Download - Streifzug durch die Erwachsenenbildung · 2014. 4. 16. · Gernot Graeßner Streifzug durch die Erwachsenenbildung - Von den Schwierigkeiten, Menschen auf ihre unre-gelmäßigen Gewohnheiten

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  • Streifzug durch die Erwachsenenbildung

  • Gernot Graeßner

    Streifzug durch die Erwachsenenbildung - Von den Schwierigkeiten, Menschen auf ihre unre-gelmäßigen Gewohnheiten in der Arbeit verzichten zu machen, und den Versuchen, Bäume mit ihrer Krone zuerst einzupflanzen -

    Last lecture am 21. Januar 2010, Universität Bielefeld

    Bielefeld/Detmold 2010

  • Gernot Graeßner Last lecture am 21. Januar 2010, Universität Bielefeld Streifzug durch die Erwachsenenbildung

    Bielefeld 2010

    Druck: CC, Detmold

    © Kontaktstelle Wissenschaftliche Weiterbildung, Universität Bielefeld

    ISBN 3-980-6288-4-1

  • Inhalt

    Vorbemerkung

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    Station 1: Bildungsreform

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    Station 2: Pädagogische Missiones

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    Station 3: Das Takt der Zeit

    17

    Station 4: Strzelewicz/Borinski

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    Station 5: Anna Louise Karsch

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    Schlussbemerkung

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    Literaturhinweise

    36

    Nachweis der Abbildungen 38

  • Verzeichnis der Abbildungen

    Abbildung 1: Reformer ............................................................................................................ 10 Abbildung 2: Missionare .......................................................................................................... 14 Abbildung 3: Fragende Gesichter ............................................................................................ 16 Abbildung 4: Lancaster Schule ................................................................................................ 18 Abbildung 5: Power Loom Factory .......................................................................................... 19 Abbildung 6: Ravensberger Spinnerei, Bielefeld; „Historischer Saal“ .................................... 21 Abbildung 7: Ravensberger Spinnerei; Feinspinnsaal in den 1950er Jahren ........................... 21 Abbildung 8: Wolfsburg, Porschestraße, ca. 1960 ................................................................... 23 Abbildung 9: Wolfsburg, Kulturzentrum, jetzt Alvar Aalto-Haus ........................................... 24 Abbildung 10: Wolfsburg; Alvar Aalto-Haus – Blick in die Bibliothek ................................. 25 Abbildung 11: Fritz Borinski ................................................................................................... 27 Abbildung 12: Willy Strzelewicz ............................................................................................. 29 Abbildung 13: Anna Louise Karsch ......................................................................................... 30 Abbildung 14: G.G. mit Klangschale beim Aausklang 2010 ................................................... 40

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    Gernot Graeßner Last lecture am 21. Januar 2010, Universität Bielefeld Streifzug durch die Erwachsenenbildung - Von den Schwierigkeiten, Menschen auf ihre unregelmäßigen Ge-wohnheiten in der Arbeit verzichten zu machen, und den Versuchen, Bäume mit ihrer Krone zuerst einzupflanzen - Meine Damen und Herren, liebe Dekanin Diehm, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Familie!! Vorbemerkung Ich möchte mich zunächst einmal sehr herzlich für die Ehre bedanken, heute Nachmittag meine „last lecture“ halten zu dürfen1. Sie müssen kei-ne Angst haben, mein Vortrag wird nicht die üblichen 90 Minuten um-fassen, die den Rhythmus meines beruflichen Lebens weitestgehend be-stimmt haben, aber 60 Minuten etwa müssen Sie mir geben, bis ich mich für Ihre etwaige Aufmerksamkeit bedankt haben werde. Randy Pausch schreibt in seinen Vorüberlegungen zu seiner last lecture:

    „Was auch immer ich erreicht hatte, es war alles eine Folge mei-ner kindlichen Vorlieben und aus den Träumen und Zielen mei-ner Kindheit entstanden – und dass ich mir fast alle diese Träume erfüllen konnte, hat viel mit meinem spezifischen Charakter zu tun“ (Pausch 2008, S. 21).

    In etwa geht es auch mir so: Ich konnte mir im Laufe meines Lebens ganz viele Träume erfüllen, private und berufliche. Von letzteren wird hier heute ja im Wesentlichen die Rede sein. Allerdings, wenn ich Sie so vor mir sehe und mich hier so reden höre, komme ich mir so vor, als wenn das hier und jetzt ein ganz seltsamer Traum wäre, und ich weiß gar nicht gar nicht genau, ob dies die Wirk-lichkeit ist: Denn keine Vorlesungen in diesem wunderbaren Hörsälen in

    1 Dies ist das Manuskript der last lecture, das leicht gekürzt in der Universität Bielefeld vorgetragen wurde.

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    dieser wunderbaren Universität zu halten, kommt mir seltsam unwirklich vor. Aber nun zu meinem Thema, das ich Ihnen versprochen habe: Was eigentlich ist wichtig an der Erwachsenenbildung? Auf diese Frage bin ich gekommen, weil ich mich natürlich heute frage, welches denn der eigentliche Wert war, der mich bewegt hat, mich seit 1971 mit der Erwachsenenbildung beruflich zu beschäftigen. Aber an-gestoßen wurde die Frage auch von der Direktorin einer großstädtischen Volkshochschule, die sich in einem Gespräch, das wir im vorvergange-nen Jahr hatten, fragte, was denn eigentlich heute die Arbeit der Erwach-senenbildner zusammenhalte. Ich sage Ihnen zunächst, was nicht wichtig und das sehr kurz, denn un-wichtiges sollte man nur kurz erwähnen. Nicht wichtig scheinen mir zu sein: Curricula, Creditpoints, Module, Qualitätsmanagement, Gesetze, Geld und Teilnehmer. Natürlich wichtig, aber nur sekundär2! Denn wichtig an der Erwachsenbildung primär ist: … Die Idee! Und dieses möchte ich Ihnen mit dem versprochenen kleinen Streifzug durch die Erwachsenenbildung zeigen. Der Streifzug umfasst einen bio-grafischen Epilog und fünf Stationen. Ich hatte gedacht, dieses zum Thema meines Vortrags zu machen, weil ich das Gefühl habe, dass ich im Grunde mein ganzes Berufsleben die-sen Streifzug unternommen habe. Ich habe dabei etliches mitgenommen und mir zueigen gemacht, anderes beobachtet, manches aber auch gar nicht wahrnehmen können. Dass Bildung etwas außerordentlich interes-santes für mein Leben sein wird, habe ich übrigens sehr früh erfahren. Wer mich kennt, weiß von meiner Skepsis der Schule als Institution ge-genüber. Andererseits habe ich als Jugendlicher, wie viele andere Mit-schüler auch, erfahren, dass Lernen außerhalb der Schule reichlich Spaß machte: in Jugendgruppen, beim Sport, in Arbeitsgruppen, die Hausauf-

    2 Immerhin habe ich zu allen diesen Themen regelmäßig Seminare gehalten.

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    gaben gemeinsam machten etc. Eigentlich überall dort, wo es kein Schul-gebäude gab. Was die Skepsis der Schule gegenüber anbetrifft, so sehe ich mich hinge-gen gerne in der Nähe der Ansichten von Friedrich Nietzsche. Dieser mokiert sich nämlich darüber, dass Bildung in der Schule nur im Sitzen erworben wird und dass die geistige Tätigkeit von allen Ernährungs- und Verdauungsvorgängen abgekoppelt wird. Nietzsche empfiehlt zur Förde-rung der Bildung:

    „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schen-ken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung - in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden“ (Nietzsche 1967, S. 417),

    Den Hinweis auf dieses schöne Zitat aus „Ecce homo“ habe ich bei Horst Siebert gefunden, der dieses in einem seiner Bücher erwähnt (Sie-bert 2003, S. 70). Somit kann übrigens Nietzsche und nicht wie übli-cherweise Kurt Hahn als Vater der Erlebnispädagogik und der Outdoor-Pädagogik gelten, denn an anderer Stelle sagt Nietzsche in seiner „Göt-zen-Dämmerung“:

    „Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den heiligen Geist. Nur die ergangenen Gedanken haben Wert“ (Nietzsche 1967, S. 330).

    Aber Sie sehen auch hier schon, dass auch meine Vorliebe für bewegli-che Formen der Erwachsenenbildung seinen frühen Grund hat. Station 1: Bildungsreform Als erstes einmal möchte ich Ihnen ein Zitat vorlegen:

    „Wir haben schließlich darauf geachtet, dass der Unterricht die Individuen nicht in dem Augenblick preisgeben darf, in dem sie die Schule verlassen; dass er vielmehr alle Altersstufen umfassen muss, dass es keine gibt, in der zu lernen nicht nützlich und mög-lich ist; und dass dieser Sekundär-Unterricht umso notwendiger ist, je engere Grenzen dem Unterricht in der Kindheit gezogen waren.“

    Von wem mag dieses Zitat stammen?

