wird. Raeithel (1991) bezeichnet das Ergebnis soleh eines kollektiven Austauschs als "semiotische Selbstregulation" und unterscheidet zwischen Wirkungen "in die Kopfe hinein" und "in die Kooperation hinein" (S. 100): "Speech and other semiotic action [ ... J has effects ,inside social groups', thus changing shared ways of thinking, traditionally accepted world views, and the culturally patterned actions themselves. Captured in a simple phrase, the dual interpretation reads: ,The regulative effort may be directed at myself or at ourselves." (Raeithel 1996, S. 323) In Raeithels psychologischer Sprache formuliert strebt eine Praxis gemeinsamen Interpretierens den Effekt an, Interpretationskompetenz als soziales und individuales Regulativ flir verfestigte Handlungsmuster auszubilden.
Wie dies im Detail aussieht, wird im folgenden Abschnitt dargestellt.
3 Umsetzung der·theoretischen Uberlegungen in einem Projekt der Lehreraus- und Lehrerweiterbildung
3.1 Projektansatz
Wenn in diesem Beitrag davon die Rede ist, in einer Veranstaltung der Lehreraus- und Lehrerfortbildung Interpretationskompetenz auszuJormen, dann meint das, dass eine bestimmte Form von Interpretationskompetenz ins Auge gefasst wird. Von dieser soli angenommen werden, sie sei besonders geeignet, Unterricht in seiner interaktionalen Komplexitat durchschaubar und somit interaktional verdichtet gestaltbar zu machen. Diese Zielform von Interpretationskompetenz setzt an der oben dargestellten theoretischen Ausrichtung auf Interaktionsprozesse im Mathematikunterricht als Konstituenten des Mathematiklernens an. Mit den genannten flinf interaktionalen Dimensionen von Unterricht und der Unterscheidung von interaktionalem Gleichfluss und interaktionaler Verdichtung liegt meines Ermessens eine geeignete theoretische Grundlage vor, urn begriindet Aussagen i.iber Lernmoglichkeiten flir Schiilerinnen und Schuler treffen zu konnen. Also strebt die hier berichtete Veranstaltung nicht lediglich eine beliebig geartete
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Interpretationskompetenz an, sozusagen eine Basis- oder Metakompetenz, sondem versucht, an die bereits vorhandenen auf den Mathematikunterricht bezogenen interpretativen Flihigkeiten der Teilnehmer anzuschlieBen und diese in Hinblick auf die interaktionale Komplexitat von Mathematikunterricht auszubauen. Konkret bedeutet dies, dass sich gemeinsame Interpretationen auf die oben dargelegten fiinf Dimensionen beziehen:
• Die thematisierten mathematischen Inhalte: 1m Mathematikunterricht wird uber mathematische Inhalte gesprochen. Es zeigt sich auf Grund von unterschiedlichen Deutungen der Aufgabensituationen, dass der Inhalt einer Unterrichtsstunde mehrperspektivisch thematisiert wird. Die Themenentwicklung kann man mit Hilfe einer gemeinsamen Interaktionsanalyse (s. Krummheuer und Fetzer 2005, S. 24-28; Krummheuer und Naujok 1999, S. 68-71) rekonstruieren.
• Die hervorgebrachten Argumentationen: In der Unterrichtsinteraktion geht es unter anderem darum, den eigenen Standpunkt uberzeugend darzustellen oder sich von vemunftig begrundeten Darstellungen Anderer uberzeugen zu lassen. Dies kann in explizit-strittiger oder auch in implizit-reflexiver Weise geschehen. Die hervorgebrachten Argumentationen lassen sich mit Hilfe einer Argumentationsanalyse (s. Krummheuer und Fetzer 2005, S. 36-41; Krummheuer und Naujok 1999, S. 71-73) gemeinsamrekonstruieren.
• Die Muster in der Interaktion: Eine Mathematikunterrichtstunde kann etwa nach stereotypen Mustem ablaufen. SchUlerinnen und SchUler konnen bei der Themenentwicklung in steter Abhangigkeit von den Lehrerfragen gehalten werden. Solche Regelhaftigkeiten konnen im ersten Zugriff mit einer Kombination von Interaktions- und Argumentationsanalyse rekonstruiert werden.
