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Selbstwirksamkeit und Burn-Out in Waldorfschulen: Ein Werkstattbericht

Dr. Katrin Käufer / Dr. Ursula Versteegen

Das Gefühl, dass die eigene Handlung keine nachhaltig positiven Veränderungen bewirkt, ist ein Phänomen, dass sich in allen gesellschaftlichen Bereichen finden lässt. Dieses Gefühl, nichts bewirken zu können, wird nicht nur durch globale und gesellschaftliche Probleme wie Klimawandel oder durch geo-politische Krisen ausgelöst. Auch in einem Kontext, auf den wir individuell einen hohen Einfluss haben wie beispielsweise in Familie und Beruf, wird Handeln oft als reaktiv erlebt oder im extremen Fall als ein Rennen in einem „Hamsterrad.“ Das Gefühl der Erschöpfung, Resignation oder Burn-out beschreiben Lehrer, Ärzte, Kranken-schwestern und Mitarbeiter in Unternehmen. Das Spannungsverhältnis zwischen dem, was man tun können müsste und dem, was man tatsächlich glaubt zu können, wird immer größer. Auf Dauer macht dieses Missverhältnis handlungsunfähig – etwas kommt ins Stocken und macht krank.

Der folgende Werkstattbericht basiert auf einem zweijährigen Projekt der Hannoverschen Unterstützungskassen zum Thema „Individuelle Initiative und Gesundheit“, im Rahmen dessen zu der Frage des Burn-out Coachings, Befragungen und Projekte in Waldorfschulen durchgeführt wurden.

Teil I: Beobachtungen in Waldorfschulen: Beispiele für Symptome

„...ging es darum zu ergründen, wie es trotz großer Begeisterung für die Arbeit als Klassen- und Fachlehrer immer wieder zu den Gefühlen der Erschöpfung, des Ausgebranntseins und der Über-forderung kommen konnte. Wo lag/liegt der Veränderungsbedarf? Wie muss dann die gesunde Veränderung aussehen?“

„...– das Gefühl zu versumpfen und dass alles zu viel ist...“

Dies sind Stimmen von Waldorflehrern/innen. Sie beschreiben ein Phänomen, das heute in vielen Schulen – und nicht nur Waldorfschulen – erlebbar ist. Lehrer und Lehrerinnen fühlen sich erschöpft, ausgebrannt. Warum es zu dazu kommt, was die Ursachen und systemische Gründe für Erschöpfungszustände bei Lehrern/innen sind, bildete den Ausgangspunkt dieses Projektes.

In unseren Gesprächen mit Lehrern/innen rückten, wenn es um Fragen von Burn-out und Stress ging, fünf Themen in den Vordergrund. Diese Themen sind als Momentaufnahmen und nicht als repräsentative Auswertung zu verstehen. Sie bieten Ansatzpunkte zum Verständnis für die Situation von Waldorflehrern/innen. Diese fünf Themen sind:

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1. Selbstorganisation, Führung und kollegiale Zusammenarbeit2. Arbeits- und Lebensbalance des/r Lehrers/in (Umgang mit mir selbst)3. Abschlussprüfungen an der Schule und der Bezug des Curriculums der Unter- und Mittel-

stufe zur Oberstufe4. Schülerfluktuation: wer kommt und wer geht?5. Sinnfrage einer Waldorfschule: Spannung zwischen Innovation und dem Ausgangsmo-

dell der Waldorfschule

Selbstorganisation und Führung

„.. würde ich mir sogar wünschen, dass jemand eingestellt wird, der die Schule organisiert. Dafür würde ich sogar in Kauf nehmen, bei Entscheidungen nicht einbezogen zu werden.“

„Nicht der Unterricht, nicht die Schüler..., sondern wie die Organisation eher von uns allen stattfindet.“

„Wir arbeiten fast alle seit über 10 Jahren zusammen. Wir haben verschiedene Modelle der Schulführung ausprobiert. Als wir im gesamten Kollegium die Schule geführt haben, hatten wir unendlich lange Sitzungen, aber keiner hat sich verantwortlich gefühlt. Jetzt mit dem Schul-führungsgremium fühlen sich die meisten nicht mehr verantwortlich, sie haben das Gefühl, sie wissen nicht mehr, was in der Schule passiert....“

