Download - Nachbarn 1/2013 St. Gallen

Transcript
Page 1: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

NachbarnNr. 1 / 2013St. Gallen-Appenzell

Bildung gegen ArmutFünf Porträts von Menschen, die dank Caritas-Projekten in der Schweiz mehr wissen.

Page 2: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

Inhalt

Schwerpunkt

Bildung gegen Armut

Bildung ist die wirksamste Hilfe für Men-schen, die von Armut betroffen sind. Gleich-zeitig ist Bildung die beste Armutspräventi-on. Denn wer über eine hohe Bildung verfügt, findet schneller eine Stelle, verdient mehr und ist weniger gefährdet, arbeitslos zu wer-den. Fünf Porträts von Menschen, die dank Caritas-Projekten mehr wissen. Und Lö-sungsansätze, um allen einen fairen Zugang zu Bildung zu gewähren. ab Seite 6

Inhalt

Ronaldo macht eine Attestausbildung im Caritas-Markt.

2 Nachbarn 1 / 13

Editorial

3 von Heinz BranderLeiter Caritas-Betriebe

Kurz & bündig

4 News aus dem Caritas-Netz

977

12 Schulsport Bewegung dazumals

Persönlich

13 «Welche Ausbildung würden Sie heute gerne machen, wenn Sie nochmals von vorne beginnen könnten?»

Sechs Antworten.

Caritas St. Gallen-Appenzell

14 Die Sehnsucht bleibt Der Türke Cemal Zöngür ist eine Leseratte. In seiner Heimat hat er etwa 1000 Bücher gelagert. In seiner Wohnung in Herisau stehen weit weniger Bücher im Regal.

17 Bildung gegen ArmutSechs Statements.

Kiosk

18 Ihre Frage an uns

Gedankenstrich

19 Kolumne von Paul Steinmann

Page 3: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

Editorial

3

«Nachbarn», das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen, erscheint zweimal jährlich. Gesamtauflage: 40 130 Ex.

Auflage SG: 2 155 Ex.

Redaktion: Rita Bolt (Caritas St. Gallen- Appenzell)Ariel Leuenberger (national)

Gestaltung und Produktion: Daniela Mathis, Urs Odermatt

Druck: Stämpfli Publikationen AG, Bern

Caritas St. Gallen-AppenzellZürcherstrasse 459000 St. GallenTel: 071 577 50 10www.caritas-stgallen.chPC 90-155888-0

«Bildung gegen Armut»: klare Worte. Wir sind täglich mit Men-schen konfrontiert, die armutsgefährdet oder armutsbetrof-fen sind: mit Flüchtlingen, die ihr Hab und Gut zurücklassen mussten, mit Langzeiterwerbslosen, die aus der Arbeitswelt ausgeschlossen sind; mit jungen Sozialhilfebezügern, die den «Rank» bis jetzt nicht gefunden haben. Caritas St. Gallen-Appenzell bietet verschiedene Arbeits- und Bildungsprogramme an. Sie führt in St. Gallen sechs handwerk-liche Betriebe, die Platz für 60 Teilnehmende bieten: Verkauf im REBAU-Markt, Demontagen für den REBAU-Service, Küchen-arbeit in der Cantinas, Hauswartarbeiten im Liegenschaften-Service, Produktion in der Holz-/Metall-Werkstatt, Adminis-tratives im Office-Service. Wir sind in der glücklichen Lage,

die Programmteilnehmenden – bis zu einem gewissen Grad – nach ihren Neigungen, Talenten und Deutschkenntnissen zu be-schäftigen. Für Flüchtlinge sind Deutschkenntnisse das A und O. Denn die Sprache ist die wich-

tigste Voraussetzung, um in unserer (Arbeits-)Welt überhaupt zu bestehen und integriert zu werden. Für sie haben wir das Programm «Deutsch und Arbeit», eine Kombination aus qua-lifizierendem Arbeitseinsatz und Sprachkurs, erarbeitet. Ein überaus erfolgreiches Programm! Armutsgefährdet sind nicht nur Flüchtlinge, sondern auch vie-le junge Erwachsene. Speziell für sie wurde das Programm für junge Erwachsene entwickelt, um ihnen mit Begleitung und Jobcoaching eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt zu eröff-nen.«Bildung gegen Armut»: eine klare Forderung. Wir vermitteln unseren Programmteilnehmenden Wissen und Bildung in ei-nem geregelten Arbeitsumfeld. Wir ermöglichen ihnen soziale Kontakte und zeigen Perspektiven auf. Mit all diesen Massnah-men wachsen ihre Chancen auf eine nachhaltige Arbeitsinte-gration. Und einige schaffen den Sprung direkt in den ersten Arbeitsmarkt.

Herzlichst

Liebe Leserin, lieber Leser

Heinz Brander Leiter Caritas-Betriebe Caritas St. Gallen-Appenzell

«Wir ermöglichen soziale Kontakte und zeigen Perspektiven auf.»

Nachbarn 1 / 13

Page 4: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

Kurz & bündig

4 Nachbarn 1 / 13

Caritas-Netz

Mit verein-ten KräftenDie Schweizer Caritas-Or-ganisationen arbeiten im Caritas-Netz eng zusam-men. Hier suchen sie nach Lösungen für sozialpoliti-sche Probleme und tau-schen Projekte aus.

In der Schweiz bestehen 16 regiona-le unabhängige Caritas-Organisa-tionen, die soziale Projekte direkt vor Ort realisieren. Gemeinsam mit Caritas Schweiz engagieren sie sich unter anderem in der Aktion «Armut halbieren», in der Schul-denberatung, den Caritas-Märkten, bei der KulturLegi und im Caritas-Netz. So können kleinere Organisa-tionen vom Know-how der grösse-ren profitieren.

Soziale Projekte können in neuen Regionen angeboten werden, die Kosten für Kampagnen werden unter den Mitgliedern des Caritas-Netzes aufgeteilt – auch dieses Ma-gazin ist ein Gemeinschaftsprojekt.Obwohl es grosse Unterschiede gibt, verfolgen doch alle Caritas-Organisationen dasselbe Ziel: Ar-mutsbetroffenen und ausgegrenz-ten Menschen zu helfen und sich für ihre Anliegen einzusetzen.

Soziale Aufgaben im ländlichen Raum

«Luege, lose, handle!» Die Welt verändert sich, auch im ländlichen Raum: Neue Lebensformen, hohe Mobilität, versteckte Armut und der wirtschaftliche Wandel sind Stich-worte dazu.

