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Der Konstitutionalismus im nationalen und globalen Kontext:
Warum nationale Verfassungen zu feiern sind und globaler
Konstitutionalismus zu fordern bleibt
Eva Maria Belser/Simon Mazidi
I. Einleitung
Als die Frauen und Männer der Konstituierenden Nationalversammlung Österreichs vor
hundert Jahren das “Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als
Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz)” beschlossen, setzten sie einen
Meilenstein des nationalen Konstitutionalismus. Sie hielten den neuen nationalen Konsens
über die Ausübung der politischen Macht in einem höchsten Gesetz fest, verankerten die
Staatsgewalt umfassend im Willen des österreichischen Volks und begrenzten sie verbindlich
mit den Mitteln des Rechts.1
Fast zur gleichen Zeit verhandelten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs an der Pariser
Friedenskonferenz über die Zukunft der Weltgemeinschaft. Sie leiteten damit eine
Entwicklung ein, die heute von verschiedenen Autorinnen und Autoren als globaler
Konstitutionalismus umschrieben wird. Die in Paris versammelten Delegationen einigten sich
nämlich nicht nur auf eine neue Friedensordnung zwischen den Staaten, sondern riefen eine
Internationale Arbeitsorganisation (IAO) ins Leben, die internationales Arbeitsrecht schaffen
und so weltweit für soziale Gerechtigkeit sorgen sollte. Die Charta der Organisationen wurde
im Jahre 1919 als dreizehntes Kapitel des Versailler Friedensvertrags in Kraft gesetzt.2
Während im Innern der Staaten wesentliche Dinge gleichgeblieben sind und das Bundes-
Verfassungsgesetz, weiterhin das Herzstück des nationalen Konstitutionalismus bildet, hat im
Äussern ein fundamentaler Wandel stattgefunden. Zur Internationalen Arbeitsorganisation sind
zahllose weitere regionale und internationale Organisationen getreten, die auf Staatsverträgen
beruhen, gleichzeitig aber selbst für einzelne Regionen oder Bereiche Völkerecht
hervorbringen. Daneben sind zahlreiche weitere Akteure – internationale, supranationale und
1 Öhlinger, Verfassungsrecht (2005) Rz 40, Funk, Einführung in das österreichische Verfassungsrecht (2011) Rz 71. 2 Belser, The White Man’s Burden, Arbeit und Menschenrechte in der globalisierten Welt (2007) S. 28.
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transnationale – in Erscheinung getreten, die im globalen Raum Normen hervorbringen und
Entscheide fällen.
Was aber bedeutet das zunehmende Auseinanderklaffen von Staatsgewalt und öffentlicher
Gewalt für die nationalen Verfassungen, die nur ihre jeweiligen Staatsgewalten zu legitimieren
und zu bändigen vermögen? Was geschieht mit dem Konstitutionalismus, wenn sich
Staatsgewalten aus dem Rahmen der Verfassungsordnung hinausbewegen und dem vom Volk
legitimierten und durch Werte orientierten rechtlichen Rahmen entweichen? Wenn sie im
globalen Raum Macht ausüben und sich mit der Machtausübung anderer konfrontiert sehen?
Und welchen Schaden nimmt der nationale Konstitutionalismus, wenn jenseits des
Geltungsbereichs des Nationalstaats neue Akteure auftreten, die öffentliche Macht für sich in
Anspruch nehmen und ausüben, ohne durch eine Verfassung konstituiert und kontrolliert zu
werden?
Als Antwort auf die Krise des nationalen Konstitutionalismus wird oft ein globaler
Konstitutionalismus gepriesen. Die Idee des globalen Konstitutionalismus beruht auf dem
Gedanken, dass die öffentliche Gewalt überall dort geregelt und gebändigt werden muss, wo
sie sich zeigt und wirkt. Wird öffentliche Macht im globalen Raum ausgeübt, so braucht es
deshalb eine globale Verfassung, welche den weltweiten Konsens über die Ausübung dieser
Macht in einem höchsten Gesetz festhält, im Willen des Volks verankert und mit den Mitteln
des Rechts begrenzt. Globaler Konstitutionalismus wird aber nicht nur postuliert, sondern auch
konstatiert. Verschiedene Phänomene – etwa die Vermehrung und Verdichtung des
Völkerrechts, internationale Rechtsetzung und Rechtsprechung und völkerrechtliche
Kollisionsregeln – werden als Ansätze eines völkerrechtlichen Konstitutionalismus erachtet,
der sich evolutorisch fortentwickelt.
Doch was ist davon zu halten, wenn die im Nationalstaat beheimateten Begriffe der Verfassung
und des Konstitutionalismus in die globale Sphäre übertragen werden, obwohl es dort an
demokratischen Meinungsbildungsprozessen und deren Voraussetzungen – einem Demos,
einer Öffentlichkeit und politischen Parteien – fehlt? Was bedeutet es, wenn jede Art
völkerrechtlicher Zusammenarbeit und jede – wenn auch noch so unvollständige ––
Hierarchisierung völkerrechtlicher Normen als globaler Konstitutionalismus beschrieben wird,
obwohl das Völkerrecht durch Fragmentierung und rechtsstaatliche Defizite gekennzeichnet
ist und die Macht, die zwischen und jenseits der Staaten ausgeübt wird, kaum gebändigt ist?
Im Folgenden sollen zunächst die Idee des Konstitutionalismus und die Funktionen in
Erinnerung gerufen werden, die Verfassungen im nationalen Kontext wahrnehmen und ein
Seitenblick auf die Verabschiedung des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes im Jahre
1920 geworfen werden (II.). Im Anschluss daran wird dargelegt, dass die Stärkung des
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Völkerrechts, die in einer globalisierten Welt unerlässlich ist, auch die rechtsstaatlichen und
demokratischen Defizite internationaler Machtausübung verschärft und zu einer Krise des
nationalen Konstitutionalismus beiträgt (III.). Schliesslich wird die Frage aufgeworfen, ob der
globale Konstitutionalismus die Schwächen des nationalen zu kompensieren vermag, anhand
des Beispiels der Internationalen Arbeitsorganisationen auf die Unterschiede zwischen
nationalen und globalen Verfassungsideen hingewiesen und auf die Schwächen des globalen
Konstitutionalismus aufmerksam gemacht (IV.). Zum Schluss wird festgestellt, dass die
nationalen Verfassungen bis auf weiteres die verlässlichsten Garanten des Konstitutionalismus
bleiben. Wer nicht eine Schwächung der Funktionen des Verfassungsrechts und einen Verlust
an Konstitutionalismus insgesamt beklagen möchte, hat deshalb allen Grund, nationale
Verfassungen zu feiern und ihnen Sorge zu tragen (V.).
II. Der Konstitutionalismus im nationalen Kontext
Ein politisches Gemeinwesen verfügt über eine Verfassung (constitution), wenn seine
rechtliche Grundordnung für alle Hoheitsträger verbindlich festgehalten ist (A.). Gelingt es
einer Verfassung, eine demokratisch legitimierte Herrschaft des Rechts zu garantieren und alle
Staatsgewalt dem Recht zu unterwerfen, so spricht man von Konstitutionalismus
(constitutionalism). Indem er die beiden Pfeiler moderner Verfassungen – Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit – miteinander verschränkt, wie dies vor hundert Jahren in Österreich
geschehen ist (C.), verankert der Konstitutionalismus die Staatsgewalt umfassend im Willen
des Volks und begrenzt sie verlässlich durch die Mittel des Rechts (B).
A. Die Anfänge des Konstitutionalismus
Die Entwicklung des Verfassungsrechts erfolgte über verschiedene Etappen, die erst im
Verlaufe der Zeit das Phänomen des Konstitutionalismus hervorbrachten. Als erstes
Verfassungsdokument gilt die Magna Charta aus dem Jahre 1215, deren 63 Artikel zwar vom
englischen König selbst verfasst wurden, die aber darauf zielten, seine Herrschaft und die
seiner Nachfolger einzuschränken. Es handelte sich bei dem Dokument im Wesentlichen um
einen feudalistischen Vertrag zwischen dem König und dem englischen Adel, doch verbrieften
die Bestimmungen zum Schutz vor willkürlicher Verhaftungen und Enteignungen – auch wenn
sie oft verletzt wurden – erste individuelle Rechte. Die Magna Charta zwang den König auch,
von ihm unabhängige Instanzen einzusetzen, die über die Einhaltung der verbrieften Rechte
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wachten, und stellte damit von Anfang an klar, dass Verfassungsrecht ohne eine unabhängige
Justiz toter Buchstabe bleibt.3
Die Umwälzungen in den USA und Frankreich im 18. Jahrhundert und später in vielen anderen
Ländern führten zu einer Demokratisierung des Verfassungsrechts. Verfassungen galten
nunmehr nur noch dann als legitim, wenn sie im Willen des Volks verankert waren. Nicht
irgendein höchstes Gesetz sollte beanspruchen können, Verfassung zu sein, sondern nur eines,
das aus einem politischen Prozess hervorgegangen ist, an dem das Volk oder seine gewählten
Vertreter beteiligt waren.4
Dass auch das Volk seine Macht nicht nach Belieben ausüben kann, stellte im Jahre 1803 der
US Federal Supreme Court fest, als das Gericht ein Gesetz des Kongresses wegen
Verfassungswidrigkeit aufhob.5 Damit zog es eine klare Trennlinie zwischen dem
Verfassungsgeber, der die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens verändern darf, und
der parlamentarischen Vertretung des Volks, die sich nicht über das vom höchsten Gericht
gehütete Grundgesetz hinwegsetzen darf.6
Ein weiterer verfassungsrechtlicher Paukenschlag ertönte im Jahre 1920 als mit dem
Inkrafttreten des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes der erste Gerichtshof
verfassungsrechtlich verankert wurde, der die umfassende Macht zur Ausübung der
Verfassungsgerichtsbarkeit in sich vereinte. Der Verfassungsgerichtshof hatte den Auftrag, die
Verfassungsmässigkeit von Einzelfallentscheidungen und Landesgesetzen, aber auch von
Bundesgesetzen zu überprüfen, den Vorrang der Verfassung gegenüber allen Behörden
durchzusetzen und die Einheit der Rechtsordnung zu sichern.7
Eine höchste Stufe der Verbindlichkeit erlangte die Verfassung, als im Nachkriegsdeutschland
ein Grundgesetz verabschiedet wurde, das Ewigkeitsklauseln vorsah und sich damit zum Ziel
setzte, mit der Verfassung selbst dem Verfassungsgeber Schranken zu setzen.8 Die Verfassung
bezog damit ihre Legitimation nicht mehr nur aus dem demokratischen Verfahren auf dem sie
beruhte, sondern auch aus Garantien, namentlich dem Schutz von Rechten und Freiheiten
Einzelner, auf die das Gemeinwesen sich nie mehr zurückzukommen erlauben wollte.9
3 Vgl. dazu und zu den späteren Entwicklungen: Belser/Waldmann/Molinari, Grundrechte I, Allgemeine Grundrechtslehren (2012) S. 37 ff. 4 Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in Grimm, Die Zukunft der Verfassung II, Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung (2012) S. 16. 5 Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803). 6 Belser et al, Grundrechte I S. 42. Ferner dazu auch Diggelmann/Hertig Randall/Schindler, Verfassung, in Diggelmann/Hertig Randall/Schindler (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz (2020), Bd. 1, S. 9 Rz 7. 7 Funk, Einführung Rz 381; Öhlinger, Verfassungsrecht Rz 984; Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981) 7 (19 ff.). 8 Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG). 9 Belser/Waldmann/Wiederkehr, Staatsorganisationsrecht (2017) S. 303 f. Rz 28. Siehe generell zu Schranken der Verfassungsänderung: Haller/Kölz, Allgemeines Staatsrecht (2004) S. 110 ff.
