Screening und Kurzintervention bei Alkoholmissbrauch
Bruno NeunerInstitut für Epidemiologie und
Sozialmedizin, Donnerstag, 03.12.2009
Alkoholkonsum pro Jahr
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS)http://www.dhs.de/web/datenfakten/alkohol.php
Alkoholkonsum pro Jahr
* einschließlich Wermut- und Kräuterwein** einschließlich Spirituosen-Mischgetränkea vorläufige Schätzungb revidierte Schätzung
Alkoholbezogene Störungen
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS)http://www.dhs.de/web/datenfakten/alkohol.php
Alkoholbedingte Sterbefälle in Deutschland
Daten basierend auf der amtlichen Todesursachenstatistik (Auswertung aller Leichenschauscheine)
DeStatis: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Querschnittsveroeffentlichungen/WirtschaftStatistik/Leseprobe/WistaMaerz07,property=file.pdf
Standardisierte Sterbeziffern für Todesfälle infolge von Alkohol, Suiziden und Verkehrsunfällen
Daten basierend auf der amtlichen Todesursachenstatistik (Auswertung aller Leichenschauscheine)
DeStatis: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Querschnittsveroeffentlichungen/WirtschaftStatistik/Leseprobe/WistaMaerz07,property=file.pdf
Regionaler Vergleich der alkoholbedingten Sterblichkeit
Alkoholkonsum in Ost- und Westdeutschland
Quelle: Robert Koch Institut (2003) Bundes-Gesundheitssurvey: Alkohol, Konsumverhalten in Deutschland.
Alkoholkonsum bei Jugendlichen
• 2006: 24.380 10-20-Jährige in stationärer Behandlung aufgrund ihres Alkoholkonsums1
• KIGGS (05/2003 – 05/2006), n = 17.641• EsKiMo (Ernähungsstudie als KIGGS-Modul)
– Subgruppe der 12-17-Jährigen (n = 1.272)– „Face-to-Face“ Ernährungsinterview– DISHES (Dietary Interview Software for Health
Examinations)
(1) Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (2009): Jahrbuch Sucht 2009
Alkoholkonsum bei Jugendlichen
Quelle: Kohler S et al. (2009) Bundesgesundheitsblatt, 52:745-752
Jungen Mädchen
12 - 13 J.n = 219
14 – 15 J. n = 209
16 – 17 J.n = 194
12 - 13 J.n = 215
14 – 15 J.n = 234
16 – 17 J.n = 201
Gramm / Tag * 0.1 ± 0.4 2.2 ± 7.1 10.4 ± 17.8 0.1 ± 0.2 1.6 ± 4.7 3.8 ± 7.2
12 – 24 g / Tag 0 % 2.6 % 15.2 % 0 % 2.9 % 5.5 %
> 24 g / Tag 0 % 2.2 % 11.1 % 0 % 0.6 % 0.7 %
* Mittelwert ± Standardabweichung
Gefragt wurde nach dem durchschnittlichen Alkoholkonsum der letzten vier Wochen.
Alkoholkonsum bei Erwachsenen
Quelle: Robert Koch Institut (2003) Bundes-Gesundheitssurvey: Alkohol, Konsumverhalten in Deutschland.
Binge Drinking bei Jugendlichen
• „Rauschtrinken“• ♀ 4 oder mehr Standardeinheiten Alkohol, bzw.• ♂ 5 oder mehr Standardeinheiten Alkohol• bei einer Gelegenheit• mit dem Ziel einen Rausch herbeizuführen
Quelle: Stolle et al. (2009) D Ärzteblatt, 106:323-28
Standard Drink
Quelle: Babor et al. (2001) WHO, Department of Mental Health and Substance Dependence.http://whqlibdoc.who.int/hq/2001/WHO_MSD_MSB_01.6a.pdf
Binge Drinking bei Jugendlichen• Daten aus der ESPAD-Studie*• Schüler aus der 9./10. Klasse in Bayern, Berlin, Brandenburg,
Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Thüringen
* Europäische Schülerstudie zu Alkohol und anderen Drogen, Kraus et al. (2008), IFT-Bericht, Bd. 165
Binge Drinking bei Erwachsenen
Quelle: Kraus L et al. (2001) , Gesundheitswesen 63: 775-82, basierend auf 15.017 Studienteilnehmern im Alter von 18 – 59 Jahren , die 1995 und 1997 per Fragebogen befragt wurden.