Die Caritas Luzern hat deshalb bei der Hochschule Luzern - Soziale Arbeit eine Studie in Auftrag gegeben unter dem Titel «Soziale Aufgaben im ländlichen Raum». In der Folge lud sie zu-sammen mit den Landeskirchen an drei Orten zu Diskussionsfo-ren ein. Hier wurden die Resultate der Studie diskutiert und an den eigenen Erfahrungen gemessen.Man stellte etwa fest, dass es die Nachbarschaftshilfe immer noch gibt, dass aber die sozialen Netze kleiner geworden sind. Viele junge Familien wohnen nicht mehr im direkten Umfeld ihrer Ursprungsfamilien. Allzu oft liegen Arbeits- und Wohnort weit auseinander. Zudem arbeiten meist beide Elternteile. So wird die ausserfamiliäre Kinderbetreuung auch in ländlichen Gebieten immer wichtiger, und es braucht Hilfsangebote für Fa-milien in Überlastungssituationen. Für die Zukunft wurden verschiedene Handlungsansätze festge-halten: Armut in ländlichen Gebieten ist oft versteckt, Betroffene suchen meist erst im letzten Moment um Hilfe. Hier gilt «Luege, lose, handle» beiderseits, für Betroffene wie das Umfeld. Man war sich einig, dass es zwar viele Initiativen und Angebote gibt, dass es aber auch zunehmend wichtiger wird, Netzwerke zu stär-ken und zu koordinieren. Zur besseren Integration von Migran-tinnen und Migranten wünscht man sich vermehrt gegenseitige Kulturvermittlung sowie Sprachförderung. Nicht zuletzt gilt es den wirtschaftlichen Wandel kritisch zu hinterfragen und auch politisch Partei zu nehmen für Benachteiligte.

eigenständige Caritas-Organisationen

In der Schweiz gibt es

16

Page 5: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

Kurz & bündig

5Nachbarn 1 / 13

Regionale Caritas-Organisation

Solothurn startet neu Mit einem Caritas-Markt, einer Beratungsstelle und der KulturLegi startet Caritas Solothurn neu, nachdem sie vor zehn Jahren die Tätigkeit einstel-len musste.

Mit dem Wiederaufbau wurde Caritas Aargau beauftragt. So können Erfahrung und Wissen optimal genutzt werden. Als Geschäftsführerin verantwortet Regula Kuhn-Somm die neuen Projekte. Eine ihrer grossen Herausforderungen ist das Knüp-fen eines lokalen Netzwerks. Neben dem Caritas-Markt in Olten wird im September in Solothurn eine Beratungsstelle für Hilfe-suchende eröffnet. Geplant ist weiter, die KulturLegi im ganzen Kanton einzuführen. Am 8. Mai 2012 hatte die Mitgliederversammlung den Wieder-aufbau von Caritas Solothurn beschlossen; schon am 1. Juni nahm die Geschäftsstelle der regionalen Caritas-Organisation den Betrieb auf. Caritas Solothurn blickt auf eine bewegte Ge-schichte zurück. Nach einem breiten Engagement in den 1990er-Jahren musste sie jedoch 2003 ihre Tätigkeiten einstellen – ein grosser Leistungsauftrag ging verloren, was zu finanziellen Problemen führte. Ehrenamtlich engagierte sich der Vorstand weiter und eröffnete 2009 den Caritas-Markt in Olten. Dadurch stiess das ehrenamtliche Engagement an Grenzen. Ein intensi-ver Strategieprozess führte zum Entscheid, den Neustart einer regionalen Caritas-Organisation zu wagen. www.caritas-solothurn.ch

NEWS In guten Händen

30 000 Betreuerinnen arbeiten illegal und schlecht bezahlt in Schweizer Haus-halten. Darum bietet Caritas Schweiz neu das Projekt «In guten Händen» an: Ausgebildete Rumäninnen und Rumänen helfen älteren, gebrechlichen Menschen. Die Partnerorganisation vor Ort wählt Betreuungspersonen aus, bereitet sie vor und beschäftigt sie nach dem Schweiz-Einsatz weiter. Die Einsatzleiterin von Caritas Schweiz klärt den Bedarf mit den Betroffenen ab, führt die Betreuungsper-sonen im Haushalt ein und begleitet sie während ihres Einsatzes.

Internetzugang im Caritas-Markt Chur

Neu bietet der Caritas-Markt Chur ein In-ternet-Café für alle an. Zwei Computer ste-hen dafür zur Verfügung. Der Preis ist mit einem Franken für 30 Minuten Nutzung günstig. Das Angebot richtet sich vor allem an Armutsbetroffene, die sich zuhause kei-nen Internetanschluss leisten können.

Weihnachtsessen für Alleinstehende

Für alleinstehende, armutsbetroffene und einsame Menschen organisiert Cari-tas Zürich seit 1932 die Caritas-Weih-nacht: ein feines Essen mit einem Ge-schenk für alle Anwesenden. Auch 2012 kamen über 350 Personen ins Volkshaus. Sie liessen sich von der festlichen Atmo-sphäre und den Weihnachtsliedern, ge-sungen von Alina Amuri, verzaubern. Und konnten so einige glückliche Stunden in einer schwierigen Zeit verbringen.

Rorschach startet «FemmesTISCHE»

Caritas St. Gallen-Appenzell führt in der Ostschweiz mit Erfolg «FemmesTISCHE», das Elternbildungsprogramm mit Mig-rantinnen, durch. 2012 fanden 179 Veran-staltungen in 14 verschiedenen Sprachen statt. An den Gesprächsrunden nahmen insgesamt 1116 Frauen teil. Im Januar 2013 hat nun auch die Stadt Rorschach das Projekt gestartet. Im Mai sollen die ersten Gesprächsrunden in mehreren Sprachen durchgeführt werden.Auch in Solothurn können Menschen mit knappem Budget bald von den

Vergünstigungen der KulturLegi profitieren.

Page 6: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

6

Rubrik

Nachbarn 1 / 13

Malice B.: «Dank ‹schulstart+› kann ich die Zukunft meiner Kinder – und auch meine eigene – besser planen.»