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Aufgrund ihrer verfahrensmässigen und inhaltlichen Besonderheiten verfügen Verfassungen
über eine besondere Legitimität und Geltungskraft. Sie gehen aus einem besonderen
politischen Prozess hervor, durch welchen sich die verfassungsgebende Gewalt (le pouvoir
constituant) in eine verfasste Gewalt (le pouvoir constitué) wandelt, und sie legen die rechtliche
Grundordnung des Staats fest.10 Weil Verfassungen meist vom Volk oder mit besonderen
Mehrheiten geschaffen und revidiert werden, weisen sie eine erhöhte demokratische
Legitimität auf. Sie unterscheiden sich aber auch durch ihren Inhalt von anderen Gesetzen,
denn sie beantworten die zentralen Fragen eines Gemeinwesens, regeln die Staatsorganisation
und garantieren Rechte und Pflichten. Die prozeduralen und substantiellen Besonderheiten von
Verfassungen begründen deren Stellung an der Spitze der Normenhierarchie. Den Vorrang der
Verfassung haben alle Träger staatlicher Gewalt zu beachten; im Konfliktfall wird er von einem
höchsten Gericht durchgesetzt.
B. Im Rahmen des Rechts – nach dem Willen des Volkes
Als höchste Gesetze erfüllen Verfassungen zahlreiche Funktionen.11 Sie dienen dazu,
politische Prozesse in Bahnen zu lenken, Behörden zu konstituieren sowie Zuständigkeiten und
Verfahren zu klären (instrumentale Funktionen). Gleichzeitig legen sie die Ziele und Werte
des Gemeinwesens fest und verpflichten die Behörden, diese zu achten und zu verwirklichen
(materiale Funktionen).12 Stellen Verfassungen sicher, dass die politischen Prozesse
demokratisch verlaufen und Machtmissbräuche verhindert werden und dass die Ziele und
Werte der Verfassung sowie die Rechte und Freiheiten der Einzelnen verlässlich geschützt
sind, garantieren sie Konstitutionalismus. Nicht jede Verfassung steht auf dem Boden des
Konstitutionalismus, doch jeder Konstitutionalismus ohne Verfassung hängt in der Luft.
Indem Verfassungen die öffentliche Gewalt begründen und die Zuständigkeiten der
verschiedenen Akteure festlegen, konstituieren und begrenzen sie die Macht (Konstituierungs-
und Machtbegrenzungsfunktion). Sie stellen sicher, dass die zuständigen Organe mit der
nötigen Macht ausgestattet sind, um die Entscheide, die in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen,
auch tatsächlich zu fällen und durchzusetzen und sie verhindern, dass für jede offene Frage ad
hoc eine Lösung gesucht wird und sich der lauteste oder stärkste Akteur durchsetzt. Weil
10 Belser et al, Staatsorganisationsrecht S. 294 f. Rz 10 ff.; Haller/Kölz, Staatsrecht S. 106 f.; Diggelmann/Hertig Randall/Schindler in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 1, S. 17 ff. Rz 16 ff. 11 Siehe zur dynamischen Natur des Verfassungsbegriffes Diggelmann/Hertig Randall/Schindler in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 1, S. 11 Rz 9. 12 Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (2016) S. 49 ff.; Belser et al, Staatsorganisationsrecht S. 52 f. Rz 13 f.
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Verfassungen den Zugang zur politischen und rechtlichen Macht verbindlich regeln, sorgen sie
gleichzeitig dafür, dass die Machtverhältnisse übersichtlich und stabil sind und bei Bedarf auf
friedliche Weise geändert werden können (Stabilisierungs- und Friedensfunktion).13
Demokratische Verfassungen stellen nicht nur sicher, dass die Entscheide vom Volk ausgehen,
auf dem Willen des Volks beruhen und in seiner Verantwortung liegen, sondern schützen die
Demokratie und garantieren deren Voraussetzungen (Demokratiefunktion).14 Spricht man in
Demokratien von einem Demokratiedefizit, so meint man damit meist, dass die
Legitimationskette zwischen dem Willen (der Mehrheit) des Volks und dem staatlichen
Entscheid zu lang oder die Glieder der Ketten zu schwach sind. Die Legitimationskette ist kurz,
wenn der staatliche Entscheid vom Volk selbst (direkte Demokratie) oder von einer Institution
gefällt wird, deren Mitglieder vom Volk direkt gewählt sind (indirekte Demokratie) und
verlängert sich, wenn er von indirekt gewählten Behörden oder von ihnen eingesetzten
Personen ausgeht. Demokratische Verfassungen stellen sicher, dass Entscheide mit höherer
demokratischer Legitimation (z.B. die Gesetze des Parlaments) Entscheiden mit geringer
demokratischer Legitimation (z.B. Entscheiden eines indirekt gewählten Organs) vorgehen.15
Die Sicherung der Demokratie ist dabei untrennbar mit der Garantie der Rechtsstaatlichkeit
verflochten (Rechtstaatsfunktion).
Verfassungen halten auch die Ziele und Werte fest, zu denen sich eine Gemeinschaft bekennt,
und legt die Aufgaben fest, die das Gemeinwesen zu erfüllen hat (Wertsicherungsfunktion).
Indem die Verfassung zu einer Etappierung der politischen Auseinandersetzungen zwingt,
steuert und vereinfacht sie die Entscheidfindung (Steuerungs- und Rationalisierungsfunktion).
Die Gesetzgebung (der zweite Konsens) wäre mit noch grössseren Schwierigkeiten und
Unwägbarkeiten verbunden, wenn die zuständigen Organe nicht auf einen Bestand legitimer
Grundentscheide (den ersten Konsens) zurückgreifen könnten und an diesen gebunden wäre.
Durch die Festlegung gemeinsamer Werte und die Planung und Gestaltung des Gemeinwohls
gibt die Verfassung auch dem Selbstverständnis eines Gemeinwesens Ausdruck und begründet
ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Identifikations- und Integrationsfunktion). Sind
politische, rechtliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Konflikte zu lösen, so erhöht es
die Akzeptanz von Entscheiden, wenn dabei die von der Verfassung vorgesehen
13 Belser, Einführung, in Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung (2015) Rz 42. 14 Siehe zur Rückkoppelung Diggelmann/Hertig Randall/Schindler in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 1, S. 22 f. Rz 22 f. Zur Möglichkeit der demokratischen Mitwirkung im Aussenbereich in der Schweiz: Cheneval, Demokratie und Internationalisierung, in Diggelmann/Hertig Randall/Schindler (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz (2020), Bd. 1, S. 367 ff. Rz 21 ff. 15 Belser et al, Staatsorganisationsrecht S. 90 Rz 5.
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Zuständigkeiten und Verfahren eingehalten und die höherrangigen Werte beachtet werden
(Akzeptanzfunktion).
Schliesslich kommen in einer Verfassung alle Bereiche und Ebenen des Staats unter einem
gemeinsamen Dach zusammen. Die Verfassung ermöglicht es damit, einen Ausgleich
zwischen verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Interessen und grundlegenden
Prinzipien zu finden und verhindert, dass sich verschiedene Bereiche des Rechts oder Ebenen
des Staats unabhängig voneinander und im Widerspruch zueinander entwickeln. Verfassungen
sind damit Bastionen gegen die Fragmentierung des Rechts und berufen sowie in der Lage,
Wertwidersprüche aufzulösen und zwischen den Zielen und Dynamiken einzelner
Rechtsbereiche einen Ausgleich zu finden (Kohärenzfunktion).16
C. Der österreichische Konstitutionalismus fasst Fuss
Mit dem Ende des ersten Weltkriegs nahm in Österreich ein Prozess seinen Anfang, der eine
neue Verfassung und mit ihr eine Neugründung des Staats hervorbringe sollte. Spätestens mit
der Verzichtserklärung Kaiser Karl I. im November 1918 hatte das Volk durch seine Vertreter
die Macht übernommen. Schon die provisorische Nationalversammlung, damals noch für
Deutschösterreich, hatte entschieden, dass es sich beim neuen Staat um eine demokratische
Republik handeln, alle öffentlichen Gewalten vom Volk ausgehen und das Wahlrecht ohne
Unterschied des Geschlechts gelten sollte. Im Februar 1919 wählte das österreichische Volk
(damals noch ohne das Burgenland) Frauen und Männer in die Nationalversammlung
Österreichs und erteilte ihnen den Auftrag, als verfassungsgebendes Parlament eine neue
Verfassung zu verabschieden.17
Das Bundes-Verfassungsgesetz verankerte die Ausübung der öffentlichen Macht umfassend
im Willen des Volkes und hielt in ihrem ersten Artikel fest: „Österreich ist eine demokratische
Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“18 Mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass die
gesamte staatliche Verwaltung „nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden“ darf,19
verschränkte die Verfassung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und stellte sicher, dass jede
Handlung des Staats über ein mehr oder minder lange Legitimationskette auf den Willen des
16 Siehe zum Ganzen Belser in Waldmann et al, Basler Kommentar BV Rz 43. 17 Vgl. Adamovich/Funk/Holzinger/Frank, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1: Grundlagen (2011) Rz 07.003 ff.; Funk, Einführung Rz 69 f. 18 Art. 1 B-VG. Mit weiteren Hinweisen Adamovich et al, Staatsrecht Rz 11.011. Art. 1 B-VG verankert nicht nur das demokratisches Strukturprinzip, sondern auch ein republikanisches Strukturprinzip. Siehe dazu Funk, Einführung Rz 105. 19 Art. 18 B-VG.
