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05 Andrea Wiegelmann Zum Buch

07 Elisabeth Boesch Vorwort

09 Aita Flury Neugieriges Grenzgängertum

A Theorie19 Marco Pogacnik

Technik als Ausdrucksmittel im 19. JahrhundertArchitekten und Ingenieure im Dialog

33 Christoph Wieser Wegbereiter und Projektionsfläche Vereinnahmung des Ingenieurs im Neuen Bauen

41 Christian Penzel Die Kultur der Konstruktion Einige Beispiele der letzten 50 Jahre zu einer bemerkenswerten Entwicklung

57 Christoph Baumberger Tragwerkskonzeption und Raumgestaltung Zum Verhältnis zwischen Architekt und Ingenieur

BRecherche75 Jürg Conzett

Das Zusammenspiel technischer und architekto-nischer Aspekte am Beispiel des Palazzo della Regione in Trento (I) des Architekten Adalberto Libera und des Ingenieurs Sergio Musmeci

91 Yves WeinandNeue Wege für Holztragwerke Das Forschungslabor IBOIS an der EPF Lausanne

103 Aita Flury und Jürg ConzettTetto gigantesco – andersgroßes DachHintergründe einer Recherche

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C Praxis133 Markus Peter Deviationen

139 Andreas Hagmann Struktur und Raum

147 Mike Schlaich Jeder das Seine

153 Roger Boltshauser, Aita Flury und Jürg Conzett Ein Annäherungsprozess

161 Stefan Polónyi Über das Entwerfen von Tragwerken

169 Renato SalviArchitektonische Akupunkturen an der Autobahn A16 Transjurane

175 Elisabeth und Martin Boesch, Carlo Galmarini, Urs B. Roth und Judit Solt Spielräume – Spielregeln

185 Adolf Krischanitz und Aita FluryWechselseitige Offenlegung und Selbstvergewisserung

193 Heinrich Schnetzer, Aurelio Muttoni, Joseph Schwartz und Aita Flury

Starke Strukturen

D Lehre243 Joseph Schwartz Tragwerkswissenschaft und Tragwerkslehre

249 Christoph Wieser Kunst und Wissenschaft

257 Mario Monotti Konstruieren als Wissenschaft

263 Paul Kahlfeldt Die Konstruktion formt Material zu Raum

269 Roger Boltshauser, Aita Flury und Jürg Conzett Programm und Tragstruktur

274 Autoren und Interviewpartner

277 Literaturliste

279 Bildnachweis

283 Dank

284 Impressum

114 Modellfotos 208 Metadialog

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„Et sur la sphère de l’architecte apparaît un reflet d’ingénieurie: le reflet de la connaissance des lois

physiques. Et sur la sphère de l’ingénieur apparaît, de l’autre côté, un reflet d’architecture: le reflet

des problèmes humains.“

Le Corbusier

„Das Widerstreben ist die Form der Kraft.“

Nietzsche

In der 500 Seiten starken Forschungsarbeit „Architect and Engineer. A Study In Sibling Rivalry“1 formt der Autor Andrew Saint die Schlussfolgerung seiner ausführ-lichen, architekturhistorischen Forschung zum Verhältnis von Architekt und Ingeni-eur um drei Fragen herum: Die Frage nach der einstigen Ununterscheidbarkeit der beiden Disziplinen bejaht er für den Zeitraum zwischen 1400 und 1750. In dieser Epoche hing die Bezeichnung Architekt oder Ingenieur vor allem mit den jeweiligen Projekttypen und ihren zugehörigen Hierarchien bzw. Institutionen (König, Militär, Kirche etc.) zusammen. Die Unterscheidung bezog sich aber weder auf verschiede-ne Bautechniken, -konstruktionen noch auf unterschiedliche Entwurfsfähigkeiten. Die Frage nach dem Wann und dem Warum der darauffolgenden Separierung der Berufsstände legt Saint, wie gängig, in die Periode zwischen 1750 und 1900. Die kontinuierliche Nachfrage des 19. Jh. nach neuen Bau- und Konstruktionstypen, das Aufkommen neuer Materialien und ihre nun wissenschaftliche Berechnung führten zwangsläufig zu unterschiedlichen Fähigkeiten und damit zu einer Speziali-sierung. Diese ist gemäß Autor aber eher zu einem späteren als früheren Zeitpunkt anzusiedeln. Als Antwort auf die Frage nach der Relation der beiden Disziplinen im 20. Jh. diagnostiziert er eine Wiedervereinigung: Diese gründe auf dem Bedürfnis, der Tendenz der professionellen Fragmentierung und dem damit einhergehenden Mangel an Einheit und Ganzheit – wofür das 19. Jh. gerne kritisiert wird – ent-gegenzuwirken. Im 20. Jh. arbeiten Ingenieur und Architekt, die nun mit jeweils unterschiedlichen Fähigkeiten ausgestattet sind, an den gleichen Projekten. Als gängigstes Modell entwickelt sich dabei eine Form der Zusammenarbeit, in wel-cher der beratende Ingenieur dem fragenden Architekten zu einem von Letzterem gewählten Zeitpunkt antwortet. Dieses durchaus dialektische Verhältnis steht nach Saint heute, am Eingang des 21. Jh., auf der Kippe: Der Ingenieur verschwindet in einer Masse von gleichwertigen Beratern, Fachplanern und Subunternehmern

Neugieriges Grenzgängertum Aita Flury

1 Andrew Saint, Architect and Engineer. A Study in Sibling Rivalry, Yale University Press, New Haven and London 2007

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und/oder lässt sich in einer auf Kunstobjekte und mediale Symbolik ausgerichteten Welt aus dem Vernunftstempel zerren und vom Architekten für die vorgegebene Form instrumentalisieren.Die Konklusion einer anderen Publikation an den Anfang des vorliegenden Bu-ches zu stellen, mag ungewöhnlich erscheinen, doch bietet das knappe Résumé die ideale Verortung für die vorliegende Materialsammlung zur gegenwärtigen Zusammenarbeit zwischen Ingenieur und Architekt. In den letzten zweihundert Jahren Baugeschichte ist das Verhältnis zwischen den beiden Disziplinen und ihre gegenseitige Einflussnahme stets kontrovers diskutiert worden. Heute scheinen wir in der Tat an einem Punkt angekommen zu sein, wo der „Grund der Form“ wenig konstruktiv ist, wo Raum unbekümmert von der Wirklichkeit der Konstruk-tion gebildet wird. Als Folge davon sieht der Architekten-Künstler den Ingenieur oft wirklich als reinen Dienstleister, der die kalkulatorischen Instrumente liefert, als Mittel zum Zweck, der eine ästhetische Absicht umsetzen, baubar machen kann. Entgegen dieser weit verbreiteten Ansicht zielte die 2006 im Architekturforum Zü-rich lancierte Ausstellung „Dialog der Konstrukteure“ darauf ab, zu zeigen, dass das Rollenverständnis zwischen Architekt und Ingenieur durchaus inspirierter sein kann. Den Nährboden für diese Hypothese bildeten einige Bauwerke, die in den vorangegangen 15 Jahren in der Schweiz entstanden – oder gerade im Entstehen waren – und die ihre Kraft gerade aus der Affirmation einer Entwicklungsnähe zwi-schen Architekt und Ingenieur zu beziehen schienen. Das Kuratorium dieser Ausstellung bedeutete für mich einen Sprung ins Dunkle. Mein Zugang zum Thema war intuitiv und autobiografisch geprägt und basierte vorerst weniger auf theoretischen Studien als vielmehr auf den eigenen Erfahrun-gen bezüglich Grenzen und Potenzial der Zusammenarbeit aus meiner praktischen Arbeit als Architektin. Geprägt von „Lehrjahren“ bei und von der Kooperation mit einigen an der Ausstellung Beteiligten, war meine Perspektive auf das Thema zweifellos gerichtet. Die Ausstellung erschien mir als Möglichkeit, anhand einiger mehr oder weniger bekannten Bauwerke zu zeigen, dass die Anstrengungen einer produktiven Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur oft im Verborge-nen bleiben und das intellektuelle Erkennen ihres Mehrwerts einer Art „zweiten Sehens“ bedarf. Es handelte sich um Projekte, bei denen die Architekten- und Ingenieurautoren Technik entwerferisch anders besprechen wollten, als diese in Offensichtlichkeit zur Schau zu stellen. Ihre Strategien gründeten auf konstruktiver Subtilität und verzichteten auf schnelle Lesbarkeit – gerade dadurch wirkten sie nachhaltig auf unsere „sinnliche Intelligenz“ ein. In den Projekten schimmerte eine Balance auf zwischen den Möglichkeiten des konstruktiven Entdeckens und der gleichzeitigen räumlichen Sicherheit der Entwerfer. Die Resultate waren offensicht-lich Abbilder von dialogischen Verhältnissen zwischen den zwei Disziplinen und einer neuen Kultur des Konstruierens, die auf einer eindrücklichen Hartnäckigkeit und Geschicklichkeit im gemeinsamen Entwickeln gründete. Als wichtige Basis da-für entpuppte sich die Interpretation der Bauaufgabe als eine von Ingenieur und Architekt zusammen konzipierte Problemstellung, sozusagen ein freiwilliger Zwang

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zu gemeinsamen Schnittstellen. Am evidentesten trat dies bei Platten-Scheiben-Konstruktionen in Erscheinung, denn stärker als jedes andere Tragwerk sind diese in sich raumbildend, d.h., Primär-Konstruktion und Raum sind unweigerlich mitei-nander verschränkt. Der deutsche Architekt Fred Angerer hatte solchen Flächen-tragwerken bereits in den Sechzigerjahren die bemerkenswerte Publikation „Bauen mit tragenden Flächen“ gewidmet: Angerer war von den großen gestalterischen Möglichkeiten solcher Flächensysteme überzeugt und untersuchte Aspekte zur konsequenten Gestaltung solcher Bauten, indem er die konstruktiven Gegeben-heiten der Systeme analysierte. An lapidaren und elementaren Grundstellungen von Scheiben zeigte er auf, wie diese im Zusammenhang und nur im Zusammen-wirken statisch funktionieren, und beschäftigte sich dann mit den daraus folgen-den Gestaltungsproblemen: „Die fehlenden Raumseiten bringen architektonisch schwerwiegende Konsequenzen. An die Stelle des allseits umschlossenen Raums tritt die Raumandeutung, statt einer strengen Begrenzung einzelner Räume fließen diese ineinander. Das Raumgefühl wandelt sich.“2 Diese Art von Tragwerk führt also zu einer neuen räumlichen Verteilung von offen und zu, von schwer und leicht. Räumlich und statisch interessant werden diese Systeme in ihrer Entwicklung über mehrere Geschosse: Indem sie als brückenähnliche Konstruktionen entwickelt wer-den können (die Obergeschosse überspannen z.B. das Erdgeschoss stützenfrei), eignen sie sich dazu, Räume mit großen Spannweiten mit darüberliegenden, klei-nerteiligen Raumstrukturen zu kombinieren. Das Tragverhalten der verschiedenen Elemente bleibt optisch interpretierbar und ist nicht auf den ersten Blick klar, so-dass den Systemen etwas mehrfach Lesbares und Uneindeutiges aneignet. Ihr am-biguer Ausdruck oszilliert zwischen dem Ingeniösen und dem Architektonischen, was den für beide Seiten reichlichen Findungsstoff gleichsam schön illustriert.

