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Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Z�rich, starb dort am 4. April1991. In fast sechs Jahrzehnten entstanden Romane, Theaterst�cke, Ta-geb�cher, Erz�hlungen, Hçrspiele und Essays. Viele davon wurden zuKlassikern der Weltliteratur, darunter Stiller, Homo faber, Mein Namesei Gantenbein, Biedermann und die Brandstifter, Andorra, Tagebuch1946-1949.

Max Frisch bereiste 1951 das erste Mal die USA und Mexiko. Der Be-such des fremden Kontinents pr�gte ihn und sein Schreiben nachhaltig.Immer wieder zog es ihn, auch f�r l�ngere Zeit, nach Amerika, das f�rihn zum Inbegriff von Offenheit und Weite wurde – im Gegensatz zu euro-p�ischer Enge und Engstirnigkeit. Von April 1981 bis September 1984 be-saß er sogar eine eigene Wohnung in Manhattan.

Der Band Amerika! versammelt Texte aus Frischs Tageb�chern, Roma-nen und Erz�hlungen, die die Erfahrungen und Erlebnisse des SchweizerSchriftstellers mit den USA anschaulich machen. Literarisches und Essay-istisches summieren sich zu einem Panorama Amerikas, in dem es an Lie-besbezeugungen, aber auch an Kritik nicht fehlt. Und sie dokumentierendie scharfe Beobachtungsgabe und das hellwache politische Bewusstseineines großen Schriftstellers.

Volker Hage ist Literaturredakteur beim Spiegel. Er verçffentlichte 1983die erste Max-Frisch-Biographie, die bis heute als Standardwerk gilt. Vonihm erschien zuletzt im Suhrkamp Verlag: Kritik f�r Leser. Vom Schrei-ben �ber Literatur (2009), Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten(2011).

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insel taschenbuch 4009Max FrischAmerika!

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Max FrischAmerika!

Herausgegeben von Volker HageInsel Verlag

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Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe des 1995im Schçffling Verlag erschienenen Bandes

Max Frisch, In AmerikaUmschlagfoto: Max Frisch-Archiv, Z�rich

insel taschenbuch 4009Erste Auflage 2011

� Insel Verlag Berlin 2011Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlagesreproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagHinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes

Umschlaggestaltung: HildenDesign, M�nchenwww.hildendesign.de

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN 978-3-458-35709-4

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Inhalt

Amerika, 1951 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9An Kurt Hirschfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15Glossen zum amerikanischen Theater . . . . . . . . . 17Unsere Arroganz gegen�ber Amerika . . . . . . . . . 22Begegnung mit Negern . . . . . . . . . . . . . . . . . 31Eine betçrende Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50Sinfonie und Limonade . . . . . . . . . . . . . . . . . 58Elf Jahre in Manhattan . . . . . . . . . . . . . . . . . 68Was Amerika zu bieten hat . . . . . . . . . . . . . . . 72Lunch im Weißen Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . 75Nachtrag zur Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91Vorkommnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93Es waren Schwarze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Women’s Liberation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98Gestern in der Nachbarschaft . . . . . . . . . . . . . 101Wall Street . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106Alles ist Park . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110School of the Arts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115Aufmarsch der Kriegsgegner . . . . . . . . . . . . . . 118Brownsville . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121Freiheit, Anstand und Moral . . . . . . . . . . . . . . 125Unterhaltung in der Fremde . . . . . . . . . . . . . . 128Die Tapferkeit des Chlorophylls . . . . . . . . . . . . 130Ged�chtnis der Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132Entw�rfe zu einem Amerikabild . . . . . . . . . . . . 148

Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Quellennachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