• Die Partizipationsjormen der sich aktiv beteiligenden SchUlerinnen und SchUler und
• Die Partizipationsjormen stiller Schiilerinnen und Schiller: Zum einen sind Unterrichtsprozesse polyadische Interaktionen und nicht auf Zweiergesprache reduzierbar, zum anderen ist der Anteil nicht aktiv an der Unterrichtsinteraktion beteiligter, aber dennoch vom Unterrichtsgeschehen profitierender SchUlerinnen und SchUler zumeist betrachtlich. Die unterschiedlichen Formen der Beteiligung lassen sich mit einer mit partizipationstheoretischen Elementen angereicherten Interaktionsanalyse (s. Krummheuer und Brandt 2002; Krummheuer und Fetzer 2005, S. 74-112) gemeinsam rekonstruieren.
Dabei meint das gemeinsame Interpretieren, dass die an der Veranstaltung teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrer, die Studierenden und die. beiden Seminarleiter als eine Interpretationsgemeinschaft Mitschnitte des in den Klassen der Lehrerinnen und Lehrer (auch von den Studierenden) gehaltenen Mathematikunterrichts analysieren. Die Lehrerinnen, Lehrer und Studierenden werden durch ihre Teilnahme in der Interpretationsgemeinschaft zunehmend darin kompetenter, das interaktionale Gefiige von Mathematikunterricht in seiner Komplexitat zu erkennen und situativ verschieden gunstige Moglichkeiten fiir das Mathematiklemen begrundet zu differenzieren. Erganzt wird diese Praxis durch die hausliche Lekture von Texten, die in die Methodologie und Methoden des Interpretierens einfiihren (Ausschnitte aus Krummheuer 2003 und Krummheuer und Naujok 1999). Diese Texte erfiillen vor allem die Funktion einer Nachbereitung des gemeinsamen Interpretierens. An dieser Stelle weist die Teilnahme in der lnterpretationsge-
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meinschaft iiber das, was Lave und Wenger (1991) als legitimate peripheral participation bezeichnen, hinaus, denn diejenigen, die hier an das Interpretieren herangefuhrt werden, werden zu einer (auch methodologischen) Reflexion dieser Tatigkeit angehalten; sie wachsen nicht einfach in die Praxis hinein.
Der Veranstaltungsplan gliederte sich in vier Abschnitte. Nach a11gemeinen und organisatorischen Absprachen, in denen sich den teilnehmenden Lehrerinnen je zwei bis drei Studierende zuordneten, wurden im ersten Abschnitt Videoaufuahmen in den Klassen der Lehrerinnen erste11t und diese fur die Interpretation im Seminar durch Auswahl einer Szene und Erste11ung des Transkripts aufbereitet. Die Studierenden kannten die Kombination aus Videoaufnahme und Transkript bereits aus anderen mathematikdidaktischen Lehrveranstaltungen. Der zweite Abschnitt galt dem ersten gemeinsamen Interpretieren, mit dem Ziel, verschieden giinstige Lemmoglichkeiten unterscheiden zu lemen. Damit Interpretationskompetenz als Mittel nicht zu Interpretationskompetenz als Ziel mutiert, wurden im dritten Abschnitt Unterrichtsstunden geplant, welche die Studierenden in den Klassen der Lehrerinnen durchfuhren so11ten. Diese Mathematikstunden so11-ten interaktionale Verdichtungen ennoglichen. 1m vierten Abschnitt wurden Aufnahmen· dieser Stunden wiederum gemeinsam interpretiert.