2 Fred Angerer, Bauen mit tragenden Flächen. Kon- struktion und Gestaltung, Georg D.W. Callwey, Mün-chen 1960, S. 61

Titelblatt und S. 57 Fred Angerer, Bauen mit tragen-den Flächen. Konstruktion und Gestaltung, Georg D.W. Callwey, München 1960

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Da dieses Grenzgebiet zwischen Architektur und Bauingenieurwissenschaft die paritätische, „intime Kollaboration“ par excellence zeigte, wurde es zu einem wichtigen Ausgangspunkt und Eckpfeiler für die Ausstellung. Die Spurensuche nach den Bedingungen, Möglichkeiten und den Grenzen dieses Dialoges führte natürlich aber auch zu aufgelösteren, hybrideren Strukturen und zu hierarchische-ren Verhältnissen der Zusammenarbeit: Modelle, in denen der Ingenieur auf die architektonische Idee einwirkt, indem er den prioritären Einfall des Architekten umdeutet, umwandelt oder die Konstruktion in ein architektonisches Bild „einar-beitet“. Die Ausstellung war insgesamt als dialogische Plattform konzipiert, die in der Beschreibung unterschiedlicher Stile des Dialogs die Möglichkeit einschloss, diese weiterzuführen. Dietmar Steiner, Direktor des Architekturzentrums Wien, hat-te dem Format anlässlich seiner Ausstellungseröffnungsrede eine „unzeitgemäße Hartnäckigkeit“ attestiert. Dies hat sich insofern bewahrheitet, als dass die Tafeln und Modelle ihren Weg durch die gesamte Schweizer Hochschullandschaft fanden und in diesen Kontexten zahlreiche Rahmenveranstaltungen mit Vorträgen und Dis-kussionen zwischen Praktikern aus beiden Disziplinen stattfanden. Die Textbeiträge der Ausstellung wurden in der Publikation „Dialog der Konstrukteure“3 dem inte-ressierten deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht, eine Veranstaltungs-folge mit nach vorn offener Bewegung war in Gang gesetzt worden. Schließlich war es der Bund Schweizer Architekten (BSA), der die Pflege dieses öffentlichen Diskurses zwischen den Disziplinen nachhaltig fördern und ihm einen neuen Impuls geben wollte: Durch das persönliche Engagement der Vizepräsiden-tin Elisabeth Boesch fand die erweiterte Ausstellung „Dialog der Konstrukteure“

als Schlussveranstaltung der Plattform „Baukunst im Dialog“ im Frühling 2010 den Weg ins Deutsche Architekturzentrum (DAZ) in Berlin. Anlässlich der beiden in diesem Rahmen veranstalteten Symposien mit internatio-naler Besetzung entstanden weitere, neue Textbeiträge und Interviews, die dann als aktuelle Positions- und Basispapiere vorerst in einem Katalog im Eigenverlag zusammengestellt wurden. Diese Essays und Gesprächsformen umkreisten die Themenkomplexe der praktischen Zusammenarbeit aufs Neue, sei es in Wettbe-werben oder in der konkreten Praxis. Das Spektrum wurde durch Beiträge über Ausbildungskonzepte an diversen Hochschulen und Forschungsthemen erweitert. Die hier vorliegende Publikation basiert grundsätzlich auf diesen Berliner Beiträ-gen, wurde nun aber nochmals um einige Essays mit geschichtlicher/theoretischer Perspektive ergänzt: die Aufsätze, die das Verhältnis zwischen den Disziplinen in-nerhalb bestimmter, vergangener Epochen beleuchten, schaffen die Verbindung der Reflexion der zeitgenössischen Praxis mit dem historisch Situierten. Alle Bei-träge stammen (mit Ausnahme des Beitrags des Philosophen Christoph Baumber-ger) von Praktikern (Architekten und Ingenieuren) oder Lehrenden in den beiden Disziplinen. Die Materialsammlung gründet immer noch auf der anfänglichen Idee, die Rede zum Thema vor allem den Bauenden mit ihren verschiedenen Erfahrun-gen zu überlassen und so eine fruchtbare Mischung verschiedener Sichtweisen abzubilden. Neue persönliche Begegnungen, vor allem auch die sich engagie-

3 Aita Flury, Dialog der Konstrukteure, Niggli Verlag,

Sulgen 2010

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renden Verbände und Institutionen haben den Kreis der Involvierten aufgeweitet: Als vereinigendes Prinzip ist der Anspruch geblieben, dass jeder Text eigens im Zusammenhang mit dem „Dialog der Konstrukteure“ verfasst wurde und Aussa-gen zur Kooperation zwischen den Disziplinen herausgeschält werden sollten. Die Sammlung ist keine Aufarbeitung der Konstruktionsgeschichte, sondern vielmehr ein Lesebuch, das mittels der darin versammelten Beispiele Inspiration für eine ertragsreiche Kooperation sein will und so über ein reines Abbilden der momenta-nen Situation hinauswirken kann.Bereits die Ausstellung hatte gezeigt, dass niemand ernsthaft die Separierung der zwei Disziplinen in Frage stellt. Die Prämissen einer produktiven Zusammenarbeit beinhalten dementsprechend keine Kompetenzverschiebungen innerhalb der zwei Berufsfelder, sondern beruhen vielmehr auf der Vorstellung des „engen Neben-einanders“. Eine ertragreiche, nachbarschaftliche Zusammenarbeit wird aber nur unter der Voraussetzung einer gemeinsamen Sprache möglich, diese wiederum setzt ein gegenseitiges Interesse (dem Wissen folgt) und eine Empathie für das Problem des anderen voraus. Wirkliche Neugier, wie die Dinge gemacht sind, fehlt heute vielen Architekten. Vielleicht ist das Näherrücken an das „Machen“ auch nicht immer nur förderlich; schließlich war auch ein Genie wie Le Corbusier, der zwar lautstark und medial wirksam die Übernahme der Architektur durch die In-genieure proklamierte, schlussendlich mehr an der Ingenieursbaukunst als Idee denn an der Realität der Konstruktion selber interessiert: Den „Technikpfad“ zu weit hinunterzugehen, kann im Extremfall den Verlust an architektonischer Freiheit mit sich bringen. Für den am Grenzgängertum interessierten Architekten aber kann der Diskurs mit dem sowohl statisch als räumlich sensiblen Ingenieur die Band-breite der Themen neu eröffnen und die eigene Logik des Denkens und Entwer-

Neugieriges Grenzgängertum

Le Corbusiers Skizze „Les Constructeurs“, die er wie folgt erklärt: „Im Schema ist die Domäne des Ingeni- eurs als gestreifte Fläche an- gelegt, währenddem die Domäne des Architekten ge- punktet dargestellt wird. Unterhalb dieses symboli-schen Zeichens von Synthese verzahnen sich die 10 Finger zweier Hände miteinander, horizontal auf gleicher Höhe, geschwisterlich, beide soli-darisch damit beschäftigt, das Equipment der Technik-gesellschaft zu realisieren. Das ist das Zeichen der Kon- strukteure.“ In: Science et Vie, 1960

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4 Bruno Reichlin, Technisches Denken, Denktechniken,

in: Alexander von Vegesack (Hg.), Jean Prouvé. Die Poe-tik des technischen Objekts, Vitra Design Stiftung GmbH,

Weil am Rhein 2006, S. 32

Dachstuhl der reformierten Kirche Wädenswil (1764–1767)

der Brüder Grubenmann. Der Dachstuhl überspannt als

kühnes Brückenbauwerk ei-nen Raum von 38 m × 20 m.

Kirchenraum der reformierten Kirche Wädenswil. Die in-

geniösen Anstrengungen für diese Raumwirkung sind

komplett weggespiegelt.

fens erweitern. Dabei wird das gegenseitige Verständnis für die jeweils andere Interessenslage wachsen – als Beispiel seien die idiosynkratischen „Elixiere der Berauschung“ angeführt: Während der Architekt vor allem am Ausdruck, am direkt Sicht- und Erfahrbaren des fertigen Werks interessiert ist, schlägt das Herz des Ingenieurs genauso für das Verborgene, nicht direkt Wahrnehmbare. Der Ingeni-eur freut sich – provokativ formuliert – am vollendeten Objekt nicht mehr als am intelligenten Prozess des Herstellens, des Aufbaus, an den akrobatischen Arbeits-bedingungen der Baustelle selber. Ihn beflügelt die Konzeption des Bauablaufes, die Darstellung der Phasen eines Gebäudes oder einer Kunstbaute oder, poetisch formuliert: die technisch-konstruktive Narration des Bauvorgangs 4. Deshalb ist

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es auch im vollendeten Bauwerk schlussendlich von sekundärer Bedeutung, ob die statischen Anstrengungen, die konstruktiven Schönheiten verborgen blei-ben, wie sich am Beispiel der reformierten Kirche Wädenswil (1764–1767) der Baumeister Grubenmann schön illustrieren lässt: Im Inneren eines äußerlich un- scheinbaren und einfachen Gebäudes eröffnet sich ein eindrücklicher, auf räum- liche Wirkung angelegter Kirchenraum. Ein stützenfreier Raum von 38 m × 20 m wird von einem flachen, weißen Kirchenhimmel mit Stuckapplikationen überspannt. Der Himmel ist abstrakt und atektonisch. Er gibt keinerlei Hinweise auf die verbor-genen, ingeniösen Anstrengungen, die dafür notwendig waren und sich über meh-rere darüberliegende Stockwerke entwickeln. Der Wahrnehmung des Kirchgängers ist die Kühnheit des Tragwerks, das auf der strukturellen Logik von Brückenbauten gründet, komplett entzogen – das Himmelreich des Ingenieurs aber steckt im ver-borgenen, nicht erfahrbaren Dachraum. Die Zersplitterung der Erfahrung, das Aufsprengen des Wissens in viele autonome Disziplinen mit ihren jeweils eigenen Sprachen, konkret die Auftrennung von ent-werferischer und technisch-konstruktiver Planung sind heute Tatsachen, die den Sinn für das Ganze bei den Beteiligten mehr und mehr verloren gehen lassen. Die Förderung einer aktiven Kooperation, einer Arbeit im Team und die Kultivierung eines Zusammenklangs der verschiedenen Kompetenzen sind deshalb von größter Wichtigkeit. Die Voraussetzung dafür ist ein achtsames, neugieriges beinahe faus-tisches Grenzgängertum: Der Architekt findet den Schlüssel zu einem fruchtbaren Dialog, wenn er selber wieder mehr zum Konstrukteur, zum Bauenden mit einem ausgeprägten konstruktiven Verständnis wird. Der Ingenieur auf der anderen Sei-te wird die Auseinandersetzung neu aufladen, wenn er seine „sensibilità statica“ (Nervi) mit einer räumlichen Empfindsamkeit kombinieren kann: Dann wird er dem „subjektiven“ Entwerfen des Architekten in einer ingeniös-selbstbewussten Hal-tung entgegentreten, Ideen hinterfragen, steigern oder neu formulieren. Er wird gleichsam wie der Architekt zum Autor, was die Ökonomie der Aufmerksamkeit verschieben und das Verhältnis der Zusammenarbeit neu bestimmen wird.