„Also, unsere Konferenzen sind ja im Moment auch so strukturiert, dass eigentlich nur noch Punkte abgearbeitet werden und viel Organisatorisches eigentlich nur noch besprochen wird, vieles, was problembehaftet ist und wenig Positives, was da entgegen gesetzt wird.“

Viele Lehrer/innen beschrieben die Aufgabe der Schulführung und der kollegialen Zusam-menarbeit als einen hohen Stressfaktor. Konferenzen führen nicht zu Entscheidungen, Span-nungen zwischen den Kollegen/innen werden nicht aufgearbeitet, es entsteht kein gemein-sames Bild und die kollektive Selbstführung fordert einen hohen Zeitaufwand. Die Frage der Schulführung und -organisation ist ein zentraler Einflussfaktor auf die Arbeits- und Stress-belastung der Waldorflehrer. Themen der Selbstorganisation und -führung sind:

• Wie kommen wir zu Entscheidungen?• Was sind Führungskompetenzen, die wir brauchen?• Wie organisieren wir uns als Schule?• Wie organisieren wir die Konferenzen, die Arbeit in den Gremien?• Wie unterstützt man die Weiterentwicklung von Mitarbeiters/innen?

Arbeits-und Lebensbalance des/r Lehrers/in

In den Coachinggesprächen beschrieben Lehrer/innen das komplexe Beziehungsnetz, in dem sie stehen. Jeder Lehrer/in steht in einem Spannungsfeld, in dem aus verschiedenen Richtungen Erwartungen und Anforderungen gestellt werden, die auch im unmittelbaren Widerspruch zu einander stehen können. Jede Beziehung kann als Belastung oder als Kraft-quelle empfunden werden. Jede der Beziehungsebenen unterscheidet sich stark und fordert

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unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen. Zudem stehen die verschiedenen Ebenen zuweilen im Konflikt miteinander.

„... ich habe vor Elternabenden Angst. Ich kann die Nacht vorher nicht schlafen. Die Elternarbeit ist das Anstrengendste von allem.“

„Die Arbeit mit großen Schülergruppen ist kraftaufwendig. Ich muss in jeder Sekunde unheimlich parat sein. Manchmal komme ich mir vor wie ein Dompteur. Nicht disziplinarisch. Sondern wegen der Frage, wie erreiche ich mit so vielen effektiv ein Ziel?“

„Mich kostet die meiste Kraft Eltern und Kollegen.“„Wenn ich nach Hause komme, bräuchte ich eigentlich eine Pause, aber dann geht es gleich weiter mit den eigenen Kindern.“

„Wir rennen den Änderungen der Schulbehörden hinterher.“

„...die staatlichen Auflagen werden immer repressiver.... und werden von den Anforderungen der Eltern gespiegelt.... zusätzlich führen die Bewegungen im Kollegium immer stärker zu Reglemen-tierung: es wird immer enger“

Waldorflehrer/innen stehen in einem komplexen Beziehungsfeld, das häufig widersprüchli-che Forderungen stellt. Mindesten vier Beziehungsebenen bilden dieses Spannungsfeld:

• Schüler/innen• Kollegen/innen• Eltern• Gesellschaft/Behörden/andere Schulen

In bezug auf die Lebens- und Arbeitsbalance wurde eine mangelnde Wertschätzung als ein weiterer Faktor benannt. Beispiele dafür sind unbezahlte Überstunden, eine niedrige Bezahlung oder Stundenpläne, die die persönliche Situation der Lehrer/innen nicht berück-sichtigen. Eine zweite Ebene der Wertschätzung bezieht sich auf die interkollegiale Wert-schätzung: Beispiele sind hier „ungleich“ verteiltes zusätzliches Engagement bzw. Aufgaben im Bereich Schulorganisation, Gremienarbeit, etc. also die Entwicklung des Schulganzen. Konflikte entstehen zwischen denjenigen, die sich durch diese Aufgaben als überlastet erle-ben und denjenigen, die in bezug auf diesen Aufgabenbereich Grenzen setzen. Nachfolgend einige Beispiele:

Gehalt„Das Verhältnis zwischen dem Gehalt und der Arbeitszeit, das stimmt für mich nicht. Ich weiß nicht, wie ich über die Runden kommen soll. Das macht mich unzufrieden und nimmt mir Kraft.... ich bin seit 20 Jahren im Beruf, aber meine Familie muss mich immer noch monatlich bezuschussen.“

Arbeitszeit„Ich arbeite bis zum Umfallen. Wie finde ich raus, was mein Rhythmus zwischen Arbeitszeit und Musezeit ist?“

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Gremienarbeit„Ich habe lange gebraucht zu sagen, dass ich nicht mehr in die Konferenzen gehen kann. Ich schaffe es nicht und fühle mich nicht mehr in der Lage, aber es grenzt an ein Tabu.“

„...Die Aufgabe wird angeboten wie Sauerbrot. Es kriegt derjenige den Job, der als erster schwach wird, weil er die Unklarheit nicht mehr aushält und sich dann „aufopfert“

„Es gibt keine offizielle Hierarchie – sie entwickelt sich inoffiziell durch die Menge, die man zu-sätzlich arbeitet an dem Ganzen ... eine offizielle klare Hierarchie wäre mir lieber – wie werden Entscheidungen gefällt?“

Abschlussprüfungen Die Verkürzung der Gesamtschulzeit, die anstehende Herausforderung des Zentralabiturs, die steigenden Erwartungen der Eltern wirken als Belastungsfaktoren.

„... für das Abitur muss ich Bio-Genetik unterrichten... aber als ich studiert habe, gab es das noch gar nicht...“

„... als für das Abitur verantwortliche Lehrerin stehe ich manchmal im Konflikt mit den Klassen-lehrern. Ich habe den Druck von oben (Abitur) und Klassenlehrer haben diese Priorität nicht...“

„Was ist eigentlich noch Waldorf in der Oberstufe? Wie nehmen wir die Oberstufe wahr? Wo Veränderung in der Struktur, Ausrichtung auf welche Abschlüsse?“

In bezug auf die Abschlussprüfungen ist die Zusammenarbeit zwischen den Klassenlehrern/innen und der Lehrer/innen der Oberstufe ein Auslöser für Spannungen: Was müssen die Schüler/innen am Anfang der 9. Klasse können, damit sie ohne Stress und Spannungen zum Schulabschluss geführt werden können? Wie müssen die Lernprozesse innerhalb der Oberstu-fe verteilt werden, damit es nicht zum „Lernstau“ in Klassen 11 und 12 kommt?

Ein weiterer Punkt sind Weiterbildungsmöglichkeiten der Oberstufenlehrer/innen insbeson-dere in den naturwissenschaftlichen Fächern. Und dann die umfassende Frage danach, in welchem Verhältnis die Anforderungen der externen Prüfungen zu dem Sinn und Ziel des Waldorfschulcurriculums und der Waldorfpädagogik stehen?

Schülerfluktuation: Wer kommt und wer geht?„...in der 4. 5. oder 6. Klasse kommen frustrierte Schüler aus der Staatsschule zu uns. In der 9. Klasse gehen viele gute Waldorfschüler auf die Staatsschule, weil sie akademisch mehr wollen... in der 5. Klasse könnten wir drei Parallelklassen haben, in der 9. sie wieder zumachen. Rea-gieren wir hier nur mit Wartelisten drauf? Oder hat das was mit dem zu tun, wofür wir künftig gebraucht werden?“

An die Frage der gesellschaftlichen Erneuerung durch Waldorfschulen knüpft auch das The-ma Schülerfluktuation an. Der Erneuerungsimpuls, den das Waldorfcurriculum in sich trägt, zieht Eltern an die Schulen, die für ihre Kinder verstärkt Heilungsmöglichkeiten suchen. D.h. aber nicht unbedingt, dass diese Eltern mit den Grundgedanken der Waldorfpädagogik vertraut sind oder sich dafür interessieren. Damit werden Lehrer/innen oft vor komplexe Auf-gaben gestellt und die Klassen belastet. Die Klassenkomposition kombiniert mit der Klas-sengröße birgt weiteres belastendes Konfliktpotential beispielsweise, dass Schüler/innen,

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die verstärkt intellektuelle Herausforderungen suchen, sich im Verlaufe der Zeit zu anderen Schulen hin orientieren.