Mit diesem Vorgehen wird versucht, die Studierenden und die Lehrerinnen in eine komplexe Handlungssituation einzubinden. In dieser Situation gibt es einerseits Abschnitte, in denen das Ausfuhren von Handlungen - Unterrichtshandeln - die Analyse moglicher Bedeutungen dieser Handlungen dominiert (Abschnitte 1 und 3). Andererseits wird dazu angeregt, von Handlungszwangen entlastet die Bestimmungen und die Kontingenz von praktischen Handlungssituationen zu erforschen (Abschnitte 2 und 4). Von den Teilnehmerinnen und Teilnehmem wurde gefordert, gemaJ3 beiden Rahmungen aktiv an der Veranstaltung mitzuwirken.
Urn dieses Aus- und Weiterbildungsangebot auswerten und diskutieren zu konnen, wurden stichprobenartig Veranstaltungssitzungen per Video aufgenommen. Nach dem zweiten Abschnitt der Veranstaltung fanden sich die Gruppe der Lehrerinnen in ihrer Schule und die Gruppe der Studierenden in der Universitat zu Zwischenbesprechungen mit je einem Veranstaltungsleiter zusammen. Diese Gruppengesprache wurden per Tonband aufgenommen. Die letzte Veranstaltungssitzung der gemeinsamen Reflexion der Interpretationsgemeinschaft wurde protoko11iert.
3.2 Erste Ergebnisse
Dieser Bericht bezieht sich auf eine Veranstaltung mit funf Lehrerinnen, 13 Studierenden und zwei Veranstaltungsleitem. Dementsprechend vorlaufig sind die Schliisse, die gezogen werden konnen. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich bei veranderter personeller Zusammensetzung der Interpretationsgemeinschaft eine ganz andere Dynamik entwickeln kann als die, die beobachtet werden konnte. Die Dimensionen, die hier zur Beschreibung und Durchdringung der Beobachtungen Verwendung finden, hangen einerseits zumindest teilweise von der erzeugten Dynamik ab; ein anderer Veranstaltungsablauf hatte moglicherweise eine andere Dimensionierung erfordert. Andererseits konnen im Datenmaterial Momente erkannt werden, die geeignet erscheinen, einige der jiingsten Ausfuhrungen Helga Jungwirths zu "Lehrerpraktiken in Neuerungskontexten"
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im Journal fur Mathematik-Didaktik (2004) zu erganzen, wobei in diesen Fallen eine 0-rientierung an den Beschreibungsdimensionen Jungwirths stattfindet (in 3.2.2).
Die Auswertung zielt darauf, das Potenzial der durchgeflihrten Veranstaltung einzusch1itzen und, vor allem, m6gliche strukturelle Widerstande einer Kombination von Ausbildung und Weiterbildung begrifflich zu fassen. Letzteres wirft auf die folgende Analyse manchmal das Licht einer recht negativ gefarbten Selbstkritik. Statt eine "Erfolgsgeschichte" zu prasentieren, werden in diesem Beitrag genau die Aspekte beleuchtet, die praktische - und meist auch theoretische - Reibungspunkte und Konfliktlinien markiereno
Wo aus Beobachtungsdaten zitiert wird, geschieht das zum Zweck der Illustration; ein methodisch kontrolliertes abduktives Vorgehen sei damit nicht angedeutet.