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Amerika, 1951

Pioniere

Viele amerikanische Erscheinungen erkl�ren sich,wenn mansich den Pionier-Hintergrund bewußt macht. Daher wichtigdie Kenntnis des Mittelwestens und des Westens. Alles vongestern auf heute gebaut. Die Pionierzeit ist �berall nochsp�rbar. San Francisco, Oakland usw. Aus den Bedingungendes Pionierlebens d�rften folgende Erscheinungen zu erkl�-ren sein: Help yourself. Es ist nicht mçglich, dem andern bei-zustehen. �berraschung am Anfang, daß sehr freundlicheLeute einem Fremden nichts abnehmen, z. B. Telefon, Adres-senfinden usw. Es wird nicht »bedient«. Vorteil: auch kei-ne Bemutterung. Der Pionier muß alles kçnnen; es gen�gt,wenn er es einigermaßen kann, man geht weiter, es spieltkeine große Rolle, daß die Dinge lange halten und daß sieschçn aussehen. Bild der Ortschaft im Westen. Das Proviso-rische. In der Schule werden praktische Dinge unterrichtet,jedermann muß einen Schalter reparieren kçnnen usw. DieUmgangsform des betonten Positivismus und Optimismusals eine Umgangsform der Pioniere. Man muß sich gegen-seitig Mut machen; es geht nicht an, daß der andere michmit seinen persçnlichen Sorgen belastet. How are you? Fine.Das Problem der geringen menschlichen Beziehung; die Pio-niere ziehen weiter, man sieht sich oft nur einmal kurz. Heu-te noch sehr stark alles in Bewegung, verh�ltnism�ßig vieleOrtsver�nderungen innerhalb eines Lebens. Then I moved.Der Mangel an Ans�ssigkeit, daher auch kein Handwerk.Vorteilhaft die Beweglichkeit gegen�ber materiellen Dingen,man ist bereit, alles wieder zu verlassen. H�user nicht f�rdie Ewigkeit gedacht, sondern wie ein Kleid zum Verbrauch.

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�berhaupt der Verbrauch, es wird nicht geschont. Rohstoffist gen�gend vorhanden. Wenigstens bisher. Erinnerung anden Jeep-Fahrer in St. Margrethen, wie er die Benzintankswegwarf. Im Pionierland hat man soviel Holz, als man schla-gen kann; es ist keine Besorgtheit im Hinblick auf den Roh-stoff, das Problem ist nur die Gewinnung. Es wird hier nichtgeflickt, sondern produziert. Kapitalistische Grundlage, dieganze Wirtschaft ist nur durch laufende Produktion zu hal-ten, daher ist der Verschleiß erw�nscht. Im allgemeinen gro-ße Freigiebigkeit. Kein Geiz. Der Pionier und Nomade glaubtnicht ans Sparen. Merkw�rdige Widerspr�che zu der sonstdeutlichen B�rgerlichkeit. Erinnerung an die Pionierzeit:der Drugstore,wo alles zu haben ist,Getr�nk und Werkzeug.Treffpunkt der Leute gewesen in den ersten Siedlungen.

Krieg

Gespr�ch mit einem Motel-Wirt in Kalifornien. Er sagt:Amerika ist f�r den Frieden, aber es kann sein, daß Krieg ge-macht werden muß, um die Krise zu vermeiden. Als Zeichender amerikanischen Friedensliebe erw�hnt er, daß Amerikaden Krieg nicht im eigenen Land w�nscht. Meine Frage: Lie-ber in Europa? Seine unscherzhafte Entgegnung: Yes, theyare used to have wars. Ich erz�hle die Anekdote çfters, wo-bei mir in intellektuellen Kreisen versichert wird, der Mannspreche die Ansicht von einigen Millionen aus. Grunds�tz-lich: Die Angst vor der Krise ist grçßer als vor dem Krieg,we-nigstens bei den mittleren und unteren Schichten, die weniglesen. Die Depression ist f�r die Amerikaner eine eigene Er-fahrung, die sie nicht vergessen haben. Nicht so der Krieg.Die Anzahl der Leute, die im Krieg waren, ist proportionalsehr gering. Die Familien sind nicht betroffen wie in irgend-