Page 7: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

7Nachbarn 1 / 13

Schwerpunkt

alice B. und ihr Mann stammen aus kosovo-al-

banischen Familien. Die Bürokauf-frau und der Projektleiter Metallbau haben zwei kleine Söhne (3 und 5). Malice B.: «Ich bin in München auf-gewachsen. Meine Erinnerungen an die eigene Schulzeit sind schön. Auch wenn wir daheim Albanisch redeten – so wie ich es jetzt auch mit den eigenen Kindern halte –, hatte ich von Anfang an nie Probleme, dem Unterricht zu folgen. Ich war eine gute Schülerin. Dass ich eine Einführung ins Schweizer Schul-system sinnvoll fand, mag auf den ersten Blick erstaunen. Aber die Un-terschiede zwischen dem deutschen und dem schweizerischen Bildungs-wesen sind grösser, als man denkt, und so war ich dankbar, als eine Kollegin mich auf <schulstart+> aufmerksam machte. Der Kurs war toll. Stufe um Stufe lernte ich dort, wie das Schulwesen funktioniert. Nun werde ich meine Söhne besser unterstützen können, und ich habe auch für mich selber sehr profitiert. Im Kurs haben wir unter anderem Besuch aus dem BIZ bekommen; ich werde mich nun dort über den be-ruflichen Wiedereinstieg und die Weiterbildungsmöglichkeiten in-formieren. Und mit den Söhnen werde ich in der Waldspielgruppe, die ich bei <schulstart+> kennen-lernte, schnuppern gehen!»

«schulstart+»: Elternbildungs-kurs, der Familien ausländischer

Herkunft auf den Schuleintritt der Kinder vorbereitet. Der 8-wöchige Kurs vermittelt Informationen zum Schweizer Schulsystem und Tipps für die Unterstützung und Begleitung der Kinder.

Ronaldo M. und Milenko S. absolvieren im Caritas-Lebens-mittelladen die zweijährige Aus-bildung zum Detailhandelsassis-tenten. Die Eltern von Ronaldo M. stammen aus Angola. Dass er nicht

der einzige Lernende im Betrieb ist, sondern mit Milenko S., dessen Familie bosnischer Herkunft ist, einen Kollegen hat, freut ihn sehr. Ronaldo M.: «Ich gehe die Dinge positiv an. Freizeit heisst für mich: Spass haben, tanzen, Musik hören. Als ich mich 2011 für die Lehrstelle bewarb, hat man mir erzählt, dass

arbeitslose Leute oder Asylsuchen-de im Lebensmittelladen einen Arbeitseinsatz machen und dass es deshalb immer wieder Wechsel gibt. Man muss flexibel sein und Freude an neuen Leuten haben, damit es einem hier gefällt. Für mich ist das bestens. Es läuft mir gut in der Lehre. Wir haben gute Chefs, die uns auch genügend Zeit gewähren, um für die Schule zu ler-nen.» Milenko S.: «Eigentlich habe ich Logistiker werden wollen. Aber meine Schulnoten lagen zu tief. Im zehnten Schuljahr hat mich der Berufscoach dann auf die Attest-lehren bei der Caritas aufmerksam gemacht. Mir gefällt es hier. Ich lerne viel – über die Lebensmittel, über ihre richtige Lagerung, über Hygiene. Und jetzt beginnen Ro-naldo und ich uns bereits auf die Lehrabschlussprüfung vorzube-reiten. Wenn unsere Vorgesetzten mal unterwegs sind, haben nun wir die Verantwortung im Laden. Was ich nach dem Lehrabschluss ma-chen möchte, weiss ich noch nicht genau. Auf jeden Fall will ich eine Vollzeitstelle.»

Attestlehre Die Caritas bietet Ausbildungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Bereichen an, unter anderem Attestlehren im Caritas-Markt. Diese zwei Jahre dauernden Ausbildungsgänge eröffnen Jugendlichen mit Migrati-onshintergrund berufliche Zu-kunftsperspektiven.

Bildung macht stark Bildung ist Selbstverwirklichung und führt zu mehr Selbstbestimmung. Fünf Menschen, die dank Caritas-Projekten neue Ideen, neue Möglichkeiten, neue Freunde gefunden haben, erzählen.

Text: Ursula Binggeli Bilder: Urs Siegenthaler

M

Ronaldo M. und Milenko S.: «Unser Lehr-betrieb ist speziell, weil der Caritas-Markt sozial ist.»

Page 8: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

8 Nachbarn 1 / 13

Schwerpunkt

Regina B.Seit langer Zeit kämpft Regina B. mit Depressionen. Dennoch hat sie als alleinerziehende Mutter viele Jah-re alle Herausforderungen bewältigen können. Als ihre Tochter in die Pubertät kam, fürchtete Regina B. dann aber, dem Mädchen nicht ausreichend Grenzen setzen zu können. Deshalb lebt dieses heute in einem Schulheim. Regina B.: «Seit fünf Jahren sind meine De-pressionen so stark, dass ich grosse Mühe habe, alleine unterwegs zu sein. Ohne meinen Hund Bubi, der mich überallhin begleitet und sehr kontaktfreudig ist, hätte ich mich auch nicht in den Italienischkurs getraut, den ich letztes Jahr besuchen konnte. Mit der KulturLegi der Caritas gab es 50 Prozent Rabatt, und der Sozial-dienst hat den Restbetrag übernommen. Den Kursbe-such habe ich sehr genossen. Ich lernte dort gute Leute kennen, und es machte mir Spass, mich mit der italie-nischen Sprache auseinanderzusetzen. Seit drei Jahren habe ich einen lieben Partner, mit ihm kann ich auch Ausflüge unternehmen. Er hat Bekannte in Italien,

Regina B.: «Der von der KulturLegi ermöglichte Italienischkurs hilft mir, auf Leute zuzugehen.»

und letztes Jahr sind wir zu diesen in die Ferien ge-gangen. Es freut mich, zu wissen, dass ich mich beim nächsten Mal besser mit ihnen werde verständigen können. Bubi ist mittlerweile 10 Jahre alt. Aber dass sein braunes Fell auf dem Rücken weiss geworden ist, hat sicher nicht mit dem Alter zu tun, sondern damit, dass ich ihn so oft streichle!»

KulturLegi: Ein Angebot für Personen, die nachweis-lich am oder unter dem Existenzminimum leben. Mit der KulturLegi gibt es in den Bereichen Bildung, Kultur, Sport und Freizeit einen Rabatt von mindes-tens 30 Prozent auf über 1300 Angeboten in der ganzen Schweiz.

