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S Als Wilhelm Schlenk, 56-jährig, aufgrund politischer Inkompatibili-tät zum 1. Oktober 1935 von Berlin nach Tübingen ziehen musste, war sein wissenschaftlicher Ruhm lange begründet: nach den Stationen Mün-chen, Jena und Wien hatte ihn im Jahr 1921 die Friedrich-Wilhelms-Universität – die heutige Humboldt-Universität – nach Berlin berufen. Er sollte als Nachfolger von Emil Fi-scher am damals wohl renommier-testen deutschen Lehrstuhl lehren und forschen (Abbildung 1).1)

Die Machtübernahme der Natio-nalsozialisten im Jahr 1933 schwächte Wilhelm Schlenks Posi-tion in Berlin maßgeblich. Schlenk machte aus seiner demokratischen Gesinnung keinen Hehl, er weiger-te sich zum Beispiel, seine Vorle-sungen mit dem Hitlergruß zu be-ginnen.2) Auch die antisemitische Ideologie der Nazis war Schlenk zuwider. Bereits im Jahr 1925 hatte er Richard Willstätter seine Stelle angeboten, nachdem dieser, von den ständigen antisemitischen Ausfällen frustriert, seine Professur in München aufgegeben hatte.3)

Im Jahr 1935 wollte die Universi-tät Tübingen einen Nachfolger für

Jakob Meisenheimer an den Lehr-stuhl für Chemie berufen. Im Febru-ar favorisierte die Tübinger Fakultät mit Befürwortung durch den Senat den 32-jährigen Danziger Chemie-Professor Adolf Butenandt.4) Dieser Vorschlag ließ sich jedoch beim Württembergischen Kultusministe-rium und beim Reichs- und Preußi-schen Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung nicht durchsetzen. Der Nachnominierung des 37-jährigen Karl Ziegler, zu der Zeit außerordentlicher Professor in Heidelberg, durch die Naturwissen-

schaftliche Fakultät, kam Berlin am 20. Mai 1935 mit der Versetzung von Schlenk nach Tübingen zuvor.5) Die Tübinger Chemie begrüßte die Entscheidung freudig.4)

Sehr zum Leidwesen von Wil-helm Schlenk hielten ihn jedoch die mit der Funktion des Institutsvor-stands verknüpften administrativen Aufgaben, der „zermürbende Kampf mit dem Kleinkram“4) und schließ-lich der Personalmangel in den Kriegsjahren von der geliebten For-schertätigkeit und der Veröffentli-chung weiterer wissenschaftlicher

Reiner Anwander

Wilhelm Schlenk, Mitbegründer der metallorganischen Chemie, wurde im Jahr 1935 aus politischen

Gründen aus der Hauptstadt Berlin in die schwäbische Kleinstadt Tübingen versetzt.

Schlenk in Tübingen

BChemiegeschichteV

Abb. 1. Wilhelm Johann Schlenk (geboren am 22. März 1879 in München; gestorben am

28. April 1943 in Tübingen) und seine Dienstlaufbahn.1) (Fotos: Universitätsarchiv Tübingen)

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CC O O C

blau violett

Na Na ONa Na

Na

H Na

H Na

(1)

(2)

(3) (4)2 RMgX MgR2 + MgX2

R = Alkyl, ArylX = Halogenid

(5)

Originalarbeiten ab. Auch war es ihm nicht mehr vergönnt, den drit-ten und letzten Band „Ausführliches Lehrbuch der Organischen Chemie“ fertig zu stellen und so ist der im Jahr 1939 erschienene zweite Band dieses Lehrbuchs wohl Schlenks letzte Publikation.6) Der erste Band war 1932 erschienen.

Trotzdem bezeichnete Wilhelm Schlenk seine Tübinger Jahre rück-blickend als „fruchtbare, schöne und besonnte Zeit.“4) Dies ist ein überraschendes Resümee, sowohl in Anbetracht der Umstände als auch in Bezug zum Wissenschafts-wettbewerb, obwohl dieser damals noch nicht in dem Umfang wie heute durch das Motto „Publish or Perish“ diktiert wurde.

Auch die Universität Tübingen schätzte Schlenk. Die Ehrungen anlässlich seines 60. Geburtstags und die Mitteilung des Dekans zu seinem Tod am 28. April 1943 he-ben neben der Liebe zur Wissen-schaft sein Verantwortungsgefühl für die Studierenden hervor:4) „In den letzten Jahren ohne eigenen Laboranten und selbst ohne den geringsten Helfer für Handreichun-

gen, führte er seine Vorlesungen unentwegt und unverändert durch als Vortragender und als sein eige-ner Diener, der die anspruchsvolle chemische Experimentalvorlesung treu und geduldig eigenhändig auf-stellte und abräumte und die hun-dert Gläser und Flaschen, deren sie täglich bedurfte, wortlos selbst rei-nigte.“

In diesen Worten schwingt aller-dings auch Bitterkeit darüber mit, wie mit diesem großen Chemiker umgegangen wurde. Die Deutsche Chemische Gesellschaft hatte ihn im Jahr 1942 unter politischem Druck ausgeschlossen.

