LA FAMILIAUndine Bandelin
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„Fussball“ Siebdruck/ Mischtechnik auf Leinwand
180 x 230 cm2010
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Der Rasenmähermann
er schiebt seine Maschine über den Rasen
er kann mich beobachten
es ist kalt
ich fahre mit dem Besen darüber. Der Rasen ist zu glatt
ICH HALTE DIESES GESCHÖPF in meinen Armen,
will den anderen das Gesicht zeigen.
ES KRABBELT mir den Rücken hinauf, ich kann es
nicht halten. Ich habe es selbst nicht gesehen.
Er bestraft die, welche schlecht arbeiten und seinen Rasen
nicht ordnungsgemäß reinigen
mit einer Art Gartenschere
der Rasen ist kurz und glatt wie ein Teppich, wie ich weiter
mit dem stumpfen Besen darüber streiche
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„Familienalbum“Mischtechnik auf Leinwand
180 x 230 cm2010
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Die Zimmergenossin
Ihr Auge bohrt sich durch den Rücken von C in mein Gesicht.
Sie wird uns nicht in Ruhe lassen, sie wird immer da sein, die Zimmergenossin.
Unscheinbar wird sie in der Tür stehen, ausgehbereit, man wird die Tür
in´s Schlosse fallen hören. Doch dann, wenn die ersehnte Ruhe eintreten
könnte, spürt man sie wieder, im anderen Zimmer. Sie tut nichts. Sie sitzt
ganz still und wartet. Doch ihre Anwesenheit dringt wie lähmendes Gift
durch die Wände.
Nun spüre ich sie hinter uns im Bett liegen. Vorsichtig hebe ich den Kopf und
schaue über den Körper von C. Da liegt sie, zusammengerollt wie ein Igel,
das eine Auge geschlossen, das andere aufgerissen und die glasige Pupille
auf uns gerichtet.
Der Opernauftritt
Kurz vor der Opernaufführung soll ich noch einen Text einstudieren. Ich
habe die Rolle des strengen Vaters.
Eine Frau führt mich durch einen Saal, der in ein grell-blendend buntes Licht
getaucht ist. Am Rande des Saales wanken Figuren in einer Art Winterschlaf,
aus dem sie erst zu Beginn der Oper erweckt werden. Andere sind schon
wach, sie nähern sich uns langsam und beginnen uns zu umtänzeln. Die
Frau erklärt mir die Rolle und die Geschichte jeder Gestalt. Diese lachen uns
dabei aus ihren schillernd bunt geschminkten Gesichtern an, wenden sich
ab und verschwinden, drehen sich in ihren leichten Kostümgewändern.
In der Mitte des Saales steht ein Wesen, eine Mischung aus Vogel und
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„Die Essensausgabe“Mischtechnik auf Leinwand
230 x 180 cm2008
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Mensch. Es kreischt aufgeregt und fixiert dabei jeden unserer Schritte mit seinen Augen.
Inmitten des Gesichtes prangt ein enormer Schnabel, verzückt starr lächelnd. Seine Arme
oder Flügel enden in riesigen Triangelstäben, welche das Wesen immer wieder mit einem
lauten Scheppern zu Boden fallen lässt.
Ich bekomme meinen Text von der Frau. Doch die Worte sind ohne Sinn, vielleicht auch
fremde Formeln. Die Worte stehen auf dem Papier aufgereiht zwischen unterschiedlich
langen Freizeichen und leeren Abschnitten. Ich kann daraus weder schlussfolgern, wann
ich zu sprechen habe, noch bleibt irgendetwas von den Buchstaben in meinem Gedächtnis
hängen.
Wie ich murmelnd versunken und ergebnislos versuche, mir diesen Text einzuprägen, gelange
ich zu einer riesigen Tür.
Die ersten neugierigen Zuschauer drängeln sich dahinter, wollen sich schon mit Gewalt
Eintritt verschaffen. Neugierig schieben sich schon erste Köpfe in den Raum. Es ist noch zu
früh! Von mir zurückgedrängt, kann ich den Zugang wieder vor ihnen versperren. Doch es
rumort dahinter, beginnt anzuschwellen. Es werden ihrer zu viele.