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    Diejenigen, die es richtig treffen, erhalten nach der Veranstaltung als ers-te ein Glas Sekt. Ich mache das einmal wie der größte lebende Volks-bildner, Günther Jauch3, in seiner Show:

    6Streifzug durch die Erwachsenenbildung | Gernot Graeßner

    Fakultät für ErziehungswissenschaftAG 6 | Weiterbildung & Bildungsmanagement

    Wo vom stammt dieses Zitat?

    Alphabetische Reihenfolge:

    A: Johann Amos Comenius (1657)?

    B: Marquis de Condorcet (1792)

    C: Ferdinand Lassalle (1862)

    D: ??

    Abbildung 1: Reformer Richtig ist: Condorcet: Bericht und Entwurf einer Verordnung über die allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichtswesens, der Nationalversammlung im Na-men des Komitees für öffentlichen Unterricht am 20. und 21. April 1792 vorgelegt! (Condorcet 1966, S. 22; Original 1792) Sie sehen, lebenslanges Lernen ist keine neue Erfindung, weder der bil-dungsökonomischen Bestrebungen der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, noch ein Ergebnis der Interessenartikulation politischer Gruppen, sondern lebenslanges Lernen war bereits Teil jener revolutio-nären Bewegung, die unser politisches und soziales Zusammenleben nach wie vor maßgeblich beeinflusst. Ich bin nicht Historiker genug um

    3 „Der Volksunterricht — ich spreche hier von dem Unterricht der Erwachsenen — war im Mittelalter der Geist-lichkeit überlassen. Seitdem haben die Zeitungen dies Amt übernommen.“ Gefunden bei Ferdinand Lassalle, Das Arbeiterprogramm 1862; man sieht: such unter ganz anderen historischen Bedingungen waren kritische Geister sehr misstrauisch gegenüber dem Bildungswert der Medien. Lasalle vor allem, weil die Zeitungen seine Mei-nung nach das Interesse ihrer Eigner vertraten

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    zu sagen, ob diese Position zum lebenslangen Lernen ursächlich für die Ermordung Condorcets gewesen ist; ich kann mir allerdings kaum vor-stellen, dass Robespierre seinen gemäßigten Mitrevolutionär aus Solidari-tät mit der Schulverwaltung sein abruptes und unverdientes Ende hat finden lassen. Unverdient ist dieses Ende Condorcets vor allem deshalb auch, weil er als Vorreiter des Programms „Studieren ab 50“ gelten kann. Sie glauben mir dieses bestimmt nicht, aber Condorcet hatte vor, im Rahmen der dritten Stufe (diese war vergleichbar etwa mit der Oberstufe des Gymna-siums oder den ersten Semestern der Universität) seines insgesamt vier-stufigen Plans in jedem Unterrichtsraum einen Platz für Teilnehmer zu reservieren, die dem Unterricht folgen wollten und zwar frei, ohne dass sie selber Schüler waren und auch nicht auf Fragen antworten mussten oder Aufgaben verpflichtend übernehmen mussten. Und diese Anord-nung kennen wir doch auch aus den Seniorenstudien der Bundesrepublik und dem Gasthörerstatus generell. Aber hören wir doch Condorcet selbst, was er sich dabei gedacht hat:

    „Diese Art von Öffentlichkeit, die so geregelt ist, dass sie die Ordnung des Unterrichts nicht stören kann, hätte drei Vorteile: Erstens wird sie den Bürgern, die keinen abgeschlossenen Unter-richt erhalten konnten oder die ihn sich nicht genügend zu Nutze gemacht haben, Mittel geben, sich weiterzubilden; sie wird ihnen die Möglichkeit bieten, sich in jedem Alter die Kenntnisse zu er-werben, die ihnen nützlich werden können, sodass der unmittel-bare Vorteil, der sich aus dem Fortschritt der Wissenschaften er-gibt, nicht ausschließlich dem Gelehrten und der Jugend vorbe-halten wäre. Zweitens können die Eltern Zeugen des ihren Kin-dern erteilten Unterrichts sein. Drittens schließlich werden die jungen Leute so gewissermaßen den Augen der Öffentlichkeit ausgesetzt und dadurch mehr angespornt und frühzeitig daran gewöhnt, sicher, leicht und mit Anstand zu sprechen – eine Ge-wohnheit, die sie durch eine kleine Zahl feierlicher Übungen nicht annehmen könnten.“ (Condorcet 1966, S. 45; Original 1792)

    Womit haben wir es also zu tun? Mit einem frühen Bildungsgesamtplan für Lebenslanges Lernen. Was ist in diesem Zitat nicht alles enthalten, in diesem Ansatz lebenslangen Lernens? Mindestens doch die kompensato-rische Funktion und die Funktionen persönlicher Bildung; der intergene-rationelle Wissenstransfer; das Refreshment von Wissen; das intergenera-

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    tionelle Lernen; die Notwendigkeit der öffentlichen Legimitation der Curricula; und nicht zuletzt die Praxisorientierung schuli-scher/akademischer Ausbildung. Dieser Plan hat dann aber auch, soviel ich weiß, das Schicksal nachfol-gender Pläne dieser Art erlitten: Irgendwann bleiben sie dann doch im politischen und administrativen Gestrüpp hängen, aber dennoch sind sie wertvoll. Denn sie geben Mut trotz ihres Scheiterns. Noch ein kleiner Hinweis: Condorcet war der Ansicht, dass auf allen Stufen den Bil-dungswesens (auch einer nachfolgenden vierten Stufe) der Unterricht völlig kostenlos sein solle (vgl. Condorcet 1966, S. 52; Original 1792). Auch damals gab es also offensichtlich eine Finanzierungsdebatte. Ein schönes Beispiel für Kontextsteuerung und Bildungspolitik, finde ich. Station 2: Pädagogische Missiones Zu den nächsten drei Stationen muss ich eine Erläuterung geben. Eines meiner Seminare in diesem Semester habe ich zum Thema „Geschichte der Erwachsenenbildung“ durchgeführt und in der Vorbereitung Kolle-gen und Kolleginnen der Erwachsenenbildung aus den Hochschulen, die ich in den vergangenen fast 40 Jahren sehr wertgeschätzt habe, gebeten, mir ihr Lieblingszitat bzw. Lieblingsmotiv aus der Erwachsenenbildung zu nennen, welches sie für besonders bedeutsam ansehen. Ich habe zahl-reiche Rückmeldungen bekommen und die folgenden Stationen beruhen auf Anregungen, die ich dadurch in ganz besonderer Weise erhielt4. Ich würde Ihnen sehr gerne alle Zitate vorstellen, muss es aber bei dreien be-lassen. Das folgende Motiv hat mir freundlicher Weise Wolfgang Jütte zur Ver-fügung gestellt und ich möchte ihnen vortragen, was mir dazu durch den Kopf ging. Ich möchte Sie bitten, sich nach Spanien zu begeben und zwar in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Wie sah Spanien damals aus? Die demokratische, republikanische Revolution hatte das alte, konserva-tive, katholisch dominierte Königtum abgelöst. Die Demokratisierung 4 Interessanterweise haben wir in dem Seminar nicht nur die zur Verfügung gestellten Quellen diskutieren kön-nen, sondern auch ein wenig über die Motive, welche die Zitatgeber bewogen hatten, genau dieses Zitat vorzu-schlagen.