3.2.1 Soziale Positionierong in der Interpretationsgemei.nschaft
Die Verschrankung von konkreter schulischer Unterrichtspraxis mit universitarer Interpretationspraxis scheint flir die daran Beteiligten derart neu zu sein, dass Unklarheiten bezliglich der Intentionen soleh eines Vorgehens und daraus ableitbarer sozialer Positionen nicht libersehen werden k6nnen. Steht flir die Veranstaltungsleiter das Zusammenspiel von Schule und gemeinsamer Interpretationssitzungen in der Universitat im Zentrum des Interesses, so ist das flir die Studierenden und die Lehrerinnen gewiss nicht so eindeutig der Fall. Etwa argumentiert eine Lehrerin aus einer praxiszentrierten Perspektive, wenn sie die Bedeutung der Veranstaltung vor allem darin sieht, dass Studierende "ein bisschen mehr Praxis erlangen". Sie konstruiert das Vorhaben somit als Ausbildungsveranstaltung. Flir sie selbst und flir ihre Kolleginnen sieht sie dementsprechend die Rolle der distanzierten Beobachterin und Beraterin vor. Unsicherheit besteht jedoch darin, wie we it diese Beratung gehen und wie eindringlich die Kritik werden so11:
"Man musste manchen von den Studenten mehr noch helfen, was auch wirklich diese Planung dann betrifft, ja? Also, das ist nicht einfach, wenn man das noch nie gemacht hat. Die haben zwar schon Praktika gemacht, aber ich hab 's jetzt bei meinen gemerkt, die waren motiviert, absolut, die waren auch sehr jleij3ig. Ich hab mit denen ja auch was besprochen, aber das war dann halt auch so relativ zwischen Tur und Angel. Und im Endeffekt haben die schon in der Erarbeitung im Kreis (...) mit ihrer Form des Priisentierens schon die ersten Denkprozesse der Kinder vollig zerstort - und das ist jetzt nicht bOse gemeint." (19/5/04, Tl, Z45-55)
Die Lehrerin positioniert die Studierenden in diesem Ausschnitt als zwar engagierte, aber unerfahrene und letztlich unfahige Neulinge in der Praxis des Unterrichthaltens. Sie nimmt eine distanzierte Analyse der Wirkung einer von den Studierenden eingesetzten Prasentationsform vor. Die darin deutlich werdende Bewertung mildert sie ab, in dem sie sie als affektiv neutral ausweist. Gleichsam positioniert sich die Lehrerin hierdurch als kompetent, wenn es darum geht, Unterrichtsprozesse zu beobachten. und zu bewerten. (Die beiden Studierenden, auf die sich die Lehrerin bezieht, schildern dieselbe Situation anders: das in der angesprochenen Situation erzeugte "Chaos" sei durch die Unruhe der Lehrerin und ihrer ungewollten und ungeplanten Einmischung entstanden.)
Sicherlich kann soleh eine Positionierung im Kontext der konkreten Schulsituation als gewohnliche, tradierte und in gewissem MaJ3 auch gerechtfertigte Grenzziehung verstanden werden. Dariiber hinaus beeinflussen die so gezogenen positionaien Grenzen
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sowohl die soziale Positionierung in der Interpretationsgemeinschaft als auch die Perspektive auf Unterricht, die aus dieser Position eingenommen wird. Fur die Lehrerinnen stellt sich das so dar, dass sie altemierend eine praxiszentrierte und eine dezentrierte Sicht einnehmen: einerseits verweisen sie auf ihre intuitive und in der Unterrichtserfahrung verwurzelte Erfassung von Unterrichtsprozessen und auf im alltaglichen Arbeitshandeln bewahrte Kategorisierungen, andererseits tendieren sie zu Distanz vorspiegelnden Bewertungen inklusive entsprechender regelhafter Empfehlungen fur Besserung. Fur die Studierenden hat die soziale Positionierung in der Schule zur Folge, dass sie sich anscheinend ganz in einem - nun praxisnahen - Ausbildungskontext befindlich sehen. Das Neue stellt fur sie der Schulkontext dar, Analysen von Unterricht im universitaren fachdidaktischen Seminar kennen sie bereits.
Beide Positionen sind problematisch, wenn es in der Interpretationsgemeinschaft darum geht, eine mehrperspektivische involvierte Analyse als zentral rekonstruierter Merkmale oder Effekte von Unterricht vorzunehmen. Statt der Polarisierung von praxiszentrierter und dezentrierter Perspektive auf den Mathematikunterricht ware eine "rezentrierende Sicht" (Raeithel 1991, S. 108) kollektiver Selbstregulation wunschenswert: ein Ringen urn Interpretationsaltemativen und eine sich daraus ergebende Konstruktion von Leitvorstellungen fur Unterricht.