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Das IBOIS Die in den letzten zwei Jahrhunderten bestehende Vorherrschaft von zunächst Stahl, später dann Stahlbeton, in der Forschung und der Praxis der Bauingenieurwissenschaft und Werkstoffkunde hat dazu geführt, dass eine große Forschungslücke in Bezug auf Holz als Konstruktionsmaterial entstanden ist. Das intuitive Wissen von Zimmerleuten und unseren beruflichen Vorgängern ist verlo-ren gegangen, seit sich im 18. Jahrhundert der Beruf des Ingénieur des Ponts et Chaussées (Bauingenieur) entwickelt hat, der Holz nicht als Baumaterial nutzt, weil er ihm a priori einen geringeren Stellenwert zuweist als Stahl und Beton. Mein duales Profil als Architekt und Bauingenieur ermöglicht es mir, den Fokus auf die interdisziplinären Aspekte des Bauentwurfs zu richten, und so Synergien zu entwickeln. Da ich wegweisende Forschungsarbeit sowohl in der Baustatik als auch in der Konstruktion durchgeführt habe, unterscheidet sich meine Sichtwei-se einiger Phänomene deutlich von der Perspektive der meisten Theoretiker oder Praktiker, die nur auf eines dieser beiden Gebiete spezialisiert sind. Durch meine singuläre Position als jemand, der aktiv in der Praxis und in der Forschung tätig ist und beides auch lehrt, hat meine breite Erfahrung mir ein Gleichgewicht ermög-licht, in welchem von den Architekten beanspruchte Werte wie Subjektivität und Ästhetik einem umfassenden baustatischen und technischem Wissen gleichwertig gegenüber stehen, wodurch diese Werte eher verstärkt als abgeschwächt werden. Meine Forschungsarbeit konzentriert sich auf technische, konstruktive, werkstoff-bezogene und baustatische Aspekte – die, mit einigen Ausnahmen seit Leonardo da Vincis Zeit, von Architekten auf der Suche nach Verwirklichung ihrer ästheti-schen Ansprüche allzu sehr vernachlässigt oder delegiert worden sind. Sie berück-sichtigt unzählige grundlegende Verknüpfungen zwischen Kunst und Wissenschaft ebenso wie die spezifischen Zwänge der beobachteten Phänomene und deren

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konkreter Umsetzung. Auswirkungen des Maßstabs werden im Bereich der struktu-rellen Analyse für die Baukonstruktion häufig einfach ignoriert. Mein Ansatz nimmt die mechanischen Anforderungen von Form/Struktur als Attribute wahr, die nur im Rahmen des geometrisch skalierten Phänomens, von dem sie abhängig sind, volle Bedeutung und Sinn erlangen können. Ich betrachte die Entstehung der digitalen Darstellung von Architektur als unschätzbares Werkzeug, das jedoch nur eingesetzt werden kann, um die Integration von Struktur, Form und Material innerhalb unseres Entwurfsbegriffs zu stärken, wenn die physische Realität jedes beobachteten Phä-nomens als Gesichtspunkt von größter Bedeutung behandelt wird, sodass Form, Raum und Struktur miteinander verknüpft werden.

Forschung in Architektur und Bauingenieurwissenschaft Die architektoni-schen Forschungs-, Kompositions-, Produktions- und sogar Konstruktionsprozes-se bleiben eng verknüpft mit den persönlichen Entwurfsprozessen des einzelnen Architekten, und die Ausdrucksfreiheit des Architekten als Künstler wird per de-finitionem als inhärenter Bestandteil des kreativen Prozesses respektiert. Dieser epistemologische Rahmen macht die architektonische Forschung andersartig und schwer akzeptierbar für Disziplinen, die primär in der Kultur der Technik oder der Gesellschaftswissenschaften verwurzelt sind. Im Allgemeinen zielt die Forschung in der Architektur nicht primär darauf ab, der angewandten Technik Geltung zu ver-schaffen. Wahrhaft interdisziplinäre Forschungsansätze, die die Architektur mit der Bauingenieurwissenschaft verknüpfen, sind nach wie vor wenig verbreitet. Techni-sche Gesichtspunkte werden sehr häufig als quasi neutrales Wissen betrachtet, das den ursprünglichen kreativen Entwurfsprozess eines einzelnen Architekten nicht in einer festgelegten Weise beeinflusst oder beeinflussen sollte. Technische Verfah-ren, Bauausführungsverfahren und schließlich Gesichtspunkte der Baustatik und der Bautechnik gelten in manchen Fällen fast als unwillkommene Faktoren. Häufig werden diese angeblich neutralen technischen Aspekte erst in einem späteren Sta-dium des Entwurfsprozesses berücksichtigt, wodurch die wirklich interdisziplinäre und fundamentale Qualität aufs Spiel gesetzt wird, die solche Forschungsansätze verfolgen könnten. Selbst einige gefeierte, ikonenhafte Bauwerke, wie z. B. das Guggenheim-Museum in Bilbao von Frank O. Gehry oder das Olympiastadion in Peking von Herzog & de Meuron, zeigen, wie der Formalismus das bautechnische Konzept zu einer zweitrangigen Frage degradiert.Tragwerke und die elementaren Bestandteile größerer integraler Einheiten wie Balken, Stützpfeiler und Bauelemente müssen in erster Linie robust sein, um ihre tragende Qualität zu erlangen. Unsere heutige Gesellschaft assoziiert große In-genieurbauten nicht mit Begriffen wie „Textil“ oder „Holz“. Für die meisten Men-schen verbindet sich mit dem Begriff „Textil“ die Vorstellung der Weichheit, was mit dem allgemeinen Kontext von Bauwerken unvereinbar erscheint. Der Begriff „Textil“ umfasst zwar eine Vielzahl verschiedener Anwendungen und Interpreta-tionen, es hat jedoch bislang keine Versuche gegeben, seine Eigenschaften und Herstellungstechniken auf den Bereich der Holzkonstruktion zu übertragen. Doch

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mit der Strategie, textilähnliche (gewobene oder geflochtene) Holzstrukturen zu verwenden, lässt sich die faserige, von Natur aus flexible Beschaffenheit des Hol-zes, die in den vergangenen zwei Jahrhunderten als Einschränkung wahrgenom-men wurde, nutzen und in einen konstruktiven Vorteil umkehren. Die Entwicklung von Holzkonstruktionen, welche auf textile Strukturen aufbauen, artikuliert sowohl eine Vision der Zukunft als auch ein Verständnis der Vergangenheit. Sie ist von der Vision des Bauens als einem integrierten Entwurfsprozess inspiriert, in dem Aspek-te des Handwerks, der Technik, der Ästhetik und der Baustatik zusammenkommen, wie dies vor der Zeit der Aufklärung der Fall war – nur dass dieses Mal technische Verfahren und Werkzeuge der heutigen Zeit zur Anwendung kommen.Das zur Diskussion stehende Rohmaterial besitzt von Natur aus Eigenschaften (wie z. B. Glätte), die auch die von Architekten gesuchten ästhetischen und konzepti-onellen Qualitäten bieten können. Die neu entstehenden digitalen Entwurfswerk-zeuge für Architektur und die Art und Weise, in der digitale Zeichenprogramme nun als Instrumente für das Begreifen von Architektur gesehen werden, haben den Weg für breitere Anwendungen der digitalen Technik eröffnet, einschließlich technischer Anwendungen: Technische Aspekte können ins Entwurfswerkzeug eingebettet werden. Technische Fortschritte, die heute in Reichweite liegen, er-möglichen die Integration textiler Grundprinzipien, textiler Technologien und Fer-tigungssysteme auf eine Weise, die noch vor einigen Jahren undenkbar war.Die Umweltargumente, die für eine stärkere Nutzung des (erneuerbaren) Rohstoffs Holz sprechen, sind unbestreitbar. Das wachsende gesellschaftliche Bewusstsein für die dringende Notwendigkeit, nachhaltige Baumaterialien zu verwenden, ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen Faktor für die zurückkehrende wirtschaftli-che Bedeutung der Holzbauweise geworden. Umweltaspekte tragen dazu bei, die legitime Nutzung von Holz in den Bauwerken unserer Städte wieder einzuführen oder zu festigen, und zwar in einem Ausmaß, das über viele Jahrhunderte nicht vorhanden war. Wir entdecken erst jetzt, dass viele Techniken, vom Reibschweißen bis zum Stricken, Weben und sogar Origami, auch auf Holzkonstruktionen anwend-bar sind. Die Arbeit meiner eigenen Gruppe zeigt gegenwärtig bereits, dass die Anwendung solcher Verfahren den Umfang der technischen und ästhetischen At-tribute von Holz radikal erweitern kann. Diese Verfahren ermöglichen uns, Holz-erzeugnisse zu entwickeln, die für neuartige Zwecke geeignet sind, weil unsere Gesellschaft kulturell und ökonomisch an einem Punkt angelangt ist, an dem sie Holz als Baumaterial uneingeschränkt zu akzeptieren bereit ist. Wir sehen signifi-kante Vorteile in der Anwendung solcher Techniken voraus, weil durch sie der Bau großer, frei geformter Konstruktionen aus kleinen, sich wiederholenden Einheiten erleichtert werden dürfte – und dadurch öffnet sich der Weg zu einer stärkeren Nutzung von Schnittholz wie auch von recycelten Holzerzeugnissen als hochwerti-gen Baumaterialien.Die allmähliche Ablösung von Holz durch Stahl und Beton, die sich in den letzten zweihundert Jahren vollzogen hat, hat nicht dazu beigetragen, neue und zeitge-mäße Anwendungen von Holzkonstruktionen unter architektonischer und bautech-

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nischer Perspektive zu fördern. Erst wenn man sich mit Holz intensiver befasst, als dies üblicherweise bei seiner alltäglichen Verwendung im Hochbau der Fall ist, zeigt es seine überraschend enge Verbindung mit Textilmaterialien und sein enor-mes Potenzial für die Anwendung textiler Techniken. Holz kann als weiches wie auch als viskoses Material mit glatten Eigenschaften klassifiziert werden. Es hat einen „Fluss“, fast wie ein flüssiges Material. Holz besteht grundsätzlich aus unzäh-ligen Zellulosefasern. Diese glatten Fasern sind biegsam und ermöglichen Kurven-formen. Diese Eigenschaften bewirken, dass großmaßstäblich verwobene flexible Holztragwerke in Bezug auf ihre Stabilität gegenüber seismischen Erschütterungen, extremen Windverhältnissen oder Schneelasten außergewöhnlich leistungsfähig sein dürften. Das Potenzial, das Holzkonstruktionen mit Webstruktur im Hochbau besitzen, um das Einsturzrisiko von Tragwerken bei solchen Herausforderun- gen erheblich zu senken, ist bisher noch nicht systematisch untersucht worden.Auf einer breiteren Ebene werden die vom Labor IBOIS durchgeführten Untersu-chungen dazu beitragen, ein tieferes Verständnis räumlicher Strukturen im Allge-meinen entstehen zu lassen und neue Präzedenzfälle für die kooperative Interak-tion zwischen Architekten und Bauingenieuren bei der Analyse dieser Strukturen zu schaffen.

Fallstudie 1: Textilmodul-Anwendungen Die hier gezeigten empirischen Mo-delle sind von Markus Hudert am IBOIS entwickelt worden. Anfangs verwendet er Zeichnungen, um Flechtmuster zu generieren. In diesem Fall haben die ers-ten Zeichnungen ein sehr interessantes Konstruktionsmodul hervorgebracht. Auch wenn dieser erste Ansatz geometrische Formen steuert, enthüllt er doch neben seinen formalen Qualitäten erstaunliche strukturelle Aspekte.Diese Konstruktion gewinnt an statischer Höhe, wenn sie belastet wird. Sie ist also eine selbst reagierende Konstruktion, und die zentrale Frage lautet daher: Nach-dem wir beobachtet haben, dass diese spezifische Konstruktion an statischer Höhe gewinnt, wenn sie sich unter experimentellen Bedingungen mit zunehmender

Eine Forschungsrichtung des IBOIS ist die Entwicklung

von geflochtenen Strukturen. Ausgehend von bestehen-

den Prinzipien des Flechtens wird ein Maßstabsprung

vorgenommen, um dieselben Prinzipien im Maßstab von

Gebäuden oder Tragwerken zur Anwendung zu bringen.

