Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel
Versorgungslage vonChronisch Mehrfach geschädigten Abhängigkeitskranken
in der Bundesrepublik Deutschland
von Dr. Martin Reker
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel
Zur Historie des Begriffes„chronisch mehrfach beeinträchtigt abhängigkeitskrank“
• Erst seit 1968 ist Alkoholismus in der BRD sozialrechtlich als Krankheit anerkannt.
• Erst seit 1988 (Bericht der Expertenkommission) ist der CMA vom suchtspezifischen Hilfesystem explizit wahrgenommen worden.
• Erst durch den Paradigmenwechsel weg von der „Feuerlein-Kurve“ hin zur „vergessenen Mehrheit“ und der Zielehierarchie“ ist der CMA in den Aufmerksamkeitsfokus von Behandlung und Versorgung gerückt.
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Zur Begriffsdefinition:
Der erste Versuch einer Operationalisierung entstammt einem Projekt von Prof. Albrecht (Soziolog. Fakultät Bielefeld) aus dem Jahr 1994, dessen Mitarbeiter Thomas Hilge die Vorarbeiten in die „Braunschweiger Merkmalsliste“ (BML) einbrachte.
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Items der „Braunschweiger Merkmalsliste“:
Wohnungslos Einweisung per BeschlussLangzeitarbeitslos HeimunterbringungAlleinstehend EntzugskrämpfeSozialhilfe/Eu-Rengte AlkoholpsychosenGesetzl. Betreuung DelirVorstrafen Gangstörungen
10 Entgiftungen Lebererkrankungen52 Wo. Im Krankenhaus Gastritis
T.Hilge & W.Schulz, Sucht 45 (1999) 55-68
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Arbeitsgruppe CMA:
Definitionsvorschlag zur Operationalisierung von chronisch mehrfachbeeinträchtigten Abhängigen von psychotropen Substanzen
Sucht 45 (1) 1999, S. 6-13
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„Chronisch mehrfachgeschädigt ist ein Abhängigkeitskranker, dessen chronischer Alkohol- bzw. anderer Substanzkonsum zu schweren bzw. fortschreitenden physischen und psychischen Schädigungen (incl. Comorbidität) sowie zu überdurchschnittlicher bzw. fortschreitender sozialer Desintegration geführt hat bzw. führt, so dass er seine Lebensgrundlagen nicht mehr in eigener Initiative herstellen kann und ihm auch nicht mehr genügend familiäre oder andere personale Hilfe zur Verfügung steht, wodurch er auf institutionelle Hilfe angewiesen ist.“
AG CMA im November 1999
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Kriterienbereich 1: Konsumverhalten
Ein Punkt wird erreicht, wenn …
Alkoholabhängige:… regelmäßige Trinkexzesse (mindestens einmal im Monat in
den letzten 12 Monaten) hatten… Spiegeltrinken in den letzten 12 Monaten (ICD 10 F 10.225)
praktiziert haben
Opiatabhängige:… aktuell (in den letzten 4 Wochen) und rückblickend
mindestens 5 Jahre regelmäßig Opiate gebraucht haben
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Kriterienbereich 2: BehandlungserfahrungEin Punkt wird erreicht, wenn …Alkoholabhängige
….mindestens 5 stationäre Entzugsbehandlungen bzw.… zwei stationäre oder ambulante
Entwöhnungsbehandlungen angetreten habenOpiatabhängige… mindestens zwei der folgenden Behandlungsmaßnahmen
begonnen haben:… stationäre Entwöhnungsbehandlung … ambulante Entwöhnungsbehandlung… ärztlich durchgeführte Substitutionsbehandlung
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Kriterienbereich 3: Gesundheitliche Situation
Ein Punkt wird erreicht, wenn eine der folgenden Störungen in den letzten 2 Jahren vorlag oder aktuell vorliegt:
Körperliche Erkrankungen (vermutlich im Zusammenhang mit der Abhängigkeitserkrankung):Leberzirrhose, Fettleber, chron. Hepatitis, Ösophagusvarizen, chron. Gastritis, chron. Pankreatitis, Tuberkulose, Cardiomyopathie, Endokarditis, herzinsuffizienz, Nierenversagen, AIDS, Kleinhirnatrophie, cerebrale Anfälle, polyneuropathie, chron. Abszesse, chron. Hauterkrankungen, extrem schlechter Zahnstatus.
Psychische Störungen:Korsakow Syndrom, hirnorganische Wesensänderung, Demenz, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, depressivesSyndrom
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Kriterienbereich 4: Soziale und rechtliche Situation
Ein Punkt wird erreicht, wenn mindestens ein Punkt in den folgenden Lebensbereichen vorliegt (wesentliche Situation in den letzten 2 Jahren):
Lebensunterhalt: EU-Rente, Grundsicherung bzw. unregelmäßige oder illegale Einkünfte, ProstitutionWohnen: Wohnungslos, institutionelles Wohnen bzw. stark verwahrloste Wohnsituation Sozialer Nahbereich: alleinstehend und/oder ohne feste Paarbeziehung bzw. nur suchtbezogene KontakteJustitielle Belastung (bezogen auf die gesamte Lebenszeit): mindestens 24 Monate in Haft (kumuliert) bzw. mehr als 5 Verurteilungen
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Was kennzeichnet die Personengruppe der CMA ?