Page 9: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

9Nachbarn 1 / 13

Schwerpunkt

nahen Verwandten, die im Iran getötet worden sind, und die Wände sind noch fast kahl. Ich traue mich nicht, sie zu schmücken, weil ich nach wie vor Angst habe, alles wieder zu verlieren. Das Gefühl von Sicher-heit ist noch nicht zurückgekehrt. Aber ich will meinen Weg gehen. Aktuell arbeite ich als Pflegehelferin. Mein Ziel ist es, Fachfrau Gesundheit zu werden.»

Kompass: Ein Deutsch- und Integrationskurs für erwerbslose anerkannte Flüchtlinge mit B- oder F-Bewilligung sowie vorläufig Aufgenommene nach Abschluss des ersten Deutschkurses. Der Kurs umfasst 15 Lektionen pro Woche und dauert acht Monate.

Bahar E.Mahabad heisst die kurdische Stadt im Nordwesten des Irans, in der Bahar E. lebte, bevor sie mit ihrem Mann und den Kindern (heute 12 und 17) wegen ihres politi-schen Engagements via Irak und Türkei in die Schweiz fliehen musste. Bahar E.: «Als ich vor fünf Jahren in die Schweiz kam, erschrak ich ob der Distanz, mit der man hier Fremden begegnet. Wir Kurdinnen und Kur-den haben ein heisses Herz, wie man bei uns sagt. Ich habe dann begonnen, aktiv auf Menschen zuzugehen. So trat ich dem Frauenturnverein der Ortschaft bei, in welcher meine Familie und ich nach fast zwei Jahren in Asylunterkünften nun unsere eigene Wohnung haben. Seit wir die B-Bewilligung besitzen, stehen uns viel mehr Möglichkeiten offen. Ich konnte auch den Kom-pass-Kurs der Caritas besuchen und mich dort gut auf den Einstieg in die Arbeitswelt vorbereiten. Das war sehr hilfreich. Der Übergang ins neue Leben ist nicht einfach für mich. Ich trage viele schmerzliche Erinne-rungen in mir. In unserer Wohnung stehen Fotos von

Bahar E.: «Der Kompass-Kurs erleichtert mir den schwierigen Übergang ins neue Leben.»

Page 10: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

10 Nachbarn 1 / 13

Schwerpunkt

igentlich ist die Schule für alle da. Doch nur wenn der Zugang zu Schule und Bil-dung für alle gleich ist, haben alle die gleichen Chancen. Dem ist heute nicht so. Obwohl in der Schweiz die Investitionen in

das Bildungswesen knapp im Durchschnitt der OECD-Länder liegen, bestehen bei uns nach wie vor Lücken im Zugang zur Bildung. Diese treffen vor allem Perso-nen, die wegen ihrer Herkunft sowie wegen fehlender finanzieller Ressourcen ohnehin schon benachteiligt sind. Damit festigt das schweizerische Bildungssys-tem die bestehenden sozialen Ungleichheiten.

Zahlen sprechen eine deutliche SpracheDabei ist es offensichtlich, dass fehlende Bildung in einer Wissensgesellschaft wie jener der Schweiz das Armutsrisiko massiv erhöht. So belegen Zahlen, dass zwei Drittel der Sozialhilfeempfängerinnen und -emp-fänger über keine nachobligatorische Ausbildung ver-fügen – bei den jugendlichen Sozialhilfeempfängern sind es fast 70 Prozent. Vor diesem Hintergrund wirkt die Tatsache stossend, dass 17 Prozent der 15-Jährigen nur mangelhafte Lesekompetenzen aufweisen, sodass ihre weiter Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten eingeschränkt sind.

Mit Bildung gegen ArmutFehlende Bildung ist in der Schweiz das Armutsrisiko Nummer eins – wer keinen Berufsabschluss hat, findet kaum einen Job. Caritas fordert einen nationalen Bildungsplan.

Text: Iwona Swietlik Illustration: Patric Sandri

E

Page 11: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

11Nachbarn 1 / 13

Schwerpunkt

Ein nationaler BildungsplanDie bestehenden Lücken und Hindernisse im Zugang zu Bildungsaktivitäten sind zu einem grossen Teil Resultat des schweizerischen Föderalismus. Sie sind durch das Fehlen eines allgemeinen Bildungsplans er-klärbar, wie ihn bereits die OECD oder schweizerische Institutionen wie die Arbeitsgruppe «Zukunft Bil-dung Schweiz» empfehlen. Auch Caritas kommt zum Schluss: Ein nationaler Bildungsplan muss das Kon-zept des lebenslangen Lernens auf politischer Ebene verankern. Er soll den Kantonen klare Rahmenbedin-gungen für die Umsetzung aufzeigen. Zentral ist ein besserer Zugang zu Bildungsaktivitäten für benachtei-ligte Personen.Mit der KulturLegi, dem Patenschaftsprojekt «mit mir» und dem Elternbildungsprojekt «schulstart+» erleichtert Caritas armutsbetroffenen Menschen den Zugang zu Bildung bereits heute.

Links und Publikationen

Kampagne «eigentlich». Die regionalen Caritas-Organisationen machen auf Probleme im Bildungsbereich aufmerksam und zeigen Lösungsansätze auf. Details unter www.gegen-armut.ch

Sozialalmanach 2013. Das Caritas-Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz mit dem Schwerpunkt «Bildung gegen Armut». Zu bestellen unter www.caritas.ch/sozialalmanach

LösungsansätzeCaritas fordert, dass alle Zugang zu Bildung haben, unabhängig von Alter, Herkunft und finanziellen Ressourcen.

Konkret empfehlen wir:– die Frühförderung zu verbessern – denn

zurzeit ist es eher zufällig, ob ein Kind von einem familienergänzenden Angebot pro-fitiert oder nicht. Dabei werden die Wei-chen für die Bildungslaufbahn bereits im frühen Alter gestellt.

– die Elternarbeit zu stärken – denn gerade benachteiligte Familien leiden unter sozi-aler Isolation und mangelhaften Informa-tionen. Elternarbeit soll als Teil der Interg-rationsförderung und des Bildungswesens verstanden werden – durch Bildungsange-bote für Eltern sowie Einsatz von kulturel-len Übersetzerinnen und Übersetzern.

– den Illettrismus zu bekämpfen – 800 000 Menschen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren in der Schweiz können kaum le-sen. Es müssen Bildungsstrukturen ge-schaffen werden, welche die Integration benachteiligter Personen fördern (z. B. Tagesstrukturen) und informelle Angebo-te gestärkt werden (z. B. offene Jugendar-beit).