H
H möchte uns umbringen. Wir befinden uns in einem kahlen Raum, eine Küche. Von der
Decke hängen Seile mit Schlingen, welche Reih an Reih an oben angebrachten Eisenhaken
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„Der Chor“Mischtechnik auf Leinwand
180 x 230 cm2008
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befestigt sind.
Wir sollen uns selbst erhängen H hat die Anweisungen dazu gegeben und
ist verschwunden. Die Szenerie hat eine erschreckende Normalität, keiner
traut sich auszubrechen.
Gleichzeitig ist H eine verrückte Frau. Sie agiert im Halbdunkel des Raumes.
Ich bekomme sie nicht wirklich zu Gesicht, ich sehe bloß dann und wann
ihren Lockenkopf hinter der grauen Küchenwand auftauchen.
Gemurmel wird laut. Die verrückte Frau lässt eine Schlichterin zu. Sie kommt
gehetzt und besorgt auf uns zugelaufen. Ich habe vor Angst geweint, wische
mir die Tränen vom Gesicht. Ich erzähle der Schlichterin, dass, wenn die Frau
uns aufhängen will, ich ihr ins Gesicht schlagen und fliehen werde. Doch
die anderen wollen nicht, dass ich Gewalt anwende. Die anderen würden
sich sogar erhängen lassen, bloß damit die Äußerlichkeit dieser absurden
Situation nicht gestört wird.
Die anderen akzeptieren lediglich, dass die verrückte Frau von der
Schlichterin überzeugt wird. Sonst nichts. Als wir nun mit der Schlichterin
sprechen, fällt mir auf, dass die verrückte Frau ein großes Messer von der
Küchentheke entwendet hat.
Sie könnte uns mit dem Messer zwingen, uns die Schlingen umzulegen. Ich
könnte ihr nicht ins Gesicht schlagen.
Ich stürze aus der Tür. Mir bleibt nur noch die Flucht. Ich höre hinter mir
die angstvollen Schreie der anderen, ich solle zurückkommen, man müsse
mich einfangen.
Verunsichert verlangsame ich meine Schritte. Ich überlege, umzukehren.
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„Vogel“Mischtechnik auf Papier
30 X 20 cm2010
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Ausstellungseröffnung
Das Dunkelblau des Himmels färbt sich zu einer schwarzer Nacht.
Hier drinnen ist es hell und viele Leute sind gekommen. Sie schauen meine
Bilder an, die vom Boden bis zur Decke in das Zimmer hinein strahlen.
Sie sind gar nicht von mir. Es ist zu spät, das zu sagen. Ich schweige. Am
Rande des Ateliers stehend, beobachte ich das Publikum.
Die Besucher nehmen Pinsel in die Hände und beginnen auf den Bildern
herumzumalen, Terpentin daraufzukippen und sie zu zerstören. Weiter
drehen sie ihre Runden, die Arme hinter dem Rücken verschränkt,
den Kopf begutachtend zur Seite geneigt, nicken sie dann und wann
wohlwollend oder stehen in kleinen Grüppchen in Gespräche vertieft.
Ein älterer Herr geht an meinen Bildern vorbei, wirft ein prüfenden Blick
darauf, indem er seine Brille ein wenig die Nase herabschiebt und seine
Augen zusammenkneift. Schließlich entdeckt er mich in der Ecke, gibt
einen Laut des freudigen Erkennens von sich und steuert auf mich zu.
Sein Kopf kommt ganz dicht an den meinen heran. Übergroß sehe ich sein
Lächeln, seine Zähne, seine weißen Bartstoppeln. Ich höre ihn Worte der
Anerkennung sprechen, der Ermutigung Fortzufahren. Ein Theaterstück
beginnt.
Man darf nicht sagen, was gespielt wird, es wäre Verrat an der Situation.
Die Schauspieler gehen um die Tische, sagen ihre Verse auf, ich höre
gespannt zu.