Sinnfrage einer Waldorfschule: Spannung zwischen Innovation und dem Ausgangsmodell der Waldorfschule

„Dann können wir doch das Schild vorne an der Schule abschrauben! Dann sind wir doch keine Waldorfschule mehr.“

„...wo stehen wir eigentlich, was wollen wir --- bewusst wollen, nicht nur einfach reinschlittern, dann sind wir kein Dienstleistungsbetrieb.“

„Was sind die besonderen Stärken unserer Schule?“

Waldorfschulen sind aus einem Erneuerungsimpuls heraus entstanden und stehen gleichzei-tig in der Nachfolge der ersten von Steiner noch begleiteten Schule. In welchem Verhältnis steht jede Innovation zu dem Curriculum und zu den ersten von Steiner begleiteten Wal-dorfschulen? Wie stehen die Waldorfschulen im Verhältnis zu den Pionierschulen der Schu-lerneuerungsbewegung nach PISA? Dieses Spannungsfeld produziert zum Einen Konflikte wie beispielsweise:

• Konflikte mit den Eltern, die aus ihrer Perspektive das Curriculum nicht verstehen und in Frage stellen (warum Russisch? Warum Eurythmie?),

• Konflikte mit Schülern/innen (Ich langweile mich und will mitbestimmen),• Konflikte mit Kollegen/innen (Habe ich Steiner hier richtig verstanden)? Wenn ich et-

was ändere, bin ich dann noch ein Waldorflehrer?)und • als letzte Konfliktlinie die zwischen der Schule und der Gesellschaft (Tragen wir als

Schule zu einem gesellschaftlichen Erneuerungsprozess bei?)

Sämtlichen dieser genannten Konfliktebenen liegt zudem eine Sinnfrage zugrunde. Wozu braucht die Gesellschaft Waldorfschulen? Wann ist eine Waldorfschule eine Waldorfschule? Was ist unsere Aufgabe, was ist der innere Kern und erfüllen wir diese?

Fazit:

Die Veränderung der Schullandschaft, der Erwartungen von Eltern und individualisierte Anforderungen von Kindern, die wirtschaftliche Situation und aber auch älter werdende Kollegiengremien, also sinkende Kräfte, haben eine soziale und dynamische Komplexität geschaffen, durch die Lehrer/innen und die klassische Organisation der Waldorfschulen stark belastet wird. Diese Veränderung betrifft nicht nur Waldorfschulen.

Die innere und äußere Erfahrungswelt des Lehrerberufs passen nicht mehr zusammen: Was gefordert wird, ist mit den bekannten Handlungsmöglichkeiten immer weniger oder nur mit immer größerer Anstrengung zu realisieren:

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Teil II: Burn-out, Selbstwirksamkeit und Salutogenese

„Gute schulische Arbeit zeichnet sich immer dadurch aus, dass Lehrpersonen sich für die Ent-wicklung der gesamten Person des jungen Menschen verantwortlich sehen. Diese Verantwortlich-keit zu empfinden ist gleichzusetzen mit der Abwesenheit von Burn-Out.“

G.S.Schmitz, FU Berlin, aus Empfehlungen der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung

Die Konzepte von Burn-out, Selbstwirksamkeit und Salutogenese blicken sämtlich auf das Individuum und dessen Arbeits- und Belastungssituation. Im Rahmen des Projektes wurden diese drei Konzepte daraufhin angeschaut, inwieweit sie Hilfestellung und Erklärungspoten-tial für die Belastungssituation in Schulen bieten. Im folgenden werden diese drei Konzepte vorgestellt und im Hinblick darauf diskutiert, inwieweit sie mögliche Antworten oder Hilfe-stellungen für Situationen von Burn-out anbieten.