– die Berufsbildung zu sichern – denn über 15 Prozent der Menschen im Erwerbsalter haben keinen Berufsabschluss. Ihre Er-werbslosenquote ist doppelt so hoch wie jene von Personen mit Abschluss. Auch die Working-Poor-Quote ist fast dreimal so hoch. Die Berufsbildung kann durch Sti-pendien, Berufsbildungsfonds und Steuer-abzüge für Lehrbetriebe gefördert werden.

– Nachhol- und Weiterbildung für Armuts-betroffene zu ermöglichen – denn der Wei-terbildungsmarkt festigt die bestehenden Ungleichheiten. 80 Prozent der am besten ausgebildeten Personen besuchen Wei-terbildungen – im Vergleich zu lediglich 20 Prozent der Personen ohne nachobliga-torische Ausbildung. Finanzielle Hürden abbauen und informelle Bildungsleistun-gen anerkennen hilft, damit sich auch be-nachteiligte Personen weiterbilden kön-nen.

0 10 20 30 40 50 60

Anteil gesamte Bevölkerung in %

Anteil Sozialhilfebezüger in %

Ausbildung

Berufsausbildung oderMaturitätsschule

Universität oderhöhere Fachausbildung

Sozialhilfebezüger haben besonders oft keine berufliche Ausbildung (Quelle: Bundesamt für Statistik BFS).

Page 12: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

Schulsport

Körperlicher Ausgleich war seit je Teil der Schulprogramms. 1970 sagte das Schweizer Stimmvolk Ja zur Förderung von Turnen und Sport auf allen Alter-stufen, was zu einer Ausweitung des Sportunterrichts auf die Berufsschulen führte. Heute finden Bewegungspro-gramme auch im Arbeitsalltag, auf der Baustelle, in Beschäftigungsprogram-men Einzug.

Bild: Bodenübungen im Turnunterricht © Emanuel Ammon. In seinem im Buch «70ER» sind weitere Fotografien aus den 1970er Jahren zu sehen. www.aura.ch

1977

Page 13: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

Nachbarn 1 / 13 13

Persönlich

Marieli Gerber, Rezeptionis-tin im Spital, Schiers:Da ich ein sehr offener Mensch bin und gerne auf fremde Men-schen zugehe und mich mit Ihnen unterhalte, würde ich eine Ausbil-

dung wählen, bei der ich mit vielen Leuten auch aus anderen Ländern und Kulturen in Kontakt komme, wie zum Beispiel im Hotelfach, Reiseleiterin oder in einem Reisebüro. Auch würde ich unbedingt Spra-chen lernen, damit ich mit den heutigen Möglichkei-ten die Welt bereisen könnte.

Lobsang Zatul, Sachbear- beiter und Tibetischlehrer, Horgen:In meiner Freizeit unterrichte ich die tibetische Sprache und Schrift. Das ist meine Passion und mein

bescheidener Beitrag, unsere Kultur am Leben zu erhalten. Wenn ich heute nochmals neu beginnen könnte, würde ich eine Ausbildung machen, die mit der tibetischen Kultur zu tun hat. Dann könnte ich mein Hobby zum Beruf machen.

Florian Studer, Arbeitsuchen-der, Luzern:Ich würde Agronom werden wol-len. Es gibt vielseitige Tätigkei-ten in der Landwirtschaft. Das Entwickeln und Erforschen neuer

Methoden gefällt mir. Am liebsten möchte ich einen landwirtschaftlichen Betrieb führen. Ich möchte in der Forschung aktiv sein und selbst Pflanzen züchten und eine artgerechte Haltung von Nutztieren führen. Seit kurzem habe ich ein Studium abgeschlossen und bin zurzeit auf Arbeitsuche.

Tsega Bahta Desta, Flücht-lingsfrau, Ennetturgi:In meiner Heimat Eritrea bin ich nur drei Jahre zur Schule gegan-gen. Mit 13 musste ich die Schule verlassen und in einer Textilfa-

brik arbeiten, um unsere Familie zu unterstützen. Wenn ich noch einmal die Chance hätte, dann würde ich weiter die Schule besuchen und dann eine Ausbil-dung als Kauffrau in einer Bank machen. Das wäre mein Traum gewesen.

Catrina Mugglin, Ärztin, Bern:Ich würde die Piratenakademie besuchen, Weltumseglerin wer-den, als Doppelagentin in gehei-mer Mission Verschwörungen

aufdecken und Geschichtenerzähler am Ende der Welt aufspüren, um mich als professionelle Zuhöre-rin ausbilden zu lassen. Aber in der Realität würde ich doch nicht viel anders machen. Mein Alltag als Ärztin ist voller Abenteuer, Rätsel, Geschichten und Wunder.

«Welche Ausbildung würden Sie heute gerne machen, wenn Sie nochmals von vorne beginnen könnten?»

Markus Hiltebrand, eidg. dipl. Maurer, Basel:Ursprünglich bin ich Maurer und habe auch drei Jahre auf dem Be-ruf gearbeitet. Dann wechselte ich zu einer Temporärfirma, wo ich

Abteilungsleiter wurde. Schliesslich übernahm ich die Betriebsleitung in der Reinigungsbranche. Heu-te würde ich direkt die Ausbildung zum technischen Kaufmann anstreben und mich berufsbegleitend zum Betriebsleiter weiterbilden, da mir der Umgang mit Menschen sehr zusagt.

Page 14: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

14

Rubrik

Nachbarn 1 / 13

Cemal Zöngür im Deutschunterricht: Er ist Teilnehmer des Programms «Deutsch und Arbeit» der Caritas St. Gallen-Appenzell.

Page 15: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

15Nachbarn 1 / 13

Caritas St. Gallen-Appenzell

emal Zöngür musste damals seine Frau, seine Tochter und seinen Sohn in der Türkei zurücklassen.