Alkoholkonsum im europäischen Vergleich
Quelle: Robert Koch Institut (2003) Bundes-Gesundheitssurvey: Alkohol, Konsumverhalten in Deutschland.
Alkoholkonsum im europäischen Vergleich
• permissive Trinkkultur (Frankreich, Russland)• insgesamt leicht rückläufiger Konsum• Europäische Situation vergleichbar (höchster
Konsum in Finnland)• Konsum und Folgeschäden > ♂ ♀• Kinder, Jugendliche zunehmend betroffen
Werbeaufwendungen
Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS)http://www.dhs.de/web/datenfakten/alkohol.php
Einnahmen aus alkoholbezogenen Steuern*
* in Millionen Euro** ab 2005 inklusive AlkopopsteuerQuelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS)http://www.dhs.de/web/datenfakten/alkohol.php
Volkwirtschaftliche Kosten im Jahre 2005
ICD-10-Definitionen
• Kapitel V der ICD-10Psychische und Verhaltensstörungen(F00-F99) , das F1.-Kapitel
• Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen(F10-F19) (0 = Störungen durch Alkohol
1 = Störungen durch Opioide 2 = Störungen durch Cannabinoide ……
• .1 Schädlicher Gebrauch = Missbrauch• Konsum psychotroper Substanzen, der zu Gesundheitsschädigung
führt. Diese kann als körperliche Störung auftreten, etwa in Form einer Hepatitis nach Selbstinjektion der Substanz oder als psychische Störung z.B. als depressive Episode durch massiven Alkoholkonsum.
ICD-10-Definitionen
• .2 Abhängigkeitssyndrom = chronischer Alkoholismus
• Eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln.
ICD-10: Abhängigkeitssyndrom
• starker Wunsch oder Zwang Alkohol zu konsumieren• verminderte Kontrollfähigkeit über Beginn,
Beendigung und Menge des Konsums• körperliche Entzugssyndrome• Alkoholkonsum, um Entzugssymptome zu mildern• Nachweis der Toleranz• eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit Alkohol• fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen
oder Interessen• anhaltender Konsum trotz Nachweises schädlicher
(gesundheitlicher, psychischer und sozialer) Folgen
Konsumklassen für Erwachsene• Risikoarmer Konsum
♂ bis 30 (40) Gramm Alkohol / Tag♀ bis 20 Gramm Alkohol / Tag
• Riskanter Konsum♂ 30 (40) bis 60 Gramm Alkohol / Tag♀ 20 bis 40 Gramm Alkohol / Tag
• Gefährlicher Konsum♂ 60 bis 120 Gramm Alkohol / Tag♀ 40 bis 80 Gramm Alkohol / Tag
• Hochkonsum♂ > 120 Gramm Alkohol / Tag♀ > 80 Gramm Alkohol / Tag
Quelle: Wissenschaftliches Kuratorium der DHS (2003), Suchtmedizinische Reihe, Band 1, Seite 14 ff
Definitionen mittels Trinkmengen
• Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) definiert einen täglichen Alkoholkonsum von 20g / Tag für Männer und 10 g / Frauen als Höchstmenge für gesundheitlich verträglichen Alkoholkonsum
Gesundheitsschädigender Alkoholkonsum
Quelle: Robert Koch Institut (2003) Bundes-Gesundheitssurvey: Alkohol, Konsumverhalten in Deutschland.
Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit
Quelle: Schmidt L (1997), D Ärzteblatt 44: A2905 – 08Toleranzbruch bedeutet nicht mehr vorhandene Alkoholverträglichkeit
Übergang von Alkoholmissbrauch zu …
• .1 Schädlicher Gebrauch = Missbrauch• Konsum psychotroper Substanzen, der zu
Gesundheitsschädigung führt. Diese kann als körperliche Störung auftreten, etwa / ….. / als psychische Störung z.B. als depressive Episode durch massiven Alkoholkonsum.