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    Spaniens war keineswegs damit hergestellt, wie sich bereits wenige Jahre später zeigte, als auch mit Hilfe des mittlerweile etablierten nationalsozia-listischen Deutschlands der General Franco ein diktatorisches Regime errichten konnte, welches sich bekannter Weise jahrzehntelang hielt. Ich möchte Sie also in das Spanien etwa in der Zeit zwischen 1930 und 1934 führen. Die Städte, so kann man sagen, waren politisch umstritten, aber doch häufig republikanisch orientiert und auf dem Wege der Modernisie-rung, den die anderen großen europäischen Städte damals nahmen, ver-gleichbar. Allerdings hatten die konservativen und nationalen Kräfte, die sich auf Militär und Kirche stützten, kaum weniger Einfluss. Spanien war nach wie vor weitgehend agrarisch strukturiert, die Landbevölkerung kam nur teilweise in den Genuss einer regelmäßigen und adäquaten Bil-dung. Wie häufig in ähnlich strukturierten Gesellschaften zu beobachten war es aber gerade die Landbevölkerung, die das alte politische System weitestgehend stützte. Was lag also näher, als dass die Republikaner sich etwas ausdachten, um die Landbevölkerung für sich zu gewinnen? Es mangelte an Bildung, also lag es nahe, diese auf das Land zu bringen. Dies war der Anfang einer wenige Jahre umfassenden Mission: Insbesondere Studenten und Küns-tler begaben sich auf das Land und hatten sich für ihre Absicht eine pfif-fige Idee ausgedacht. Über diese Idee berichtet Wolfgang Jütte in seinem hochinteressanten Aufsatz (Jütte 1994). Wenn ich die pädagogischen „Missiones“ dieser Studentenbewegung richtig aufgefasst habe, dann war der Grundgedanke folgender: Die Studenten und Künstler waren fasziniert von ihrem eigenen Sen-dungsbewusstsein, Gutes zu tun! Die Landbevölkerung war arm, hatte in erheblichem Maße mit der Siche-rung ihrer eigenen Lebensgrundlage zu tun, verfügte über ganz geringe Bildungsmöglichkeiten (die allgemeine Schulpflicht wurde in Spanien erst in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts eingeführt), war sozial und politisch dominiert von der Macht der Großgrundbesitzer und ein-gebunden in die Werteorientierung einer traditionell ausgerichteten ka-tholischen Kirche. Die Studenten wussten also, dass sie keine leichte Aufgabe haben wür-den. So kamen sie auf die Idee, einen indirekten Weg zu gehen, nämlich Kinder sowie Erwachsene zu unterhalten, und den Tag mit spannenden Erlebnissen zu bereichern. Sie wollten auf diese Weise erst einmal Zu-

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    gang und Vertrauen zwischen sich und den ihnen Fremden schaffen. Und was war interessant in der damaligen Zeit? Das waren bewegte Bil-der! So machten sie sich auf den Weg, Filme zu zeigen:

    „Wir sind eine Wanderschule, die von Dorf zu Dorf ziehen will. Aber eine Schule, in der es kein Studienbuch gibt, in der man nicht mit Tränen lernen muß, wo sich keiner niederknien werden muß, wo keiner schwänzen muß... Weil die Regierung der Repub-lik, die uns schickt, uns gesagt hat, daß wir vor allem in die Dör-fer gehen sollen, zu den Ärmsten, zu den Verstecktesten, zu den Verlassensten, und daß wir kommen, Euch etwas zu lehren, etwas das Ihr nicht wißt, weil Ihr immer allein und so weit entfernt da-von seit, wo andere lernen, und weil niemand bis jetzt gekommen ist, um es Euch beizubringen; aber daß wir auch kommen, und das ist das Erste, Euch zu unterhalten. Und wir wollen Euch er-freuen, aufheitern, fast so wie Euch die Komiker und die Pup-penspieler erfreuen (...)“ (Patronato de Misiones Pedagógicas 1934, S. 12ff; zitiert nach Jütte 1994, Ms S. 3).

    Abbildung 2: Missionare

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    Und so hatten sie einen vermutlich großen Erfolg, wenn sie, wie Jütte zitiert, vormittags Filme zeigten, Musik auf Schallplatten – alles absolute technische Innovationen damals – vorführten und Erzählungen und Un-terhaltung Raum gaben. Wenn Sie sich einmal die Bilder ansehen, die auch Wolfgang Jütte zur Verfügung stellte, so können wir uns, glaube ich, vorstellen, dass die ausgehungerte Landbevölkerung glücklich war, diese Zeit mit denen fremden Ankömmlingen aus dem fernen Städten verbringen zu können. Sie stießen auf Staunen und vermutlich gab es Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die mit diesen Imaginationen eine Sehnsucht nach mehr an Erleben und auch Wissen entwickelten. Aber die Bildungsmissionare wollten es nicht nur bei Unterhaltung be-lassen; sie wollten mehr, sie wollten die kulturelle Bildung, so wie sie die-se verstanden, auf das Land bringen! Sie erwarteten, dass die Menschen auf dem Lande begierig wären, das Wissen, welches sie aus der großen Stadt und der weiten Welt mitbrachten, mit ihnen zu teilen. Und in die-ser Annahme, etwas Gutes zu tun, machten sie offenkundig einen Rie-senfehler. Denn nachmittags war die Unterhaltung zu Ende, jetzt war die Zeit für Bildungsinhalte gekommen. Den Lehrplan dafür können Sie bei Jütte nachlesen:

    „1. Der Kampf ums Leben. Vorführung des Films ‚Der Kampf der Manguste und der Kobra‘. Kommentare über die gleiche Szene in Kiplings Buch über die ‚tierras vírgenes‘.

    2. Spanische Volkspoesie: Lesung der alten Romanzen: Misa de Amor, El Conde Sol, ‚Cantar de Abril‘ (Tirso de Molina).

    3. Regionale Musik. Die Landschaft, der Tanz, die Instrumen-te.(...)

    4. Alte Zivilisationen. Ägypten. Der Totenkult. Vorführung des Dokumentarfilms ‚Die Pyramiden und die Sphinx‘.

    5. Die großen Entdeckungen, Heldentum der Wissenschaft. Vor-führung des Dokumentarfilms ‚Die Tragödie am Everest‘.

    6. Die Schule und das Kind in der Spanischen Verfassung.“ (Jüt-te 1994; Ms. S. 4);

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    Abgeschlossen wurde der Tag dann wiederum mit zwei kulturellen, un-terhaltenden Aktivitäten:

    „7. Musikalische Vorführung: Der Tanz des Müllers (Falla), Sevil-la (Albéniz), Nocturno (Chopin)

    8. Unterhaltungsfilm" (Jütte 1994; Ms. S. 4).

    Ich denke, wir können uns vorstellen, wie dieses Programm wirkte. Es ist anzunehmen, dass die Bauern und ihre Kinder sich sehr schnell fragten, was dieses Programm den mit Ihnen zu tun habe und sehnlich auf den nächsten Unterhaltungsfilm warteten. Fragende Gesichter blieben übrig

    12Streifzug durch die Erwachsenenbildung | Gernot Graeßner

    Fakultät für ErziehungswissenschaftAG 6 | Weiterbildung & Bildungsmanagement

    Abbildung 3: Fragende Gesichter

    Mich hat an den pädagogischen Missionen beeindruckt: Der ungeheure Optimismus und der Idealismus, mit denen die Studenten und Künstler auf das Land gingen, um Gutes zu tun, um Bildung zu verbreiten und etwas für die Veränderung der politischen Kultur und der Herrschafts-verhältnisse in Spanien zu tun. Sie werden jedoch sehr schnell zweierlei gemerkt haben: Zum einen, dass die bewegten Bilder der Unterhaltungsfilme eine hohe Attraktivität hatten, zum anderen dass ihre Intentionen, die sie auf das

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    Land geführt hatten, gar nicht verstanden wurden. Möglicherweise riefen sie sogar Skepsis und Ablehnung hervor, weil sie die Gewohnheiten und Sicherheiten auf dem Lande bedrohten. So kam einer der Missionare zur Erkenntnis:

    „Sie (gemeint die Landbevölkerung) benötigten Brot, benötigten Me-dizin, sie benötigten grundsätzliche Hilfe für ein Leben, das sie mit ihren eigenen Kräften nicht aufrechterhalten konnten..., und wir brachten an jenem Tage nur Lieder und Gedichte in der Mis-sionstasche mit" (zitiert nach Jütte, 1994, Ms. S. 7).

    Und ein spanischer Historiker kam 1984 zu dem Ergebnis: "Diese Mission, die nicht die ländlichen Strukturen veränderte, war wie der Versuch, Bäume mit ihrer Krone zuerst einzupflan-zen" (zieitert nach Jütte 1994,, Ms. S. 8).