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Volks zurückgeführt werden konnte.20 Schliesslich stellte der Verfassungsgeber mit der
Einsetzung des Verfassungsgerichtshofs klar, dass keine Gesetze, Verordnungen, Entscheide
oder Wahlen Bestand haben konnten, die nicht im Einklang mit der Verfassung standen, und
dass es in letzter Instanz am höchsten Gericht ist, die Verfassung auszulegen, Zuständigkeiten,
Rechte und Pflichten zu klären und allfällige Wertwidersprüche zu lösen.21
Auch die Aussenpolitik sollte von der Bändigung durch den demokratischen Willen des
österreichischen Volks erfasst werden. Das Bundes-Verfassungsgesetz legte die
Verantwortung für die Handhabung der äusseren Angelegenheiten und den Abschluss der
Staatsverträge zwar in die Zuständigkeit des Bundespräsidenten,22 hielt aber auch fest, dass
letztere der Genehmigung des Nationalrats bedurften, wenn sie politischer Natur waren oder
einen gesetzesändernden Inhalt aufwiesen. Sie sollten wie Gesetze verabschiedet werden oder
– wenn der Staatsvertrag ein Verfassungsgesetz änderte – wie Verfassungsgesetze.23 Gegen
aussen sollten der Regierung damit zwar weiterhin weitgehende Privilegien zugestanden
werden, doch wurde der Abschluss von Völkerrecht mit rechtsetzender Wirkung der
parlamentarischen Kontrolle unterstellt und damit im Willen des Volks verankert.24
Dem Bundes-Verfassungsgesetz gelang es damit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu
verankern und alle Funktionen zu übernehmen, die Verfassungen zugeschrieben werden. Das
neue höchste Gesetz des Staats sicherte damit nicht nur die Legitimität staatlicher Entscheide,
sondern auch deren Effektivität und Kohärenz.
III. Der Schwächung des nationalen Konstitutionalismus
Als das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz beschlossen wurde, bildeten das nationale
und das internationale Recht noch zwei voneinander weitgehend getrennte Rechtsordnungen,
von denen das eine die Staatsgewalt im Innern regelte und das andere das Verhältnis der
eigenen Staatsgewalt zu Staatsgewalt anderer Staaten betraf. Das damalige Völkerrecht zielte
auf die zwischenstaatliche Koordination und war auf einzelne Sachbereiche, wie den
zwischenstaatlichen Verkehr, den Handel, Zölle und den Aufenthalt von Ausländerinnen und
20 Differenziert in Bezug auf die Tragweite des Vorbehalts Funk, Einführung Rz 29. 21 Vgl. Art. 138 Abs. 1 B-VG, Art. 139 B-VG; Art. 140 B-VG, Art. 141 Abs. 1 lit. a, b und h B-VG und Art. 144 B-VG. 22 Art. 65 B-VG. 23 Art. 50 B-VG. Vgl. auch Art. 48 B-VG zur Kundmachung und Art. 49 Abs. 1 B-VG zum Inkrafttreten, die beide auf der Parallelität von Bundesgesetzen und Staatsverträgen beruhen. Siehe zum Ganzen auch Adamovich et al, Staatsrecht Rz 16.022, oder Funk, Einführung Rz 129. 24 Siehe Öhlinger, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, 4. Länderbericht Österreich, VVDStRL 56 (1997) 81 (83 ff.).
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Ausländern, beschränkt.25 Entsprechend selten waren Konflikte zwischen innerstaatlichem und
internationalem Recht.26 Die globalen Entwicklungen der vergangenen hundert Jahre haben
diese Ausgangslage fundamental verändert und die Errungenschaften des nationalen
Konstitutionalismus in Frage gestellt. Der Ausbau des Völkerrechts und der multilateralen
Institutionen erlauben zwar einer zunehmend vernetzten Weltgemeinschaft zu funktionieren
(A.). Gleichzeitig stärken sie aber eine Vielzahl von Akteuren, deren Macht oft nicht auf einer
Verfassung beruht und auch nicht durch eine Verfassung gebändigt wird (B.), und schwächen
mit den Staaten die nationalen Verfassungen und die Funktionen des Konstitutionalismus (C).
A. Die wachsende Bedeutung des Völkerrechts
Diente das Völkerrecht vor hundert Jahren noch vorwiegend dazu, zwischenstaatliche
Konflikte zu vermeiden oder friedlich beizulegen, so bildet es heute eine Rechtsordnung, die
sämtliche Rechts- und Lebensbereiche durchdringt. Die Trennung der Aussen- und der
Innenpolitik wird dabei ebenso in Frage gestellt, wie die grundsätzliche Unterscheidung
zwischen nationalem und internationalem Recht.27 Beide Bereiche sind so eng miteinander
verflochten, dass der Ursprung hoheitlicher Akte – und die Verantwortung für diese – oft kaum
noch erkennbar ist. Wirken neben öffentlichen Akteuren auch noch private und hybride
Akteure an der Rechtsgestaltung mit, so spricht man von transnationalem Recht; dieses ist in
vielen Lebensbereichen von grosser Bedeutung, kommt aber auf eine Art und Weise zustande,
die weder als demokratisch noch als rechtsstaatlich gelten kann.28
Auch in Bezug auf die Stellung des Völkerrechts gegenüber dem nationalen Recht sind
tiefgreifende Veränderungen zu verzeichnen. Während die Staaten früher zwar an das
Völkerrecht gebunden waren und Verletzungen völkerrechtliche Sanktionen nach sich ziehen
konnten, so beanspruchen völkerrechtliche Normen heute immer öfter einen Vorrang
gegenüber nationalem Recht – auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht. Entscheidet ein
Staat im Rahmen demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahren, eine völkerrechtliche
25 Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts (2015) S. 90; Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem (2010) S. 4. 26 Fassbender, Heinrich Triepel und die Anfänge der dualistischen Sicht von «Völkerrecht und Landesrecht» im späten 19. Jahrhundert, in Gschwend/Hettich/Müller-Chen/Schindler/Wildhaber (Hrsg.), Recht im digitalen Zeitalter, Festgabe Schweizerischer Juristentag 2015 in St. Gallen (2015) S. 462 f.; Allot, The Emerging Universal Legal System, International Law FORUM Du Droit International 3 (2001) 12. Siehe zur zunehmenden Kollisionswahrscheinlichkeit Diggelmann, Verfassung und Völkerrecht, in Diggelmann/Hertig Randall/Schindler (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz (2020), Bd. 1, S. 280. Rz 23. 27 Vgl. Diggelmann in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 1, S. 267. Rz 5. 28 Siehe in Bezug auf die fehlende demokratische Legitimationskette Dobner, More Law, Less Democracy?, in Dobner/Loughlin (Hrsg.), The Twilight of Constitutionalism? (2012) S. 148.
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Verpflichtung nicht einzuhalten oder eine neue völkerrechtliche (supra- oder transnationale)
Entwicklung abzulehnen, so stösst er deshalb oft nicht nur auf diplomatische, politische und
wirtschaftliche Widerstände, sondern oft auch an rechtliche Schranken.29 Die wachsende
Bedeutung des Völkerrechts führt so zu einer Erosion der staatlichen Macht – und damit
notwendigerweise auch zu einer Schwächung der nationalen Verfassungen und des
Konstitutionalismus, den sie garantieren.30
Die Bedeutung und Funktionsweise des internationalen Rechts hat sich aber nicht nur in
quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht tiefgreifend verändert.31 Das internationale
Recht erfüllt zunächst weiterhin die Aufgabe der zwischenstaatlichen Koordination. Diese
Aufgabe hat aber aufgrund der zunehmenden Vernetzung der Staaten im wirtschaftlichen,
sozialen, politischen und kulturellen Bereich, der immer intensiveren Zusammenarbeit und der
stetig wachsenden Interdependenzen erheblich an Bedeutung gewonnen.32 War Aussenpolitik
zu Beginn des letzten Jahrhunderts noch weitgehend ein Privileg der Exekutive, die ihre
diplomatischen Künste nach ihrem Gutdünken ausüben konnte, so ist sie mittlerweile in
sämtlichen Rechtsbereichen bedeutsam und für alle drei Staatsgewalten relevant.33 Erhebliche
Bereiche der Rechtsetzungskompetenzen haben sich auf der Vertikale nach oben verschoben.
Fragen, die früher vom nationalen Gesetzgeber – oder gar vom nationalen Verfassungsgeber –
gestellt und beantwortet worden wären, werden heute zwischen Völkerrechtssubjekten
ausgehandelt.34 Die Rechtsanwendung wird auf vielfältige Weise vom internationalen Recht
und Entscheiden internationaler Akteure beeinflusst, und die Justiz steht in einem intensiven
Dialog mit supra- und internationalen Gerichten und Gremien, die justizähnlich
funktionieren.35
29 Vgl. Oeter, Prekäre Staatlichkeit und die Grenzen internationaler Verrechtlichung, in Kreide/Niederberger (Hrsg.), Transnationale Verrechtlichung, Nationale Demokratien im Kontext globaler Politik S. 90. 30 Diggelmann/Hertig Randall/Schindler in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 1, S. 27 ff. Rz 28 f. 31 Diggelmann in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz Bd. 1, S. 267. Rz 5. 32 Siehe dazu de Wet, The International Constitutional Order, International and Comparative Law Quarterly 55 (2006) 51 (53), die in diesem Zusammenhang von einem “Verfassungskonglomerat” spricht. 33 Bezeichnend schreibt Ehrenzeller, Legislative Gewalt und Aussenpolitik eine rechtsvergleichende Studie zu den parlamentarischen Entscheidungskompetenzen des deutschen Bundestages, des amerikanischen Kongresses und der schweizerischen Bundesversammlung im auswärtigen Bereich (1993), in seinem Vorwort, dass traditionellerweise die Aussenpolitik als «the province of Princes, not of commoners» betrachtet wurde. 34 Siehe zur vertikalen Verlagerung der Rechtssetzung und -durchsetzung Oesch, Verfassungswandel durch Globalisierung und Europäisierung, in Diggelmann/Hertig Randall/Schindler (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz (2020), Bd. 1, S. 137 Rz 1. 35 Vgl. dazu Slaughter, A Typology of Transjudicial Communication, University of Richmond Law Review 29 (1994) 99. Siehe zur Bedeutung und der engen Verflechtung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR und den schweizerischen Verfassungsrecht Fassbender, Verfassung als plurales Gefüge, in Diggelmann/Hertig Randall/Schindler (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz (2020), Bd. 1, S. 202 ff. Rz 27 ff.