Diese Szene habe ich schon einmal erlebt. Entsetzen lähmt meine Beine
und ich lasse mich kreidebleich an der Wand herunter gleiten.
Ich muss hinaus – in die Nacht, vor die Ateliertür. Von hier aus sehe ich
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„fliegen“Mischtechnik auf Papier
32 x 25 cm2009
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das helle Licht der strahlenden Eröffnung, die Schatten der Menschenmenge. Die Mündung
einer Straße in eine andere. Es begrüßt mich ein junger Mann. Wie ich mich zu ihm umdrehe,
schlägt er mir sofort ins Gesicht. Ich fliehe, will zurück zur Tür, doch sie ist verriegelt, ich kann
nicht mehr hinein. Eine Frau packt mich, als ich weglaufen möchte.
Die Besucher und die Theaterschauspieler pressen nun neugierig ihre Gesichter gegen die
gläserne Scheibe, schirmen ihre Gesichter mit den Händen ab, um eine besseren Blick auf
das neue Geschehen zu bekommen. Freudiges Lächeln umspielt ihre Gesichter. Faustschläge
prasseln weiter auf mein Gesicht nieder.
Das Irrenhaus
Ich bin in ein riesiges Irrenhaus eingeliefert worden, weil ich Heroin genommen hatte. Dabei
hielt ich bloß ein Wasserglas in der Hand, aus dem ich aber nichts getrunken hatte.
Man packte meine Hände von hinten, ich schrie wie wahnsinnig und befand mich kurz
darauf in einem großen Haus, wie eine Schule, aber drinnen war es dunkel und randvoll mit
Menschen, die wirklich verrückt waren – ein Irrenhaus. In der Mitte des Saales, in welchem
die ganzen Menschen mit einem ungeheuren Getöse hin- und her rannten, sich gegenseitig
rauften und schlugen, stand ein enormes Podest. Es war von der Drogenberaterin. Sie stand
steinern in der Höhe, die Arme gerade auf den Sockel gestützt, die Augen starr über den Pulk
unter ihr gerichtet.
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„Betthupferle“Mischtechnik auf Papier
25 X 32 cm2010
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Ich wollte nicht zu ihr, ich hatte sogar Angst, dass sie mich sieht, denn ich hatte ja gar
kein Heroin genommen. Mich an ihr vorbei schleichend, geriet in die Gänge unter der
Erde, in ein Labyrinth von Schächten, die Wände waren kahl und es war kein Ausgang zu
sehen. Es ging nur immer tiefer hinein und es wurde immer dichter von Menschen, die
sich drängelten und anschrien.
Der Berg
Ein riesiger Pilgerstrom wandert durch eine hügelige Landschaft in Richtung eines
riesigen, die endlose Weite überragenden Berges. Die Menge bewegt sich zielstrebig
auf einen kleinen Eingang am Fuße des Berges zu. Doch in Wirklichkeit ist dies kein Berg,
sondern eine riesige, steinerne, mit gespreizten Beinen daliegende Frau. Der Ausgang ist
nicht zu sehen, die Menschen kommen nicht mehr aus ihr heraus.
Die Menschenmassen drängen sich langsam vorwärts – ich in ihrer Mitte – und nähern
sich Schritt für Schritt dieser Riesin. Als ich an den Eingang gelange, entdecke ich ein
Schild, mit der Information, dass sie von halb zwölf bis zwölf geschlossen hat.
Mit dem Strom von Leibern schiebe ich mich durch die Eingangstür, zwänge ich mich die
schmale Treppe hinauf. Hinter einer kleinen Tür, am Ende dieser Treppe, stehe ich auf
einmal alleine in einem Raum. Staunend über seinen Anblick bleibe ich auf der Schwelle
stehen: Der Raum ist aus einer ausgedehnten Kuppel, die aus lauter kleinen Achtecken
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„Sitzung II“ Siebdruck/ Mischtechnik auf Leinwand
80 x 100 cm2010
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besteht. Eine gläserne, farbige Hohlkugel glitzert aus dem Inneren des Raumes hervor.