• Umfangreiche Folgeprobleme in verschiedenen Bereichen
• Erheblich eingeschränkte oder fehlende Abstinenzfähigkeit (oder –bereitschaft ?)
• Gesellschaftliche Desintegration ggf. mit Ausbildung einer eigenen Subkultur
• Perspektivenlosigkeit und Fatalismus bei Patienten und zuständigen Professionellen
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Zur Frage der Eigenverantwortlichkeit des CMA:
Eigenverantwortliche Entscheidungen der CMA werden beeinträchtigt durch …
• Akute Beeinträchtigung durch Alkoholwirkung• Craving als Ausdruck der Suchterkrankung• Störungen mnestischer Funktionen• Störungen exekutiver Frontalhirnfunktionen
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Formulierung von Behandlungszielen –eine Frage der Perspektive ?
• aus subjektiver Sicht der Betroffenen• aus Sicht der Therapeuten• aus Sicht der Angehörigen• aus Sicht der Kostenträger• aus Sicht der Gesellschaft
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Subjektive Bedürfnisse der Klienten:
• Hoher Autonomiebedarf (Geld, Freiheit in der Bewegung, Suchtmittel u.a.)
• Praktische Unterstützung in psychosozialen Alltagsfragen
• Halt und Orientierung ohne Aufdringlichkeit• Persönliche respektvolle Ansprache• Gesellige Umgebung und/oder ausreichende
Rückzugsmöglichkeiten
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Anliegen der Professionellen:
• Abstinenz• Tagesstruktur• Stabilisierendes soziales Umfeld• Adäquate Behandlung von somatischen und psychiatrischen
Störungen• Schützendes und stabilisierendes Wohnumfeld• Einteilung der Finanzen• Ausreichende Betreuung
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Zielvorgaben der Kostenträger:
• Objektivierbare Verbesserung des Status quo• Abstinenzorientierung• Effektivität und Effizienz der Maßnahmen• Gesellschaftliche Reintegration
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Welche Hilfesysteme sind nützlich ?
Hilfen nach SGB VHilfen nach § 67 SGB XIIHilfen nach § 53/54 SGB Hilfen nach Ordnungsbehördengesetz
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Welche Menschen in welche Hilfeform ?
• Hilfen nach § 67 SGB XII für Menschen mit sozialen Schwierigkeiten in besonderen Lebensverhältnissen, z.B. das „Dezentrale Wohnen Wilhelmsdorf“
• Hilfen nach §§ 53/54 SGB XII für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen im ambulanten oder stationären Setting
• Familienpflege• „Hotel plus“ (nach Kölner und Münsteraner Modell)• Modell „Besser ist wohnen“
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Konzeption der Sächsischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren für Sozialtherapeutische Wohnstätten für CMA im Freistaat Sachsen:
• Sozialtherapeutische Wohnstätten• Außenwohngruppe mit WfB Anbindung
bzw.anderer tagesstrukturierender Maßnahme• Ambulant betreutes Wohnen mit WfB Anbindung
bzw. anderer Tagesstruktur (z.B. Tagesstätte)• Soziale und berufliche Reintegration
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Beendigung der Betreuung in dieser sozialtherapeutischen Einrichtung 2003:
Planmäßiger Abschluss 69 %Abbruch durch Einrichtung 12 %Abbruch durch Klient 17 %Verstorben 2 %
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Wohnverhältnisse nach Betreuungsende:
Selbstständiges Wohnen 33 %Bei Angehörigen/Eltern 14 %Betreutes Wohnen 16 %Andere Einrichtung 23 %Ohne Wohnung (obdachlos) 7 %Sonstiges/unbekannt 7 %
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Wie reguliert man die Zugangsschwellen in die beschriebenen Hilfesysteme ?
• Aufsuchende Hilfen oder Kommstruktur ?• Eingangsvoraussetzung Abstinenz:
ja oder nein ?• Selbstbestimmung oder
Fremdbestimmung ?• Kontingentierung und Rationierung mit
Wartelisten: ja oder nein ?
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Welchen Minimalanspruch haben wir an die Gesellschaft, in der wir leben ?
• Niemand soll auf der Straße „krepieren“• Jeder hat ein Recht auf ein Dach über dem Kopf• Jeder hat ein Recht auf eine neue Chance• Jeder hat ein Recht auf Respekt• Jeder hat ein Recht auf Schutz vor Übergriffen
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Welchen Minimalanspruch haben wir an unsere CMA-Klienten ?
• Hilfen aus öffentlicher Hand sind kein Selbstbedienungsladen
• Wer Hilfen aus öffentlicher Hand annimmt, muss respektvoll damit umgehen und den ihm selbst möglichen Anteil einbringen
• Auch CMA Klienten müssen Grenzen des Hilfesystems und seiner Helfer respektieren
• Es gilt absoluter Gewaltverzicht !
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„Ein Staat ist nach meiner Auffassung nur so stark, wie er mit den Schwächsten
umgeht.“
Tim Kähler, Sozialdezernent der Stadt Bielefeldin: „Kommunale Steuerung und Vernetzung im
Gemeindepsychiatrischen Verbund“, Psychiatrie Verlag 2006
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