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Das Völkerrecht hat sich so von einem Instrument zwischenstaatlicher Koordination zu einem
Kooperationsrecht entwickelt.36 Ziel des völkerrechtlichen Kooperationsrechts ist es, regionale
und globale Herausforderungen, die die Kräfte der einzelnen Staaten übersteigen, mit vereinten
Kräften anzugehen. Dies betrifft sämtliche Rechtsbereiche – vom Personen- und Familienrecht,
über das Vertrags- und Wettbewerbsrecht, Steuer- und Strafrecht bis zum Migrations- und
Umweltrecht – die sich ohne internationale Zusammenarbeit nicht mehr sinnvoll regeln lassen.
Mit der wachsenden Bedeutung des Völkerrechts geht auch eine Entfaltung inter- und
supranationaler Organisationen einher. Unzählige neue und neu ermächtigte Akteure wirken
an der Gestaltung des internationalen Rechts mit. Einige dieser Organisationen sind eng an ihre
Mitgliedstaaten zurückgekoppelt, andere aber handeln zunehmend eigendynamisch, schaffen
eigenständig Regeln und wenden sie an.37 An diesen völkerrechtlichen Dynamiken wirken die
Staaten oft mit – aber nicht immer alle und nicht alle im gleichen Ausmass. Wichtige
Entscheide werden in informellen Gremien vorbereitet oder von Akteuren wie der G7, G8 oder
G20 in die Wege geleitet. Einige regionale und internationale Organe gelten als eigentliche
Motoren der Integration und fügen dem Völkerrecht als Koordinations- und Kooperations- die
neue Dimension des Integrationsrechts hinzu.38 Nicht nur hat sich die Rechtssetzung von den
einzelnen Staaten weg auf die internationale Ebene verlagert39 und eine trans- oder
suprastaatliche Rechtsordnung entstehen lassen, auch die – sich oft dynamische –
Rechtsanwendung erfolgt unabhängig von der Zustimmung der Staaten und setzt deren
Souveränität Schranken.40
B. Die Entfesselung der öffentlichen Gewalt
Die zunehmende internationale Vernetzung und die Eigendynamik des Völkerrechts haben
dazu geführt, dass öffentliche Gewalt längst nicht mehr nur innerhalb von Staaten ausgeübt
wird. Staatsgewalt und die öffentliche Gewalt klaffen vielmehr zusehends auseinander.
Zahlreiche Akteure üben ausserhalb des Nationalstaats Macht aus und konfrontieren Staaten,
36 Mit weiteren Hinweisen Knauff, Regelungsverbund S. 5; Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, JuristenZeitung 57(12) (2002) 569 (571). 37 Siehe zu den verschiedenen Arten der Verrechtlichung auf internationaler Ebene: Abbott/Keohane/Moravcsik/Slaughter, The Concept of Legalization, International Organization 54 (2002) 401 (404 ff.). 38 Oesch in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 1, S. 138 Rz 1; Knauff, Regelungsverbund S. 5; Petersmann, International Integration Law and Multilevel Constitutionalism, in FS Bieber (2007), 429 (430). 39 Allot, International Law FORUM Du Droit International 3 (2001) 16. 40 Die Zustimmungserfordernisse bilden auf internationaler Ebene nicht mehr ein konstitutives Element. Siehe dazu Wahl, In Defence of ‘Constitution’, in Dobner/Loughlin (Hrsg.), The Twilight of Constitutionalism? S. 230.
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Gliedstaaten und Einzelne mit Normen und deren Durchsetzung, ohne dem
richtungsweisenden und bändigenden Einfluss einer Verfassung zu unterstehen.
Jenseits des Völkervertragsrechts und des Völkergewohnheitsrechts zeigt sich vielerorts ein
Erstarken des völkerrechtlichen soft law,41 sowie eine Zunahme an non law,42 das aus Berichten
und Empfehlungen, Kommentaren und Konferenzen hervorgeht und nicht selten zu Regeln
verdichtet, über die sich Staaten und Einzelne nicht ungestraft hinwegsetzen können.43 Bei
zahlreichen Prozesse sind auch private Akteure beteiligt, Nichtregierungsorganisationen oder
multinationale Unternehmen, die entweder auf inter- und supranationale Organisationen
einwirken oder an deren offenen Ränder tätig sind, oder die im diffusen globalen Raum nach
eigenen Regeln Normen schaffen und Entscheide fällen, die – obwohl privat – zu Sachzwängen
führen, die Staaten und Einzelne direkt oder indirekt betreffen und deren Handlungsspielraum
einschränken.
Auch wenn internationale Organisationen auf Gründungsverträgen beruhen, die ihre
Mitgliedstaaten gutgeheissen haben, so haben diese oft ein Eigenleben entwickelt, das nicht
voraussehbar war und sich dem Zugriff der nationalen Institutionen zunehmend entzieht. Die
neuen Formen der regionalen und globalen Gouvernanz sind oft nur schwach und gelegentlich
überhaupt nicht rückgekoppelt an Entscheide, die Repräsentanten des Volks fällen. Wenn noch
eine demokratische Legitimationskette besteht, so ist diese oft so lang, dass für den Einzelnen
kaum noch überschaubar ist, wer für welche Entscheide verantwortlich ist und welche
Auswirkungen die Ausübung seiner Wahlrechte auf das rechtliche Geschehen im Land
haben.44
Zu den demokratischen und rechtsstaatlichen Defiziten des Völkerrechts trägt auch die
Pluralisierung der Akteure bei und die Fragmentierung des Völkerrechts in einzelne Bereiche,
die sich weitgehend unabhängig voneinander und nicht selten auf widersprüchliche Weise
entwickeln.45 An welche Regeln sollen sich Staaten und andere Träger öffentlicher Gewalt
41 Siehe dazu den Bericht des Bundesrats vom 26. Juni 2019, Konsultation und Mitwirkung des Parlaments im Bereich von Soft Law (in Erfüllung des Postulats 18.4104 der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats) S. 10 f. 42 Einlässlich zur Natur von non law: Klabbers, Law-making and Constitutionalism, in Klabbers/Peters/Ulfstein (Hrsg,), The Constitutionalization of International Law (2009) S. 106 ff. 43 Vgl. auch Oesch in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 1, S. 140 Rz 6. 44 Peters, Compensatory Constitutionalism: The Function and Potential of Fundamental International Norms and Structures, Leiden Journal of International Law 19 (2006) 579 (591 f.). Siehe ausführlich zu Demokratieverluste und -defizite in der Schweiz aufgrund der Internationalisierung Diggelmann, Der liberale Verfassungsstaat und die Internationalisierung der Politik, Veränderungen von Staat und Demokratie in der Schweiz (2005) S. 67 ff.; Diggelmann in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 1, S. 277 Rz 20. Ferner auch Blatter, Demokratiedefizite, in Diggelmann/Hertig Randall/Schindler (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz (2020), Bd. 1, S. 452 f. Rz 20 f., der Demokratiedefizite als Resultat einer von Exekutiven und Experten dominierten internationalen Zusammenarbeit verortet. 45 Teubner, Verfassungsfragmente, Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung (2012) S. 11.
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halten, wenn sie sich mit entgegenstehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen konfrontiert
sehen? Haben sie einer UN-Resolution oder den in der Europäischen
Menschenrechtskonvention verankerten Verfahrensrechten Folge zu leisten?46 Haben sie das
Recht auf Gesundheit zu schützen oder das intellektuelle Eigentum von Pharmaunternehmen
zu achten? Haben sie dem Recht auf Nahrung den Vorrang einzuräumen oder den Handel mit
Lebensmitteln zu liberalisieren?47 Die Vielfalt der Akteure und deren eigendynamischen
Mechanismen lassen die Staaten oft ratlos, wenn sie sich mit Widersprüchen konfrontiert
sehen. Dies gilt auch, wenn ihre eigenen Staatsbürger und die in ihren Staaten angesiedelten
Unternehmen als global player agieren und im Ausland Menschen- und Arbeitsrechte
verletzen, Umweltschäden verursachen oder der Korruption Vorschub leisten.48
Dass sich institutionalisierte Politikprozesse zusehends ausserhalb des Nationalstaats und
damit im Bereich der rechtlich kaum gebändigten und demokratisch nur vage rückgekoppelten
internationalen Politik abspielen,49 mag nicht nur zu den Gründen zunehmender
Politikverdrossenheit führen und nationales Protestverhaltens hervorrufen, es wirft auch
grundlegende Fragen nach der Tragfähigkeit des Konstitutionalismus auf.
C. Die Krise des nationalen Konstitutionalismus
Die unmittelbare Folge der Erosion der staatlichen Macht – und damit auch des nationalen
Verfassungsrechts – besteht darin, dass Verfassungsstaaten die Fähigkeit abhandengekommen
ist, die öffentliche Gewalt umfassend zu regeln.50 Diese hat sich teilweise in den globalen
Raum verlagert und sich so dem Zugriff des nationalen Verfassungsrechts weitgehend
entzogen. Die nationalen Verfassungen wurden so von der Spitze der Normenhierarchie
verdrängt. Die Macht im Staat hat sich auf die Regierungen und Verwaltungen verlagert.
Parlamente (und Völker) wurden zu (zunehmend unzufriedenen) Abnickern degradiert.