Das Licht ist schummrig, doch nicht bedrohlich. Aus allen Ecken und Enden schimmern
die unzähligen kleinen Kanten hervor.
Durch diesen Raum hindurch wandernd, gelange ich in den nächsten Raum – und
wieder in den nächsten – immer wieder öffne ich neue Türen, entdecke ich tausende
von unterschiedlichen Räumen im Inneren: mit verschiedenen Farben, krummen oder
geraden Böden, leeren und kahlen Wänden sowie Gemächern, die ausgestattet sind
mit Matratzen und prunkvollen Teppichen. Manchmal sind die Räume merkwürdig
verschoben, wie ineinander verschmolzen. Das eine Mal sind sie gefüllt mit Menschen,
das andere Mal sind sie völlig leer. Doch wenn ich anderen Menschen begegne, kann ich
sie nicht verstehen, als ob sie eine fremde Sprache sprächen.
Ich wandele von Zimmer zu Zimmer, doch je weiter ich vordringe, desto mehr muss ich
feststellen, dass es mir unmöglich ist, aus diesem Labyrinth wieder hinaus zu finden.
Bei dem Versuch, mich zu orientieren, einen möglichen Weg zu finden, gelange ich bloß
noch tiefer in die dunklen Höhlen hinein. Ein Irrgarten.
Schließlich erreiche ich ein Zimmer, in welchem kichernde Gestalten mit wackelnden
Köpfen beieinander sitzen und Karten spielen. Unverständlich sprechen sie leise und in
ihrer Sprache miteinander. Ich will schon von ihnen fortgehen, da höre ich auffordernd
eine Stimme nahe hinter mir. Sonderbarerweise kann ich sie verstehen. Ich spüre Blicke,
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„Sitzung III“ Siebdruck/ Mischtechnik auf Leinwand
80 x 100 cm2010
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die sich in meinen Rücken bohren.
Ich wende mich um. Eine Frau steht hinter mir. Ob sie den Weg kenne, frage ich sie. Sie
verweist mich auf das grüne Zimmer.
Ich beginne zu laufen. Jetzt, wo ich weiß, in welches Zimmer ich will, finde ich dieses
ganz schnell. Dort angelangt, sehe ich viele Kinder, die auf dem Boden spielen. Ihre Haut
schimmert in den verschiedensten Farben: blau, rot wie auch grünlich. Ich gehe weiter
in das Zimmer hinein. Nach hinten wird es immer dunkler, bis es fast schwarz ist. Bald
umschließt mich völlige Finsternis. Ich taste mich langsam voran. Die fremde Frau hat
sich mir angeschlossen und kriecht hinter mir her. Ich kann sie später noch umbringen,
denke ich mir. Ich fühle eine Klapptür auf dem Boden, ich öffne sie und steige hinab. Ich
wundere mich, dass es nach unten geht, obgleich doch der Ausgang oben an der Spitze
des Berges sein müsste. Doch nach ein paar Sekunden bin ich tatsächlich hoch über der
Erde auf dem Berge im Freien.
Das Haus
Wir gehen zu einem Haus. S hat es konstruiert. Es sieht unheimlich aus. Angefressene
Steine am Rande, leere Fenster starren aus der hohen Häuserfront. Wir müssen dort
hineingehen, suchen aber noch den Führer.
Hinter dem Haus ist ein alter, abgelegener Parkplatz. Wir rufen nach dem Führer, wir
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„Sitzung IV“ Siebdruck/ Mischtechnik auf Leinwand
80 x 100 cm2010
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schreien, drehen uns, die Hände halten wir trichterförmig vor den Mund. Der Schall
unseres Echos wird dumpf von den uns umschließenden Mauern verschluckt. Doch dann
erblicken wir eine graue Gestalt sich langsam auf das Haus zu bewegen.
Wir haben ihn gefunden! Da er sich mit langsamen, schlürfenden Schritten fortbewegt,
haben wir ihn schnell eingeholt und folgen ihm nun mit ein wenig Abstand. Ich versuche,
einen Blick auf sein Gesicht zu werfen, doch sein Kopf ist zu sehr hinter dem gebeugten
Rücken versteckt. Wir nähern uns der riesigen Tür.