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einem europ�ischen Land. Keine Zerstçrungen im eigenenLand. Die Heimkehrer erz�hlen meistens nicht vom Krieg,sondern von ihren europ�ischen Eindr�cken: Paris, Rom,Wien, Switzerland. Daher belletristische F�rbung des Kriegs-erlebnisses. F�r manche Amerikaner ist tats�chlich die Be-gegnung mit Europa (kulturell) ein entscheidendes Erlebnisgeworden. Bekanntschaft mit einer anderen Lebensart. Dieallgemein geringe Vorstellung davon,wie der Krieg aussieht,gibt der Propaganda ein leichtes Spiel. Schmucke Plakate inden Straßen: Job for a man, proudly serve, alles mit blanken,gesunden, strahlenden Gesichtern. Im allgemeinen das ein-deutige Selbstbewußtsein, daß man den Krieg nur gewinnenkann. Mit wenigen Ausnahmen habe ich keine Leute getrof-fen, die kriegslustig waren. Viele aber halten den Krieg f�runvermeidlich und f�r eine Angelegenheit in fernen L�n-dern. Korea vçllig unpopul�r. Bleistiftanschriften in der Sub-way: President Truman stop shooting in Korea, make peacemy brother in Korea.

Schweizer

Es f�llt mir auf, daß auch in Amerika (nicht nur wie bisher inDeutschland) die Tatsache, daß man Schweizer ist, immerbesonders bemerkt wird; es folgt Lob oder auch offene Ab-neigung. Die Indifferenz, die ich mir w�nschte, ist selten.Lob der Landschaft, der Produkte wie Uhren, K�se, Schoko-lade. Schon Maschinenindustrie und chemische Industrienicht bekannt. Kulturell kaum gefragt; Erscheinungen wieArthur Honegger, C. G. Jung, Frank Martin, Karl Barth wer-den nicht als Schweizer realisiert. Was wird von der Schweizaus dagegen getan? Persçnliche Erfahrung: Stelle mich vorauf Schweizer Gesandtschaft in New York, Dr. Gygax und

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Dr. Pestalozzi. Es erfolgt �berhaupt nichts,weder eine Einla-dung in den Schweizer Club noch eine persçnliche Einla-dung zu einem Lunch.

Sehr h�ufig Ausdr�cke der Antipathie gegen�ber derSchweiz, die man in Empfang zu nehmen hat. Zum Beispielamerikanische Schriftstellerin: Die Schweiz ist �bersauber,sehr an Geld interessiert, die Leute sind dem Amerikaner ge-gen�ber devot. Andere: Die Schweiz hat ein gutes Gesch�ftim Krieg gemacht. Mein Widerspruch dagegen. Ein Jungein New Orleans: Die Schweiz ist die einzige wahre Demokra-tie, weil keine Diskrimination. Weil keine Neger! Es �rgertmich immer wieder, daß wir auf die Touristenherrlichkeitunseres Landes hin angesprochen werden, gelobt f�r Land-schaft, im Grunde nicht voll genommen. Vor allem aber im-mer mit einer besonderen Beachtung der Nation betrachtet,Erinnerungen an schçne Ferientage und GI-Fun. Im Ganzenkennt man von den Qualit�ten, die uns wichtig scheinen, sogut wie nichts. Wir werden sehr viel geringer eingesch�tzt,als wir es aus dem Spiegel unserer Presse anzunehmen ge-wohnt sind.

Allgemeines

Quantit�t. Die Quantit�t spielt eine entscheidende Rolle.Quantit�t als Maß der Dinge. Beispielsweise bei Sightseeing.�ber Architektur: wie lang,wie breit,wie viel gekostet. Dazuder Superlativ: one of the longest X in the world. Es wird nievon der Qualit�t gesprochen. Die Lust am Superlativ gehtbis ins Komische: world’s biggest little town (Reno). Da-durch, daß alles sich auf die ganze Welt bezieht, bekommtes oft etwas merkw�rdig Provinzielles, Entt�uschung, daßdie Welt nichts anderes �brig hat, als was man hier sieht.