Vorrangiges inter- und supranationales Recht und die Wirkung der tatsächlichen oder
beschworenen Alternativlosigkeit haben die Machtausübung intransparent und unberechenbar
46 Siehe ua EGMR Nr. 5809/08 (Al-Dulimi/Schweiz) vom 21. Juli 2016; EGMR Nr. 10593/08 (Nada/Schweiz) vom 12 September 2012; EuGH, Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi II, ECLI:EU:C:2008:461. 47 Vgl. zum Zusammenhang zwischen der Schwächung staatlicher Strukturen und dem Welthandelsrecht: Oeter, Prekäre Staatlichkeit S. 101 ff. 48 Statt vieler Bueno, Diligence en matière de droits de l'homme et responsabilité de l'entreprise: Le point en droit suisse, Swiss Review of International and European Law 29(3) (2019) 345. 49 Allot, International Law FORUM Du Droit International 3 (2001) 16. 50 Grimm, Die Errungenschaft des Konstitutionalismus und ihre Aussichten in einer veränderten Welt, in Grimm, Die Zukunft der Verfassung II, Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung (2012) S. 316. Ferner auch Diggelmann/Hertig Randall/Schindler in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 1, S. 19 ff. Rz 19 ff.
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gemacht. Macht wird zunehmend in fluiden transnationalen Räumen ausgeübt, in der inter-
supra- und transnationale sowie hybride Akteure agieren, ohne in ihrer Macht durch eine
Verfassung beschränkt zu sein.51 Sämtliche Verfassungsfunktionen werden dadurch in Frage
gestellt oder in ihrer Wirkung beschränkt.
Die meisten Verfassungsordnungen kennen zwar weiterhin den Vorbehalt der
parlamentarischen Genehmigung von Staatsverträgen und nicht wenige haben ihre
Verfassungen revidiert, um im Innern die demokratische Legitimation des Völkerrechts zu
erhöhen.52 Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass die Bedeutung der nationalen Verfassungen
für das, was das Leben der Bürgerinnen und Bürger ausmacht, geschrumpft ist und sich Staaten
und ihre Völker zunehmend mit Machtausübungen – Normen und Entscheiden – konfrontiert
sehen, die weder in Bezug auf ihr Verfahren noch ihre Inhalt mit dem übereinstimmen, was die
Verfassungen vorsehen.
Die Staaten sehen sich dabei zunehmend mit einem Dilemma konfrontiert. Wenn sie auf
demokratischen Zustimmungserfordernissen und Vetorechten bestehen, hindern sie die
Weiterentwicklung des Völkerrechts. Soweit dieses auf die Zustimmung aller Staaten
angewiesen ist, verharrt es auf einem Minimalstandard, der regionalen und globalen
Herausforderungen oft nicht gewachsen ist. Das lückenhafte Völkerrecht eröffnet und belässt
so rechtsfreie Räume, in denen die mächtigsten staatlichen und privaten Akteure den Tarif
bestimmen und unkontrollierte Macht ausüben. Wenn die Staaten dagegen auf globale
Gouvernanz setzen und Macht dort bändigen, wo sie tatsächlich ausgeübt wird, müssen sie in
Kauf nehmen, dass sie und ihre Bürgerinnen und Bürger hoheitlichen Entscheiden unterworfen
sind, die den demokratischen und rechtsstaatlichen Anforderungen der nationalen
Verfassungen nicht genügen. Die Globalisierung und die mit ihr einhergehende Vernetzung,
Pluralisierung und Fragmentierung haben den nationalen Konstitutionalismus in eine Aporie
geführt, aus welcher weder mehr noch weniger internationale Vernetzung herauszuführen
scheint.
IV. Der Konstitutionalismus im globalen Kontext
Als Antwort auf die Krise des nationalen Konstitutionalismus wird oft ein globaler
Konstitutionalismus gepriesen, der das Völkerrecht hierarchisieren und seine Defizite beheben
51 Peters, Leiden Journal of International Law 19 (2006) 591 f. Siehe zum Begriff der Autorität jenseits von Zwängen und Befehlen Krisch, Authority, solid and liquid, in postnational governance, in Cotterrell/Del Mar (Hrsg.), Authority in Transnational Legal Theory (2016) S. 25 ff. 52 ZB Art. 9 Abs. 2 und Art. 23a ff. B-VG. Art. 50 B-VG.
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soll. Der schillernde Begriff des globalen Konstitutionalismus bleibt dabei jedoch umstritten.53
Meist erscheint er als analytisches Werkzeug, um mit dem nationalen Recht entnommenen
Begriffe neue inter- und transnationale Phänomene zu beschreiben (A.). Schon die Anfänge
des globalen Konstitutionalismus verdeutlichen jedoch, dass sich das Völkerrecht wesentlich
vom nationalen Recht unterscheidet (B.). Auch wenn man die neueren Entwicklungen des
Völkerrechts untersucht, so lassen sich höchstens einige bruchstückhafte Ansätze einer
Konstitutionalisierung erkennen (C.).
A. Das Phänomen des globalen Konstitutionalismus
Verfechterinnen und Verfechter des globalen Konstitutionalismus weisen auf eine Vielzahl von
Erscheinungen hin, wenn sie die Konstitutionalisierung des Völkerrechts dokumentieren. Sie
machen beispielsweise geltend, dass die UN-Charta, obwohl als völkerrechtlicher Vertrag
entstanden, mittlerweile als Fundament einer umfassenden Weltverfassung und die
Gründungsverträge zahlreicher internationaler Organisationen als Teilverfassungen gelten
könnten. Je nach Autorin und Autor wird der Gehalt des globalen Konstitutionalismus
allerdings unterschiedlich beschrieben. Entweder wird auf die UNO-Charta,54 die
Menschenrechte, die fundamentalen Prinzipien der Welthandelsorganisation oder den
Freihandel als Kernbereich des globalen Konstitutionalismus verwiesen.55
Im Rahmen der Debatte um den globalen Konstitutionalismus wird auch darauf hingewiesen,
dass inter- und supranationale Organisationen mittlerweile in allen Lebens- und
Rechtsbereichen tätig sind, ihre Normen Vorrang beanspruchen und das Leben von Einzelnen
auf vielfältige Weise prägen. Auch dass sie immer über Organe verfügen, die unabhängig von
ihren Mitgliedstaaten Recht setzen, anwenden und sprechen, gilt als Hinweis auf einen
völkerrechtlichen Konstitutionalismus.56
53 Klabbers, Setting the Scene, in Klabbers/Peters/Ulfstein (Hrsg.) The Constitutionalization of International Law (2009) S. 25. 54 Fassbender, We the Peoples of the United Nations, in Loughlin/Walker (Hrsg.), The Paradox of Constitutionalism: Constituent Power and Constitutional Form (2008) S. 277 und S. 281 f. Er verweist dabei auf Habermas, The Divided West (2006) S. 158 ff. 55 Mit weiteren Hinweisen Fassbender, We the Peoples S. 277. Einen Überblick findet sich auch bei Klabbers, Setting S. 16. 56 Siehe für einen Überblick zur Debatte statt vieler den Sammelband von Lang/Wiener (Hrsg.), Handbook on Global Constitutionalism (2017), mit zahlreichen Beiträgen zur Vielschichtigkeit des Konzeptes. Ferner auch Peters, Global Constitutionalism, in Gibbons (Hrsg.), The Encyclopedia of Political Thought (2015). Eine konzise historische Einbettung der Konstitutionalisierung des Völkerrechts findet sich ebenfalls bei Thürer, Verfassungselemente des Völkerrechts, in Diggelmann/Hertig Randall/Schindler (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz (2020), Bd. 1, S. 175 ff. Rz 21 ff.
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Seine Verfechterinnen und Verfechter betonen aber nicht nur die Erweiterung und Vertiefung
des Völkerrechts, sondern machen auch geltend, dass das internationale Recht trotz der
unterschiedlichen Regeln und Dynamiken der fragmentierte Teilbereiche (einzelne)
Hierarchien aufweise und sich schrittweise ein globales Verfassungsrecht herausbilde.57 Auch
wenn im Einzelnen nicht klar sei, ob neben dem völkerrechtlichen ius cogens und der UN-
Charta allenfalls auch noch andere Verträge ganz oder teilweise Vorrang beanspruchen
könnten, so bilde sich doch allmählich eine Struktur des Völkerrechts heraus, die einer
landesrechtlichen Hierarchisierung nicht unähnlich sei.58 Schliesslich weisen sie daraufhin,
dass sich die Grenzen zwischen nationalem und internationalem Recht zunehmend auflösen
und ein mehrstufiges oder transnationales Verfassungsrecht entstehe, in dem völkerrechtliche
Normen und verfassungsrechtliche Normen weitgehend übereinstimmten und sich gegenseitig
befruchteten.59
Neben den Autorinnen und Autoren, welche die Herausbildung eines Vorrangs eines
verfassungsrechtlichen Kanons völkerrechtlicher Normen feststellen und aus der Fülle des
Völkerrechts einen verfassungsrechtlichen Kern herauskristallisieren, finden sich auch
zahlreiche Verfechterinnen und Verfechter eines gesellschaftlichen globalen
Konstitutionalismus. Diese gehen meist von zwei Grundprämissen aus: Der Staat ist (nicht
mehr) in der Lage, die Handlungen privater globaler Akteure zu normieren, und die
internationale Organisationen verfügen (noch nicht) über die Möglichkeit, ein verbindliches
Regelwerk für die verschiedenen Teilbereiche des globalen Geschehens zu schaffen. Sie sind
der Überzeugung, dass staatszentrierte Verfassungsordnungen zum vornherein nicht in der
Lage sind, die “konstitutionellen” Ordnungen zu erfassen, die sich in transnationalen,
zivilgesellschaftlichen Teilbereichen bereits herausgebildet haben.60 Um diesen Gegebenheiten
gerecht zu werden, müsse die Idee des Konstitutionalismus vielmehr von institutionalisierten
57 Mit weiteren Hinweisen Teubner, Verfassungsfragmente S. 30: «Hierarchie von Verfassungsnormen gegenüber einfachen Rechtsnormen, der gesamte Erdball als einheitlicher Geltungsbereich, Erstreckung über sämtliche nationalen, kulturellen und sozialen Bereiche.». 58 Differenziert dazu de Wet, Sources and the Hierarchy of International Law: The Place of Peremptory Norms and Article 103 of the UN Charter within the Sources of International Law, in Besson/d’Aspremont (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Sources of International Law (2017) S. 625 ff. Ferner auch de Wet, International and Comparative Law Quarterly 55 (2006) 51 (57 ff.). 59 Siehe zur Herausbildung eines mehrstufigen (Grundrechts-)System: Müller, Koordination des Grundrechtsschutzes in Europa, ZSR 124 (2005) 9; Cottier/Hertig, The Prospects of 21st Century Constitutionalism, in von Bogdandy/Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Yearbook of United Nations Law 2003 S. 299 ff. 60 Vgl. etwa Teubner, Verfassungsfragmente S. 118 ff. Kritisch dazu Grimm, Gesellschaftlicher Konstitutionalismus – eine Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassungen?, in Grimm, Die Zukunft der Verfassung II, Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung (2012) S. 310 f. Mit weiteren Hinweisen auch Klabbers, Setting S. 28.