… Alkoholabhängigkeitssyndrom
• anhaltender Konsum trotz Nachweises schädlicher (gesundheitlicher, psychischer und sozialer) Folgen
• fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen
• eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit Alkohol• Nachweis der Toleranz• starker Wunsch oder Zwang Alkohol zu konsumieren• verminderte Kontrollfähigkeit über Beginn,
Beendigung und Menge des Konsums• körperliche Entzugssyndrome• Alkoholkonsum, um Entzugssymptome zu mildern
Symptome des Übergangs
• Unfälle!• „Minor trauma“
Quelle: Neuner B et al. (2005), Health Qual Life Outcomes, 3:77
Symptome des Übergangs
• unspezifische Beschwerden– psychische Beschwerden: Depressivität /
Nervosität / Stress / abnehmende Belastungsfähigkeit / Müdigkeit / Energielosigkeit
– körperliche Beschwerden: Magenschmerzen / Übelkeit / plötzliche Schweißausbrüche / Schwindel / Schlafstörungen
Quelle: Schmidt L (1997), D Ärzteblatt 44: A2905 - 08
Hohe Prävalenz von Patienten mit Alkoholmissbrauch in …
• allgemeinmedizinischen Praxen• Rettungsstellen• stationären, nicht-psychiatrischen
Einrichtungen („Innere Medizin“, „Unfallchirurgie“)
• 70% aller Kontakte mit Suchtkranken finden in Arztpraxen statt
Quelle: Schmidt L (1997), D Ärzteblatt 44: A2905 - 08
Diagnostik von Alkoholmissbrauch
Non-Screeners (n = 107):
Too busy 46.6%
Not enough treatment resources 45.4%
Don‘t know how 21.6%
Not what I was trained to do 22.7%
Not my responsibility 6.8%
Diagnostik von Alkoholmissbrauch
Anamnese• Bereitschaft des Arztes• Patienten führen zumeist Beschwerden nicht auf Alkoholkonsum zurück• Kausalitätsumkehr• Bagatellisierungstendenz• Angst vor / Gefahr der Stigmatisierung
Diagnostik von AlkoholmissbrauchLabordiagnositk
• Leberenzyme (GGT, GOT, GPT)• mittleres korpuskuläres Volumen (MCV)• ETG (Ethylenglukuronid)
• sehr sensitiver Marker auch für geringen Alkoholkonsum (z.B. forensische Indikationen)
• CDT (kohlenhydrat-defizientes Transferrin) • Glykoprotein• erhöhte CDT-Werte nach mehrwöchentlichem Alkoholkonsum (von > 60 g/Tag für und > 50 ♂g/Tag für )♀
CAGE-FragebogenC = Cut down: „Haben Sie (erfolglos) versucht, Ihren Alkoholkonsum einzuschränken?“A = Annoyed: „Haben andere Personen Ihr Trinkverhalten kritisiert und Sie damit verärgert?“G = Guilty: „Hatten Sie schon Schuldgefühle wegen Ihres Alkoholkonsums?“E = Eye Opener: „Haben Sie jemals schon gleich nach dem Aufstehen getrunken, um ‚in die Gänge zu kommen‘ oder sich zu beruhigen?“
2 Fragen mit „ja“ >>>> Verdacht auf Alkoholabhängigkeit
Alcohol Use Disorder Identification Test (AUDIT)
Quelle: Babor et al. (2001) WHO, Department of Mental Health and Substance Dependence.http://whqlibdoc.who.int/hq/2001/WHO_MSD_MSB_01.6a.pdf
AUDIT Fragen 8 - 10
Quelle: Babor et al. (2001) WHO, Department of Mental Health and Substance Dependence.http://whqlibdoc.who.int/hq/2001/WHO_MSD_MSB_01.6a.pdf
AUDIT, Therapiealgorithmus
Quelle: Babor et al. (2001) WHO, Department of Mental Health and Substance Dependence.http://whqlibdoc.who.int/hq/2001/WHO_MSD_MSB_01.6a.pdf
EHES
Elektronisches Handbuch zu Erhebungsinstrumenten im Suchtbereich
http://wwwpsy.uni-muenster.de/institut1/ehes/startseite.htm
Intervention bei 0 – 7 AUDIT-Punkten• positives Feedback bezüglich eines ungefährlichen Alkoholkonsums
• „Patients should be reminded about the benefits of low risk drinking or abstinence and /…/ not to drink in certain circumstances“
Therapie 8 – 15 AUDIT-Punkte• „simple advice focused on the reduction of hazardous
alcohol“ or „patient education materials“
• Kurzberatung (3 – 15 (20) Minuten) nach den 5 „A“s– verbale Instruktion eines Arztes den Alkoholkonsum zu reduzieren,