. Bei einem Ruckblick auf die Interpretationssitzungen im Verlauf des Semesters wird durchaus eine deutliche Entwicklung in Richtung einer rezentrierenden Sicht erkenntlich. Dies liegt verrnutlich jedoch vor allem daran, dass sich die Lehrerin A im zweiten Teil der Veranstaltung immer starker aus der polarisierten praxiszentriertenldezentrierten Perspektive lOst und damit eine Wirkung "in die Kooperation hinein" (s.o.), auslOst. Dies bewirkt vor aHem auch eine Veranderung bei den anderen Lehrerinnen. Berucksichtigt man, dass mit dieser LOSIOSUng eine uber Jahre eingespielte, moglicherweise die berufsbezogene Identitat von Lehrerin A pragende Sicht zur Disposition gesteHt wird, so kann man das durchaus als eine bemerkenswerte Weiterbildung bezeichnen. .
3.2.2 Wahrnehmong ond Wissensbasis
Die dokumentierten Gesprache und Interpretationssitzungen legen Zeugnis davon ab, wie schwierig es anfangs fur die Lehrerinnen ist, die von Ihnen eingenommene praxiszentrierte Perspektive zu relativieren. Sie versuchen, den videographierten Mathematikunterricht im Seminar fast ausschlieBlich spontan zu erfassen und unmittelbar aus ihrem im Alltag ihres Unterrichts angesammelten Erfahrungsschatz einzuordnen. Offenbar sind sie es gewohnt, schnelle Einordnungen und Entscheidungen, in Schons (1983) Worten gleichsam ein reflection-in-action, zu vollziehen. Dabei verweisen mehrere Lehrerinnen darauf, wie wichtig es ihrer Meinung nach fur eine aussagekraftige Analyse ist, die SchUler, die im Video zu sehen sind, personlich zu kennen: ohne das (wie auch immer geartete psychologische) Wissen tiber die Eigenarten der einzelnen SchUler erscheint ihnen eine ausfUhrliche Interpretation des Unterrichtsprozesses von zweifelhaftem Wert:
"Mhf Ichfind' halt so Auswertungen - das hat man auch in dem Seminar gemerktsowieso immer sehr hypothetisch. Was passiert eigentlich wirklich, was krieg' ich mit, was haben die eigentlich untereinander, was tun die eigentlich untereinander? Also, ich hab' dann noch mehr ein Problem, wenn ich die Kinder nicht kenn', wei! es noch hypothetischer ist. Bei meinen, die kenn' ich halt ziemlich genau. Auch vielleicht so Charak-
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tere einschiitzen oder einfach am Gesicht auch erkennen, dass etwas passiert. Also ich find'das Reden uber solche Dinge, uberhaupt die Beurteilung von dem was andere mit ihren Kindern machen, dasfind' ich immer sehr hypothetisch." (19/5/04, T2, Z21-29)
Gerade diese Sichtweise, die Abkehr vor dem Hypothetischen, vor dem, was sein konnte, galt es, im Seminar zu uberwinden. Ziel war nicht die Arbeit am Einzelfall eines Schiilers oder einer Schiilerin, sondem die Analyse zwar konkreter (und somit lokaler) Gegebenheiten, aber in Hinblick aufvom Fall geloste Erkenntnisse uber die interaktionaIe Komplexitat von Mathematikunterricht (vgl. Jungwirth 2004, S. 103f.). Solche Erkenntnisse zielen auf eine bestimmte Form von Gemeinwissen: nicht ein auf prototypischen Erlebnissen autbauender Erfahrungsschatz, der den moglichst reibungslosen Verlauf des alltaglichen Mathematikunterrichts gewahrleistet, sondem die Bewusstheit einer bedeutungsunterbestimmten und somit altemativen Deutungen geOffneten Unterrichtspraxis. Das Hypothetische solcher Deutungen stellt dabei weniger ein Manko dar, als es zu einem Ringen urn Interpretationsaltemativen und Leitvorstellungen fUr Unterrichtspraxis Anlass gibt.