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politischen Prozessen losgelöst werden.61 Die meisten Vertreterinnen und Vertreter eines
gesellschaftlichen Konstitutionalismus gehen deshalb von Verfassungsordnungen aus, die
nicht politischer, sondern privater Natur sind. Geprägt von den Lehren von Niklas Luhmann
passen sie im Ergebnis den Verfassungsbegriff den global tätigen privaten Akteuren als neuen
Regulierungsgegenstand an. Die Leistung der Konstitutionalisierung in einem solchen System
von weitgehend selbstverfassten Teilregimen bestehe darin, eine gewisse Einheitlichkeit
innerhalb der jeweiligen Teilbereiche herzustellen. Im besten Fall, so wird geltend gemacht,
sehen die einzelnen Teilverfassungen vor, wie Konflikte zwischen verschiedenen Teilregimen
gelöst werden,62 weshalb vom Entstehen eines globalen Kollisionsverfassungsrecht
ausgegangen werden könne.63 Vertreterinnen und Vertreter eines gesellschaftlichen globalen
Konstitutionalismus entlehnen damit in der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verankerte
Bergriffe, um die Autorität völkerrechtlicher oder privater Bestimmungen zu erklären, die im
Innern inter- und transnationaler Teilrechtsordnungen entstanden und wirksam geworden sind,
und die oft auch ihr Verhältnis zu anderen Teilrechtsordnungen klären.
Es liegt jedoch auf der Hand, dass ein von der Politik entkoppelte Verfassungsbegriff mit den
Traditionen und Funktionen von Verfassungen nur wenig gemeinsam hat. Dies gilt zunächst,
weil die Vertreterinnen und Vertreter des globalen Konstitutionalismus nicht von einem
autoritativen Akt eines globalen Verfassungsgebers ausgehen, durch welchen sich die globale
Weltbevölkerung in eine verfasste Weltgemeinschaft gewandelt hätte. Vielmehr sehen sie den
globalen Konstitutionalismus als Ergebnis eines langen evolutionären Prozesses, der sich
innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche abspielt, die sich im Wesentlichen
selbst verfassen. Damit bleibt im Vagen, wer globales Verfassungsrecht schafft und legitimiert.
Weil staatskonzentrierte Prozesse dafür nicht geeignet seien, wird oft auf eine internationale
Gemeinschaft als verfassungsgebende Gewalt verwiesen,64 die nicht mit einem Ensemble
souveräner Staaten gleichzusetzen sei, sondern aus einem Konglomerat von politischen und
gesellschaftlichen Akteuren und Individuen besteh.65
Die Schwächen des globalen Konstitutionalismus bestehen aber auch darin, dass die neuen
völkerrechtlichen Phänomene das globale Recht weder im Willen des Volks verankern noch
die Macht von Staaten und hoheitlich handelnden internationalen Organisationen oder anderer
61 Teuber, Verfassungsfragmente S. 99. 62 Klabbers, Setting S. 28. 63 Mit weiteren Hinweisen Teubner, Verfassungsfragmente S. 30 f. 64 Wahl, In Defence S. 231. Siehe zur Architektur der internationalen Gemeinschaft Thürer in Diggelmann et al, Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 1, S. 169 ff. Rz 12 ff. Zu anderen Lehransätzen Fassbender, We the Peoples S. 272 f. 65 Teubner, Verfassungsfragmente S. 30.
18
Akteure wirksam durch die Mittel des Rechts bändigen. Die beschriebenen inter- und
transnationalen Prozesse mögen zwar zu einer Verrechtlichung führen und als solche wichtig
und nützlich sein, mit einer Konstitutionalisierung sollte aber die allmähliche Verfestigung
globaler Spielregeln nicht verwechselt werden.66 Vielmehr ist zu bedenken, dass die Schaffung
von Anwendung von Recht, die nicht nach demokratischen und rechtsstaatlichen Massstäben
erfolgt, allen Gefahren ausgesetzt ist, die ungebändigte Macht mit sich bringt. Werden diese
nicht bedacht, werden im Ergebnis globale Regeln und Entscheide konstitutionalisiert, die
möglicherweise auf willkürliche oder hegemoniale Art und Weise zustande gekommen sind
und legitimerweise keinen Vorrang beanspruchen dürfen.67
Wer den globalen Konstitutionalismus als analytisches Instrument gebraucht, nutzt dem
nationalen Verfassungsrecht entliehene Begriffe und Funktionen, um das Entstehen oder die
Wirkung globaler Normen zu erläutern oder zu rechtfertigen.68 Im ersten Fall werden die
nationalen Konzepte des Verfassungsrechts und des Konstitutionalismus in die internationale
Arena übertragen, um neue globale Phänomene zu beschreiben, für die das klassische
Völkerrecht keine Begrifflichkeiten bereithält,69 die aber nur wenig mit nationalem
Verfassungsrecht und Konstitutionalismus zu tun haben. Im zweiten Fall werden globale
Erscheinungen und Entwicklungen in Begrifflichkeiten gefasst, um diesen eine demokratische
und rechtsstaatliche Legitimität zu verleihen, die ihnen in der Sache nicht unbedingt zukommt.
Dabei besteht die Gefahr, dass völkerrechtliche Normen und Mechanismus zu Unrecht mit der
Aura des Konstitutionalismus umgeben werden.
B. Das Beispiel der Internationalen Arbeitsorganisation
Dass nicht jede Art von internationaler Rechtsetzung und jede noch so unvollständige
Hierarchisierung von Rechtsnormen zu einer verfassungsähnlichen Struktur führt70 und nicht
66 Treffend dazu auch von Bogdandy/Dann/Goldmann, Developing the Publicness of Public International Law: Towards a Legal Framework for Global Governance Activities, German Law Journal 9 (2008) 1375 (1389), die konstatieren, dass “[c]onsequently, the discourse on legality is out of sync with the discourse on legitimacy.”. 67 Siehe die Ausführungen bei Atilgan, Global Constitutionalism, A Socio-legal Perspective (2018) S. 106, die namentlich auf Koskenniemi, The Fate of Public International Law: Between Technique and Politics, The Modern Law Review 70(1) (2007) 1 (19), und Koskenniemi, Constitutionalism as Mindset: Reflections on Kantian Themes About International Law and Globalization, Theoretical Inquiries in Law 8(1) (2007) 9 (13), verweist. 68 Siehe hierzu die Analyse von Diggelmann/Altwicker, Is There Something Like a Constitution of International Law? A Critical Analysis of the Debate on World Constitutionalism, ZaöRV 68 (2008) 623 (625 ff.), die zu Recht ebenfalls auf die “Disintegrating Trends” hinweisen. 69 Fassbender, We the Peoples S. 274. Dabei variieren auch die Bezeichnungen. So wird in der Lehre von einem globalen, internationalen, transnationalen oder kosmopolitischen Konstitutionalismus gesprochen. 70 Fassbender, We the Peoples S. 276; Grimm, Ursprung S. 3 ff.
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jede Verrechtlichung mit einer Konstitutionalisierung gleichgesetzt oder verwechselt werden
darf,71 illustrieren die Anfänge des globalen Konstitutionalismus. Schon bei der Schaffung der
Internationalen Arbeitsorganisation war es der Staatengemeinschaft nämlich gelungen, eine
Organisation zu begründen und mit Organen auszustatten, gemeinsame Ziele festzulegen und
Mechanismus für internationale Rechtssetzung vorzusehen. Genau zum gleichen Zeitpunkt, als
in Österreich mit dem Inkrafttreten des Bundesverfassungs-Gesetzes der nationale
Konstitutionalismus Fuss fasste, nahm damit auch der globale Konstitutionalismus einen
zögerlichen Anfang.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, der mit dem Ausbruch der Russischen Revolution
zusammenfiel, bemühten sich die Siegermächte, eine internationale Friedens- und
Rechtsordnung zu schaffen, die nicht nur neuen Bedrohungen des Weltfriedens, sondern auch
der kommunistischen Gefahr gewachsen sein sollte. Sie stellten deshalb dem Völkerbund, der
im Jahre 1920 ohne seine wichtigste Initiantin, die USA, in Genf seine Arbeit aufnahm und
bald betrüblich scheitern sollten, eine Internationale Arbeitsorganisation (IAO) zur Seite, die
für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben der Völker sorgen sollte. Die Gründung der
IAO beruhte auf der Überzeugung, dass der Weltfriede nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut
werden könne. Solange irgendwo auf der Welt Arbeitsbedingungen herrschten, die für
Menschen mit Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden seien, bestehe eine
Unzufriedenheit, die die Eintracht der Welt gefährde, hielten die Gründernationen fest.72 Die
Arbeitsorganisation sollte deshalb internationale Arbeitsnormen schaffen und so nicht nur
einen weltweiten sozialen Fortschritt sichern, sondern auch eine internationale
Wettbewerbsordnung garantieren.73
Weil sich beide Ziele nur erreichen lassen, wenn alle Staaten ihre Bürgerinnen und Bürger vor
Ausbeutung und Unterdrückung bewahren und davon absehen, tiefe Arbeitskosten als
Wettbewerbsvorteil zu nutzen, hatten Staaten wie Deutschland, Frankreich und Italien
gefordert, dass die Konventionen der IAO für alle verbindlich sein sollten. Grossbritannien
wollte höchstens eine opting-out Klausel zulassen.74 Obwohl die Verbindlichkeit ein
wesentliches Merkmal der Gesetzgebung ist, setzten sich am Ende jene Staaten durch, die eine
Pflicht zur Annahme und Umsetzung internationaler Arbeitsnormen für unvereinbar mit der
nationalen Souveränität hielten. Auch der Vorschlag, Handelssanktionen gegen Staaten
vorzusehen, die nach Ansicht einer Zweidrittelmehrheit der Allgemeinen Konferenz ihre
71 Grimm, Errungenschaft S. 339. 72 Präambel ILO-Verfassung. 73 Präambel ILO-Verfassung. 74 Belser, The White Man’s Burden S. 36.