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Die Sucht, sich in Superlativen auszudr�cken oder in gestei-gerten Ausdr�cken, findet sich auch in der Umgangssprache.The nicest wine I ever had. Was man nicht mag: I hate it,n�mlich einen vollen Aschenbecher. Das letztere erkl�rbaraus der Gef�hlsarmut, �bertriebene Betonung der Gef�hls-urteile.

Das Heimweh nach Historie. Es gen�gt, daß ein Geb�udesehr alt ist, n�mlich 50 oder 80 Jahre, um daraus einen pointof interest zu machen, unabh�ngig davon, ob es als Archi-tektur belanglos oder geradezu schlecht ist. Selbst Leutevon Niveau betonen: it is really old. Der Mangel an Histo-rie als Quelle eines allgemeinen Unsicherheitsgef�hls. Ichweiß nicht, woher ich komme. Dazu das Minderwertigkeits-gef�hl des Parvenu. Es �ußert sich teilweise im Wettstreit:der Amerikaner, der mir die Lichter am Times Square zeigtund mich fragt, ob das nicht mehr Leben sei als die Champs-Elys�es, dabei kommt er von Paris. Der Hinblick auf Paris.Eine andere �ußerung von diesem Minderwertigkeitsge-f�hl ist die erw�hnte Sucht nach dem Superlativ: man mußimmer an der Spitze sein, und wenn es auf die belanglose-ste Art ist. Das wunde Verh�ltnis zu Europa, Haßliebe ge-gen die V�ter, vergleiche das Buch »Die Amerikaner«. DasParvenuhafte auch in Umgangsformen, Staiger berichtet voneiner Party in New York: Brçtchenessen mit Glac�handschu-hen. In diesem Zusammenhang die sehr verbreitete Geh�s-sigkeit gegen�ber den Engl�ndern bez�glich Sprache undLebensart. Hier wird betont, daß man unformell ist,was teil-weise gar nicht stimmt. Sehr formelle Wichtigkeiten, wei-ßes Hemd etc. Bei Intellektuellen ist das Verh�ltnis zu Euro-pa meistens gelçster, man blickt nach Europa, bewundert,lernt, ohne deswegen das eigene Selbstbewußtsein aufzuge-ben. Bei K�nstlern,vor allem bei den ganz kleinen,viel Nach-

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ahmung. Die Boheme spielt Paris,Village, etwas originaler inSanta Fe.

Das heilige Tier der Amerikaner, das nicht gestçrt werdendarf: der Halbw�chsige. Er darf pfeifen und tun, was ihnlockt, wird nicht zurechtgewiesen, damit keine Frustrationeintritt. Beispiel bei Verebes.Wir wollen uns ernsthaft unter-halten, was aber nicht mçglich ist, weil der Bub vor der Tele-vision sitzt, es ist nicht mçglich, ihm das zu verbieten oderauch nur anzuordnen, daß er leiser stellt. Die Hemmungslo-sigkeit der Jungen, trotzdem sehr viel Frustration bei den Er-wachsenen. Was stimmt nicht? Positive Seite, Besuch beiMarshall, wir sprechen �ber die UNESCO, ein 14j�hrigerJunge sitzt dabei, der bisher ein Autoheft studiert hat, plçtz-lich aber am Gespr�ch teilnimmt: in my opinion. Dabei sehrkluge Fragen, die das Gespr�ch nicht stçren. Vor allem aber,Mr. Marshall wird nicht ungeduldig, sondern unterrichtetden Jungen ohne jede Herablassung. Der junge Mensch istgleichwertig und hat ein Recht, sich zu �ußern ohne Angstvor Autorit�t.