    Die Missionen haben mich weiterhin beeindruckt: Durch ihren Enthu-siasmus ebenso wie durch ihr Scheitern. Scheiterten sie, weil sie so enthusiastisch war? Mussten sie scheitern, weil sie Gutes tun wollten für Menschen, die sie nicht verstanden? Haben sie nicht gerade dazu beiget-ragen, dass die, denen sie Befreiung bringen wollten, in alter Abhängig-keit und Unmündigkeit verblieben? Wie ist es heute? Sind wir nicht auch heute mitunter in dieser Gefahr, von unseren Intentionen überzeigt zu sein, aber nicht genau genug hinzuschauen, was mit den Menschen ist, für die wir einzutreten glauben? Pflanzen wir nicht auch mitunter Bäume mit ihrer Krone zuerst ein? Station 3: Der Takt der Zeit Wir waren jetzt im Jahre 1930. Ich möchte Sie noch einmal zurück ver-setzen und zwar um wiederum 120 Jahre, in das Jahr 1818, zeitlich nicht weit von der französischen Revolution, aber nun nach England, nach London. Über diese Zeitreise zurück möchte ich dann aber in einem ganz schnellen Fahrstuhl in die Anfangszeit meiner Faszination von Er-wachsenenbildung aufsteigen. Bitte lassen Sie dieses Foto einen Moment auf sich wirken:

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    Abbildung 4: Lancaster Schule Sie werden es, wenn Sie diese Darstellung nicht kennen, kaum glauben: Es handelt sich um eine Schule, die sogenannte Lancaster-Schule. Hier wurden in diesem einen Klassenraum etwa 400 Jungen unterrichtet. Es geht hier um die Organisation eines Diktats. Sie sehen im Vordergrund vor dem Geländer den Lehrer und den sogenannten „Hauptmonitor“ (der die Einsätze zu geben hatte) sowie Gäste bzw. Zuschauer, mögli-cherweise Mitglieder eines Schulkomitees. In der ersten Reihe rechts se-hen Sie die ABC-Schüler und einen Gehilfen. Dahinter befinden sich, nach Rangstufen geordnet, weitere Schüler mit ihren „Monitoren“, ne-ben den Bankreihen befinden sich Untergehilfen, die die Diktate korri-gieren. Wenn das Diktat korrigiert ist, wird auf der Tafel „EX“ gedreht, und ein neues Diktat kann beginnen. Unter den Fenstern befinden sich die Lancasterschen Lektionstafeln (vgl. Lange 1967, S. 528).5

    5 Wikipedia zufolge verzichtete Lancaster übrigens auf die Prügelstrafe. Allerdings wurden die Kinder in Käfige gesperrt oder mussten sich Säcke überstülpen. Ein Beispiel für die „schwarze Pädagogik“, wie die jüngst ver-storbene Katharina Rutschky das nannte. Die Einklassigkeit wurde Vorbild für die deutsche Grundschule.

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    Diesen Eindruck der Schulorganisation wollte ich Ihnen vermitteln, be-vor ich Ihnen das folgende Bild zeige, welches auf das Jahr 1835 datiert ist, in dem die industrielle Revolution in England schon in vollem Gange war, während Deutschland zeitlich noch ein wenig hinterher hinkte:

    Abbildung 5: Power Loom Factory Die räumliche Architektur und auch die soziale Architektur von Schul-raum und Fabrikhalle sind sich, so meine ich, frappierend ähnlich. Es handelt sich, wie leicht erkennen ist, um die Webstühle in einer Manu-faktur, welche in jener Zeit ungeheure soziale Umwälzungen zur Folge hatten und Lebensverhältnisse völlig umdrehten. Diese neue Produktionsweise in neuen Produktionsstätten verlangte nämlich nach einer völlig neuen Zeitstruktur. Die Fabrik gab den Takt der Zeit und des Lebens an. Die Menschen, die sich mehr oder weniger gezwungen in die Fabrik begaben, kannten diesen Takt noch nicht. Viele von ihnen waren es noch gewohnt, ihr Leben nach Sonnenauf-gang/Sonnenuntergang und den Bedingungen und Rhythmen der Jah-reszeiten zu richten, strukturiert durch die Machtverhältnisse, die sich aus dem Eigentum an Boden ergaben und strukturiert durch die Maßga-

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    ben der Religionsausübung (um es einmal kurz zu sagen). Und der dar-aus resultierende Lebensrhythmus machte den Unternehmen einigen Kummer, denn dieser passte nicht in das System der getakteten Maschi-ne, die ganz neue Anforderungen stellte, die nichts mit Natur und über-kommener Kultur zu tun hatten, sondern mit den Machtverhältnissen, die sich aus dem Eigentum an Kapital ergaben, und mit einer neuen, re-volutionierten Kultur, die erst im Entstehen war. Man war jedoch der Ansicht, dass man die neuen Fabrikarbeiter, die zuvor als Landarbeiter ihr Leben verdingten, die erforderlichen Qualifikationen in einer „Erzie-hung“ von sechs Monaten lehren könne und dass dies jeder „Bauern-knecht“ lernen könne (vgl. MEW S. 446). Ganz so einfach ließ sich diese Anpassung des Menschen an den Tag der Maschine aber offenkundig nicht durchsetzen, denn ein Erfinder und Unternehmer wird durch Karl Marx so zitiert:

    „Die Hauptschwierigkeit in der automatischen Fabrik bestand in der notwendigen Disziplin, um die Menschen auf ihre unregel-mäßigen Gewohnheiten in der Arbeit verzichten zu machen und sie zu identifizieren mit der unveränderlichen Regelmäßigkeit des großen Automaten. Aber einen den Bedürfnissen und der Ge-schwindigkeit des automatischen Systems entsprechenden Diszip-linarkodex zu erfinden und mit Erfolg auszuführen war ein Un-ternehmen, des Herkules würdig (…). Selbst heutzutage, wo das System in seiner ganzen Vollendung organisiert ist, ist es fast un-möglich, unter den Arbeitern (…) nützliche Gehilfen für das au-tomatische System zu finden“ (MEW, Bd. 23, S. 447).

    Augenscheinlich waren die „Bauernknechte“ anderes gewohnt: Ihnen gab wohl eher die Jahreszeit, das Wetter, die Art der Bestellung des Bo-dens, die Tradition (mit ihren Regeln und Festen) und das Wollen der Bauern den Tagesrhythmus an. Aber was mögen die neuen Fabrikarbeiter für Schwierigkeiten mit ihrer Anpassung an die Maschine gehabt haben, zu der sie sich gezwungen sa-hen und dennoch offenkundig Widerstand aufbrachten? Auch in Biele-feld können wir uns dieses sehr gut vorstellen! Sie alle werden die Archi-tektur der Ravensberger Spinnerei kennen, die der „Power Loom Facto-ry“ frappierend ähnlich ist und heute, wie wir wissen, glücklicherweise vor dem Abriss durch das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern gerettet, als Sitz der Bielefelder Volkshochschule seit den 70er Jahren der

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    Bildung und in einem Gesamtensemble der anderen Gebäude des Ra-vensberger Parks der Kultur dient. Abbildung 6: Ravensberger Spinnerei, Bielefeld; „Historischer Saal“

    Abbildung 7: Ravensberger Spinnerei; Feinspinn-saal in den 1950er Jahren

    Den Hinweis auf das soeben vorgetragene Zitat habe ich von Anke Hanft, Professorin für lebenslanges Lernen in Oldenburg erhalten. Er löste in mir zahlreiche Überlegungen und Assoziationen aus. Denn ist es nicht so, dass die Erwachsenenbildung vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Kampf aufnahm, den die neue Taktung der Zeit vorgab? Vor dem Hintergrund dieser sozialen, politischen und ökonomischen Umbrüche, Instabilitäten und Orientierungserfordernisse entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine ungeheure Vielfalt höchst interessanter Richtungen und Formen der Erwachsenenbildung.

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    Ich könnte berichten z.B. von bürgerlichen Lesegesellschaften, Biblio-theken, patriotischen Gesellschaften und geselligen Casinogesellschaften, die auf ihre Weise miteinander austauschten, was für ihren aufstrebenden Stand wichtig und nützlich wäre. Ich könnte berichten von den hochinteressanten Handwerkerbildungs-vereinen, die sich darum bemühten, insbesondere auch den jungen Mitg-liedern, die ihre Position in der entstehenden Industriegesellschaft neu zu definieren hatten, eine Heimat zu bieten und zugleich aber auch versuch-ten dazu beizutragen, den technischen Fortschritt nicht zu verpassen. Ich könnte berichten über die teilweise unglaublichen Anstrengungen, welche die Arbeiter in einer Vielzahl teilweise sich bekämpfender Rich-tungen machten, sich gegen ihre politische Unterdrückung zu wehren und dieses u. a. mit dem Mittel einer auf Solidarität angelegten Bildung. Diese Arbeiterbildungsvereine, aus denen bekannter Weise auch die So-zialdemokratie hervorging, sahen sich zeitweise heftiger politischer Ver-folgung ausgesetzt, weil sie sich neben der „Solidarität“ auch die „De-mokratie“ auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Ich könnte berichten von den Bemühungen der Kirchen, aus ihrer religi-ösen Logik heraus u. a. mit Hilfe der Erwachsenenbildung die schlimm-sten Folgen der Industrialisierung durch wohlfahrtsstaatliche Konzepte zu mindern. Und schließlich könnte ich Beispiele dafür bringen, wie die ersten Volk-sbildungswerke und Volkshochschulen mit Unterstützung unter anderem von Hochschullehrern eine eigene Philosophie und Pädagogik der Er-wachsenenbildung etablierten als Einrichtungen, die sich der „Öffent-lichkeit“ und auch der Wissenschaftlichkeit verschrieben hatten. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert, so könnte die These lauten, hat die moderne Erwachsenenbildung hervorgebracht. Die heutigen Er-wachsenenbildungsinstitutionen können sich als Kinder der Industriali-sierung betrachten und können sich fragen, wie sie denn seitdem ge-wachsen sind und was sie vor diesem Hintergrund heute eigentlich dar-stellen. Wenn man diesen Gedanken verfolgen wollte, würde man auf äußerst interessante Geschichten und Entwicklungen stoßen. Dafür ist die jetzt leider nicht die Zeit. Ich komme also wieder auf das Beispiel von Frau Hanft zurück, denn das Sinnbild der Fabrik mit ihrer Technik, mit ihren Eigentümern und mit ihren Arbeitern hat mich un-mittelbar aus dem Jahre 1835 in einen historischen Fahrstuhl versetzt, aus dem ich dann ohne Halt 1971 wieder ausgestiegen bin. Nämlich in