Hier ist die Beschreibung von globalen Geometriemus-

tern notwendig. Markus Hudert beschreibt anhand von

Zeichnungen solche mögli-chen Geometrien.

Der hier dargestellte Fügungsprozess des Textil-

moduls lässt eine me- chanisch komplexe Situation

entstehen. Das Modul be- sitzt Eigenspannungen, die

durch die Fügung entste- hen und teilweise sich selbst

abbauen (Relaxation). Das Tragsystem reagiert durch

Formveränderung auf das An- greifen äußerer Lasten und wirkt somit als interaktives

System indem es die Eigen- steifigkeit in reeller Zeit

anpasst. Der Werkstoff Holz scheint auf Grund seiner

Verformbarkeit (wir arbeiten im Bereiche großer Ver-

formungen) besonders ge-eignet.

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Das Textilmodul wurde in dieser Form ebenfalls von Markus Hudert entwickelt und stellt eine doppelte Frage. Welche mechanischen Eigen-schaften besitzt dieses Mo-dul? Welche plastischen und raumbildenden Qualitäten sind ihm abzugewinnen? In der Verbindung entsteht hier ein vielschichtiger und vielversprechender Ansatz von grundsätzlicher Neuheit, der sowohl aus bauingeni- eurmäßiger Sicht als auch aus architektonischer Sicht un-tersucht werden kann.

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Die Wiederholung des Basis- moduls lässt Bogen- oder Gewölbetragwerke neuer Na- tur entstehen. Aus mecha-nischer Sicht entstehen hier hybride Konstruktionen, die teilweise von Eigenspan- nungen beansprucht bleiben. Die Untersuchung dieser Konstruktionen im Bereich grosser Verformungen und nicht linearer Systeme ist derzeit ein am IBOIS verfolg-tes Unterfangen.

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Die Proportionen der Platten spielen eine wesentliche

Rolle bei der Ausbildung des Textilmoduls. Eine filigrane

Ausrichtung wird hier in der Versuchshalle der EPFL ge-

testet. Numerische Ergebnisse und Testergebnisse werden

verglichen.

Kontaktpunkte und Rand- bedingungen der Konstruktion

sind geometrisch und me- chanisch zu erfassen. Zu den

einzelnen Prototypen wer- den unterschiedliche Auflager-

und Verbindungsbedingun- gen entworfen und gebaut. Die

Art der Ausbildung be- stimmt direkt den Eigenspan-

nungszustand, aber eben-falls die Art und Weise, wie das

Flechtwerk „weitergefloch-ten“ werden kann.

Die beiden Hauptweb- richtungen werden aus Holz-

platten unterschiedlicher Längen angefertigt. Die Kon-

tinuität dieser Platten kann in zusammengesetzten Syste-

men gewährleistet werden. Unser besonderes Interesse

gilt der geometrischen Si- tuation an den Überlagerungs-

punkten. An diesen Kreu- zungspunkten besteht eben-

falls die Möglichkeit, eine dritte Konstruktionsachse ein-

zurichten, die hilft, die Plat-ten miteinander zu verbinden

sowie eine Steifigkeit im Raum zu erreichen.

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Belastung verformt, können wir dann davon ausgehen, dass sie im Falle extre-mer Belastung, wie z.B. einem Sturm oder Erdbeben, ihre Disposition und ihre Festigkeit ausreichend anpasst, um solchen extremen Belastungen standzuhalten? Insbesondere ist Forschungsarbeit bezüglich der Anfangsspannung großer Verfor-mungen und des nicht linearen Verhaltens notwendig.

Fallstudie 2: Experimentelles Gewölbe mit Überlappung Auf der Basis die-ser geometrischen Formen wurde eine aus planen Elementen bestehende Ge-wölbekonstruktion in digitaler Form definiert. Dieses Gewölbe, das anfangs aus einer ganzen Reihe von Elementen unterschiedlicher Größe bestand, wurde an-schließend so umgearbeitet, dass es nun nur noch zwei verschiedene, sich über-lappende Grundelemente verwendet.Diese Arbeit erscheint vielversprechend, weil sie den Weg zur Beantwortung fol-gender Detailfragen aufzeigt: Wie sollten die überlappenden Verbindungen in großem Maßstab gebaut werden? Hinter dieser Frage verbirgt sich noch eine tie-fer gehende Frage bezüglich dieser Webstruktur: Da das globale Modell direkt vom lokalen Verhalten und mechanischen Modell dieser Verbindung abhängt, wie sollte diese Konstruktion dimensioniert werden? Letzten Endes führt die Interakti-on zwischen dem Globalen und dem Lokalen zu Fragen der Machbarkeit solcher großmaßstäblicher Konstruktionen und deren potenzieller Anwendung (oder auch nicht). Ebenso ist klar geworden, dass die Beziehung zwischen dem Globalen und dem Lokalen nur über die Planung der Verbindungsdetails erfolgreich gesteuert werden kann. Somit kommt der hier erörterten Zusammenarbeit zwischen Archi-tekten und Ingenieuren ebenfalls entscheidende Bedeutung zu, weil diese bei der Definition der Verbindungsdetails interagieren müssen.

Das Prinzip des Flechtens wurde auf eine Bogenbrücke von 85 m Spannweite an-gewendet. Vier flachliegende rechteckige Bogenquer-schnitte aus Brettschichtholz überschneiden sich und unterstützen sich somit gegen- seitig. Die Knicklänge je- des einzelnen Bogens wird hiermit stark verringert. Durch diese besondere geo- metrische Disposition entsteht ein Raum auf der Brücke.

Neue Wege für Holztragwerke B

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Fallstudie 3: Aussichtsturm Steve Cherpillod hat einen Turm entwickelt, der nur aus einem einzigen, höchst spezifischen Holzmodul besteht. Seine Steuerung der allgemeinen Geometrie und der globalen Form dieses Turms ermöglichte ihm, diese Komplexität zu „reduzieren“ und jenes Grundmodul zu definieren. Wieder ist sein erster Ansatz ein geometrisches Verständnis der Interaktion zwischen Treppe und Turm, welches ein sehr altes, verführerisches Thema ist. Nachdem er die räum-lichen und funktionalen Anforderungen einer Treppe verstanden und sie erfolg-reich in Beziehung zu den Konstruktionsanforderungen eines Turms gesetzt hatte, gelang ihm die Synthese dieser beiden Hauptaspekte des hier gezeigten Entwurfs, indem er das Grundmodul steuerte. Weitere Konstruktionsanalysen haben gezeigt, dass dieses Modul Gegenstand ausführlicher Diskussionen über seine Stabilität und die weitere Entwicklung des Turmes insgesamt sein wird.

Schlussfolgerung Diese Forschung unterliegt nicht den Zwängen der unmit-telbaren praktischen Anwendung. Das Labor IBOIS verwendet Zeit und Energie darauf, unbekannte Wege zu erkunden, die nicht direkt den Anforderungen der Umsetzbarkeit oder Effizienz ausgesetzt sind, wie sie in den Ingenieurwissenschaf-ten bestehen. Wir führen unsere Forschungsarbeit frei von den realen Zwängen oder Anforderungen durch, denen ein Bauwerk entsprechen müsste. Die hier be-schriebene Forschung kann als potenziell anwendbar auf die Architektur und die Bauingenieurwissenschaft aufgefasst werden.

Masoud Sistaninia moda- lisiert die Geometrie

unter Berücksichtigung der erforderlichen hohen Ver-

formungen und mithilfe des Finiten-Elemente-Pro-

gramms Abaqus. Da sich der verformte Zustand geo-

metrisch sehr vom unver- formten Zustand unterschei-

det, ist eine grundsätzliche Bedingung der Baustatik nicht

mehr respektiert.

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Modellansicht einer parame- trisierten Bogenkonstruk- tion, welche aus einer Vielzahl von Facetten besteht. Der Einschiebwinkel einer Facette zur nächsten kann beliebig eingestellt werden. Dieser Winkel beeinflusst die globale Geometrie, aber ebenfalls die lokale Knotenausbildung. Bastien Thorel entwickelte diese Struktur im Rahmen ei- ner Übung des Atelier Wei- nand.

Bei der Entwicklung der Geometrien sind beide Hilfsmittel Pläne – wie An-sichten, Schnitte und Axonometrien – und auch digitale und physische Modelle von Wichtigkeit.

Eine weitere Variante, als Kartonmodell ausgebildet. Der Entwurfsprozess wird iterativ gesteuert.

Neue Wege für Holztragwerke B

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le projetélévationcoupe

a tower for paléo festival

00.00

06.00

36.00

00.00

06.00

36.00

le projetélévationcoupe

a tower for paléo festival

00.00

06.00

36.00

00.00

06.00

36.00

le projet

plan plate forme

a tower for paléo festival

plan étage t peplan re

le projet

plan plate forme

a tower for paléo festival

plan étage t peplan re

le projet

plan plate forme

a tower for paléo festival

plan étage t peplan re

100

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développement du projet

échelle du module

variation du module

position de la marche

a tower for paléo festival

83.4

200.

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700.

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0.0

350.

0

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0200.

0

60.0

200.0

80.0

120.

060.0

83.4

200.0

10.0

20.0

10.0

80.0

700.0

350.0

350.0

200.0

180.0 20

0.0

60.0

83.4

200.0

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200.0

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60.0

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350.0

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le projeta tower for paléo festival

schéma assemblage

dimension du module

6.00 m

1.40 m

2.00 m

schéma assemblage0.36 m

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Alle Abbildungen auf dieser Doppelseite:Ein 35 m hoher Turm wurde von Steve Cherpillod im Rah-men des Ateliers Weinand entworfen. Das Tragwerk des Turmes und die eingebette-te Treppenkonstruktion bilden ein Ganzes. Das Basis-element wurde rund 300 Mal eingesetzt. Die ingenieur- mässige Betrachtung des Turmes hat ergeben, dass die Treppenstufe eine wichtige Verbindung und Aussteifung dieses Basiselement dar- stellt. In der weiteren Entwick- lung des Turmes muss dieses Element optimiert werden.