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An Kurt Hirschfeld

Berkeley, 15. 8. 51Otis Street 2928 1/2

Mein lieber Hirschi![. . .]Hier, Du wirst es gehçrt haben, habe ich ein kleines Haus

zwischen Negern und Chinesen, wunderbar allein, Arbeits-zimmer mit Blick auf W�sche, einen Garten, Eisschrank, Ra-dio und viel Platten. Klima wie Herbst bei uns, kçstlich, dieTage vergehen mir, ich weiß nicht wie. Ich arbeite nur. Da-zwischen habe ich hin und wieder G�ste, sehr nette jungeMenschen, Amerikaner, Studenten und Leute von jungenTheatern. �ber Theater schreibe ich darum nichts,weil nichtsNennenswertes war; Gutes, ja, und viel Dilettantisches auch.Aber ich habe ja noch den Winter in New York. Uta Hagenist in Paris. Sie kochte mir ein himmlisches Essen in ihrerhimmlischen Wohnung, aber ich bin dieser Frau gegen�berimmer befangen, ich kçnnte sie lieben, blçdsinnig, dochmuß ich anfangen, mit dem Einsammeln von Niederlagenetwas sorgf�ltig zu werden. Sonst k�sse ich mich so ober-fl�chlich durchs Land, das ja groß ist, und das ist die eine Of-fenbarung f�r mich, dieses Meer von Land, viel W�ste auch,Gestirnlandschaft, man reist so von Sonnenuntergang zuSonnenuntergang, ich verstehe die Br�der, die da gegen We-sten zogen, Gold war die Ausrede, wirklich meinten sie dasungeheuerliche Gef�hl von runder Erde, deren Gast wirsind. Das andere: die Neger, ein Gottesdienst nur unter Ne-gern. Ich habe versucht, es am Radio zu erz�hlen. Und dasDritte: die Eremitage, Begegnung mit mir, ein grobes Ding,dem man bestenfalls mit Schreiben beikommt. Ich habe hier,meine Arbeit von New York betrachtend, nochmals von vor-

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ne begonnen,was hinwiederum nicht heißt, daß ich jetzt bes-ser schreibe, aber ich bin vçllig in der Arbeit, ohne Zeit,nach San Francisco zu fahren, das keine Stadt ist, aber vieleReize hat – neben dem allgemeinen Reiz, fremd zu sein, sodaß man keine Klumpen an den F�ßen hat, man kann blei-ben und gehen, was man auch in Z�rich kann, aber ichmußte gehen, um es zu wissen.

Zuhanden Deiner Neugierde: Eva geht es gut, so wie es densogenannt selbst�ndigen Frauen gut geht, noch immer mitihm (ob wir den selben meinen?), mein eigentlicher Engelin New York, aber wir werden �lter, die Frauen kommen zu-erst in den k�hlen Schatten. Und Cleveland: zehn Tage beiBenno, der unverdrossen wuchtet, wie immer Mittelpunktder Welt, Karamu geht es gut, aber viel Dilettantismus, findeich, r�hrender Art. Nat�rlich l�ßt Dich alles gr�ßen, ich binDir auf den Spuren –

Was macht Ihr? Trudy kommt im September, dann auf nachMexiko, hoffe ich. Gr�ße von mir – der Brief ist an Dich al-lein – Otto, Oberer, Bçppli,Weber, Bischof und Vergessene –Dir, lieber Hirschi, alles Gute. Herzlich Dein

Max

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Glossen zum amerikanischen Theater