Sie ist verschlossen und mit einem Bauzaun verhangen.
Der Führer dreht sich seitlich zu seiner Tasche und zieht den Schlüssel hervor. Ihm fehlt
das Gesicht.
Seine weiße Hand dreht den Schlüssel im Tor. Dahinter bloße Finsternis. Der Führer
verschwindet in dieser Tür und sofort verschluckt ihn die Dunkelheit.
Wir folgen ihm. Durch die Tür getreten, erkenne ich nichts, nur langsam vermag ich Stufen
auszumachen, die nach oben führen. Wir beginnen, sie empor zu steigen. Langsam wird
es heller. Ich habe das Gefühl eines nahenden Déjà-vus, mit Beklemmung gehe ich voran.
Unser Führer ist nun verschwunden.
Es setzt Musik ein, ein lustiger Jahrmarktswalzer. Ein bedrohlicher Unterton. Die Treppe
endet vor einer Tür zu einem weitläufigen Raum, an dessen Schwelle ich zögernd stehen
bleibe. Die anderen hinter mir brechen in Freudenschreie aus. Sie haben Kleiderschränke
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„Sitzung V“ Siebdruck/ Mischtechnik auf Leinwand
80 x 100 cm2010
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und Kisten entdeckt und stürzen johlend an mir vorbei. Sie reißen mit Freude die Türen auf,
werfen die Sachen in die Mitte des Raumes und beginnen sie begeistert anzuprobieren. Ich
starre mit Angst auf die Szenerie. Etwas stimmt nicht, eine dunkle Ahnung betäubt meine
Glieder.
Vorsichtig suche ich mit meinen Augen den Raum ab. Er ist aus Backstein gebaut, eine Mauer
verläuft quer durch ihn, die ihn in eine vordere und eine hintere Hälfte teilt.
Undeutlich erkenne ich ein Becken. Schemenhaft kann ich dunkle Umrisse im Wasser
erkennen. Es liegt jemand darin – eine Leiche? Ich stürze durch den Pulk meiner lachenden
Freundinnen auf jene Stelle zu.
Der hintere Raum hat kleine Fenster, durch die Licht hereinstrahlt. Putz bröckelt von den
weißen Wänden. In den Boden ist jenes Becken eingelassen, welches ich schon von weitem
sah. Ich nähere mich mit langsamen Schritten. Trübes Wasser, unbeweglich. Ich beuge mich
über den Rand.
In der Tiefe dieses Wassers liegt jemand, das Gesicht nach oben gewandt und die schwarzen
Haare, die leicht hin und her wallen, offen. Ich kenne sie, es ist G.
Langsam steigt der Körper auf. Fast unmerklich nähert er sich der Oberfläche. Ihr Gesicht
kommt näher, bald tauchen ihre Gesichtszüge, erst die Nase und dann der Mund, aus dem
Becken hervor. Sie beginnt zu sprechen, sagt einen Satz, scheinbar belanglos. Ich habe ihn
vergessen.
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„Wüstenspaziergang“ Mischtechnik auf Leinwand
180 x 230 cm2010
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Ich packe sie unter den Armen, ziehe ihr Gesicht über die Wasseroberfläche hinauf. Ich
versuche mit ihr zu reden. Der Kopf sinkt kraftlos zurück, ihr Mund taucht wieder unter die
Oberfläche.
Erneut versuche ich sie höher zu ziehen, ihr Gesicht zu packen, doch sie ist zu schwer, ihr
Kopf fällt zurück – immer wieder – hilflos strenge ich mich an.
Eine andere Person kommt zur Tür herein.
Sein Kopf ist groß, wie von einem riesigen Baby. Das Gesicht des Eindringlings ist verquollen
und aufgedunsen, über seinen fettigen Wangen blitzen böse kleine, stechende Augen. Sein
Mund ist verkniffen, die Unterlippe trotzig nach unten geschoben. Nur vereinzelt wachsen
Haare auf seinem zu großen Schädel.