Solch ein ,Ringen' kann, wie es eine Lehrerin formuliert, durchaus "muhsam" sein, und man muss sich erst allmahlich in die Praxis des gemeinsamen Interpretierens einfinden, wenn es darum geht, vorschnelle Fixierungen plausibler Deutungen gegenuber der Fragwiirdigkeit von Lesarten zUrUckzustellen (vgl. Jungwirth 2004, S. 104):
,,Eben dieser Dialog, der auch in unseren Unterlagen war: zu sagen, was passiert da jetzt? Ja? Das kann so vieles sein. Also man weij3 nicht, verriit der es jetzt und will einfach nur dem anderen helfen, das jetzt auszujiillen? Versteht der andere was oder versteht der nichts? Ich hatte den Eindruck, er versteht eigentlich nichts, weil er hat ja immer wieder eigentlich dasselbe wissen wollen und er hat immer wieder dasselbe gezeigt. Vielleicht hat er es aber nach dem dritten Mal dann kapiert und dann war aber die Sequenz eben nicht mehr aufgenommen. Jetzt weij3 man nicht: konnte er es beim niichsten Mal selbst ubertragen? Also, es ist ein bisschen muhsam und schwierig, ja, so was zu beurteilen. Ich find's immer noch einfacher, wenn man eben dabei ist und es miterlebt und die Kinder kennt." (19/5/04, T2, Z42-52)
Am Ende des Seminars im Juli stellt sich die Situation gespalten dar. Nur bezuglich einer der Lehrerinnen entsteht den Eindruck, dass sie mit den Veranstaltungsleitem und den (wohl meisten) Studierenden den muhsamen Weg des allmahlichen Kompetenzgewinns innerhalb unserer Interpretationsgemeinschaft erfolgreich gegangen ist; zwei weitere befinden sich noch auf diesem Weg. Die ubrigen zwei blieben den gemeinsamen Interpretationssitzungen nach kurzer Zeit meist fern und erschienen nur noch sporadisch:
,,Also ich fand's so ein bisschen, ein bisschen enttiiuschend, dass wir uns eigentlich nur Videos angucken und die besprechen, ja? Also, ich hab' eher gehoffi oder gedacht, dass wir einfach mehr Anschauungsmaterialien vorgestellt bekommen oder vielleicht auch mit denen arbeiten, die ausprobieren, austesten und deren Effektivitiit meinetwegen dann beurteilen." (19/5/04, T3, Z7-11)
Die Studierenden, die im Gruppengesprach in der Mitte der Veranstaltung vor allem auf das mehr oder weniger hilfreiche Verhaltnis von Freiraum und Anleitung, das sie an den Schulen von ihren Lehrerinnen erfahren, fokussierten, versuchten sich in der gemeinsamen Abschlusssitzung an einer formativen Auswertung der Veranstaltung. Dies bringt vermutlich zum Ausdruck, dass sie sich zu jenem Zeitpunkt als akzeptierten und
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nicht mehr peripheren Teil der Interpretationsgemeinschaft sahen, Verantwortung rur die Gemeinschaft iibemommen hatten und es ihnen ein Anliegen geworden war, verbessemd einzuwirken, z.B.:
spannend war eher die Beobachtung der Kleingruppen statt der gesamten Klassel auch einfacher for Anfanger wegen des Transkribierens und Beobachtens (14/7/04, Gesprachsprotokoll, S2, Au3)
Gr6jJe der Klasse an sich nicht problematisch, nur die Organisation ist aufivandigerl die Aufmerksamkeit wird eher gefordert (1417104, Gesprachsprotokoll, S3, Au4)
Eine Studierende, die eher skeptisch an der Veranstaltung teilgenommen hatte, formulierte auf der gemeinsamen letzten Seminarsitzung aber eine ahnliche Kritik wie zwei der Lehrerinnen (s.o.):
Erfahrungen in der Schule sehr gutl Materialaustausch und -ansammlung ware gutl hatte gerne mehr zu den Unterrichtseinheiten und dem Material der anderen Gruppen erfahrenl nur Transkripte durchzulesen eher langweilig. (14/7/04, Gesprachsprotokoll, S4, Au5)
4 Zusammenfassung der Ergebnisse und Vertiefung der Uberlegungen
Sucht man nach Erklarungen rur die im Lauf der Veranstaltung sich abzeichnenden Konfliktlinien und Reibungspunkte, so staBt man unweigerlich auf die Problematik des Verhaltnisses von Wissenschaft und Praxis. Dies umfasst die prinzipielle Frage, inwieweit die Interessenlagen der Beteiligten, vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Wissensbasen, situativ in Einklang gebracht werden konnen oder ob im vorliegenden Fall nicht eher zwei unvereinbare Referenzsysteme (Kahlert 2005) aufeinander prallen. Stellt das Konstrukt "Interpretationskompetenz", das gerade nicht auf die unmittelbare innovative Verbesserung von Handlungspraxis zielt, moglicherweise einen Antagonismus zum Motiv des direkten Anwendungsnutzens, das bei zwei der Lehrerinnen, die teilnahmen, zu dominieren scheint, dar?