Neue Wege für Holztragwerke B

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Der Dialog zwischen Bauingenieuren und Architekten beruht nicht unwesentlich auf dem gegenseitig zugeschriebenen Verhalten und Rollenverständnis. Doch nicht so sehr die Dichotomie von Ästhetik und Ingenieurbauwerk, wie sie in den Debatten am Ende des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, oder die Ausstoßung der Ingenieure aus der Architektur bei den Neotektonikern ist gegenwärtig An-lass zur Beunruhigung. Vielmehr liegt diese Beunruhigung zunehmend im Wissen darüber, dass die Verfolgung eigener Interessen in den beiden Disziplinen sich nicht zwangsläufig überlagern und dass eine Innovation in dem einen Medium nicht gleichzeitig im andern etwas offenzulegen hat. Der daraus sich ergebende Aufruf zum Dialog, zur gemeinsamen Ausbildung, kritisiert den hohen Grad der Spezialisierung, ja denunziert die monologische Dimension der Ingenieurwissen-schaften. Doch da nun einmal die Spezialisierung des wissenschaftlichen Denkens notwendigerweise auf einer soliden, allgemeinen szientifischen Bildung aufbaut, welche gerade die Spezialisierung bedingt, muss man sich wundern, dass die wis-senschaftliche Spezialisierung so leicht, so andauernd als Verstümmelung des Den-kens denunziert wird. Zumindest müssen derartige Urteile, seien sie nun von einem Großen dieser Erde, wie Goethe, oder von Kleinbürgern ausgesprochen, uns durch ihre Wirkungslosigkeit verblüffen. Die Wissenschaft verfolgt, wie Gaston Bachelard es formuliert, „unbehelligt ihren Weg.“ 1

1. In den Arbeiten der Neunzigerjahre zielten unsere Entwurfsstrategien auf ein In-Beziehung-Setzen von Tragwerk und Raum. Weniger Raster, Serie und Ordnung bildeten das Ziel als die Suche nach Spannungsübertragungen vom Tragwerk auf den umhüllenden und durchdringenden Raum selber. So haben wir beispielsweise in Murau (A) die Holzkonstruktion – fast wie eine selbsttragende Karosserie – als monolithischen Körper behandelt, dessen untere und obere Flanschaussteifung Dach und Boden der Brücke tragen. In unmittelbarer Nähe zum Tragwerksent-wurf haben wir mit Manipulationen an den statischen Elementen der Platten und Scheiben den eigentlichen Brückenraum geschaffen. Das Tragwerk liegt nicht, wie Hermann Czech es beschreibt,2 unter oder neben dem Bewegungsraum, der den Benutzer über den Fluss führt, sondern in diesem Raum. Das statische Prinzip des einfeldrigen Vierendeel-Trägers, ein statisches Rahmentragwerk ohne Diagonale, erlaubte sowohl die liegende Öffnung in der Mitte als auch die versetzte Anord-nung der seitlichen Scheiben. Der Träger selber ist zusammengesetzt aus zwei ver-tikalen, scheibenartigen Hohlkästen – die „Schubscheiben“ aus Dreischichtplatten – und einem massiven Ober- und Untergurt aus Brettschichtholz, die nur durch die

DeviationenMarkus Peter

1 Gaston Bachelard, Episte-mologie, Frankfurt a. M. 1993, S.162

2 Hermann Czech, Unge-fähre Hauptrichtung, in: Marcel Meili/Markus Peter 1987–2008, Zürich 2008, S. 435

C

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entwerferische Figur zusammengefasst sind, sodass die Brücke als ein plastisch ge-formtes, homogenes und raumschaffendes Stück Holz eingesetzt wird. Diese einfa-che architektonische Experimentalanordnung kann aber im technischen Sinne nur angemessen gedacht werden, wenn sie selber das Produkt eines Vereinfachungs-prozesses darstellt. Im Gegensatz zur cartesianischen Illusion anfänglich klarer und distinktiver Ideen ist das Einfache zwangsläufig das Produkt eines Reinigungspro-zesses gegenüber konstruktiven Verunklärungen. Erst die einfachen wie auch leistungsfähigen Verbindungen aus duktilen Stahl- dübeln und Gewindestangen, die zwischen Gurtungen und Schubscheiben enor-me Schubkräfte übertragen, erlaubten die gedankliche Annahme einer weitge-hend homogenen Kraftübertragung. Diese simple Verbindungstechnologie ergab durch das seitliche Anschlagen an die Gurte eine große Auflagerfläche über den Widerlagern, was sich zur Stabilisierung des Einfeldrahmens gegen Umkippen als hilfreich erwies. Andererseits verlangte die konstruktive Entscheidung für einen einzigen Zentralträger torsionssteife Gurtungen, die dementsprechend volumi-nös ausfallen mussten. Die bullige Dimension der Gurte ergab sich also aus der Form des Brückenquerschnitts; sie war aber nun auch ohne Weiteres in der Lage, beträchtliche Biegebeanspruchungen in der Längsrichtung aufzunehmen, und er-laubte die zentrale Öffnung des gigantischen Fensters. Seitlich halten die versetzt angeordneten Schubscheiben durch ihre diagonale Stellung mit den horizontalen Flächen des Bodens und der Decke den Raum und erinnern an minimalistische Raumexperimente der frühen Moderne. Die Experimente dieser Zeit, die vornehm-lich in neuen Anwendungsgebieten oder veränderten Materialtechnologien ange-siedelt waren, wichen dem stabförmigen, in keiner Weise raumdeterminierenden Stahl weitgehend aus. In diesem Sinne sind die Perrondächer am Hauptbahnhof Zürich ausgeführt, bei denen die feine Stahlfachwerkkonstruktion der Dachträger durch ein Holzrost von unten geschlossen wurde. Allein die Architektur und die Technik selber sind befähigt, ihre eigenen Grenzen zu ziehen. Für das ingenieurwissenschaftliche Feld heißt allerdings eine Grenze zu ziehen bereits, sie zu überschreiten. Die wissenschaftliche Grenze ist nicht so sehr eine Barriere als ein Bereich besonders aktiver Gedanken, eine Zone der Assimi-lierung.

Mursteg Murau, 1993–1995Architekt Meili Peter

Architekten, ZürichIngenieur Branger & Conzett

Ingenieure, Chur

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2. Unser Interesse an der Wucht großer Formen und die Tatsache der Rabiatheit der Programme veränderten unsere Entwürfe und verschoben die Experimente in Bereiche mit heterogenen und teilweise auch hybriden Tragwerksformen. Der Fakt, dass die Geometrie von Fußballstadien weitgehend bestimmt ist durch die Logik der Tribünengeometrie und des Tragwerkes der Dachkonstruktion, verän-dert die Ordnungen der multifunktionalen Konglomerate, wie sie fast allen neuen Stadionprojekten in der Schweiz eigen sind. Die Dimension der „großen Form“, entstanden aus der urbanen Topografie, folgt nicht mehr radial seriellen Prinzipien normaler Stadionentwürfe. Die beabsichtigte Nacktheit des Tribünenkörpers erin-nert zwar an große Stadien, bei denen sich die formale Geste als direktes Zeichen ihres Inhalts exponiert, weist aber eine ganz andere Entstehung der Form auf. Die Form mit ihren riesigen Auskragungen nähert sich einem idealen Pentagon an. Die brückenartigen Kragträger dieser Tribüne sind neben und in eine konventionelle Platten-Stützen-Konstruktion gestellt. Sie berühren sich zwar, durchdringen sich sogar und geben auch Kräfte aufeinander ab, bleiben in ihrer Struktur und mathe-matischen Modellierung aber autonom. Die eigentliche Konstruktion des Kranzes des Stadions Zürich besteht aus einzel-nen, im Grundriss geradlinigen Trägerstützen, die wie Waagebalken auf den Kranz-pfeilern stehen, wegen ihrer unterschiedlich langen Auskragungen jedoch nicht für sich alleine ausbalanciert werden können. Das Umkippen der Trägerstücke wird durch die Last der angrenzenden Trägerstücke verhindert, welche die kurzen He-belarme nach unten drücken und damit ein Gleichgewicht schaffen. Der Kranz ruht zusätzlich auf den Schrägstützen, die Teile der Tribünenträger sind. Wegen deren schräger Lage werden zwar die Biegemomente der vertikalen Ebene stark redu-ziert, dafür entsteht jedoch Biegung in der horizontalen Ebene des Kranzes. Die

Stadion Zürich, Projekt 2000–2009Architekt Meili Peter Architekten, ZürichIngenieur Conzett Bronzini Gartmann Ingenieure, Chur / Basler & Hoffmann Ingenieure, Basel

Deviationen C

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Hohlkastenkonstruktion, welche die Inkorporation einer Reihe von Funktionen wie Logen und Skyboxen erlaubt, kann diese Biegung erheblich einfacher aufnehmen als eine ausschließlich vertikale Biegung, die bei einem Verzicht auf die Schrägstüt-zen entstanden wäre. Die enorme Torsionssteifigkeit dieses begehbaren Kasten-profils erlaubt eine zusätzliche Einspannung der Stahlfachwerkträger des Daches, die den Momenten entgegenwirken, die durch die schrägen Stützen und das punktförmige Eckauflager entstehen. Die ungeheuer aufwendigen rechnerischen Modellierungen für die Dimensionierung dieses hybriden Bauwerks erforderten eine maximale Disziplin in Bezug auf Veränderung und somit eine Unterdrückung eigener „origineller“ Beiträge: Wir sahen uns mit einem ingenieurwissenschaftli-chen Denken konfrontiert, das nicht so einfach die Dauerhaftigkeit und den Zusam-menhang einer Existenz gefunden hatte.3

3. Der Entwurf für ein Aussichtsrestaurant an einem Ort von spektakulärer Schön-heit bedingte einen noch tiefergreifenden Umbau des epistemologischen Feldes der Ingenieurwissenschaft. Eine solche mechanische Anlage ist weit über das Tech-nische hinaus ein bedeutender Schritt im Umbau der Berge: Sie ersetzt die Idee der Berghütte, welche eine Verschmelzung mit der Landschaft sucht, durch eine Panorama-Wahrnehmungsmaschine. Uns faszinierte die großartige Casa Girasole von Alfredo Invernizzi, in der sowohl das drehende, winkelförmige Haus den Blick in die Landschaft filmisch in Szene setzt als auch die Gestalt des Gebäudes selbst in der Landschaft bewegt wird. Weil das Restaurant azentrisch aufgelagert ist, führt die Drehbewegung den Körper in unterschiedlich weiten Ausladungen in die Land-

3 Gemeint ist damit einerseits der rechnerische Aufwand

für das hybride Tragwerk, auf welches verschiedenste

Kräfte und damit auch ver- schiedene Kräfteanalyse-

verfahren einwirkten: Dies er- forderte einen giganti-

schen Aufwand in einer CAD- Modellierung, und die

Konsequenzen einer noch so kleinen Veränderung, bei-

spielsweise einer Treppen- verbreiterung in einem

Pfeiler, waren selbst für die Ingenieure nicht voraus-

sehbar und bedingten wo- chenlange Rechenarbeit

am Computer. Vom Aufwand abgesehen, ist damit auch

die innere Stabilität des Mo- dellierungssystems selber

gemeint, das immer einen et- was prekären Zustand hatte,

im Gegensatz zu einem einfa- chen oder zumindest ein-

facheren Rechenmodell für einen Vierendeelträger.