20
Pflicht zur Umsetzung der IAO-Konventionen verletzten, wurde abgelehnt. Die Berichts- und
Beschwerdeverfahren, die die IAO-Verfassung stattdessen vorsahen, blieben im Ergebnis oft
wirkungslos. Weil Empfehlungen und die Veröffentlichung von Untersuchungen die schärfsten
Sanktionen darstellen, hängt die Wirksamkeit der Massnahmen davon ab, ob öffentliches
shaming-and-blaming betrieben wird und ob sich der betroffene Staat davon beeindrucken
lässt.
Auch wenn die IAO-Charta als Verfassung bezeichnet wird,75 vermag sie die Funktionen von
Verfassungen nicht zu erfüllen. Mit dem Prinzip der freiwilligen Ratifikation kann nämlich
weder verhindert werden, dass unzufriedene Menschen oder Staaten, die von Elend und
Entbehrung im Innern ablenken wollen, den Weltfrieden gefährden, noch dass Staaten, die sich
um soziale Gerechtigkeit bemühen, Wettbewerbsnachteile erleiden. Statt einer starken
internationalen Organisation, die einheitliche Minimalstandards festsetzt, besteht eine IAO à
la carte: Jedes Land entscheidet selbst – und zwar auf demokratische Weise oder auch nicht –
ob es die Konventionen gegen Kinderarbeit oder Zwangsarbeit, zur Sicherheit der Gesundheit
oder zum Schutz der Gewerkschaftsfreiheit ratifiziert oder nicht.76 Die IAO-Verfassung
vermag nur Normen mit globalem Anspruch hervorzubringen, kein globales Recht. Sie
begründet zwar eine Organisation mit besonderen Zielen und konstituierte deren Organe. Sie
ist aber weit davon entfernt, eine Weltgemeinschaft zu verfassen, die Entscheide der
internationalen Organe im Willen des Volks zu verankern oder die Ausübung von Macht zu
ermöglichen oder durch Recht zu bändigen. Die Charta verpflichtet sich zwar auf fundamentale
Werte – und gleicht in diesem Punkt nationalen Verfassungen – doch verfügt sie weder über
eine besondere demokratische Legitimität, noch steht sie an der Spitze einer Normenhierarchie.
Selbst Staaten, die IAO-Konventionen ratifizieren, können von deren Umsetzung absehen oder
ihren eigenen Normen den Vorzug geben.
Die fehlende Verbindlichkeit der IAO-Konventionen hat zu einer arbeits- und sozialrechtlichen
Normenflut geführt, die auch andere Bereiche des Völkerrechts charakterisieren. Weil jeder
Staat ohnehin selbst entscheiden kann, ob er eine Konvention ratifizieren will, sieht sich die
tripartit zusammengesetzte Konferenz nicht genötigt, hart um für alle akzeptable Kompromisse
zu ringen und so einen rechtlichen Rahmen zu setzen, der für alle verbindlich ist. Stattdessen
hat sie über 200 Konventionen und ebenso viele Empfehlungen verfasst, wovon die meisten
von den wenigsten Staaten akzeptiert wurden.
75 Vgl. dazu ebenfalls die englische und französische Textfassung (ILO Constitution und Constitution de l’OIT). 76 Vgl. Belser, The White Man’s Burden S. 35 f.
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Zweifellos hat sich die IAO im Verlaufe der Zeit erheblich weiterentwickelt. Sie erfreut sich
einer fast globalen Mitgliedschaft und hat mit der Konvention über die fundamentalen
Arbeitsrechte eine Hierarchisierung der arbeitsrechtlichen Normen vorgenommen.77 Indem sie
auch jene Staaten zur Berichterstattung verpflichtet, die die entsprechenden Konventionen
nicht ratifiziert haben, löst sie sich von den nationalen Zustimmungserfordernissen. Selbst
wenn man ihre Charta als Teilverfassung versteht, so liegt doch auf der Hand, dass sie ausser
der Festlegung von Werten keine der Funktionen zu erfüllen vermag, die nationalen
Verfassungen zugeschrieben werden.
C. Die Schwächen des globalen Konstitutionalismus
Das gleiche Schicksal, das die Internationale Arbeitsorganisation nach dem Ersten Weltkrieg
ereilte, sollte nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Vereinten Nationen treffen. Auch deren
Charta nennt umfassende Ziele, ist aber mit vergleichbaren Mängeln behaftet. Beide
Gründungsdokumente sind weder aus demokratischen Prozessen hervorgegangen, noch
sichern sie solche. Ihre Entscheide beruhen im besten Fall auf einer sehr indirekten
demokratischen Legitimation, die ihnen die Verfahren der einzelnen Mitgliedstaaten verleihen.
Im schlechtesten Fall entscheiden autokratische Herrscher nach Gutdünken darüber, ob sie
völkerrechtliche Verpflichtungen eingehen und einhalten oder davon absehen. Den
internationalen Gründungsdokumenten gelingt es deshalb nicht, die Funktionen nationaler
Verfassungen wahrzunehmen, wenn man davon absieht, dass sie Institutionen begründen und
deren Ziele festlegen. Sie vermögen weder die Macht der von ihnen begründeten
Organisationen noch deren Mitglieder zu bändigen. Entsprechend gelingt es ihnen nicht,
internationale Politikprozesse in rechtliche Bahnen zu lenken und verbindliche Ziele und Werte
zu verwirklichen. Die einzelnen Staaten blieben vielmehr ihre eigenen Meister und entscheiden
nicht nur frei über ihre völkerrechtlichen Pflichten und über deren Verwirklichung, sondern
auch darüber, ob sie demokratisch und rechtsstaatlich oder willkürlich über diese Frage
entscheiden. Es mangelt damit nicht nur an den demokratischen, sondern auch an den
rechtsstaatlichen Voraussetzungen des Konstitutionalismus. Es gibt kein höherrangiges Recht,
das das Verhalten der öffentlichen Gewalt steuern und beschränken würde. Es fehlt an
Gewaltenteilung und wechselseitigen Kontrollen und an einem Mechanismus, der – ähnlich
77 Vgl. ILO-Erklärung über grundlegende Rechte bei der Arbeit (1998).
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der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit – sicherstellen würde, dass die vom Recht gesetzten
Grenzen nicht überschritten werden.78
Weil es nicht gelingt aufzuzeigen, dass die Konstitutionalisierung des Völkerrechts zu einer
Verankerung im Willen des Volks und zu einer Bändigung hoheitlicher Gewalt führen würde
– und darum geht es dem Konstitutionalismus im Kern – gilt als ihr wichtigstes Kennzeichen
eine – zumindest in Entstehung begriffene – Hierarchisierung internationaler Normen. Anders
als im nationalen Recht soll sich diese jedoch nicht aus unterschiedlichen Verfahren und
Zustimmungserfordernissen ergeben, sondern aus dem unterschiedlichen materiellen Gehalt
der verschiedenen Normen. Auf die inhaltliche Legitimität wird vor allem abgestellt, wenn es
um die Rechtfertigung von supra- und transnationalen Entscheiden geht, die nicht auf der
Zustimmung der einzelnen Staaten beruhen. Als “demokratisch” und deshalb “vorrangig” gilt
in diesen Fällen weniger, was die Mehrheit des Volkes will (“Input Legitimität”), sondern was
als gut für das Volk erachtet wird (“Output Legitimität”). Das supra - und transnationale Recht,
das im diffusen globalen Raum von einer Vielzahl von Akteuren geschaffen wird, wird so nicht
selten mit einem quasi-naturrechtlichen Glanz umgeben, das auf die Zustimmung des Volks
nicht angewiesen ist.
Abgesehen vom völkerrechtlichen ius cogens besteht kein internationaler Konsens über den
erhöhten materiellen Gehalt völkerrechtlicher Normen. Die Orientierung an materiellen
Gehalten kann deshalb irreführend sein, weil im globalen Raum selbst fundamentale Werte,
wie die liberale Demokratie und die Selbstbestimmung des Einzelnen und der Völker,
umstritten sind und bleiben und keine Instanz in der Lage ist, Uneinigkeiten autoritativ
beizulegen.79 Der völkerrechtliche Konstitutionalismus sieht sich denn auch mit der
Schwierigkeit konfrontiert, dass sich hinter gemeinsamen völkerrechtlichen Dokumenten eine
grosse Ungleichheit der Rechtsanschauungen verbirgt, die nur vordergründig im Schwinden
begriffen ist. Trotz des wachsenden Einflusses des Völkerrechts weisen die Staaten eine grosse
rechtliche Vielfalt auf. Aber auch innerhalb des Völkerrechts stellt der Pluralismus ein
prägendes Charakteristikum dar.80 Bestenfalls liegt eine thematisch und geografisch
fragmentierte Pluralität rechtlicher Regimes vor, etwa der europäische (Grund-)Rechtsraum,
78 Siehe zum Ganzen Grimm, Errungenschaft S. 340 f. 79 Klatt, Die praktische Konkordanz von Kompetenzen, Entwickelt anhand der Jurisdiktionskonflikte im europäischen Grundrechtsschutz (2014) S. 28. 80 Siehe zu einem solchen pluralistischen Verständnis insbesondere Krisch, Beyond Constitutionalism, The Pluralist Structure of Postnational Law (2012) S. 69 ff. Ferner auch die Ausführungen bei Besson, The Truth about Legal Pluralism, European Constitutional Law Review 8 (2011) 354.
23
der aber nicht mit Konstitutionalismus und erst recht nicht mit globalem Konstitutionalismus
gleichgesetzt werden darf.81
Im Unterschied zu den nationalen Verfassungen, die einen für alle Akteure verbindlichen und
richtungsweisender Wertekatalog festlegen, bleibt selbst die globale Werteordnung im
Ergebnis umstritten. Auch wenn es völkerrechtliche Teilverfassungen geben mag, die Ziele
und Aufgaben festlegen, so mangelt es an einer globalen Verfassung, die sich – auch nur fiktiv
– auf den Willen des Weltvolks zurückführen liesse. Es fehlt auch an einer globalen
Verfassung, welche die Ordnung eines globalen Gemeinwesens konstituieren und durch
rechtsstaatliche Mechanismen für Gewaltenteilung sorgen könnte, die Machtmissbräuche
verhindern und wirksame Beschwerderechte garantieren könnte.