Das Verweilen der anderen drei Lehrerinnen in der Interpretationsgemeinschaft kann als Indiz darur gedeutet werden, dass es vorschnell ist, Lehrerinnen und Lehrem in Bezug auf ihre Weiterbildung verallgemeinemd ein unmittelbares Anwendungsmotiv zu unterstellen, ein Argument, das von anderen Berichten Stiitzung erf&hrt (z.B. Adler 2001, Chapman 1993, Gellert 2003a, Krainer und Posch 1996, Shifter 1996). Die strukturellen Widerstande, die in der berichteten kombinierten Veranstaltung vor allem erfahrbar werden, sind vermutlich weniger die Folge disparater Referenzsysteme als eine Konsequenz der Phasierung von Lehrerbildung. Die unterschiedlichen Perspektiven, die die Studierenden und die Lehrerinnen jeweils einnehmen, kann man als von der so organisierten Phasenstruktur professioneller Entwicklung vorgepragt begreifen. Dabei werden die in den Lehrerbildungsphasen iiblichen Aktionsmodi iibemommen: Man orientiert sich an den Defiziten der anderen und reagiert entsprechend, statt gemeinsam - und ohne auBeren Konkurrenzdruck - am Thema Mathematikunterricht zu arbeiten.
Den dabei zu beobachtenden Handlungsweisen liegen unterschiedliche Perspektiven der Beteiligten auf die gemeinsame Auseinandersetzung urn Mathematikunterricht
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zugrunde. In der folgenden tabellarischen Ubersicht "sozial verteilter Handlungsweisen" (vgl. Raeithel 1991, S. 108) lassen sich die im Abschnitt 3 referierten Ergebnisse und Uberlegungen zur Mehrperspektivitat als einem Merkmal der Interpretationsgemeinschaft zusammenfassend einordn.en:
Sozial verteilte Wahmehmung Wissensbasis Veranderungs-Handlungsweisen tendenz
Aus der praxiszent- intuitive, selbstver- Erfahrung: Globales Verfestigung und rierten Perspektive standliche Erfas- Orientieren an pro- Weiterentwicklung der Unterrichtenden sung; totypischen Erleb- in der Praxis be-
spontane Kategori- nissen wahrter Techniken sierung und Unterrichtsme-
thoden
Aus der dezentrier- distanzierte Analyse Verallgemeinerte Beschreibung und ten Perspektive der von Aummigem/ Regel: Ausbildenl Bewertung von Un-Beobachterin Ungewohntem Erinnem von sym- terrichtsprozessen
bolhaften Zielfor-mulierungen
Aus der rezentrie- involvierte Analyse Bedeutungsklarung: Modifizierung oder renden Perspektive als zentral rekon- Ringen urn Interpre- Verstarkung von kollektiver Selbstre- struierter Merkmale tationsaltemativen, U nterrichtskonzep-gulation in der In- (und Effekte) Bilden von Meta- ten und Handlungs-terpretationsgemein- phem als Leitvor- mustem schaft stellungen
Tabelle: Mehrperspektivitiit als Merkmal der Interpretationsgemeinschajt
Wer routiniert unterrichtet, nimmt Mathematikunterricht in der Regel spontan und intuitiv wahr. Dies gilt bekannterweise flir das Geschehen im eigenen Unterricht (vgl. Schon 1983). Es zeigt sich aber auch, dass im Seminar der Interpretationsgemeinschaft videographierter fremder Mathematikunterricht spontan kategorisiert wird. Als Wissensgrundlage flir diese Einschatzungen fungieren flir die Lehrerinnen prototypische Erlebnisse in Form verfestigter globaler Orientierungen. Eine praxiszentrierte Sicht dominiert. Aus der dezentrierten Perspektive von Studierenden hingegen ist soleh eine intuitive Erfassung des Unterrichts nur bedingt moglich, da dies flir sie lediglich auf der Grundlage von eigenen SchUlererlebnissen moglich ist, also einer Perspektive, die universitare Lehrerbildung zu iiberwinden bestrebt ist. Studierende sind in der Interpretationsgemeinschaft viel starker an Dezentrierung ausdriickenden symbolhaften Regelformulierungen orientiert.