Pionier der metallorganischen Chemie

S Nur eine begrenzte Auswahl an Wilhelm Schlenks wissenschaftli-chen Leistungen – er wurde zwei-mal für den Chemie-Nobelpreis no-miniert – soll Erwähnung finden.

Schlenk begann im Jahr 1906 im Chemischen Laboratorium in Mün-chen seine Habilitation mit den ers-ten selbstständigen Forschungsar-beiten über chinoide Verbindun-

gen.7) Damals bot insbesondere eine bahnbrechende Entdeckung von Moses Gomberg aus dem Jahr 1900 Diskussionsstoff.8) Gomberg hatte nämlich die erste Verbindung mit dreiwertigem Kohlenstoff und somit das erste freie organische Radikal, das Triphenylmethyl, dargestellt. Schlenks Experimente waren es, die jeglichen Zweifel an der Existenz des Gombergschen Radikals ausräum-ten.2) Mit substituierten Triarylme-thylen konnte er die ausgeprägte Neigung des Triphenylmethyls zur Dimerisierung elegant zurückdrän-gen. So entstand in Lösung mono-molekulares Tris(4-biphenylyl)me-thyl (1) als graphitschwarze kristal-line Verbindung (Abbildung 2).9)

Zur gleichen Zeit weckten die von Ernst Beckmann und Theodor Paul im Jahr 1891 gefundenen tiefblau gefärbten etherischen Lösungen (2),10) die sich aus Diarylketonen mit metallischem Natrium ergeben, ein großes Interesse bei Schlenk. Er vermutete dahinter eine neue Klasse von Verbindungen mit dreiwertigem Kohlenstoff. Den Nachweis der Ra-dikalnatur dieser Verbindungen er-möglichte neben der Variation der Arylgruppen und Alkalimetalle (Li, Na, K)11) schließlich eine neue Ar-beitstechnik. Mit dieser – bald nach ihrem Erfinder „Schlenk-Technik“ genannten – Arbeitsweise ließen sich luft- und feuchtigkeitsempfind-liche Substanzen unter Inertgas in speziellen Glasapparaturen handha-ben (Abbildung 2).12) Original-Schlenk-Apparaturen sind heute noch in Tübingen zu sehen.

Die wahrscheinlich erste isolierte metallorganische Verbindung im Schlenkschen Labor war im Jahr 1914 das Dinatriumanthracen (3).13)

Weitere Arbeiten zu den Arylme-thyl-Kohlenstoffen mündeten in der Isolierung des ersten stabilen Diradi-kals, dem Schlenk-Kohlenwasser-stoff (4).14)

Die Synthese der ersten Organo-lithiumverbindungen, darunter mi-krokristallines Methyllithium und einkristallines Ethyllithium, über Transmetallierungsreaktionen mit den entsprechenden Quecksilberal-kylen, und die Charakterisierung

Abb. 2. Mit speziellen Glasapparaturen realisierte Wilhelm Schlenk einige Highlights der Radikal- und

metallorganischen Chemie.

952 BMagazinV Chemiegeschichte

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der Natriumalkyle sind Meilenstei-ne der Organometallchemie.15) Be-eindruckend ist auch die Isolierung von hochexplosivem Mononatrium-hydrazid und dessen Entschärfung über eine Alkoholyse-Reaktion.16)

Die weiteren Forschungsarbei-ten zur Organometallchemie de-monstrieren die Experimentier-kunst im Schlenkschen Labor. Ein Highlight ist die Aufklärung des Gleichgewichts (5), welches sich in Lösungen von Grignard-Rea-genzien einstellt.17) Schlenk fand dieses im Jahr 1929 zusammen mit seinem Sohn Wilhelm Jr. durch fraktionierte Fällungen mit Di-oxan; bis heute ist es als Schlenk-Gleichgewicht bekannt.

Thomas Tidwell, Chemie-Profes-sor Emeritus an der Universität To-ronto, hat in seinem Aufsatz „Wil-helm Schlenk: The Man Behind the Flask“ Leben und Werk sowie Auf-

stieg und Fall dieses brillanten Wis-senschaftlers nachgezeichnet.2) Er schließt darin mit den Worten: „Nicht nur als großartiger Wissen-schaftler, sondern auch als Mann mit Mut und Integrität, der seine hohe gesellschaftliche Stellung riskierte, indem er dem nationalsozialistischen Regime Widerstand leistete, sollte Wilhelm Schlenk in Erinnerung blei-ben. Er sollte Vorbild für die Wissen-schaftler aller Länder sein, denn er zeigte, dass das Streben nach Wissen nicht von der Pflicht entbindet, mo-ralische Prinzipien zu verteidigen.“

Ähnliches mag man aus der An-sprache des Dekans bei der Beerdi-gung von Wilhelm Schlenk am 1. Mai 1943 in Tübingen herauslesen, als er dessen Leben und Ende mit dem Schiller-Zitat beschrieb: „Nicht dem Guten gehöret die Erde. Er ist ein Fremdling und wandert aus. Und suchet ein unvergänglich Haus.“

Reiner Anwander ist seit dem Jahr 2008 Pro-

fessor für anorganische Chemie an der Univer-

sität Tübingen.