Der Eindringling setzt sich neben uns, beobachtet kurz das Geschehen. Er beginnt mich
anzureden. Er hat eine dünne, hohe Stimme. Als ich nicht auf ihn reagiere, beginnt er mich
zu kneifen, ganz fest in meinen Arm. Er starrt mich dabei wütend aus seinen kleinen Augen
an. Ich kann mich nicht wehren, ich muss G festhalten, doch er kneift mich weiter, so dass
ich sie nicht mehr halten kann. Sie entgleitet mir, sinkt unter Wasser. Ich versuche sie noch
zu greifen, doch das Wasser fasst kein Becken mehr, sondern ein gründunkler Brunnen, in
dessen Tiefe G nun endgültig versinkt.
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„Hund I - IV“Siebdruck/ Mischtechnik auf Papier
30 X 42 cm2009
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Der Vorleser
In einem gefüllten Becken muss ich unter Wasser ein Rätsel lösen.
Jemand ist dort unten und liest etwas vor.
Ich muss die Lösung aufzeichnen – das Gehörte aufmalen auf einem Papier am
Beckenrand.
Dreimal kann ich nach unten tauchen.
Ich springe zum ersten Mal hinein, öffne meine Augen und versuche, in dem klaren, grünen
Wasser auf den Grund hinab zu schwimmen. Ich nehme eine Stimme wahr. Murmelnd dumpf
durch das Wasser. Die Worte scheinen verworren, undurchsichtig.
Wie meine Luft nicht mehr ausreicht, tauche ich auf und versuche, etwas auf mein Papier zu
bringen. Ich meine, die entstehenden Aufzeichnungen von irgendwoher zu kennen, doch ich
erinnere mich nicht. Ich hole tief Luft und gleite wieder hinab.
Abermals vermag ich den Sinn des Gesprochenen nicht zu verstehen – wieder über
Wasser arbeite ich weiter an meinem Bild. Es wird dreidimensional. Es entstehen Figuren,
Menschenpaare, die wie leichte Pappschilder immer wieder nach hinten klappen, als ob sie
unter Wasser von leichten Wellen hin und her gewiegt würden.
Nun stehe ich am Beckenrand und will ein drittes Mal hinab springen. Ich habe Angst, dass
die Luft dieses letzte Mal nicht ausreicht, um das Rätsel zu lösen. Man bietet mir ein Spray
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„Die drei Waisen“Mischtechnik auf Leinwand
180 x 230 cm2008
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an, mit dem ich länger unter Wasser bleiben könne.
Ich inhaliere tief und springe ein letztes Mal hinein. Ich sinke hinab, bis
meine Füße den Grund berühren. Ich fühle fest das Fundament unter mir.
Befremdet laufe ich ein paar Schritte. Die Schwerelosigkeit hat nachgelassen.
Wie über Wasser lasse ich mich auf dem Boden nieder.
Ich erblicke schemenhaft den Vorleser durch das grüne Wasser. Sein
gebeugter Körper sitzt nicht weit mir gegenüber, die Beine sind überkreuzt
und der Kopf hinter einem Buch versunken, das er auf seinem Schoß liegen
hat. Er ist regungslos, scheint jedoch zu sprechen. Gebannt lausche ich
seinen Sätzen. Durch das Wasser hat seine Stimme einen eigentümlichen
Klang, fast einen Singsang, der von der Stille hier unten gedämpft wird. Die
Worte sind schlecht zu verstehen, auch ihr Sinn erschließt sich mir nicht.
Als ich seinen Worten lausche, spüre ich plötzlich, dass die Zeit hier unter
Wasser viel zu schnell vergangen ist. Dieses Spray hat nur vorgetäuscht,
länger in der Tiefe sein zu können! Es macht einen vergessen zu atmen.
Mehr als vier Minuten sind schon vergangen! Ich bin gestorben, ertrunken
ohne Schmerz – und ohne es zu merken.