Burn-out

Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer scheiden wegen psychischer Ursachen aus dem Beruf, beispielsweise wegen stressbedingter Belastungssymptome oder einer vorzeitigen Pensio-nierung aufgrund von Dienstunfähigkeit. Allein im bayerischen Haushalt betragen die Ver-sorgungsausgaben für frühpensionierte Pädagogen nach Berechnungen des Lehrerverbandes € 250 Mio. p.a.

Die Burn-out Forschung dokumentiert die negativen Entwicklungen eines langsamen „Aus-brennens“ als äußere Folge der Belastung. Demgegenüber stellt die Selbstwirksamkeits-forschung die Frage, ob es protektive Faktoren gibt, die vor Burn-out bewahren. Burn-out bezeichnet eine Situation, in der ein Individuum beruflich dauerhaft überfordert ist und in Folge dessen unter chronischer Überbelastung und damit verbundenem lang anhaltendem chronischen Stress leidet, der zu einem „Ausbrennen“ führt. Burn-Out ist der Verlust der Handlungsfähigkeit.

„Dann merke ich, ich werde so dünn... es ist so dürftig, was mir einfällt. Früher hatte ich das Problem, mehr Ideen zu haben, als ich umsetzen konnte. Heute ist es zu schmalspurig. Es zieht zuviel an derselben Stelle. Wo ich jetzt merke, dass mir das alles über den Kopf wächst. Ich mache das alles aus meiner Allgemeinbildung heraus. Ich bin überhaupt nicht zufrieden. Was ich mir abends aneigne, das unterrichte ich morgens. Es kann klappen oder nicht, hängt aber nicht von mir ab.“

Dem Burn-out liegen häufig gut gemeinte, aber fehlgeleitete Anpassungsversuche zugrunde: z.B. ein hohes Verantwortungsbewusstsein („ich kann das doch jetzt nicht einfach liegen lassen“), das häufig dazu führt, sich selbst zu überfordern, in dem man „noch härter arbei-tet“. Den auftretenden Herausforderungen und Spannungsfeldern wird dadurch begegnet, dass man noch mehr von dem tut, was in der Vergangenheit funktioniert hat, aber heute bei genauerer Betrachtung seine Wirkung verloren hat. Die bislang umfangreichste Befragung durch den Potsdamer Psychologen Uwe Schaarschmidt von knapp 8000 Pädagogen ergab, dass rund 60% von ihnen zur Risikogruppe für Stresskrankheiten gerechnet werden konnten – die eine Hälfte ist chronisch überfordert, die andere bereits tief resigniert.Christina Maslach u. Kollegen definieren burn-out als ein Syndrom aus drei Komponenten:

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1. Ausbrennen beginnt mit emotionaler Erschöpfung. Emotional, weil die Erschöpfung in den intensiven Beziehungen zu Menschen entsteht, für die ich verantwortlich bin, in die z.B. auch die Arbeit der Lehrer/innen eingebettet ist. Beispielaussage: „Den ganzen Tag mit Schülern zu arbeiten, ist eine Strapaze für mich.“ „Während des Unterrichts komme ich mir vor wie ein Dompteur, hinterher bin ich in Schweiß gebadet.“

2. Wenn ich erschöpft bin, möchte ich mich gegen die Erschöpfung schützen. Es entwickelt sich eine zynische Haltung und Depersonalisierung des Umfelds oder des Beziehungs-umfelds. Ich ziehe mich aus der sozialen Beziehung zurück, um mich vor weiterer Er-schöpfung zu schützen. Beispielaussage: „Bei manchen Schülern interessiert es mich im Grunde nicht, was aus ihnen wird.“

3. Das bedeutet, dass der Lehrer/in Schüler nicht mehr optimal fördern kann, d.h., im Lau-fe der Zeit entwickelt sich der sogenannte Leistungsverlust. Beispielaussage: „Ich habe zu wenig Zeit und Kraft für das, weswegen ich Lehrer geworden bin: für die Schüler.“

Selbstwirksamkeit

Die Selbstwirksamkeitsforschung untersucht, welche kognitiven Muster sich hinter der Ent-stehung von Burn-Out verbergen, bzw. wie Menschen denken, die trotz großer Belastung gesund bleiben. Der Begriff Selbstwirksamkeit (engl. Self-efficacy) bezeichnet die Fähig-keit, aufgrund eigener Kompetenzerwartungen Handlungen ausführen zu können, die zu den gewünschten Zielen führen. Die entsprechende, generalisierte Erwartung bzw. Überzeugung des Betreffenden bezeichnet man als Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) oder Kompeten-zerwartung (engl. perceived self-efficacy)1. Selbstwirksame Menschen sind „überzeugt et-was zu können“. („Can do Cognition“). Ein Mensch, der daran glaubt, selbst etwas bewirken und sein Schicksal durch sein eigenes, selbstständiges Handeln beeinflussen zu können, hat also eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung.