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    Wolfsburg, wo ich meine erste Arbeitsstelle bei der dortigen Volkshoch-schule fand. Ich muss es hier kurz machen: Wolfsburg war damals das VW-Werk. Wolfsburg war eine künstliche Stadt, die am Reißbrett errich-tet worden war (vgl Schwonke 1967; Herlyn, Tessin 2000). Und diese Stadt lebte den Takt der Maschinen:

    Abbildung 8: Wolfsburg, Porschestraße, ca. 1960 Sie sehen hier die Porschestraße, die geradlinig, ohne jegliche Kurve, vierspurig auf das VW-Werk zuführte. Diese Stadt, so schien mir 1971, war nicht nur autogerecht gebaut. Wenn Zweck und Form in der Architektur eine Einheit bilden, so wurde dies

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    im Leben Wolfsburg greifbar: Die Stadt mit ihren Gebäuden und Be-bauungen repräsentierte die äußere und innere Architektur des „Werks“ und dessen Zweck-/Form-Einheit mit dem das Stadtleben prägenden Rhythmus der drei Schichten und dem Rhythmus der Hauptverwaltung. Es gab jedoch Orte, die sich diesem Zweck entzogen und ihn sich zu-nutze machten. Einer dieser Orte war das damals so genannte Kultur-zentrum, heute nach seinem Erbauer, dem international bekannten finni-schen Architekten und Designer Alvar Aalto, benannt. Dieses Haus sah von außen so aus:

    Abbildung 9: Wolfsburg, Kulturzentrum, jetzt Alvar Aalto-Haus Unmittelbar dem Rathaus benachbart zeigte sich eine verschlossene Front, die in ihrer Gliederung stark an das Äußere des VW-Gebäudes

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    erinnerte, welches nicht weit, vielleicht einen knappen Kilometer davon entfernt, lag. Und an diesem Gebäude kamen im Takt des Werkes dreimal jeden Tag hin und zurück Tausende von Schichtarbeitern vorbei. Was spielte sich in dem Gebäude ab? 1962 errichtet umfasste es eine Bibliothek, ein Jugendzentrum, die Volkshochschule und ein Bistro. So sperrig es von außen wirkte, so hell, weit und frei wirkte die Architektur von innen: Während von außen die Abweisung greifbar war, bot das In-nere Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation. Sogar ein Selbstlernzentrum hielt die Bibliothek vor! Abbildung 10: Wolfsburg; Alvar Aalto-Haus – Blick i n die Bibliothek Es gab wenige Häuser für Volkshochschulen in der damaligen Zeit und erst recht keine, die diese räumlichen Gelegenheiten hatten: Seminar-räume, ein großer Hörsaal, weiträumige Flächen auf den Fluren, auf de-nen man sich unvermeidlich traf! Und die Wolfsburger, besonders die Wolfsburgerinnen, nutzten dies. Die VHS hatte wohl als eine der ersten Volkshochschulen, die sich gemeinhin als Abendeinrichtungen verstan-den (u.a., weil sie dann mangels eigener Räume die Schulen nutzen konn-ten), ein System von Vormittags-, Nachmittags- und Abendkursen ent-

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    wickelt. Abgestimmt auf den Zeittakt des Werkes, aber mit Themen von Kultur, Politik und Wissenschaft, die Interessen aufgriffen wie keine an-dere Bildungsinstitution weit und breit. Die VHS war beileibe keine widerständige Einrichtung, aber sie nutzte alle Spielräume, die ihr möglich waren. Besonders neu war damals die Einrichtung von Frauenkursen, die selbstorganisiert ihr Programm be-stimmten. Diese Kurse fanden morgens von 9.00 bis 12.00 Uhr statt, wenn die Kinder außer Haus waren und die Männer arbeiteten oder schliefen. Diese Kurse waren äußerst beliebt; ein großer Teil der Verans-taltungen bestand aus sogenannten „Seminarkursen“ von Hochschuldo-zenten, die von den Frauen damals v. a. aus Göttingen „geordert“ wurde. Dies war möglich auf Grund einer besonderen Finanzierungsmöglich-keit. Die Folge: Frauen, die sonst keine Möglichkeit dazu in Wolfsburg gehabt hätten, stießen auf Dozenten, welche sie auf eine Einstufungsprü-fung vorbereiten, die seinerzeit für Menschen ohne Abitur bestand, um anschließend ein reguläres Hochschulstudium aufzunehmen. Viele dieser Frauen nutzten diese Möglichkeit. Was dabei herauskam war in etwa ähnlich wie die Frauenstudien in den Räumlichkeiten einer Erwachse-nenbildungseinrichtung. Diese Erinnerungen also gingen mir durch den Kopf, als ich das Zitat las, in welchem es darum ging, die Menschen aus ihrem Zeitrhythmus herauszuholen, um ihn an den Rhythmus der Fabrik anzupassen. Was mir damals deutlich geworden ist, ist die enge Verbindung zwischen der Architektur und der Erwachsenenbildung: Die Architektur ist seit jeher Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Kultur und beeinflusst sie gleichzeitig. Genauso wie die Architektur ist die Erwachsenenbildung Ausdruck der jeweiligen sich verändernden Lernkulturen einer Gesell-schaft und gestaltet diese zugleich. Sie ist eingebettet in ihre historischen Gegebenheiten, sie steht in Abhängigkeit und Wechselwirkung mit Technik und Wirtschaft, die soziokulturellen Verhältnisse sind Bedin-gung der Erwachsenenbildung, zugleich ist sie Seismograf und Mitgestal-terin dieser Verhältnisse, die herrschenden tonangebenden gesellschaftli-chen Philosophien sind die Impulse, die sie verarbeitet und an die sie sich anpasst, zugleich wirkt sie auf diese ein. Ich habe versucht zu zeigen, dass die Erwachsenenbildung genau wie die Architektur der Idee und der Imagination bedarf, bevor sie plant und konstruiert und evaluiert, bevor sie also ihren Lernraum betritt und (um-)gestaltet.

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    Station 4: Strzelewicz/Borinski Die nächste Station, zu der ich Sie nur kurz mitnehmen möchte, führt zu zwei Menschen, die ihre Imagination, wie ich finde, in ganz besonderer Weise zu Konstruktionen der Erwachsenenbildung geführt haben. Dies sind Willy Strzelewicz und Fritz Borinski6. Beide wurden im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts gebo-ren und verloren ihre Stellung 1933, nachdem Hitler die Macht in Deutschland übertragen bekam.

    Abbildung 11: Fritz Borinski

    Um mit Fritz Borinski zu begin-nen: Er war Jurist, Assistent an der Universität Leipzig und Mitglied eines Herausgeberkreise sozialisti-scher Blätter. Nach seiner Entlas-sung emigrierte er nach London, wo er bei dem bekannten Soziolo-gen Karl Mannheim studierte. 1940 wurde er zunächst interniert und dann nach Australien deportiert, wo er eine Lagerschule aufbaute. 1941 kehrte er dann wie viele an-dere Deutsche, die in Kanada, Australien oder anderenorts inter-niert waren, nach England zurück. Die gemeinsame Erfahrung der Internierung hatte bei den Gefan-genen offenbar nicht alleine Ver-zweiflung über ihre Situation zur Folge gehabt, sondern bewirkte, dass hinter dem Stacheldraht ein, wie Borinski selbst berichtet, „re-ges geistiges und geselliges Leben“ vonstatten gegangen war.