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„Besuch bei Verwandten“Mischtechnik auf Leinwand
230 x 180 cm2008
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NACHWORT
LA FAMILIA
Die Figuren, die uns von der Leinwand aus entgegenschauen, sind uns fremd und
vertraut zugleich. Sie sind eine Art alter ego aus dem Unterbewußten, die uns
alptraumhaft alles fundamental Menschliche vor Augen führen. Erynnien, die
die geplagten Seelen nicht mehr in Ruhe lassen, ein griechischer Chor, der an die
Schicksalshaftigkeit allen Tuns gemahnt, und die drei Weisen, die beobachten,
abwägen und schließlich ihr Urteil fällen. Daneben taucht in Undine Bandelins
Bildsprache immer wieder die Entblößung auf. Und zwar so, dass es weh tut,
nämlich bis auf die Knochen. Der Einblick, der uns gewährt wird, ist eine Art
enthüllender Scan, nur dass hier die Motivation tiefenpsychologisch ist. Auf der
Suche nach der Substanz, der Existenz, geht der Blick sprichwörtllich unter die
Haut. Dabei sind Undine Bandelins Bilder modern und klassisch zugleich. Die
Expressivität und Farbigkeit sowie die gestempelten surrealen Textfragmente
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verorten die Bilder eindeutig im Heute und erinnern an das Farbspektrum und
den Ausdruck eines Daniel Richters. Die Bildthemen jedoch sind urmenschlich
und damit jeder Zeit entrückt. Der Stoff könnte aus einer klassischen Tragödie
stammen oder aber das Resultat zahlreicher tiefenpsychologischer Sitzungen
sein. Und genau hierin liegt der Grund dafür, dass uns Undine Bandelin so kalt
erwischt. Substantielle Themen in einer Form, die dem heutigen Menschen
angemessen ist und der er somit nicht ausweichen kann. Daher sind wir uns
gar nicht so sicher, ob wir das überhaupt ertragen können. Letzendlich werden
wir uns aber entscheiden müssen. Werden wir am Idyll kratzen? Und was hält
uns davon ab, beziehungsweise was kommt dahinter zum Vorschein? Wenn
wir Mut haben und ehrlich sind, wird sich eine neue Schönheit einstellen,
eine Schönheit, die keiner Äußerlichkeit entspringt und sich somit jenseits der
Vanitas befindet.
Carolin Modes/ Esther Niebel
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Undine Bandelin
Vita:
1980 geboren in Jena1999 Abitur in Jena1999 – 2002 Ausbildung zur Keramikerin 2002 – 2005 Studium der freien Kunst an der Bauhaus-Universität Weimarseit 2005 Studium der Malerei bei Prof Pleuger HKD Burg Giebichenstein, Halle2009 Studienreise Mexiko Indien/ Nepal
Ausstellungen/ Ausstellungsbeteiligungen:
05/ 2007 „Buntfunk“ MDR Landesfunkhaus Magdeburg07/ 2007 „Die Geister die ich rief“ Künstlerhaus Schirnding/ Eger, Tschechien [k]10/ 2007 „Zwischenstopp“ Caleidospheres, Jena 08/ 2008 „Zwischenspiel“ Galerie Baumann, Leipzig11/ 2008 „Last Exit Halle“ Kunstwerk Potsdam05/ 2009 „Zu Besuch“ Eine Ausstellungsreihe Wiesbaden/Leipzig/ Halle [k]09/ 2009 Berliner Liste, Berlin04/ 2010 “La Familia”, Galerie Queen Anne, Lepizig [k]
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Impressum
Katalog anlässlich der Ausstellung „La Familia“, Galerie Queen Anne, Leipzig.
Texte: Undine Bandelin,Nachwort: Carolin Modes, Esther NiebelFotos: Lilo Bauer, Undine BandelinRedaktion: Undine Bandelin, Carolin Modes, Esther Niebel
Modes & Niebel GbR | Galerie Queen AnneLützner Str. 91 | 04177 Leipzig | www.modes-niebe.de
© 2010 Undine Bandelin, courtesy Galerie Queen Anne. Alle Rechte vorbe-halten.
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