Das schmerzte sehr. Auch sein gan-zer Stolz, seine gut 1000 Bücher, blieben gezwungenermassen in Istanbul zurück. Im Reisegepäck hatte der türkische Flüchtling aber doch drei Bücher: Die Geschichte der Kurden, der Türken und der Aleviten. Autor der Bücher ist Ce-mal Zöngür selbst. «Das Buch über die Aleviten wurde sogar veröf-fentlicht», sagt er heute in gutem Deutsch. «Mein Vater liest immer noch sehr viel», erklärt Tochter Be-hice Zöngür und ergänzt lachend: «Als wir klein waren und noch in der Türkei lebten, befahl er mir und meinem Bruder, viel zu lesen.» Die 24-jährige Türkin ist froh darüber, dass der Vater so hartnäckig war. Sie liest immer noch viel – jetzt aber

Die Sehnsucht bleibtDer Türke Cemal Zöngür ist eine Leseratte. In seiner Heimat Istanbul hat er über 1000 Bücher eingelagert. In seiner Wohnung in Herisau sind es weit weniger. Irgendwann wird er in die Türkei zurückkehren.

Text: Rita Bolt Bilder: Urs Siegenthaler

C Deutsch spricht. Deutsch ist eine Sache, die finanzielle Situation eine andere. «In der Türkei hatten wir keine Geldprobleme», sagt der 49-Jährige. Die Tochter bestätigt dies: «Uns ging es gut. Ich konnte an der Uni studieren. Jetzt ist alles anders.»

Kontakt zu KurdenDie Geschichte der türkischen Fa-milie Zöngür ist wahrlich ein Thril-ler. Sie lebte in der Südosttürkei in Diyarbakir, die mit 850 000 Ein-wohnern die zweitgrösste Stadt Südostanatoliens ist. Die meisten Einwohner sind Kurden, das führt zu schwierigen politischen Verhält-nissen. Denn die Kurden haben kei-ne Rechte, dürfen sich nicht poli-tisch engagieren und der Druck des Staates auf sie ist gross. «Sie dür-fen nicht einmal ihre Mutterspra-che sprechen», erklärt Cemal Zön-gür. Er pflegte beste Kontakte zu

Bücher auf Deutsch. Ihr Deutsch ist sehr gut.

Familie in Gefahr gebrachtDie Familie Zöngür lebt im appen-zellischen Herisau. In Sicherheit. Cemal Zöngür hat sich und seine Familie in der Türkei mehrere Male in Lebensgefahr gebracht. Das war ihm immer bewusst. Trotzdem würde er – wenn er noch einmal wählen könnte – nichts anders ma-chen. «Ich bin Humanist und De-mokrat», betont er immer wieder. In der Caritas St. Gallen-Appenzell arbeitet der anerkannte Flüchtling in der Holz-/Metall-Werkstatt und besucht täglich einen halben Tag Deutschunterricht im Hause. Das Programm, das von Caritas St. Gal-len-Appenzell entwickelt wurde, heisst «Deutsch und Arbeit». Ce-mal Zöngür weiss: Er bekommt auf dem ersten Arbeitsmarkt nur eine Chance, wenn er noch besser

Page 16: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

16

Rubrik

Nachbarn 1 / 13

kurdischen Vereinen und Parteien, kämpfte für ihre Rechte und betei-ligte sich an kurdischen Demons-trationen. Das brachte ihm viele lebensbedrohliche Situationen ein. Die Polizei habe in Diyarbakir zwei Mal sein Haus durchsucht. Nach acht Jahren in Diyarbakir zügelte die Familie nach Kahramaras. Die Probleme wurden nicht weniger – im Gegenteil. Cemal Zöngür pflegte weiterhin gute Kontakte zu Kur-den. Daraufhin gab es Morddrohun-gen. «Von wem, wissen wir nicht», sagt Behice Zöngür. Nach weiteren fünf Jahren übersiedelten Zöngürs nach Istanbul. Es folgten weitere Verhaftungen.

verhaftet und mehrere Stunden verhört – und der Arbeitgeber kün-digte ihm nach 16 Jahren seine Ar-beitsstelle. Es begann eine schwierige Zeit für die Familie Zöngür. «Meine Mutter ging putzen, mein Vater war viel unterwegs», erklärt Behice Zöngür. Er war unterwegs mit Kurden, un-terwegs an Demonstrationen und politischen Veranstaltungen. Ein-mal sei er von der Polizei während einer Demonstration ziemlich arg verprügelt worden. Aber auch das schreckte den Türken nicht ab. Er liess sich sogar zum Präsidenten ei-ner kurdischen Bezirkspartei wäh-len. Die Folgen: Seine Frau wurde belästigt, sein Haus überwacht, er

Cemal Zöngür arbeitet jeweils nach dem Deutschunterricht in der Holz-/Metall-Werkstatt der Caritas St. Gallen-Appenzell.

Verhaftet und verhörtCemal Zöngür arbeitete 16 Jahre in der Türkei als Sicherheitsbeamter in einem Staatsbetrieb, der mit Pet-rol handelte. Er trug Schusswaffen, sogar eine Kalaschnikow. «Das war Vorschrift, denn es wurde viel sabo-tiert und gestohlen», erklärt er. Er erinnert sich an zwei Rohr-Explo-sionen, die Waffen habe er aber nie benutzen müssen. Dass sich Cemal Zöngür in kurdischen Vereinen po-litisch engagierte, passte seinem Arbeitgeber überhaupt nicht. Er wurde mehrmals aufgefordert, die Beziehungen zu den Kurden zu unterlassen – erfolglos. Auch die Polizei war nach wie vor hinter ihm her. Schliesslich wurde er erneut

Page 17: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

17Nachbarn 1 / 13

Caritas St. Gallen-Appenzell

bedroht. Kurz: Es war Zeit, die Tür-kei zu verlassen. 2007 nahm Cemal Zöngür zum ersten Mal mit der Botschaft Kontakt auf und bekam eine negative Antwort. Er gab nicht auf, denn der Terror nahm zu.

In der Schweiz Fuss gefasstEin Jahr dauerte der «Papierkrieg», bis Cemal Zöngür die Türkei ver-lassen und in die Schweiz einrei-sen durfte. Allein. Er kam in ein Asylheim in Basel, dann nach Ap-penzell und nach Schwellbrunn. Wieder ein Jahr später durfte sei-ne Familie nachkommen. Sie hat sich in Herisau ein neues Zuhause geschaffen. «Am Anfang habe ich viel geweint», sagt Behice Zöngür. Nicht nur sie war von starkem Heimweh geplagt. Die Familie hat sich in der Zwischenzeit in der Schweiz arrangiert und dank ihrer guten Deutschkenntnisse kommt sie einigermassen über die Run-den. Kontakte zu Einheimischen haben sie allerdings nur wenig. Er-freulich sei, dass Sohn Mazlum (20 Jahre) nach dem zehnten Schuljahr eine Lehrstelle als Strassenbauer gefunden habe, sagt der Vater nicht ohne Stolz. Das Ziel der 24-jährigen Behice Zöngür: Studium Betriebs-ökonomie an der Fachhochschule. Cemal Zöngür als gelernter Buch-halter versucht, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzukommen. Er weiss, dass er kaum Chancen hat, seinen erlernten Beruf auszuüben. «Aber wir möchten arbeiten.»