Das Konzept der Selbstwirksamkeit geht auf die Arbeit des Kanadiers A. Bandura zurück. Bandura hat festgestellt, dass Menschen, die einer äußerlich gleichen Belastung ausgesetzt sind, unterschiedlich stark unter dieser Belastung leiden. Bandura argumentiert, dass in der Auseinandersetzung mit alltäglichen Umweltanforderungen Selbstwirksamkeit eine wichtige personale Ressource darstellt. Individuen wägen insbesondere in schwierigen Situationen die an die eigene Person gestellten Anforderungen gegen die eigenen Kompetenzen und Res-sourcen ab. Diese Abwägung bestimmt, wie ein Individuum sich für eine bestimmte Hand-lung bzw. für einen bestimmten Bewältigungsvorgang entscheidet. Die subjektive Überzeu-gung, kompetent zu sein, eine neue und schwierige Aufgabe auch dann erfolgreich lösen zu können, wenn sich Widerstände in den Weg stellen, ist unabhängig von der Erwartung, welche Ergebnisse dieses Handeln erzeugt.

Selbstwirksamkeitserwartungen (SWE) zusammen mit weiteren Überzeugungen einer Person – beispielsweise ihren Handlungs-Ergebnis-Erwartungen – bilden ein dynamisches System selbstbezogener Kognitionen. Auch „optimistische Selbstüberzeugungen“ genannt, sind sie ein Schlüssel zur kompetenten Selbstregulation, denn Kognitionen über eigene Fähigkeiten beeinflussen Denken und Handeln in hohem Maße. Bandura fasst dies so zusammen: „Die wahrgenommene Selbstwirksamkeit bezieht sich auf Überzeugungen über diejenigen eigenen Fähigkeiten, die man benötigt, um eine bestimmte Handlung zu organisieren und auszuführen, um damit bestimmte Ziele zu erreichen.“

1 Selbstwirksamkeit meint die zuversichtliche Erwartung, künftige Problemsituationen durch adaptive Hand-lungsmöglichkeiten gezielt bewältigen zu können.

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Aus den anschließenden Forschungsarbeiten im Bereich Selbstwirksamkeit wurden die fol-genden Unterschiede zwischen selbstwirksamen und nicht-selbstwirksamen Individuen identifiziert:

• Menschen mit einer hohen Erwartung an die eigene Wirksamkeit setzen sich klare und höhere Ziele (verbunden mit höheren Anforderungen),

• planen ihr Vorgehen effizienter in realistischem Bezug auf ihre Möglichkeiten und Res-sourcen,

• fällt es leichter, den ersten Schritt zur Zielerreichung zu tun, also die Initiative zu er-greifen,

• bleiben länger und müheloser am Ball und lassen sich auch durch Misserfolge weniger aus dem Konzept bringen.

Wie SWE entsteht: Quellen der Selbstwirksamkeitserwartung

Es gibt vier Quellen, durch die die Selbstwirksamkeitserwartung gesteigert werden kann: 1. physiologische Rückmeldung (Erregung), 2. verbale Beeinflussung (Du kannst das bestimmt schaffen), 3. stellvertretende Erfahrung (andere machen es vor) oder 4. direkte Erfahrung.

Die direkte Erfahrung, also das eigene aktive Handeln und Meistern einer schwierigen Auf-gabe, ist die effektivste Quelle für den Aufbau einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung. Aber auch die verbale Rückmeldung und die stellvertretende Erfahrung spielen bspw. in Coa-chings oder Peer-Learning eine wichtige Rolle, sowie auch die Interpretation der Ergebnis-se. Es gibt Personen, die selbst die Früchte erfolgreicher Anstrengungen nicht der eigenen Fähigkeit zuschreiben, sondern externen Ursachen wie „Glück“ oder der Hilfe anderer.