Weil es auch keine Instanz gibt, die Wertwidersprüche auflösen könnte, ist auch die Kohärenz
internationaler Entscheide nicht sichergestellt. Im Bereich des inter- und transnationalen bringt
eine Vielzahl von Organen und Prozessen auf unterschiedlichste und oft kaum geregelte Weise
Normen und Entscheide hervor, die nebeneinander koexistieren und deren Widersprüche das
Völkerrecht letztlich nicht aufzulösen vermag. Ziel- und Normwidersprüche zwischen den sich
je eigendynamisch entwickelnden Bereichen werden – wenn überhaupt – aus der Logik nur
eines Teilbereichs des Völkerrechts aufgelöst. Das Verhältnis der verschiedenen Teilbereiche
zueinander bleibt dabei aber letztlich ungeklärt. Es gibt keinen einheitlichen Rechtsrahmen,
der genutzt werden könnte, um Zuständigkeitskonflikte sowie Wert- und Normwidersprüche
aufzulösen. Im Unterschied zum nationalen Konstitutionalismus fehlt es dem globalen sowohl
an politischen Instanzen, die Abwägungen vornehmen und Prioritäten festlegen könnten, als
auch Gerichten, welche die auf der Einhaltung fundamentaler Werte sicherstellen könnte. Das
Verhältnis der verschiedenen Teilrechtsregime zueinander wird denn auch meist nicht durch
das Recht geklärt und von unabhängigen Instanzen durchgesetzt, sondern erfolgt
aussergerichtlich. Im besten Fall ergibt sich die Lösung von Konflikten aus Dialogen und
wechselseitigen Beeinflussungen der verschiedenen rechtlichen Teilordnungen.82 Im
schlechtesten Fall setzt sich das stärksten oder einflussreichste Teilrechtssystem durch – was
im Ergebnis oft dazu führt, dass Regimes, die Finanzen, Handel oder Investitionen betreffen,
sich gegen Ordnungen durchsetzen, die Arbeitsrechte, Menschenrechte oder Umweltschutz
betreffen. Staaten, die auf einer umfassenden Abwägung widersprechender Ziele bestehen und
sich nicht unbesehen den Logiken eines Teilregimes beugen wollen, müssen damit im Ergebnis
81 Siehe zur “plurality of legal regimes” Rosenfeld, Rethinking constitutional ordering in an era of legal and ideological pluralism, I•CON 6 (2008) 415. Siehe speziell zur offenen Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes Krisch, Beyond S. 109 ff. 82 Klabbers, Setting S. 29.
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selbst entscheiden, wie sie mit den Widersprüchen zwischen internationalen Arbeits- und
Sozialrechten und Freihandel, Umweltschutz und Frieden, Minderheiten- und
Investitionsschutz umgehen wollen.
Gesellschaftlicher globaler Konstitutionalismus mag für global players zwar Vorteile haben
und die Rechtssicherheit erhöhen. Mit den Funktionen von Verfassungen haben die
gesellschaftlichen Teilverfassungen allerdings wenig zu tun. Indem sie globalen Akteuren
Regeln an die Hand geben, erfüllen sie bestenfalls die Funktionen nationaler Gesetze: Sie
steuern das Verhalten, schützen Erwartungen und sanktionieren Fehlverhalten. Verfassungen
haben bekanntlich anderes im Sinn als die Selbstbeschränkung privater Akteure.83
V. Schlussbemerkung
Dass sich das Völkerrecht in den vergangenen Jahrzehnten tiefgreifend gewandelt hat, steht
ausser Frage. Dass es sich allerdings konstitutionalisiert hätte und so Schwächen des nationalen
Konstitutionalismus kompensieren könnte, ist zweifelhaft. Erachtet man den globalen
Konstitutionalismus als analytisches Werkzeug, um mit dem nationalen Recht entnommenen
Begriffe neue inter-, supra- und transnationale Phänomene zu beschreiben, so sind die
Diskrepanzen nicht zu übersehen. Sollen Verfassungen ihre Funktionen erfüllen, so bilden sie
weder eine philosophische Theorie noch ein akademisches Konstrukt, sondern ein Ensemble
von Rechtsnormen, denen politische Entscheidung zugrunde liegen. Zweck dieser Normen ist
es, die öffentliche Gewalt zu konstituieren und zu beschränken, nicht ihre Funktionsweise zu
beschreiben oder zur Kenntnis zu nehmen. Demokratische Verfassungen sehen im Volk die
einzige legitime Quelle öffentlicher Gewalt und begnügen sich nicht damit, die öffentliche
Gewalt auf das Wohl des Volks auszurichten. Als höherrangiges Recht geben Verfassungen
nicht nur vor, wie tieferrangiges Recht entsteht und anzuwenden ist, sondern setzen diesem
Schranken, die durch unabhängige Instanzen durchgesetzt werden. Akte, die mit der
Verfassung unvereinbar sind, entfalten keine rechtliche Wirkung.84
Nur als normative Aspiration kommt dem globale Konstitutionalismus Bedeutung zu. Wer
globalen Konstitutionalismus fordert, hofft durch eine Konstitutionalisierung des Völkerrechts
völkerrechtliche Entscheide in Zukunft im Willen des Volks zu verankern und fordert neue
83 Teubner, Verfassungsfragmente S. 98; Wahl, In Defence S. 232 ff.; Dobner, More Law S. 152. 84 Grimm, Errungenschaft S. 324 f.
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transnationale demokratische Strukturen.85 Nur durch eine weltweite für alle verbindliche
Einigung auf Prioritäten, Strukturen und Prozesse lässt sich der Bedeutungsverlust nationaler
Verfassungen auf internationaler Ebene kompensieren.86 Als wichtiges Postulat verfolgt der
globale Konstitutionalismus das Ziel, die internationalen Dynamiken “unter die domestizierte
Gewalt weltweit verfasster Politikprozesse“ zu bringen87 und eine normative Agenda der
Bändigung globaler Macht voranzutreiben.
Angesichts globaler Interdependenzen wäre die Weltgemeinschaft dringend auf eine globale
Verfassung angewiesen, die globale Entscheide legitimieren und die Macht globaler Akteure
bändigen würde. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Frieden und Freiheiten, Akzeptanz und
Kohärenz erfordern verbindliche Regeln, die die Macht aller Hoheitsträger – auch der globalen
– beschränkt. Die internationale Gemeinschaft ist jedoch (noch) nicht in der Lage,
überzeugende Modelle für eine demokratische und rechtsstaatliche Herrschaft auf
internationaler Ebene zu begründen.88 Tatsächlich sind die meisten Voraussetzungen für eine
globale Konstitutionalisierung auf globaler Ebene nicht gegeben,89 denn die inter- und
transnationale Politik weist chronische Defizite aus. Es fehlt ihr nicht nur an Struktur,
Öffentlichkeit, Parteien und Medien, sondern auch an einer Gemeinschaft, die einen Demos
und mit ihm eine konstituierende Gewalt bilden könnte.90
Weil es keine globale Verfassung gibt, der es auch nur Ansatzweise gelingt, die oft hybriden
Gewalten des fluiden globalen Raums im Willen des Volks zu verankern und durch das höchste
Recht verbindlich zu begrenzen, kann vom globalen Konstitutionalismus nur als Postulat die
Rede sein.91 Das Völkerrecht ist gegenwärtig im besten Fall sehr indirekt, im schlechtesten
Fall überhaupt nicht auf den Willen des Volks zurückzuführen. Es ist auch – was ebenso schwer
wiegt – kaum in der Lage ist, demokratische Impulse aus dem Volk (“von unten”)
aufzunehmen, weshalb ihm die Offenheit, Kritik- und Lernfähigkeit abgeht, die demokratische
Ordnungen auszeichnen. Wer sorgt denn in diesem fragmentierten Evolutionsprozess dafür,
dass rechtliche Mängel behoben und Fehlentwicklungen korrigiert werden und welchen
Einfluss hat das Volk darauf?
85 Peters, Leiden Journal of International Law 19 (2006) 592: «The conclusion to draw from all this is that if we want to preserve a minimum level of democratic governance, then we have to move beyond the state and establish compensatory, transnational democratic structures.». 86 Grimm, Errungenschaft S. 316. 87 Teubner, Verfassungsfragmente S. 13. 88 Grimm, Errungenschaft S. 343. 89 Grimm, Errungenschaft S. 343. 90 Teubner, Verfassungsfragmente S. 13. 91 Siehe auch Diggelmann/Altwicker, ZaöRV 68 (2008) 650, die in dezidiert optimistischer Weise zum Schluss gelangen: “If correctly understood as a ‘legitimization institution’, world constitutionalism can indeed be regarded as a promising candidate in the search for a ‘realistic utopia’ for our time.”
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Angesichts der Schwächen des globalen Konstitutionalismus und der geringen Chancen, diese
in absehbarer Zeit zu überwinden, machen Autoren wie Dieter Grimm zu Recht geltend, dass
die Erosion der Errungenschaften nationaler Verfassungen gestoppt und nationaler
Konstitutionalismus bewahrt und gestärkt werden muss. Solange weder die instrumentalen
noch die materialen Funktionen von Verfassungen auf globaler Ebene wahrgenommen werden,
bleibt es an den nationalen Verfassungen, für die Verankerung des Rechts im Willen des Volks
und für seine Bändigung durch das Recht zu sorgen. Es sind diese Verfassungsinstitutionen,
die letztendlich die einzigen verlässlichen Garanten demokratischer Legitimation und
Verantwortlichkeit sind.92 Bis der globale Konstitutionalismus Fuss fasst, bleibt es deshalb im
Wesentlichen an den nationalen Verfassungen, die Funktionen einer Verfassung für den
gesamten mehrstufigen Staat wahrzunehmen und nicht nur im Innern, sondern auch nach
Aussen für Legitimität, Stabilität, Identifikation und Kohärenz zu sorgen. Solange wir darauf
warten, dass globale und transnationale Mechanismen wirksam Verfassungsfunktionen
übernehmen und ein neue globale Ebene von Konstitutionalismus die Macht globaler Akteure
wirksam bändigen würden, haben wir mit anderen Worten allen Grund, ein Bundes-
Verfassungsgesetz zu feiern, das seit 100 Jahre für diese Ziele steht.
92 Grimm, Errungenschaft S. 343.
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