Sehnsucht bleibtAuch wenn die türkische Familie in der Schweiz Fuss gefasst hat, lässt die Sehnsucht nach der Hei-mat, insbesondere nach dem Heim, den Familienangehörigen und den Freunden in Istanbul, nicht nach. «Wir werden zurückgehen», betont das Familienoberhaupt. Wann das sein wird, weiss er nicht. Denn so-lange sich die politischen Verhält-nisse nicht ändern, ist die Türkei für die Familie Zöngür unerreich-bar.

Perspektiven aufzeigenCaritas St. Gallen-Appenzell ist mit Regionalstellen in St. Gallen, Sargans und Uznach vertreten. Als katholisches Hilfswerk engagiert sie sich mit Projekten im Bereich Armut und Ausgrenzung, Integration von Migrantin-nen und Migranten und bietet Arbeits- und Bildungsprogramme für Lang-zeiterwerbslose, anerkannte Flüchtlinge und junge Sozialhilfebezüger an.

In den Deutschkursen berücksichtigen wir die kommunikativen Bedürfnisse unserer Teilnehmenden. Dabei orientieren wir uns am gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Spra-chen. Zentrale Bedeutung hat auch die Verständigung in den

Arbeitsbereichen. Im Jobcoaching bieten wir unter anderem die Begleitung für die Stellensuche in den ersten Arbeitsmarkt an. Barbara Gaillard, Leiterin Bildung und Coaching

Im REBAU-Markt bieten wir Langzeiterwerbslosen eine inter-essante Tätigkeit im Verkauf an. Sie beraten Kunden, führen die Kasse, halten den Laden mit Gebrauchtbauteilen in Schuss. Wir bieten geregelte Arbeitszeiten und soziale Kon-

takte. Wir begleiten und unterstützen sie bei der Stellensuche und helfen ih-nen, ihre Möglichkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt zu erkennen.Marc Giger, Leiter REBAU-Markt

Der REBAU-Service und die Holz-/Metall-Werkstatt sind Handwerksbetriebe. Im REBAU-Service werden Demontagen gemacht und die Bauteile aufbereitet. In der Holz-/Metall-Werkstatt fertigen die Flüchtlinge, Langzeiterwerbslosen und

jungen Erwachsenen verschiedenste Produkte auf Bestellung an, beispiels-weise Holzmöbel. Die Absprachen mit dem Teamleiter erfolgen in Deutsch.Roland Knechtle, Leiter REBAU-Service und Holz-/Metall-Werkstatt

In der Cantinas arbeiten vorwiegend junge Erwachsene zwi-schen 18 und 25 Jahren, die den Anschluss an den ersten Ar-beitsmarkt suchen. Sie erlernen unter agogischer Küchenlei-tung das ganze Spektrum, der Gastronomie vom Kochen bis zu

den Hygienevorschriften und der Ernährungslehre. Da sie immer ein Feed-back von den Gästen bekommen, sind sie motiviert und sehen ihr Produkt. Barbara Ochsner, Leiterin Cantinas

Mit dem Elternbildungsprogramm «FemmesTISCHE» werden Migrantinnen ermutigt, sich an unserem Leben zu beteiligen. In Gesprächsrunden werden ihnen Inhalte vermittelt, bei-spielsweise über das Schulsystem und eine gesunde Ernäh-

rung, Die Erfahrungen zeigen, dass die Migrantinnen aufblühen und den Mut aufbringen, Alltagssituationen selbstbewusster zu meistern. Ellen Glatzl, Projektleiterin «FemmesTISCHE»

In der Schuldenberatung zeigen wir Menschen auf, wie sie mit wenig Geld haushalten und Schulden abgebaut werden kön-nen. Für Menschen mit Schulden ist es substanziell, dass sie in ihrer verzweifelten Situation unterstützt werden. Menschen

mit tieferem Bildungsniveau müssen oft Arbeiten verrichten, die schlecht be-zahlt sind, und entsprechend steigt die Verschuldungsgefahr.Lorenz Bertsch, Leiter Regionalstelle Sargans, Schuldenberater

Page 18: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

18 Nachbarn 1 / 13

Kiosk

AGENDAZertifikationslehrgang «Diakonie- animation»

Die Fachhochschule St. Gallen führt mit der Caritas St. Gallen-Appenzell und der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen den Zertifikations-lehrgang «Diakonieanimation» durch. Ziel des Lehrgangs ist es, das soziale En-gagement in Kirchen zu fördern. Der Lehrgang richtet sich an kirchliche Mitar-beitende wie beispielsweise Pfarrperso-nen, Pastoralassistentinnen/Pastoralas-sistenten, Fachpersonen der sozialen Arbeit, die im kirchlichen Umfeld tätig sind, sowie Freiwillige, die sich in leiten-der Funktion für ein Diakonie - Projektengagieren. Der Lehrgang beginnt im August 2013 und dauert bis im Mai 2014. Weitere Infos unter www.caritas-stgallen.chAnmeldeschluss: Dienstag, 23. 7. 2013

Armut macht krank

Die Regionalstelle Sargans der Caritas St. Gallen-Appenzell nimmt am Samstag, 27. April, am PizolCare-Gesundheitstag 2013 an der SIGA in Mels teil. Das The-ma ist «Armut macht krank». Die Regio-nalstelle Sargans stellt «FemmesTI-SCHE», das Elternbildungsprogramm mit Migrantinnen, die Sozial- und Schulden-beratung sowie weitere Dienstleistungen und Angebote vor.Samstag, 27. 4. 2013

Flüchtlingstag ist Begegnungstag

Der nationale Flüchtlingstag findet die-ses Jahr am Samstag, 15. Juni, statt. In St. Gallen wird dieser Tag «Begegnungs-tag» genannt. In der Marktgasse begeg-nen sich Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen. Es wird musiziert, getanzt, gekocht und informiert. Ein spannender Tag mit viel Publikum. Samstag, 15. 6. 2013

Der Stromspar-Check ist erfolgreich

Halbzeit im Stromspar-Check: Bis Ende Februar sind bei der Caritas St. Gallen-Appenzell 160 Anmeldungen von einkommensschwachen Haushalten eingegangen. Freiwillige Stromsparhelfer ermitteln in Hausbesuchen, wie ihre Kunden den Strom- und Wasserverbrauch senken könnten. Sie geben Tipps und bei Bedarf effiziente Geräte ab. Die Auswertung zeigt, dass pro Haushalt jährlich durchschnitt-lich 215 kWh und 15 m3 Wasser eingespart werden. Das Projekt «Stromspar-Check» wird aus dem europäischen Fonds für regionale Entwicklung Interreg IV sowie mit Förderbeiträgen der Kantone und Gemeinden unterstützt und läuft noch bis 2014. www.caritas-stgallen.ch/stromsparcheck

?