Drehrestaurant Hoher Kasten, Appenzell

2004–2005Architekt Meili Peter

Architekten, ZürichIngenieur Conzett Bronzini

Gartmann Ingenieure, Chur

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schaft hinaus. In umgekehrter Richtung, von der Landschaft aus, wird das Berghaus wie eine mechanische Skulptur wahrgenommen, die ihre Form dauernd verändert. Vielleicht zeigt sich an diesem Projekt eine der Stärken des vielkritisierten deduk-tiven Theorieaufbaus in der Ingenieurwissenschaft, wurden doch mit dem System der sich im 18. Jahrhundert entfaltenden theoretischen Mechanik alle diejeni-gen technischen Objekte prinzipiell beherrschbar, deren physikalisches Verhalten vornehmlich durch die Gesetze der Mechanik determiniert sind. Die eigentliche Drehmechanik sollte im Innern auf dem zylindrischen Erschließungsturm angeord-net werden. Die Ausbildung des Tragwerks musste zwingend eine stabilisieren-de Funktion auf die einwirkenden Kräfte übernehmen, um eine einheitliche An-triebsmöglichkeit zu gewähren. Neben den ungleich verteilten Wind-, Nutz- und Schneelasten musste zudem noch der gegenüber der Drehachse asymmetrische Grundriss des obersten Restaurantgeschosses in die Ausbalancierung mit aufge-nommen werden. Aus diesem Grund weist das drehbare Auflager einen möglichst großen Durchmesser auf und liegt möglichst weit oben. Für den Schwerpunkt der drehenden Masse war umgekehrt eine möglichst tiefe Lage erwünscht. Erst nach längerem Variantenstudium zeichnete sich eine Lösung ab, welche die Stabilisierung des beweglichen Teils durch die Eigenlast der Konstruktion gewähr-leistete. Dadurch erübrigten sich die aufwendigen Sicherungen der beweglichen Lager gegen abhebende Sogkräfte. Das weit auskragende Dach, an dem auch der Restaurantboden aufgehängt ist, wird von einer Schar radialer, schiefer Holzstre-ben gestützt, die am äußeren Rand durch eine Art Zugring zusammengehalten werden. Die Dachfläche selber ist eine dünne, vorgespannte Betonscheibe, welche die Zugkräfte als Membran aufnimmt. Der eigentliche Drehmechanismus befindet sich auf der Decke des Betonzylinders und benötigt damit seitlich nur noch eine Führung mittels Rollen zur Distanzsicherung. Nach ersten Versuchen, das drehbare Gestell in der alten Tradition der Mechanik von Eisenbahnwaggons und anderen beweglichen Maschinen, wie etwa Hebewerken aus Stahl, auszubilden, erwies sich eine Lösung aus unterschiedlichen Bauteilen und insbesondere das Zusammenset-zen aus unterschiedlichen Materialien als leistungsfähiger. Dazu musste die vorge-fasste Meinung, die Konstruktion sei in einem einzigen Material und vor allem als Leichtbau zu gestalten, umgestoßen werden. Hier zeigte sich, dass, wie George Canguilhelm unermüdlich betont, die Probleme nicht notwendigerweise auf dem Terrain entstehen, auf dem sie ihre Lösung finden.

Deviationen C

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Die Geschichte des Fortschritts im Bauwesen ist auch die Geschichte der Werkstof-fe. Eisen, Stahl, Stahlbeton haben jeweils Revolutionen mit ganz neuen Tragwerken ausgelöst. Dazu gehört aber auch die Geschichte der Entwicklung neuer Technolo-gien. So hat erst die Entdeckung des Prinzips der Vorspannung den Spannbeton, hochfeste Schraubverbindungen sowie komplexe Seil- und Membrantragwerke er-möglicht. Gleiches gilt für die Entwicklung neuer Fügetechniken, die zu den heute so weit verbreiteten Verbundwerkstoffen führten. Vollends offensichtlich geworden ist der Einfluss neuer Technologien, seitdem die digitale Datenverarbeitung im Bauwesen Einzug gehalten hat. Manche Tragwerke sind seit diesem „Wendepunkt im Bauen“– wir entwerfen, berechnen, konstruieren, fertigen und montieren heute in einer geschlossenen Prozesskette computerunterstützt – überhaupt erst möglich geworden.

Verantwortung und Grenzen Der Bauingenieur ist allein zunächst für die Bau-werke zuständig, bei denen das Tragwerk wesentlichen Anteil am Ganzen hat, ty-pischerweise Brücken und weitgespannte Dächer. Der Beruf des Bauingenieurs ist herausragend, weil er, wie wenige andere, technisch-wissenschaftliches Können eng mit kreativem Schaffen verbindet und weil praktisch jeder Entwurf, ganz an-ders als in anderen Ingenieurdisziplinen, Prototyp bleibt. Der Bauingenieur trägt eine große Verantwortung, weil bereits einzelne Versäumnisse katastrophale Fol-gen haben können.Er ist darüber hinaus als „civil engineer“ für die gesamte gebaute Infrastruktur, die Energie- und Wasserversorgung, den Verkehr auf Straßen, Gleisen und Flüssen mit Tunneln, Brücken und Kanälen zuständig. Bei „seinen“ Projekten ist der Bauinge-nieur natürlich für den Entwurf zuständig. Wer es am besten kann, soll das Team führen. Es ist ein grobes Missverständnis, anzunehmen, der Architekt sei stets für die Gestalt und der Ingenieur nur für die Statik zuständig. Jeder ist in seinem Be-reich ganzheitlich verantwortlich, also auch für die Gestaltung.Die Bauingenieure müssen hierzu lernen, ihre Grenzen zu erkennen, zu erweitern, niederzureißen. Sie müssen sich rechtzeitig Unterstützung ins Team holen, wenn gestalterische Fragen sie überfordern. Sie müssen frühzeitig im Entwerfen und Konstruieren, und nicht nur im Berechnen und Dimensionieren, ausgebildet wer-den. Sonst werden sie das schlechte Image vom fantasielosen Statiker nicht los – das außerhalb Deutschlands übrigens gar nicht so schlecht ist. So ist in Spanien der „ingeniero de canales y puertos“ angesehen wie bei uns ein Arzt oder Rechtsan-walt. Aber auch in Deutschland tut sich mittlerweile einiges. Von Stuttgart bis Dort-

Jeder das SeineMike Schlaich

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mund, von Berlin bis Hamburg wird heute bei den Bauingenieuren Entwerfen und Konstruieren gelehrt. Kreative Köpfe, ernstzunehmende Partner im Planungsteam werden ausgebildet.Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass im Hochbau neben den Archi-tekten die Bauphysiker und die Gebäudetechniker immer wichtiger werden. Um ganzheitliche Qualität erreichen zu können, müssen auch sie von Anfang an ins Planungsteam eingebunden werden.

Kompetenzverluste Wir Bauingenieure wünschen uns Architekten, die diese Ziele teilen. Leider trifft man aber immer wieder auf Architekten, bei denen vom einst so vielseitigen Baumeister nicht viel übrig ist, weil sie zu viele Kompetenzen abgegeben haben. Damit ist nicht nur fehlendes Verständnis für das Tragwerk und dessen Umsetzung gemeint. Auch Themen wie Schall, Wärme, Feuchtigkeit sind an die Bauphysik delegiert, die technische Ausrüstung übernimmt der Haustechni-ker, den Innenausbau ein Szenograf, für den Ablauf von Planung und Bau gibt es Projektsteuerer und für die Ausschreibung „quantity surveyors“. Was übrig bleibt, treibt hilflos in einer Suppe von 3-D-Blasen. Der Architekt läuft Gefahr, zum Bild-chenmaler des Investors zu verkommen. Aus Wertheim wird Alexa.1

Zum Glück ist das nicht die Regel, und gelegentlich kommen wir im Team dem Ge-samtkunstwerk nahe. Ob das Ergebnis dann Leicht- oder Massivbau ist, hängt vom Kontext ab und dieser von den örtlichen Randbedingungen und natürlich auch vom gestalterischen Wunsch des Bauherren und der Planer. Wenn Schallschutz do-miniert, ergibt Leichtbau keinen Sinn, und für große Spannweiten wäre Massivbau der falsche Ansatz.

Die Suche nach dem Neuen In unserem Ingenieurbüro sind wir immer auf der Suche nach Neuem. Mit jedem Projekt versuchen wir, einen kleinen Schritt nach vorn zu gehen, uns weiterzuentwickeln. So bleiben die Aufgaben interessant und wir am Fortschritt im Bauwesen beteiligt. Wir bearbeiten Projekte des Hochbaus

Sunderland Strategic Transport Corridor,

New Wear Bridge, 2003Einhüftige, selbstverankerte

Hängebrücke mit Glasskulptur auf den Rückhalteseilen

Architekt Gehry Partners LLP, Los Angeles

Ingenieur Schlaich Berger-mann und Partner, Beratende

Ingenieure im Bauwesen, Stuttgart

1 Man vergleiche Alfred Messels Kaufhaus Wertheim in

Berlin mit dem kürzlich am Alexanderplatz gebauten

neuen Kaufhaus.

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und des Brückenbaus, weitgespannte Dächer und Anlagen zur Gewinnung solarer Energie. Wir versuchen den Bauingenieur als Generalisten zu leben. So kann es durchaus passieren, dass ein Ingenieur, der gerade eine Schrägseilbrücke bearbei-tet hat, als nächstes ein Glasdach zur Aufgabe bekommt. Das ist zwar anstrengend, weil man sich in ein neues Thema einarbeiten muss, aber dafür gibt es keine durch Wiederholung ausgelöste Langeweile und Demotivation. Der Reibungsverlust bleibt gering, weil im Team immer wenigstens einer die jeweils nötige Erfahrung mitbringt. Unser objekt- und werkstoffübergreifendes Arbeiten setzt interessante Synergien frei. So verwenden wir beispielsweise unsere ursprünglich im Hochbau gesammelte Erfahrung mit Stahlguss heute auch regelmäßig im Brückenbau, ge-nauso wie wir seilgestützte Dächer entwerfen, die wie Brücken tragen.

Leichtbau – aktiv und wandelbar Selbst wenn nun das Ergebnis des Entwurfs-prozesses nicht immer Leichtbauten sind, so kommen sie doch in unserer Arbeit recht häufig vor. Dies erstaunt nicht, weil wir Bauingenieure prinzipiell versuchen, mit einem Minimum an Material ein Maximum an Wirkung zu erzielen und Leicht-bauten aus ästhetischen und ökologischen Gründen überzeugend zeitgemäß sind: Leichtbauten zeigen den Lastabtrag auf natürliche Weise – wir haben gerne, was wir verstehen. Leichtigkeit wird mit Eleganz assoziiert, und je leichter und transpa-renter ein Tragwerk ist, desto weniger versperrt es die Sicht – wir fühlen uns nicht bedroht. Leichte Bauten sind arbeitsintensiv und per Definition ressourcenscho-nend. Bauen mit qualifizierten Arbeitskräften und mit geringem Materialverbrauch erlaubt Nachhaltigkeit.Leichtbau ist nichts Neues, und wir stellen uns die Frage, wie und wohin er sich weiterentwickeln wird. Eine Richtung ist sicher die der aktiven und wandelbaren Tragwerke, weil andere Industrien zeigen, dass auf diese Weise Sicherheit, Kom-fort und Energieverbrauch verbessert werden können. Neue (Mikrosystem-)Tech-nologien, wie sie in der Automobilindustrie schon erfolgreich eingeführt sind, und bionische Prinzipien, wie wir sie beispielsweise von Nanooberflächen kennen, wer-

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den sicher auch das leichte Bauen weiterbringen und dafür sorgen, dass unsere Tragwerke aktiv, wandelbar, smart, intelligent, autonom oder adaptiv werden. So wird hoffentlich auch die Forderung nach Nachhaltigkeit und Verbrauchsreduktion im Bauen an Bedrohlichkeit verlieren. Anstelle von bauphysikalisch begründeten, dickwandigen „Kisten“ mit schießschartengroßen Fenstern kann Neues und Inte-ressantes entstehen.Wettbewerbe bieten eine gute Möglichkeit, dieses Potenzial für Fortschritt auszu-loten und die Zusammenarbeit im Team von Architekten und Ingenieuren zu üben. Als Beispiele seien die zur Zeit (2010) laufenden Wettbewerbe der IBA Hamburg zu den Themen „smart materials“ und „smart houses“ genannt, bei denen die Teams konkret aufgefordert sind, sich mit diesen Fragen rund um neue Materialien und neue Technologien auseinanderzusetzen.