Literatur und Anmerkungen

1) Univ.-Archiv Tübingen, Signatur 126/588.

2) T. T. Tidwell, Angew. Chem. 2001, 113,

343–349.

3) R. Willstätter, Aus Meinem Leben, Verlag

Chemie, Weinheim, 1973, S.347.

4) Univ.-Archiv Tübingen, Signatur 201/955.

5) Univ.-Archiv Tübingen, Signatur 205/111.

6) a) W. Schlenk, Ausführliches Lehrbuch der

Organischen Chemie, Band II, Deuticke,

Leipzig, 1939; b) W. Schlenk, E. Bergmann,

Ausführliches Lehrbuch der Organischen

Chemie, Band I, Deuticke, Leipzig, 1932.

7) W. Schlenk, Liebigs Ann. Chem. 1909,

368, 277–295.

8) a) M. Gomberg, Ber. Dtsch. Chem. Ges.

1900, 33, 3150–3163; b) M. Gomberg, J.

Am. Chem. Soc. 1900, 22, 757–771.

9) W. Schlenk, T. Weickel, A. Herzenstein,

Liebigs Ann. Chem. 1910, 372, 1–20.

10) E. Beckmann, T. Paul, Liebigs Ann. Chem.

1891, 266, 1–28.

11) a) W. Schlenk, T. Weickel, Ber. Dtsch.

Chem. Ges. 1911, 44, 1182–1189;

b) W. Schlenk, A. Thal, Ber. Dtsch. Chem.

Ges. 1913, 46, 2840–2854.

12) a) W. Schlenk in Methoden Org. Chem.

(Houben-Weyl) Bd. 4, 2.Aufl., 1924, S.

720–978; b) www.rsc.org/chemistryworld/

Issues/2008/January/ClassicKitSchlenk

Apparatus.asp

13) W. Schlenk, J. Appenrodt, A. Michael, A. Thal,

Ber. Dtsch. Chem. Ges. 1914, 47, 473–490.

14) W. Schlenk, M. Brauns, Ber. Dtsch. Chem.

Ges. 1915, 48, 661–669.

15) W. Schlenk, J. Holtz, Ber. Dtsch. Chem.

Ges. 1917, 50, 262–274.

16) W. Schlenk, Th. Weichselfelder, Ber. Dtsch.

Chem. Ges. 1915, 48, 669–676.

17) W. Schlenk, W. Schlenk, Jr., Ber. Dtsch.

Chem. Ges. 1929, 62B, 920–924.

Der Autor bedankt sich bei Tom Tidwell,

Cornelia Schlenk, Edward Schlenk, Georg

Schlenk, Gerhard Riethmüller, Thomas

Ziegler, Eberhard Schweda, Tom Grösser und

Dieter Jahn für ihre Unterstützung.

S Zur Erinnerung und Würdigung

Die Universität Tübingen würdigt

Wilhelm Schlenk als großartigen

Wissenschaftler und Mitbegründer

der metallorganischen Chemie so-

wie als integre Persönlichkeit mit Zi-

vilcourage mit der neu geschaffe-

nen Schlenk-Lecture.19) Die Schlenk-

Lecture wird von der BASF als BASF-

Gastprofessur für Metallorganische

Chemie gesponsert und im Zwei-

Jahres-Rhythmus für herausragen-

de mechanistische Arbeiten in der

metallorganischen Chemie verlie-

hen. Warren E. Piers von der Univer-

sität Calgary wird am 27. Oktober

als erster Schlenk-Lecturer ausge-

zeichnet und über „Perfluoroarylbo-

ranes: Metal Free Alternatives to

Bond Breaking and Bond Making“

vortragen. Als weiterer Gast spricht

Thomas Tidwell über: „Wilhelm

Schlenk and the Discovery of Organ-

ic Reactive Intermediates“.

Eine weitere Auszeichnung in Erin-

nerung an Wilhelm Schlenk ist der

Arfvedson-Schlenk-Preis. Diesen ver-

leiht seit dem Jahr 1999 die GDCh

nach Abstimmung mit dem Preis-

stifter Chemetall an Forscher, die

sich in der Lithiumchemie verdient

gemacht haben. Gustav Arfvedson

entdeckte 1817 das Lithium. Dieses

erlangte insbesondere durch die Ar-

beiten von Wilhelm Schlenk eine

wichtige wissenschaftliche und in-

dustrielle Bedeutung.

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