Ihre Frage an uns

Die Zahl der Working Poor geht zurück. Löst sich also das Problem der Armut von selbst?

Marianne Hochuli, Leiterin Bereich Grundlagen bei Caritas Schweiz: «Zwischen 2008 und 2010 ist die Armutsquote der er-werbstätigen Bevölkerung laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) etwas gesunken. Dazu mag die verbesserte Arbeitsmarkt-lage der Jahre zuvor beigetragen haben. Denkbar ist aber auch, dass ein Teil der Working Poor ausgesteuert wurde und darum gar nicht mehr in der Statistik erscheint. Im Jahr 2010 waren nach BFS 120 000 Personen im Erwerbsalter arm, obwohl sie ar-beiteten. Da diese Working Poor grösstenteils in Mehrpersonen-haushalten leben, sind auch ihre Kinder von dieser Art von Ar-mut betroffen – das ergibt eine Summe von mindestens 270 000 Personen, was für die reiche Schweiz viel zu viel ist.Um diese Zahl zu senken, fordert Caritas faire Löhne, die Verein-barkeit von Beruf und Familie sowie Aus- und Weiterbildungen

für alle. Mit Frühförderprojekten oder Mentoring von jungen Menschen in der Ausbildung setzen wir uns auch konkret dafür ein, dass armutsbetroffene Men-schen die Chance erhalten, ihr Leben selbstbewusst in die Hand nehmen zu können.»

Haben Sie auch eine Frage an uns? Gerne beantworten wir diese in der nächsten Ausgabe von «Nachbarn». Senden Sie Ihre Frage per E-Mail an [email protected] oder per Post an:

Redaktion NachbarnCaritas Zürich Beckenhofstrasse 16, Postfach8021 Zürich

Page 19: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

19Nachbarn 1 / 13

Gedankenstrich

Engel

Paul Steinmann wohnt in Rikon. Nach einem Theologiestudium war er im Theater tätig, zuerst als Schauspieler, dann als Regisseur, er arbeitet jetzt vor allem als Autor. Er pendelt zwischen Freilichttheater und Kabarett, Musical und Kinderstücken. Aktuelles unter www.paulsteinmann.ch

Illustration: Patric Sandri

ie erwachte in ihrem Bett. Noch liegend versuchte sie sich an ein Gesicht von ges-

tern zu erinnern. Dann stand sie auf und wunderte sich, dass sie die Kleider schon anhatte. Die Schuhe musste sie suchen. Sie standen auf dem Fernsehkasten. Beide akkurat nebeneinander. Mit einer Bürste fuhr sie sich durch die graublonden Haare. Sie hatte Kopfschmerzen. Mit jedem Bürstenstrich wurden sie grösser. Sie blickte nicht in den Spiegel, als sie auf die Toilette ging. Sie setzte sich auf die Schüssel, pinkelte und zog dann den Man-tel an, den sie einst in einem Klei-dersack gefunden hatte. Man sah, dass er einmal hell gewesen war. Jetzt schimmerte er in einem leicht speckigen Graubraun. Für sie war er aber noch immer «mein weisser Mantel». Dann ging sie die Treppe hinun-ter, schaute in ihren Briefkasten, nahm die Gratiszeitung heraus und schaute schnell die Bilder an. Manchmal buchstabierte sie sich ein Wort zusammen. Vor allem, wenn sie wissen wollte, wie der Mensch hiess, der sie aus der Zei-tung heraus freundlich anlächelte. Sie speicherte den Namen. Sie spei-cherte das Gesicht. Dann ging sie los. Ihre Sachen erledigen.Wenn sie gefragt wurde, was sie hier mache, am Bahnhof oder auf dem Marktplatz, dann dachte sie nach und sagte schliesslich immer: «Ich muss schauen, dass nichts passiert.» Wenn man nachfragte, fügte sie manchmal leise hinzu: «Ich bin ein Engel. Aber du darfst

es nicht weitersagen.» Dazu nick-te sie nachdrücklich mit dem Kopf und suchte in einem ihrer Plastik-säcke eine Zigarette.Sie kannte viele Leute vom Sehen. Sie hatte eine Menge Gesichter und Namen gespeichert. Am liebsten waren ihr jene Leute, die ihr ab und zu eine Zigarette vorbeibrachten. «Ich bin ein Engel, der sich seine Wolke selber macht», lachte sie beim Rauchen. Und dann sah man, dass sie nicht mehr so viele Zähne hatte. Sie war einfach immer dort in ihrem graubraunen Mantel, mit ihren Plastiksäcken und schau-te, dass nichts passierte. Sie war dort und doch nicht ganz dort. Sie erledigte ihre Sache. Sie war nicht dumm. Aber sie teilte sich nicht mit. Sie sah alles und hörte alles und tat nichts und wollte nichts. Ausser ab und zu eine Zigarette. Niemand fragte sie nach ihrer Mei-nung. Niemand wollte ihr etwas verkaufen.

Wenn es dunkel wurde, kaufte sie sich einen Liter Rotwein und manchmal etwas Brot und ging dann wieder zurück in ihre Woh-nung. Dort zog sie die Schuhe aus, hängte ihren Mantel an einen Na-gel, öffnete die Flasche und trank einen Schluck. Und noch einen. Und noch einen.

S

Page 20: Nachbarn 1/2013 St. Gallen

www.gegen-armut.ch

SMS

5 Franken spenden:

Armut 5

an 227

Einfach per

SMSEinfach

eigentlich wissen wir alle, was richtig ist. Tun wir es.

Bildungschancen verbessern: Teil unserer Arbeit gegen Armut.

eigentlich ist die Schule für alle da.