Landmarke und Effizienz Als ausgesprochen stimulierend und lehrreich habe ich auch einen Brückenwettbewerb in Erinnerung, den wir 2003/2004 mit Frank O. Gehry machen durften. Für den Entwurf einer Brücke in Sunderland, Nordengland, trafen wir uns zu einem zweitägigen „workshop“ in Gehrys Büro in Santa Monica, USA. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Welten, wir skizzierten und Gehry faltete, wir dachten an das effiziente Brückentragwerk und Gehry an die Landmar-ke, führte zu einem außergewöhnlich fruchtbaren Dialog und einem Resultat, das sich, wenn auch nie gebaut, wirklich sehen lassen kann. Eine einhüftige und selbst-verankerte Hängebrücke spannt rund 300 m weit über den River Wear. Neuartig sind die Schlaufenseile, die im Bereich des Mastes zum Überbau geführt werden und so zu kurzen Hängern und einem effizienten Tragwerk führen. Die Rückhal-teseile, die landseitig den Mast stabilisieren, bilden gleichzeitig das Tragwerk für

Sunderland Strategic Transport Corridor,

New Wear Bridge, 2003Blick auf die „loop cables“

und die GlasskulpturArchitekt Gehry Partners LLP,

Los AngelesIngenieur Schlaich Berger-

mann und Partner, Beratende Ingenieure im Bauwesen,

Stuttgart

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eine rund 100 m hohe Glasskulptur, die die Flussquerung von weitem erkennen lässt und an die Tradition der Glasherstellung in Sunderland erinnern soll.Bei diesem Wettbewerb ist aus dem Dialog der Konstrukteure ein formal und tech-nisch anspruchsvoller Entwurf entstanden. Diese Kultur des Dialogs müssen wir pflegen. Er ist sinnvoll und erfolgversprechend, wenn er von Neugierde, Respekt und Diskussionsbereitschaft geprägt ist.

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Das von Judit Solt geführte Interview mit den Architekten Elisabeth und Martin Boesch, dem Bauin-

genieur Carlo Galmarini und dem Geometrieingenieur Urs B. Roth fand am 13.5.2011 statt.

Judit Solt Ein Team bestehend aus Architekten, Bauingenieur und Geome-trieingenieur ist ungewöhnlich – schon deswegen, weil „Geometrieingeni-eur“ kein gängiger Beruf ist, sondern eine Tätigkeit, die sich auf das Lösen mathematischer und insbesondere geometrischer Probleme konzentriert.1

Ihr arbeitet nun schon das zweite Mal in dieser Konstellation zusammen. Wie ist es dazu gekommen?

Architekten Carlo Galmarini haben wir beim Entwurf des Pavillons „OUI!“ an der EXPO.02 kennen gelernt. An diesem Werk war Urs B. Roth noch nicht betei-ligt, aber die nicht alltägliche Geometrie des einen Gebäudeteiles hat uns damals schon beschäftigt. Es handelte sich um einen Wald von Stützen, die ein dünnes Dach tragen. Die Unordnung der Stützen ist nur eine scheinbare: Die Setzung und die Farbigkeit der Stützen gehorchten einem System, das zwar keinen mathema-tischen Regeln folgte, aber sehr wohl einer eigenen Geometrie verpflichtet war. Die Stützen waren nach räumlichen, empirisch entwickelten Parametern angeord-net. So standen die Stützen im ersten Abschnitt sehr locker und verdichteten sich danach zu einem undurchsichtigen Wald. Es hätte vermutlich eine Vielzahl von Stützenstellungen gegeben, die unseren Kriterien ähnlich gut entsprochen hätten – aber noch viele mehr, die sie nicht erfüllt hätten. Der Ingenieur hat sich vom Fehlen eines Rasters nicht beirren lassen. Er hat sich auf unseren scheinbar zufälli-gen Stützenwald eingelassen, ihm seine Kriterien überlagert, uns seine Spielregeln mitgeteilt und uns korrigiert, wenn eine Stütze aus statischen Gründen anders plat-ziert oder dicker sein musste. Diese Zusammenarbeit zur Ermittlung des räumlich-statischen Wirkens war ergiebig. Nachträglich wurden wir häufig gefragt, ob wir den Pavillon gemeinsam mit einem Künstler entworfen hätten.

Bauingenieur „Form follows function“ haben wir alle tausendfach gehört. Aber eine Aufgabe wirklich zu begreifen heißt, sie von vielen Seiten anzuschauen und alle ihre Funktionen zu verstehen, unter anderem auch die Tragfunktion. Beim Ex-po-Pavillon sollten 9 Meter hohe Stützen ein möglichst dünnes Dach tragen, wo-bei der Bau am Ufer des Neuenburger Sees zum Teil starken Winden standhalten musste. Die Tragfunktion hatte daher verschiedene Implikationen. Es bestand eine Beziehung zwischen der Stärke des Daches und dem Rhythmus der Stützen: Je

Spielräume–SpielregelnElisabeth und Martin Boesch, Carlo Galmarini, Urs B. Roth und Judit Solt

1 Judit Solt, Kein Mensch wartete auf mich!, in: TEC21 – Zeitschrift für Architektur, Ingenieurwesen und Umwelt 7/2010. Zürich: Verlags-AG der akademischen techni-schen Vereine 2010, S. 12–13

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größer die Lichtungen im Stützenwald, desto dicker das Dach. Aber auch zwischen den unterschiedlichen Dicken der Baumstämme gab es eine Wechselwirkung, weil sie in der Summe der Windbeanspruchung widerstehen mussten. Die Stützen er-füllten dabei unterschiedliche Aufgaben: Unter Windbeanspruchung hielten die dicken das Dach, die dünnen dagegen hängten sich daran. Die dicken waren wie Baumstämme, nur im Boden verwurzelt; die dünnen mussten auch oben stabilisiert werden.

js Beim Wettbewerb für die Erweiterung des Orientalischen Seminars und die Abteilung Indologie des Indogermanischen Seminars der Universität Zü-rich habt ihr wieder zusammengearbeitet. Auch hier galt es, eine auf den ersten Blick chaotische Form statisch und gestalterisch in den Griff zu be-kommen – diesmal mit Hilfe von Urs B. Roth.

Architekten Neben kleineren Ertüchtigungen am Altbau, einer 1863 vermutlich von Leonhard Zeugheer errichteten Villa, bestand die Aufgabe darin, eine unter-irdische Bibliothek zu bauen. Entgegen den Vorgaben im Wettbewerbsprogramm haben wir diese unter der Vorfahrt auf der Bergseite angeordnet. Dies hatte den Vorteil, dass der Garten erhalten blieb und gleichzeitig die innere Wegführung schlüssig gelöst werden konnte. Es bedeutete aber auch, dass der Bau dem Hang-druck widerstehen und dem Wurzelwerk zweier alter Bäume ausweichen musste. Die Reaktion auf die Gegebenheiten des Terrains bildeten sich im Grundriss ab. Schon in der Wettbewerbsphase hatten wir den Wunsch, auch der Decke ein Relief zu geben; zudem sollte sie ungerichtet sein, stützenfrei und wie ein Himmel über dem Raum ruhen sowie einen formalen Bezug zu Orient und Islam haben. Das Referenzbild für unsere Vorstellung einer geometrisch-räumlichen Behandlung der Deckenfläche bildete eine Zeichnung von Sol LeWitt. Weil der Raum ziemlich groß war und sich unter der Vorfahrt befand, auf der auch Lastwagen zirkulierten, musste die Decke vorgespannt sein. Den Verlauf der Vorspannkabel galt es ins Relief zu integrieren. Umgekehrt sollte dessen Form auch statisch begründet sein. Wir woll-ten kein willkürliches Muster, sondern eine echte Geometrie, in der alle Vorgaben – Ungerichtetheit, Stützenfreiheit, topografische und formale Bezüge, Statik – zu

Expo.02 Pavillon „Oui“, 2002

Architekten E. & M. Boesch Architekten, Zürich

Ingenieur Walt + Galmarini Bauingenieure, Zürich

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Continuous Forms and Color, 1988Gouache on Paper, Sol LeWitt

Umbau Villa Rämistraße 66 für das Institut für Islamwissenschaften, Universität Zürich, Projekt 2004Architekten E. & M. Boesch Architekten, ZürichIngenieur Walt + Galmarini AG Bauingenieure, ZürichGeometrieingenieur Urs B. Roth, Zürich

Deckenrelief der unter-irdischen Bibliothek Axonometrie der unter-

irdischen Bibliothek Grundriss Untergeschoss

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einem Ganzen verschmelzen. Damit sind wir an Grenzen gestoßen und haben den Geometrieingenieur beigezogen.

Geometrieingenieur Eine unglaublich schöne Aufgabe: eine stützenfreie, struk-turierte Decke, unter der historische islamische Schriften lagern! Wer sich mit Geo-metrie beschäftigt, kennt die Raffinesse der orientalischen Muster. Eine Anleihe aus diesem Kulturraum für das Relief kam für mich nicht in Frage. Vielmehr wollte ich als Westeuropäer, der sich mit Geometrie beschäftigt, etwas Neues kreieren, das von der Stimmung her diesen orientalischen Himmel wiedergibt. Als die Ar-chitekten mir den Grundriss zeigten, war meine erste Frage: Muss es genau diese Form sein? Ich wusste, dass die Außenwand um die Wurzelstöcke der Bäume he-rum verlaufen musste; ich wollte nur etwas Spielraum, um das Muster so zu entwi-ckeln, dass es auch an den Rändern aufgeht. Die Architekten waren einverstanden unter der Bedingung, dass die Abweichung klein blieb. Meinen ersten Vorschlag nannte ich Berg und Tal. Er bestand aus versteckten flachen Pyramiden, die sich überlagert haben, dazwischen lagen tiefe Täler. Der Bauingenieur hat einen Blick darauf geworfen und sofort Nein gesagt. Die Spannkabel hätten im Zickzack ver-laufen müssen, was nicht geht.

Architekten Spannkabel sind normalerweise gerade …

Bauingenieur … genauer: Sie sind meistens nur vertikal gebogen.

Geometrieingenieur Aber ein Muster, das die geraden Linien der Spannkabel aufgenommen hätte, wäre auch gerichtet gewesen. Der Ingenieur hat eine Lö-sung vorgeschlagen, bei der die Spannkabel horizontal leicht geknickt sind, wie ein flaches S. Ein ganz wenig verwinkeln ist offenbar möglich, aber ohne scharfe Kanten, und vor allem nicht in der Mitte des Raumes, wo die Spannkabel am tiefs-ten hängen. Da habe ich begriffen, dass ich andersherum denken und von den flachen S der Spannkabel ausgehen muss, um das Muster für das Relief zu finden. Gleichzeitig wollten die Architekten aber nicht, dass man lauter Schlangenlinien sieht, wenn man es anschaut. So bin ich auf das Polyeder-Pattern gekommen. Es enthält zwar die Schlangenlinien, aber der Clou ist, dass man sie nicht beachtet: Das Auge ist abgelenkt, es fokussiert auf die Felder anstatt auf die Ränder. Um zu überprüfen, ob die Grate dick genug waren, um die Spannkabel aufzunehmen, habe ich einen horizontalen Schnitt durch die Schalung gezeichnet. Das Bild er-innert an ein Flussbett, aus dem große Steine ragen, zwischen den Steinen fließt das Wasser – die Zwischenräume wären tatsächlich groß genug gewesen, um die Spannkabel aufzunehmen.