Die sozial verteilten Handlungsweisen von Lehrerinnen und Studierenden in der Interpretationsgemeinschaft sind denen derselben Akteure in der Schule der Lehrerinnen, und zwar in den herausgehobenen Situationen, in denen die Studierenden unterrichten, entgegengesetzt. Dort zeigen sich eher die Lehrerinnen als dezentrierte Beobachterinnen
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des von den Studierenden organisierten Mathematikunterrichts, wobei die Dezentrierung darin Ausdruck findet, dass die Lehrerinnen symbolische Zielformulierungen (z.B.: "Man verwende moglichst haufig den Stummen Impuls!") aus der eigenen zweiten Phase der Lehrerbildung erinnem und mit diesen Kritik am studentischen Lehrverhalten iiben.
Soleh eine doppelte Polarisierung von praxiszentrierten und dezentrierten Perspektiyen der Beteiligten fUhrt vor allem zu durchaus kritischen Beschreibungen und Bewertungen der Praxis von Mathematikunterricht und ihrer sie ermoglichenden Techniken, und zwar sowohl in der Schule als auch im Seminar. Aber dieses Wissen iiber Unterrichtspraxis ist kaum fur eine Veranderung und Emeuerung von Mathematikunterricht nutzbar. Die Polarisierung von Distanz und Intuition verhindert geradezu eine gemeinsame, involvierte Analyse von Unterrichtsprozessen, die zu neuen Leitvorstellungen iiber Unterrichtsgestaltung fUhren kann. Die strukturellen Widerstande, gegen die sich die Sitzungen der Interpretationsgemeinschaft im Seminar zu behaupten versuchen, bestehen also nicht darin, dass die Lehrerinnen und Studierenden womoglich nicht erkennen, wie bedeutsam interaktionale Verdichtungen fur das Mathematiklemen sind. Vielmehr wird als Schwierigkeit deutlich, dass die in der Schule sich vollziehende Positionierung der Akteure gegeneinander eine rezentrierende Sicht- und Handlungsweise in der Interpretationsgemeinschaft behindert. Aber gerade diese rezentrierende StoBrichtung der Interpretationsgemeinschaft kann bewirken, dass die Polarisierung iiberwunden wird. Darin steckt vermutlich ihr hohes Potenzial. Dass die Interpretationsgemeinschaft dabei immer auch an die Widerstlinde stoBt, die ihr die im Praxisfeld erfolgte Positionierung der Studierenden und Lehrerinnen entgegen setzt, erhoht die Herausforderung. Ein Weg, diese Widerstande abzuschwachen, konnte darin bestehen, die Begegnung von Studierenden und Lehrerinnen in der Schule anzuleiten oder zu begleiten.
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Adresse des Autors
Uwe Gellert Universitat Hamburg FakuItat4 Fachbereich Erziehungswissenschaft, Sektion 5 Von-Melle-Park 8 20146 Hamburg E-mail: [email protected]
Manuskripteingang: 11. Oktober 2005 Typoskripteingang: 29. Mai 2006
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