unabhängig davon, ob Informationen über die gesundheitsschädigende Wirkung des Alkohols gegeben wird
5 „A“s• ask (Abfragen der Konsumgewohnheiten)• advice (Anraten einer Verhaltensänderung)• assess (Ansprechen der Änderungsmotivation)• assist (assistieren bei de Verhaltensänderung)• arrange (Arrangieren der Nachbetreuung)
High Impact = High Reach × Low Efficacy
Meta-Analyse von SBI im Hausarztsetting
Scott: Intervention: 10 min Physician advice + self help material Outcome: change in number of drinks / week after 1 year
Fleming: Intervention: two times 10-15 min Physician advice + 2 telephonebooster sessions + self help materialOutcome: change in number of drinks / week after 1 year
Quelle: Beich et al. (2003) BMJ, 327: 536-42
„Injury recurrence“ nach SBI
Intervention: max. 30 min motivierendes Interview + and a handwritten follow-up letter summarizing the session was sent to the patient 1 month later
Quelle: Gentilello L (1999) Ann Surg, 230: 473-80
Changes in alcohol intake in mean number of standard drinks
%
Injury recurrence in 3 years
Therapie 16 – 19 AUDIT-Punkte• „combination of simple advice, brief counseling and
continued monitoring “
• Motivational Interviewing nach den 5 „R“s (10 – 90 Minuten)– Klärung und Stärkung der Motivation– Zielvereinbarungen– Follow-up / Booster-Sessions / Continued monitoring
Motivational Interviewing• oder auch „motivierende Gesprächsführung“• Form des Arzt-Patienten-Gesprächs mit dem
Ziel– ein Vertrauensverhältnis zu schaffen,– die Inanspruchnahme von Hilfen zu fördern,– kognitive und emotionale Voraussetzungen für
eine Verhaltensänderung zu schaffen
Quelle: John U et al. (2001), D Ärzteblatt, 98: A2438 - 42
5 Grundprinzipien von MI• empathische Grundhaltung• Wahrnehmung von Diskrepanzen fördern• konfrontative, moralisierende und
stigmatisierende Äußerungen vermeiden• Abwehr bearbeiten• Selbstwirksamkeit stärken
Quelle: John U et al. (2001), D Ärzteblatt, 98: A2438 - 42
5 „R“s• relevance (Relevanz der Verhaltensänderung
verdeutlichen)• risks (Risiken benennen, Aufklärung über
gesundheitliche und soziale Folgen)• rewards (Vorteile, Benefits einer Verhaltensänderung
verdeutlichen)• roadblocks (Hindernisse und Schwierigkeiten
ansprechen)• repetiton (Wiederholung der motivationsfördernden
Strategien)
Präkontemplation
Kontemplation
Aktion
Aufrechterhaltung
Transtheoretische Modell, Stadien
Quelle: Prochaska, J Consult Clin Psychol (1983); 51:390-5
Präparation
Transtheoretische Modell, Veränderungsprozesse
• „Processes of Change“• Kognitiv-affektive Prozesse
– Steigern des Problembewusstseins– Emotionales Erleben– Neubewertung der Umwelt und des Selbst– Wahrnehmung förderlicher Bedingungen
• Verhaltensorientierte Prozesse– Selbstverstärkung– Kontrolle der Umwelt– Nutzen von Hilfen– Selbstverpflichtung– Gegenkonditionierung [Schwächung unerwünschten und Stärkung
erwünschten Verhaltens]
Quelle: Prochaska, J Consult Clin Psychol (1983); 51:390-5
Meta-Analyse von MI
a standard drinks per weekb standard drinks per dayc standard drinks per drinking occasionBetween group effect size = ARR / pooled standard deviation
Quelle: Vasiliki et al. (2006) Alcohol Alcohol, 41: 328-35
Zusammenfassung•Patienten mit Alkoholmissbrauch werden nicht von Suchtexperten behandelt• Screening mittels Anamnese, Fragebögen und Labor• Etablierte Behandlungsalgorithmen sind vorhanden• aus Public Health-Sicht ist ihre Umsetzung wünschenswert• Ausbildung, Durchführung und Vergütung von SBI noch zu verbessern
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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