    Die Gefangenschaft hatte über die Grenze von alten politischen und re-ligiösen Grundüberzeugungen hinweg ein Verständnis unter sonst sehr 6 Im Rahmen des erwähnten Seminars gaben mir Peter Faulstich für Strzelewicz und Jochen Dikau für Borinski ihre „Lieblingszitate“ – herzlichen Dank!

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    fernen Personen ermöglicht, welches einen neuen Glauben an eine de-mokratische Neuordnung Europas stiftete. Dieser Glaube überdauerte bei vielen die Zeit der Internierung und trug sich weiter bis in die Nach-kriegszeit in den Wiederaufbau Deutschlands. Ich muss es kurz machen: Nach ihrer Rückkehr nach England wurde ei-ne Reihe von aus der Internierung entlassenen deutschen Pädagogen von einem Beamten des Erziehungsministeriums gebeten, ihre Erfahrungen für den Neuaufbau der deutschen Erwachsenenbildung nutzbar zu ma-chen, um ihren Traum von freien Menschen in Deutschland und Europa zu verwirklichen. Die Zeit hier reicht nicht aus, um nachzuvollziehen, welche Schwierigkeiten diese Menschen hatten, dieser Aufforderung nachzukommen, obwohl sie vielfach um ihre Existenz zu kämpfen hat-ten. Nach dem Krieg beteiligten sich etliche dieser Personen am Wieder-aufbau des Erziehungswesens, Borinski selbst wurde zunächst Leiter der Heimvolkshochschule Göhrde, später der Volkshochschule Bremen und danach Professor an der Freien Universität Berlin. Zu seinen späteren pädagogischen Vorstellungen einer „Mit-bürgerlichen Pädagogik“ kann man geteilter Meinung sein; sehr nachvollziehen kann ich aber folgenden Satz von ihm aus dem Jahre 1954:

    „Es gibt keine reale Pädagogik, die außerhalb der politischen Ordnungen steht, und es gibt keine reale Politik, die gegenüber dem Erziehungswesen neutral sein könnte“ (Borinski 1969, S. 87; Original 1954).

    Diesen Satz hätte sicherlich auch Willi Strzelewicz unterschreiben kön-nen. Strzelewicz wird noch heute mitunter zitiert, wenn sich die Zunft der Erwachsenenbildung ihrer empirischen Grundlagen versichert. Strzele-wicz, Raapke und Schulenberg waren Anfang der sechziger Jahre die ers-ten gewesen, welche die bis dahin sehr geisteswissenschaftlich orientierte Pädagogik anreicherten um einen sozialwissenschaftlich-empirischen Blickwinkel. Ihre Studie „Bildung und Gesellschaft“ untersucht in mehreren Stufen mit teilweise damals ungewöhnlichen Methoden die Bildungssituation in Westdeutschland, welches sich langsam aus der Nachkriegszeit löste und

    die politischen, ökonomischen technischen und sozialen He-rausforderungen und damit

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    Abbildung 12: Willy Strzelewicz

    auch das Erfordernis eines neuen (Erwachsenen-) Bil-dungsverständnisses annahm. Diese Untersuchung, an der übrigens der Diplompsycholo-ge Helmut Skowronek mitwirk-te, um die eher soziologisch und erziehungswissenschaftlich orientierten Leiter der Studie interdisziplinär zu ergänzen, gilt als eine der wenigen Leitstudien der Erwachsenenbildung bis heute.

    Aber darüber will ich heute nicht berichten, sondern eingehen auf das herrschende Motiv seines Wirkens. Strzelewicz war wie gesagt Soziologe und er war Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Um der erwarteten Verfolgung durch die Nazis zu entgehen, emigrierte er 1933 nach Prag und veröffentlichte 1937 eine Schrift, die sich gegen die Schauprozesse Stalins in Moskau richtete (vgl. Faulstich, S. 2); danach brach er mit der kommunistischen Partei, der er bis dahin angehört hat-te. Eine Flucht über mehrere Länder brachte ihn 1949 nach Schweden. Dort schrieb er in der Kriegszeit ein Buch über den „Kampf um die Menschenrechte“. Und in diesem Kampf – das ist seine Imagination – sah er die Erwachsenenbildung als eine Einrichtung, die einem Anspruch genügen sollte,

    „nämlich im Lichte der Aufklärung der Menschenrechtsidee mit-zuhelfen, dass Verständigung unter den Menschen möglich wird und die Bewältigung der Probleme im Rahmen demokratischer Verhaltensweisen erhalten bleibt“ (Strzelewicz 1986, S. 17, zitiert nach Faulstich/Zeuner 2001, S. 280 und Faulstich 2005, S. 299).

    Für mich ist dieser Anspruch an die Bildung im Generellen, aber speziell an die Erwachsenenbildung, zeitlos gültig und damit könnte ich auch mit Willy Strzelewicz (Strzelewicz 1968) wieder zurückkehren zur französi-schen Revolution.

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    Mit meiner letzten Station gehe ich aber noch einen Schritt vor die fran-zösische Revolution und möchte Ihnen ein Bild entwerfen von einer Frau, der nun wirklich nahezu alles an Menschenrechten vorenthalten blieb. Station 5: Anna Louisa Karsch Wenn es ein Beispiel dafür gibt, dass sich Menschen gegen jeglichen Wi-derstand selbst bilden, dass ihre Neugier und Wissensgier stärker ist als alles andere und wenn es ein Beispiel dafür gibt, dass auch die schwie-rigsten Lebensumstände nicht daran hindern, mit dem erworbene Wissen und den erworbenen Fähigkeiten und einer ganz eigenen Imagination sein Leben zu gestalten, so ist es diese Frau. Sie sehen hier Anna Louisa Karsch, 1722-1991 Abbildung 13: Anna Louise Karsch

    Vergegenwärtigen wir uns kurz der Zeit in der sie geboren wurde: 1722 herrschte in Preußen ein (et-was aufgeklärter) Absolutismus, die Gesellschaft war nach wie vor ständisch durchorganisiert. Stan-desschranken zwischen Bauern, Zünften, Bürgern und Adel konn-ten kaum überwunden werden, der preußische Militarismus befand sich in seiner Entwicklung, patriar-chale Strukturen bestimmten das Leben. In dieser Gesellschaft wuchs Anna Louise Karsch in Schlesien auf.

    Um zu zeigen, was mich an ihrem Bildungsgang so beeindruckt, muss ich ein wenig ihren Lebensweg schildern, der z.T. auf ihren Angaben be-ruht, aber verbürgt ist.

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    Wer war diese Frau? Sie war Dichterin, lebte in den letzten Jahrzehnten ihres Lebens von ihren Einkünfte aus ihrer Literatur. Man könnte sagen, es ging ihr gut, sie hatte Zugang zur bürgerlichen Gesellschaft, zu Adels-kreisen und zur Szene der Dichter und Künstler, war u. a. mit Schiller bekannt und schrieb nicht wenige Gedichte über die Liebe, rühmte mi-tunter auch die Taten des Preußentum. Was also ist so beeindruckend, dass ich über sie berichte? Ihr Schicksal wurde ihr gewiss nicht in die Wiege gelegt. Sie wuchs in ei-nem niederschlesischen Dorf auf, ihr Vater war Ortsgastwirt. Mit sechs Jahren wurde sie zu ihrem Großonkel gegeben (um in dessen Haushalt zu helfen) und damit trat eine Wende für ihre nächsten vier Jahre ein: Während bei ihren Eltern die Gaststube zugleich ihre Schule war, brachte der Onkel Anna die Grundzüge des Lesens und Schreibens (mit Hilfe der Bibel) bei und: Er riss sie, wie sie berichtet, „oft vom Bu-che und wandelte mit mir durch ein kleines Gehölz oder durch eine blumige Wiese“. Dort unterrichtete er sie über die Dinge der Natur; sie erwarb Wissen und Erfahrungen, die ihr für ihr späteres Leben eine ent-scheidende Kraft geben sollten. Mit etwa 10 Jahren, ihr Vater war kurz zuvor gestorben, änderte sich ihr Schicksal wiederum drastisch. Ihre Mutter heiratete erneut, sie kehrte zu-rück, musste dort den Haushalt führen und ihre jüngeren Geschwister versorgen. Ihr oblag es auch, das Vieh auf die Weide zu treiben und dies führte zu Bildungserlebnissen besonderer Art. Die Natur, die Wiesen und Wälder, die Blumen und Bäche, die Sandbänke dienten ihr als eine fantastische Grundlage, sich eine eigene Vorstellungswelt zu bauen. Da-bei stieß sie auf einen Hirtenjungen, der sich bemerkenswerter Weise mit anderen Hirtenkindern umgeben hatte und dieser Versammlung Ge-schichten vorlas. Das blieb nicht unbemerkt von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Anna wurde es verboten, „ihrer Lesesucht“ nachzugehen, doch für das Mädchen war offenbar der entscheidende Impuls der Selbstbildung gegeben: Die wenigen Bücher, die sie sich ergatterte, ver-steckte sie und las darin, wann immer sie sich unbeobachtet glaubte. Le-sen und Schreiben ließen sie nicht mehr los – trotz der, wir würden ja heute sagen, nahezu unüberwindlichen Bildungsbarrieren, die sich ihr stellten. Wer könnte sich heute ein Mädchen vorstellen, dass es ohne jeg-liche Schulbildung, gegen den Widerstand ihrer Mutter und ihres Stiefva-