Arthur Miller, von den glorreichen Autoren der einzige, demich persçnlich zu begegnen die Gelegenheit hatte, wohntdr�ben in Brooklyn, wo er als Sohn j�discher Kleinb�rgeraufgewachsen ist, heute in einem schçnen, nicht zu gro-ßen, doch eleganten Haus, elegant ohne die Atmosph�re per-sçnlichen Geschmackes. Man denkt an einen gl�cklichenMann, der etwas plçtzlich das große Los gewonnen hat;was dar�ber hinaus weist, sind drei wunderbare Bl�ttervon Picasso, ferner ein Schrank mit Grammo-Platten: Bach,Mozart, Beethoven, Brahms, Debussy, Strawinsky, Honeg-ger. Es ist ein s�uberlich ger�umter Salon ohne B�cher, aus-genommen ein dickes Werk, das unzuf�llig-w�rdig auf demmarmornen Cheminee steht: A TREASURY OF THEATER,von Aeschylos bis Arthur Miller. Und am andern Ende desmarmornen Cheminees steht das andere Buch, das in diesemSalon zu sehen ist, in edles Leder gebunden mit Goldschrift:DEATH OF A SALESMAN. Kurz darauf kam Arthur Millerselbst, der mich versehentlich in Manhattan gesucht hatte,ein großer und hagerer Mann von 36 Jahren, der sich so-gleich im offenen Mantel niedersetzt, einen Drink nimmt,bevor er den Mantel in die Halle h�ngt, schlaksig in seinerBewegung, jungenhaft wie ein sieghafter und etwas m�derSportler, der beide Beine von sich streckt, ungezwungen imGespr�ch und von jener flinken Offenheit so mancher Ame-rikaner, die wir so leicht f�r Freundschaftlichkeit halten.�berzeugt, daß Miller im Laufe der letzten drei Jahre genug�ber sein erfolgreiches St�ck vernommen haben d�rfte, zogich das Gespr�ch auf andere Gebiete, Mexiko zum Beispiel,wobei ich vernehme, daß Miller einmal auch ein St�ck �berCortez und Montezuma geschrieben hat, nicht aufzuf�hren,

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da es zuviele B�hnenbilder erheischt. Ein Gespr�ch, obzwarnoch ein interessantes Ehepaar hinzu kam, wurde es nicht,Miller ist offensichtlich daran gewçhnt, Audienzen gebenzu m�ssen, so daß er die andern Menschen wesentlich alsseine Interviewer betrachtet. Notiert habe ich lediglich sei-nen Ausspruch: »Da heutzutage niemand so gute St�ckeschreibt wie ich.« Und trotzdem mçchte ich nicht in seinerHaut sein; Selbstbewußtsein, wunderbar, und warum d�rftedas Selbstbewußtsein [in] der schçpferischen Phase nichtmaßlos sein? Hier aber das Selbstbewußtsein eines Gewin-ners,dahinter die Angst: Wie wiederhole ich meinen Treffer?Der große Tagesruhm als ein menschliches Problem, mansp�rt es schon daran, daß es immer wieder Arthur Millerselbst ist, der den »Tod eines Handelsreisenden« in die Unter-haltung ruft. In der Halle draußen, beim Verabschieden,weist er auf Haufen von Post, Geschiebe des Ruhms, Leutedrohen mit dem Gashahn, wenn man ihnen nicht tausendDollar schicke, und Miller lacht, erz�hlt noch andere Schnur-ren aus der Zeit seines Erfolges, der nun zwei Jahre zur�ck-liegt; Miller kommt nicht davon los, scheint es, er besetztihn wie andere ein Weltkriegserlebnis . . . Ich erw�hne dieseBegegnung, weil sie zeigt: Nicht einmal f�r die wenigen,die das große Los ziehen, ist der Broadway ein menschlicherund k�nstlerischer Segen, ganz zu schweigen von den Hun-derten und Tausenden, die ihr ganzes Leben verkrampfenin der Hoffnung, so gl�cklich zu werden wie Arthur Miller.

[. . .]

Negertheater – eine meiner großen Erwartungen! – ist �ber-raschenderweise kaum zu finden. Es gibt ein sehr interessan-tes Unternehmen in Cleveland: Karamu,was ein afrikanischesWort ist und heißt: Ort der Versammlung und Erbauung.Aber eine Gr�ndung der Weißen, was diesen Weißen zwar

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zum Lobe gereicht, ist es eine einzigartige und bedeutendeErmunterung f�r die Neger, ihr eigenes Theater zu gr�nden,aber noch nicht dieses Theater. Tats�chlich hat der Neger,auf seinem Weg zur Gleichberechtigung, nirgends ein sooffenes Tor wie in der Kunst. Warum nutzt er es kaum hin-sichtlich des Theaters? Ich sah eine Gruppe in Harlem, ge-nug um zu wissen, was man schon weiß: wieviel die Schau-spielkunst von den Negern zu erwarten hat. Und trotzdemgibt es zurzeit kein Theater der Neger: – weil sie als Publi-kum nicht hingehen, sagt mir ein zust�ndiger Neger, denn ih-re Mehrzahl will ja nicht Neger sein; ihr Minderwertigkeits-gef�hl dr�ngt sie, wenn sie es sich leisten kçnnen, in dasTheater der Weißen, das heißt Broadway und Broadway-Tra-banten.