Bauingenieur Der Geometrieingenieur hat verstanden, dass man eine weitge-spannte Decke, die hohe Belastungen aushalten muss, vernünftigerweise auflöst. Bei einem rechteckigen Grundriss hätte man eine Hourdis- oder eine Unterzugsde-

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cke gewählt. In diesem Fall fließen die Kräfte aufgrund der Form des Raumes dy-namischer. Um zu einer wirklich guten Lösung zu kommen, mussten die statischen Funktionen klar sein. Die Architekten und der Geometrie-Spezialist wollten verste-hen, was es mit der Tragfunktion auf sich hat. Letztlich ist die Form der Tragfunktion gefolgt: Es ist sinnvoll, das Gewicht zwischen den Rippen der Decke auszudünnen – nur sind es nicht ganz gewöhnliche Rippen …

Architekten Das Muster mit den Polyedern hat zwar eine grobe Ausrichtung, enthält aber weder Geraden noch Unterzüge. In den Graten, wo die meiste Masse ist, konnten die Spannkabel angeordnet werden. Außer den Spannkabeln musste auch die übrige Armierung untergebracht werden. Die Vorstellung, dass jemand für diese komplizierte Form einen Armierungsplan zeichnen und auf der Baustelle die Eisen platzieren sollte, schien uns schwerfällig. Machbar ist vieles, aber musste das sein? Der Vorschlag des Bauingenieurs, Stahlfaserbeton einzusetzen, führte schließlich zu einer Lösung, die von der Idee bis zur Realisierung äußerst elegant gewesen wäre.

js Beim Bau der neuen Treppen für die frisch sanierte Hardbrücke in Zürich bildet ihr wieder ein Team. Hier kommen gleich zwei verschiedene geomet-rische Systeme und sehr besondere statische Anforderungen zusammen …

Architekten Wir haben uns Treppenläufe aus Beton vorgestellt, die elegant be-wegt wirken, die sich sozusagen schwungvoll vom Turm her abwickeln. Es sollten keine Wendeltreppen sein, auf denen man sich im Kreis bewegt. Unten greift un-sere Treppe ausladend in den Stadtraum aus, nach oben zur Brücke hin verengt sich der Radius, sie schmiegt sich an den Liftturm. Anfangs wurde die Umsetzung dieser gestalterischen Vorgaben von den damaligen Statikern als nicht realisier-bar abgelehnt. Stützen unter dem Treppenlauf oder Einhängeträger, welche die Bewegungen der Brücke aufgenommen hätten, schienen unumgänglich. Der neu hinzugekommene Bauingenieur schlug vor, sie auskragend zu bauen. Damit war das Konstruktionsprinzip geklärt. Bleibt die Form – eine Art Spirale, die sich auch in der dritten Dimension bewegt. Die Verkehrsingenieure sprachen von Klothoiden. Wir kannten das Wort gar nicht … Es gab zwei Hauptschwierigkeiten. Erstens: Die Treppe steht im öffentlichen Raum, also muss sie neben hohen gestalterischen Standards auch allen Sicherheitsvorgaben genügen. Weil sie keine Podeste hat, muss sie bequem sein wie eine Prachttreppe in einem Palast; dazu unterhaltsarm, robust und dauerhaft. Nichts weniger als die perfekte Treppe! Zweitens: Wie be-schreibt man diese Klothoide, und wie baut man sie?

Geometrieingenieur Eine Klothoide ist eine Kurve, deren Radius sich linear vergrößert und verkleinert. Im Straßenbau wird sie oft gebraucht, doch für eine Treppe gibt es Besseres. Die logarithmische Spirale, die in der Natur zum Bei-spiel bei Nautilusschnecken vorkommt, hat alle nötigen Eigenschaften. Ihr Radius

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verändert sich nicht nur kontinuierlich, sie hat zusätzlich auch eine innere Logik, die eine schöne Lösung des Treppenproblems ermöglicht. Jede Radiale, die man vom Zentrum einer logarithmischen Spirale aus zieht, schneidet jede Wicklung im gleichen Winkel. Dieser konstante Winkel bestimmt die Form der Spirale, und die Spirale selbst wird einer geometrischen Folge entsprechend immer im gleichen Faktor größer. Ausgewählt habe ich eine ganz besondere, die so genannte sich selbst generierende logarithmische Spirale. Es ist diejenige logarithmische Spi-rale, deren Tangente die nächste Wicklung orthogonal schneidet. Die Radialen werden zur Schalungsrichtung der Unterseite. Dieser Grundgeometrie musste eine zweite Geometrie überlagert werden. Das Treppenverhältnis verlangt unbedingt ein Gleichmaß, keine Progression. Daraus entstand eine antilogarithmische lineare Teilung der Kurve.

Architekten Die Schalung der Untersicht besteht aus lauter gleichen, schmalen Brettern, die das Schichten in die Höhe veranschaulichen. Der Schalungsbauer wäre zwar in der Lage gewesen, eine glatte Schalung herzustellen, doch wollten wir die versteckte Geometrie physisch zum Ausdruck bringen.

Geometrieingenieur Die Überlagerung von zwei Richtungen für Ober- und Un-terseite der Treppe hat eine weitere Folge: Im Schnitt ergibt sich eine Verjüngung nach außen. Das ist statisch sinnvoll, weil es sich um einen Kragarm handelt; die größten Drehmomente sind auf der Innenseite. Und auch in Bezug auf die Ästhetik ist das sinnvoll, denn die Treppe sollte möglichst leicht erscheinen. Die innere Lo-gik der gewählten Geometrie stimmt mit jener der Treppe überein.

Bauingenieur Aufgrund der bildlichen Vorstellung der Architekten war klar, dass die Treppe wie eine Feder tragen sollte und Torsionssteifigkeit braucht. Die Trep-penstufen liegen auf auskragenden Winkeln und sind darum bei der inneren Wan-ge am stärksten. Die architektonische Idee, die statische Funktion und die mathe-matische Form kommen zur Deckung.

js Ihr habt den Anspruch, die verschiedenen Aspekte eines Projekts so zu verzahnen, dass sie ohne einander nicht denkbar sind. Sowohl bei der Bib-liothek als auch bei der Treppe ist dieses Korrespondieren nachvollziehbar. Dennoch vermeidet ihr jede didaktische Geste. Der Betrachter kann bei-spielsweise den Kräfteverlauf in der Bibliotheksdecke ablesen, wenn er das wünscht, aber die Erkenntnis drängt sich nicht auf. Und was die Nautilus-schnecke betrifft …

Architekten Plakative Darstellungen interessieren uns nicht, die Zusammenhän-ge sollten in einer subtilen Art verständlich sein. Schließlich müssen Bauten auch ohne Erklärungen der Projektverfasser wirken, gleichsam subkutan, und sich bei genauem Hinsehen von selbst entschlüsseln.

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Treppenaufgänge Hardbrücke, Zürich 2011Grundriss mit Überlagerung von Auf- und Untersicht.

Jede Radiale vom Zentrum einer logarithmischen Spirale schneidet die Wicklungen im gleichen Winkel. Bei der sich selbst generierenden logarithmischen Spirale ist dieser Winkel orthogonal.

Beispiel für eine logarith-mische Spirale in der Natur: Nautilusschnecke

Logarithmische Spirale k = 4,78936902918 × 10-3

Antialgorithmische Teilung 17 / 26 / 40Gute Annäherung an a = 1,53886204679

Treppenaufgänge Hardbrücke, Zürich 2011Architekten E. & M. Boesch Architekten, ZürichIngenieur Walt+Galmarini AG Bauingenieure, ZürichGeometrieingenieur Urs B. Roth, Zürich

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Geometrieingenieur Manches bleibt naturgemäß unsichtbar. Die Spannkabel in der Bibliotheksdecke sieht man im fertigen Bau nicht, man kann lediglich ablesen, wo sie vernünftigerweise verlaufen sollten. Die mathematischen Gesetzmäßigkei-ten des Deckenreliefs interessieren die meisten Besucher nicht, aber ein Mathema-tiker kann sie anhand der vorhandenen Indizien rekonstruieren, inklusive Proporti-onalsystem.

js Im Nachhinein klingt das alles ganz selbstverständlich. Dass die Biblio-thek auf den Hangdruck und die Bäume im Park reagiert, dass der Aufbau der Decke statischen Gesetzen gehorcht, dass das Muster mit dem Inhalt der Bibliothek zu tun hat und die Grate mit dem Verlauf der Spannkabel übereinstimmen – natürlich. Dass eine Treppe im öffentlichen Raum einla-dend, sicher und bequem ist, dass die Herstellung der Schalung und die Anordnung der Stufen dem gleichen geometrischen Prinzip gehorchen – wie sollte es anders sein? Doch in dieser Einfachheit steckt viel intellektuelle Leistung. Die Projekte sind unglaublich verdichtet, jede Einzelheit ist mehr-fach mit Bedeutung und Funktion besetzt.

Architekten Das Wort Verdichtung ist treffend. Was wir gemeinsam suchen, ist die „solution élégante“. Oder wie es bei Le Corbusier heißt: „très difficile, mais satisfaction de l’esprit“. Das macht uns Freude, die Schwierigkeit muss am Ende nicht ersichtlich sein.

Geometrieingenieur Die zwei sich überlagernden geometrischen Ordnungen der Treppen haben uns unendlich viel Arbeit gekostet. Welcher Passant nimmt sie schon wahr? Wenn das Ergebnis so selbstverständlich daherkommt, ist das doch perfekt. Wir kennen das Geheimnis, wir müssen es nicht herausposaunen …

Bauingenieur Schöne Projekte entstehen immer gleich: Man versucht, eine Auf-gabe in allen Funktionen zu begreifen, und entwickelt Regeln, die möglichst viele dieser Funktionen auf einmal wahrnehmen.

Treppenaufgänge Hardbrücke, Zürich

Querschnitt Treppenlauf

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js Diese Verdichtung bedingt ein partnerschaftliches Zusammenwirken zwischen Architekten und Ingenieuren. Ihr sucht die „verständige Einmi-schung“, wie ihr sie nennt, in euren jeweiligen Kompetenzbereich. Wie muss man sich eure Zusammenarbeit vorstellen? Ist sie so konfliktfrei wie das Ergebnis?

Architekten Die Arbeit in dieser Konstellation ist anregend. Die Federführung liegt zwar bei uns Architekten, aber wir sind offen für jeden klugen Input. Und wenn einer unter uns erklärt, weshalb etwas nicht geht, dann soll das Unmögliche nicht erzwungen werden. Sturheit blockiert.

Geometrieingenieur Wichtig ist, dass jeder seinen eigenen Aufgabenbereich hat. Wir ergänzen uns gut.

Bauingenieur Konfliktfreiheit ist wichtig. Wenn die Arbeit im Team Freude macht, funktioniert die Interaktion, jeder reagiert auf den anderen. Dann ist es auch egal, von wem welches Argument kommt – meist hat ohnehin keiner von Anfang an die endgültige Idee. Manchmal entsteht eine komplizenhafte Freude am gemeinsamen Werk. Bei den Hardbrücke-Treppen zum Beispiel kragt der Steg, der von der Treppe auf die Brücke führt, einem Sprungbrett ähnlich 7 Meter aus. Er muss elastisch genug sein, um sich den beträchtlichen Bewegungen der Brücke anzupassen. Wir finden es besonders schön, dass unser Steg, unser dünnes Krag-ärmchen, einen winzigen Beitrag zur Stabilisierung der Brücke leistet: Senkt sich die Brücke, zieht der Steg sie ein ganz klein wenig hoch, hebt sie sich, drückt der Steg sie ein ganz klein wenig hinunter.

Architekten Mit Idealisierungen sollte man vorsichtig sein – aber es ist eine äußerst befriedigende und effiziente Art zu arbeiten!

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