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    ters, bei tagesumfassender Kinderarbeit schafft, zur Dichterin zu wer-den? Es kam noch schlimmer: Mit sechzehn wurde sie, von ihrer Mutter ini-tiiert, an einen Mann verheiratet, der ihr das Lesen verbot und ihre Bü-cher verbrannte. Sie ließ sich davon jedoch keinesfalls vom Lesen und sogar vom Schreiben abhalten – jetzt entstanden erste Gedichte. 1749 ließ sich ihr Mann scheiden; offenkundig, weil er sich mehr von ei-ner Mitgift versprochen hatte und nun sah, dass er keinen ökonomischen Vorteil zu erwarten hat. Was dies für Annas Stellung bedeutete, kann man sich heute wohl kaum vorstellen: Alles, was sie besaß, fiel an ihren Mann. Im gleichen Jahr noch heiratete sie auf Anraten ihrer Mutter (und sicher aus materieller Not) erneut, diesmal einen Alkoholiker, der ihr Gewalt aller Art antat. Doch gerade jetzt begann ihre dichterische Laufbahn: Sie musste Geld verdienen und dank der Unterstützung und Aufmerksamkeit ihrer Um-gebung (Lehrern, Pastoren, Postmeistern), erhielt sie Gelegenheit, Ge-dichte auf bäuerlichen Hochzeiten und anderen Festen vorzutragen, aber sie verfasste gegen ein vermutlich geringes Entgelt auch Schriftstücke für Analphabeten. Auf die Dauer gelang es ihr so, ein gewisses Ansehen zu erlangen. Der siebenjährige Krieg dann wird zu einem Glücksfall für sie: Ihr Mann wurde zur Armee eingezogen und seine Versuche, dort entlas-sen zu werden, hintertrieb sie, wie berichtet wird. Sie wird ihn auf diese Weise los, ohne noch einmal durch eine zweite Scheidung diskriminiert zu werden. Und: Sie verfasste nunmehr auch Gedichte, die gedruckt wurden. Sie zog nach Berlin, wird Friedrich dem Großen in einer Au-dienz vorgestellt. Eine erhoffte kleine Rente blieb allerdings aus; erst zwei Jahre vor ihrem Tod erhält sie durch Friedrich Wilhelm II. ein klei-nes Haus am Hackeschen Markt in Berlin. Die letzten dreißig Jahre ihres Lebens konnte Anna, wenn auch beschei-den, anerkannt von Künstlern und Dichtern, gnädig behandelt vom Adel, von dem leben, was sie sich selbst erwarb: Bildung, weil sie sich nicht davon abhalten ließ, zu lesen und zu schreiben. Ich denke, ich brauche Ihnen diese Biografie nicht weiter auszudeuten – sie spricht für sich selbst und sie werden verstehen, warum die Geschich-te der Anna Louise Karsch diejenige ist, die mich am meisten berührt hat von vielen Geschichten, die gleichermaßen beeindruckend sind.

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    Diese Geschichte übrigens lässt sich, wie ich denke, unter allen theoreti-schen Perspektiven betrachten, die wir üblicherweise anlegen: die Be-trachtung der strukturbildenden gesellschaftlichen Institutionen, der so-zialisierenden Kontexte von peers und sozialer Ökologie, der Macht-perspektive, der biografisch erworbenen Befreiung durch Selbstbildung, der nahezu unverwundbaren Persönlichkeitsentwicklung durch ständige Lernprozesse, der Integration von Normen und Werten, der Anpassung an Gesellschaft, vor allem aber der Konstruktion von Welt und Lebens-welt. Schlussbemerkung Meine Damen und Herren, ich würde ihnen gerne noch viele Beispiele für Inspirationen, Fantasien, Wirklichkeit gewordene Utopien, Ideenge-ber, Ideen und für das, was daraus geworden ist, geben. Ich würde Ihnen gerne über die ungeheure Vielfalt der Erwachsenenbildung in der Wei-marer Republik berichten, ich würde Ihnen gerne über die die Menschen berichten, die sich Anfang der 80er Jahre gegen die Übermacht der Technologien wehrten, dies nicht verhindern konnten, aber damit neue technologische Wege eröffneten und ich würde Ihnen gerne über me-thodische Ansätze, zum Beispiel die Zukunftswerkstatt von Robert Jungk, berichten, welche am Lernen der Menschen ansetzen, aber die Kultur in Politik, Bildung und Unternehmen zu verändern halfen. Ich würde Ihnen auch gerne über eine Professorin an der Universität Torun in Polen berichten, die in Wissenschaft, Politik, vor allem aber durch ihre Projekte mit den lernenden Menschen in den letzten 20 Jahren auf eine leise und unspektakuläre Weise ihren Beitrag für eine neue Gestaltung der Beziehungen zwischen polnischen und deutschen Menschen geleistet hat, vor allem aber über die Erwachsenenbildung im sozialen Zusam-menhalt innerhalb der polnischen Gesellschaft und darüber hinaus auch in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern geleistet hat. Sie wäre stellvertretend für andere ein Beispiel dafür, was es heute heißt, gegen Widerstände durch Lernen eine neue Kultur internationalem Zusam-menhang zu schaffen. Leider ist die Zeit dazu nicht mehr. Ideen zu entwickeln und sie für die Menschen im wörtlichen Sinne begreifbar zu machen ist aber auch The-ma eines Zitates, welches Herr Professor Skowronek meinem Seminar gewidmet hat. In diesem geht es um das Verhältnis von Hochschulen und Erwachsenenbildung. Es stammt aus einem der zentralen Doku-

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    mente, die für die Entwicklung der Erwachsenenbildung in Deutschland nachhaltige Wirkung gehabt haben, nämlich aus den Empfehlungen und Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungswesen, wel-cher sich 1960 zur Situation und Aufgaben der Deutschen Erwachse-nenbildung geäußert hat. Darin heißt es:

    „Das Bemühen, dem erwachsenen Menschen ein wohlbegründe-tes Sachwissen von den elementaren Zusammenhängen seines Lebens und ein selbstständiges kritisches Urteil zu vermitteln, führt die Erwachsenenbildung an die Seite der Wissenschaft. Die zunehmende Rationalisierung, die alle Gebiete des Lebens er-greift, zwingt dazu, rationale Methoden allgemein zugänglich zu machen, und die Spezialisierung des Wissens und des gesell-schaftlichen Handelns, die mit einer zunehmende Verflechtung aller Lebens und Wissens Gebiete zusammengeht, macht es not-wendig, dass jeder Mensch, der seine Zeit verstehen und auf sie wirken will, sich den Blick auf das Ganze öffnet und weitet (…). Das hier geforderte Bündnis von Erwachsenenbildung und Wis-senschaft bedeutet also weder eine unechte Akademisierung des Volkes – „Halbbildung“ – noch eine Verwässerung der Wissen-schaft – „Popularisierung“ –, sondern ein Umdenken der Wissen-schaft auf die Lebenswelt des Laien hin“ (Empfehlungen und Gutachten 1966, S. 914f).

    Dieser Grundgedanke wird im Gutachten noch weiter ausgeführt; ich möchte es Ihnen überlassen, zu beurteilen, ob diese, wie ich finde, zeitlo-se Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Erwachsenen-bildung heute als austariert gelten kann, aber ich möchte abschließen mit zwei von fünf zentralen Forderungen, welche der Ausschuss formulierte: Erstens:

    „Studenten aller Fakultäten(…) sollen die Möglichkeit haben, Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung bereits während ih-res Studiums kennen zu lernen, damit sie Verständnis für ihre Aufgaben und Mittel gewinnen und sich auf die Mitarbeit in ihr vorbereiten können“ (Gutachten, S. 917).

    Diese Forderung finde ich hochschulendidaktisch äußerst interessant, aber sie trägt auch der Erfahrung Rechnung, dass zahlreiche Absolven-tinnen und Absolventen sozialwissenschaftlicher, ökonomischer und na-turwissenschaftlicher Studiengänge in ihrem Berufsleben Menschen un-terrichten oder sich mit ihnen in Lernsituation befinden.