Anl�ßlich eines Treffens in Chicago, veranstaltet von derRockefeller Stiftung, machte ich eine aufschlußreiche Be-kanntschaft mit sieben j�ngeren amerikanischen Autoren.Wie steht es um das amerikanische Theater? war das Themader Konferenz. Und wenn es nicht zum besten steht: Was istzu tun? – Nach unsrer europ�ischen Meinung gibt es wohlnur ein Instrument, das sich als tauglich erwiesen hat: dasRepertoire-Theater, das Ensemble-Theater. Seine Vorz�ge,ganz kurz summiert: ein literarisches Experiment, das zueinem Mißerfolg wird, bedeutet noch nicht den Bankrottdes Theaters, da es seinen Haushalt durch das Repertoireausgleichen kann; das Repertoire-Theater, im Gegensatzzum Broadway, kann sich ein Wagnis leisten. Im Gegensatzzum College-Theater, das man im großen ganzen als dilet-tantisch bezeichnen muß, bietet es dem neuen St�ck ehereine taugliche Auff�hrung, so daß wir das St�ck beurteilenmçgen. Ferner hat ja das Repertoire-Theater meistens einStammpublikum, womit es sich die unfruchtbaren Summen

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f�r große Reklame erspart; [es] braucht nicht einen Star bloßf�r Reklame, so daß es eher ein gutes Ensemble bieten kann.Und so weiter! – Ich verschwieg nicht, daß die meisten euro-p�ischen Repertoire-Theater, um ihre Aufgabe besser erf�l-len zu kçnnen, eine staatliche oder andere Subvention ge-nießen, und hier klafften unsere Meinungen nun rettungslosauseinander.

»Dieser Gedanke«, sagte ein ernsthafter Kollege im Na-men aller andern, »ist uns vollkommen zuwider, er vertr�gtsich nicht mit unserer amerikanischen �berzeugung: Was ge-sund und wertvoll ist, macht sich selbst bezahlt.«

Wievieles unter diesem Grundsatz nie h�tte geschriebenund komponiert und gemalt werden kçnnen, was wir so zuden Sch�tzen der westlichen Kultur z�hlen, ist nicht abzu-sehen, ganz zu schweigen davon, daß etwa Philosophie, dieja auch an amerikanischen Universit�ten unterrichtet wird,nicht rentiert und [auch] andere Wissenschaften nicht im-mer zu verk�uflichen Ergebnissen kommen . . .Wissenschaft,sagte man mir, das ist etwas anderes! Und damit kamen wirschon zu einem n�chsten Punkt, der meines Erachtens un-sere Wege trennt: Kunst als ENTERTAINMENT, Unterhal-tung, Gesch�ft mit Unterhaltung, wobei Unterhaltung nichtgemeint ist als wesentliche Unterscheidung gegen�ber Kunst,sondern alles umfaßt von Shakespeare bis Hammerstein,Theater sozusagen als eine Art von Bar, wo man sich durchBerauschung erholt, diese Auffassung scheint in Amerikadoch verwurzelter zu sein, als ich aus Protest gegen das Kli-schee vermutete. Selbst unter K�nstlern ist es vorderhandnoch eine Minderzahl, die ganz frei davon ist; mit vielen, de-nen es nicht an bewundernswertem Talent fehlt, werden wiruns daher nie ganz verst�ndigen kçnnen. Was soll Theateranderes sein als ENTERTAINMENT? Wie so manches in deramerikanischen Denkart (leider begn�gt sich der Europ�er,

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