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    Und zweitens:

    „An den Hochschulen sollen Institute für ‚Außenarbeit‘ einge-richtet oder Kommissionen gebildet werden, die mit den Volks-hochschulen Vortragsreihen, vor allem aber langfristige systema-tische ‚Seminarkurse‘ veranstalten; diese Kurse sollen von Mitg-liedern des Lehrkörpers, oder von Wissenschaftlern, die das Ver-trauen der Hochschule besitzen, geleitet werden“ (Gutachten, S. 917f).

    Es ist vielleicht kein Zufall, dass es an der Universität Bielefeld seit 25 Jahren, angestoßen und begleitet von Herrn Skowronek, mit der Kon-taktstelle Wissenschaftliche Weiterbildung eine solche Außenarbeit gibt, die auf der Basis dieses institutionellen Vertrauens die Weiterbildungsak-tivitäten der Universitätsmitglieder zu unterstützen versucht und dass es seit kurzem ein Forschungsinstitut für wissenschaftliche Weiterbildung gibt, welches im Wesentlichen die Beziehungen zwischen der Universität und dem Feld des Lehrens und Lernens im Bildungsbereich vermitteln wird. Die Linie der 50 Jahre von 1960 bis heute ist, wie Sie vielleicht se-hen, leicht nachzuvollziehen; ich bin sehr sicher, dass sie ihre Fortset-zung finden wird. Wenn ich also auf die eingangs gestellte Frage der Volkshochschulleiterin zurückkomme, was denn die Erwachsenenbildung zusammen hält, so ist dies meine Antwort: Es sind die Ideen, die aus den eigenen Quellen und denen der Geschichte(n) schöpfen, um das Zutrauen zu gewinnen, die Zukunft für sich und mit anderen zu gestalten! Herzlichen Dank dafür, dass Sie heute hier waren und mir zuhörten! Literaturhinweise

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    Borinski, Fritz (1969): Gesellschaft, Politik, Erwachsenenbildung, Villin-gen. Condorcet, Jean Antoine Nicolas de Caritat de (1966): Bericht und Ent-wurf einer Verordnung über die allgemeine Organisation des öffentli-chen Unterrichtswesens, der Nationalversammlung im Namen des Ko-mitees für öffentlichen Unterricht am 20. und 21. April 1792 vorgelegt. Hrsg. von: Schepp, Heinz-Hermann. Weinheim. Faulstich, Peter/ Zeuner, Christine (2001): Willy Strzelwicz (10905-1986), Bielefeld, S. 270-281 Faulstich: Peter (2005): Aufklärung und Bildung. Zum 100. Geburtstag von Willy Strzelewicz (23.10.1905 – 25.10.1986). In: Hessische Blätter für Volksbildung (2005) H.4, 291-299. Empfehlungen und Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Er-ziehungs- und Bildungswesen 1953-1965 (Gesamtausgabe 1966): Zur Si-tuation und Aufgabe der Deutschen Erwachsenenbildung. Stuttgart, S. 857-928. Herlyn, Ulfert; Tessin, Wulf (2000): Faszination Wolfsburg: 1938 – 2000. Opladen. Jütte, Wolfgang (1994): Die Pädagogischen Missionen. Ein Ansatz zur kulturellen Eroberung des ländlichen Spaniens. In: Tranvía. Nr. 35, S. 22–25, als Manuskript freundlicherweise von Wolfgang Jütte zur Verfü-gung gestellt. Karsch, Anna Louise (1987): Gedichte und Lebenszeugnisse. Stuttgart. Karsch, Anna Louise (1991): Dichterin für Liebe, Brot und Vaterland. Ausstellung zum 200. Todestag, 10. Oktober bis 16. November 1991 (Katalog: Gisela Staupe). Wiesbaden. Karsch, Anna Louise (1996): Gedichte (nach der Dichterin Tode heraus-gegeben von ihrer Tochter Caroline Luise von Klencke). Nachdruck der Ausgabe von 1792.

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    Lange, Hermann (1967): Schulbau und Schulverfassung der frühen Neu-zeit. Zur Entstehung und Problematik des modernen Schulwesens. Weinheim/Berlin Lassalle, Ferdinand (1919): Die Verfassungsreden. Das Arbeiterprog-ramm und die anschliessenden Verteidigungsreden. Erster Abdruck im Verlag Carl Nöhring, Berlin 1862. Abgedruckt in: Lassalle, Ferdinand: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 2. Hrsg. von: Bernstein, Eduard. Berlin, S. 147-202. Marx; Karl, Engels, Friedrich (MEW) (1982), Band 23, Berlin Nietzsche, Friedrich (1967): Werke in zwei Bänden. Band II. München. Patronato de Misiones Pedagógicas (1934): Septiembre de 1931-Diciembre de 1933. Madrid, S. 12ff. Zitiert nach: Urtaza , Otero (1982): Las Misiones Pedagógicas. Una experiencia popular. Do Castro, La Co-ruña, S. 42f. Zitiert nach: Jütte, Wolfgang (1994): Die Pädagogischen Missionen. Ein Ansatz zur kulturellen Eroberung des ländlichen Spa-niens. In: Tranvía. Nr. 35, S. 22–25. Renda, Gerhard (o.J.): Die Geschichte der Ravensberger Spinnerei, Mpnchen (DKV-Kunstführer) Schwonke, Martin (1976): Wolfsburg. Soziologische Analyse einer jungen Industriestadt. Stuttgart. Siebert, Horst (2003): Die bunte Welt des Humors. Komik und Humor, pädagogisch betrachtet. Frankfurt. Seitter, Wolfgang (2007): Geschichte der Erwachsenenbildung. Bielefeld. Strzelewicz, Willy (1968): Der Kampf um die Menschenrechte. Hamburg 1947, 1948 Frankfurt am Main. Strzelewicz, Willy (1986); Erwachsenenbildung und ihre sozialhistorische Bedeutung. In: Bildungszentrum Jagdschloss Göhrde (Hrsg.) 40 Jahre Göhrde. Göhrde.

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    Ukena, Dirk, Röver, Hans J. (1989): Die Ravensberger Spinnerei. Land-schaftsverband Westfalen-Lippe. Westfälisches Industriemuseum, Schrif-ten Band 8, Hagen Ure, Andrew (1967): The Philosophy of Manufactores, London. Nachweis der Abbildungen Abbildung 1: Reformer Titel: Comenius, Johann Amos (2000): Große Didaktik. Die Kunst, alle Menschen alles zu lehren. Stuttgart (9. Auflage) Condorcet: google-bilder Lassalle: google Bilder Abbildung 2: Missionare Ortero Urtaza, Eugenio (1982): Las Misiones Pedagógicas. Una expe-riencia de educación popular. Coruña: Ediciós do Castro (freundlicher-weise zur Verfügung gestellt von Wolfgang Jütte) Abbildung 3: Fragende Gesichter Ortero Urtaza, Eugenio (1982): Las Misiones Pedagógicas. Una expe-riencia de educación popular. Coruña: Ediciós do Castro (freundlicher-weise zur Verfügung gestellt von Wolfgang Jütte) Abbildung 4: Lancaster Schule Lange, Hermann (1967): S. 535 Abbildung 5: Power Loom Factory Ure, Andrew (1967): Einlage-Blatt nach S. XII Abbildung 6: Ravensberger Spinnerei, Bielefeld Renda (o.J.): S. 19 Abbildung 8: Ravensberger Spinnerei – Vorspinnsaal (Ukena 1989) Abbildung 8: Wolfsburg, Porschestraße

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    Schwonke (1967), S. 32 Abbildung 9: Wolfsburg, Kulturzentrum Schwonke (1967), S. 31 Abbildung 10: Wolfsburg; Alvar Aalto-Haus – Bilbliothek http://www.aalto-wolfsburg.com/content.php?id=kulturhaus Abbildung 11: Fritz Borinski Innentitel: Borinski (1969) Abbildung 12: Willy Strzelewicz Faulstich/Zeuner (2001): S. 270 Abbildung 13: Anna Louise Karsch Titel: Karsch, Anna Louise (1991) Abbildung 14: G.G. mit Klangschale beim Ausklang 2010

  • Abbildung 14: G.G. mit Klangschale beim Ausklang 2010 «Multum egerunt, qui ante nos fuerunt, sed non peregerunt» Vieles haben die geleistet, die vor uns gewesen sind; aber sie haben es nicht zu Ende geleistet. Seneca für Manager (1989), Frankfurt am Main/Leipzig, S. 46/47