D.h., Menschen bewerten ihre Erfahrungen. Bei gleichem Input kann eine Person zu dem Schluss kommen, sehr erfolgreich gewesen zu sein und damit erhöht diese Person ihre Selbst-wirksamkeitserwartung und in einer identischen Situation schreibt eine andere Person den Erfolg externen Variablen zu und schwächt sich.

Ein praktisches Beispiel ist das Ergebnis einer Studie der Mitarbeiterfluktuation bei einer Versicherung. Die Auswirkungen von positiver Kompetenzerwartung auf Berufserfolg werden hier besonders deutlich: Gemessen an dem Handlungsergebnis – in diesem Fall erzielte Ver-sicherungsabschlüsse – schlossen die 25% stärksten „Optimisten“ 57% mehr Verträge ab, als die 25% der überzeugtesten Pessimisten.

Untersuchungen im Rahmen eines Modellversuchs „Verbund Selbstwirksamer Schulen“ in Deutschland an 300 Lehrer/innen haben gezeigt, dass selbstwirksame Lehrer/innen bei glei-cher Unterrichtsstundenanzahl eine geringere Überforderung und Unzufriedenheit aufweisen und mehr Zeit mit Schülern/innen und Eltern außerhalb des Unterrichts verbringen. Hohe Erwartungen an die eigene Kompetenz gehen mit deutlich geringerer beruflicher Belastung und deutlich geringerem Burn-out einher:

• wenig selbstwirksame Lehrer/innen weisen das höchste Ausmaß emotionaler Erschöp-fung auf;

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• hoch selbstwirksame Lehrer/innen sind deutlich weniger emotional erschöpft und aus-gebrannt;

• negative Selbstwirksamkeitserwartungen lassen initiativlos werden oder veranlassen dazu, vorzeitig aufzugeben;

• positive Erwartungen an die eigene Wirksamkeit führen zu einem höheren beruflichen Engagement;

• selbstwirksame Lehrer/innen leiden deutlich weniger unter chronischem Stress und sind erfolgreicher: sie setzen sich höhere und verbindlichere Ziele und planen konkret, auch wie sie Barrieren beseitigen und an eigene Ressourcen anknüpfen.

Die oben beschriebenen Befunde aus dem Projekt selbstwirksamer Schulen sind nicht nur individuelle Muster, sondern wurden auch auf kollektiver Ebene, dem Schulganzen gefunden: Schulen, die sich durch geringe Selbstwirksamkeit auszeichnen, haben auch ausgebrannte und belastete Kollegien.

„Die mündliche Kommunikation ist so reduziert, dass sie diese Grenze vom Einzelnen zur Ge-meinschaft nicht überwindet. Wir ziehen nicht mehr an einem Strang... wir sitzen alle im Sumpf und jeder zieht sich an den eigenen Haaren ein Stück weit raus, jeder versucht sich selbst raus-zuziehen, und dabei ziehen sich alle gegenseitig weiter runter – ohne es zu wollen.“

Sich selbstverstärkende Wirksamkeits- und Unwirksamkeitskreisläufe entstehen aufgrund der Zirkularität von Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) und Handlungsergebnissen: Eine hohe SWE führt zu hohen Ansprüchen an die eigene Person, die dann wiederum eher anspruchs-volle und schwierige Herausforderungen sucht. Eine gute Leistung bei diesen Herausforde-rungen führt dann wieder zur Bestätigung bzw. Erhöhung der eigenen Selbstwirksamkeit (Engelskreis). Umgekehrt führt eine niedrige SWE aufgrund der Zielauswahl (Schwierigkeits-grad), der geringeren Anstrengung und Ausdauer zu weniger guten Leistungen, bzw. Miss-erfolgserlebnissen, die dann wiederum eine Bestätigung der eigenen Unwirksamkeit sind (Teufelskreis).

Burn-Out als Teil eines Teufelskreises sich negativ selbstverstärkender, niedriger Selbstwirksamkeitserwartung

Bauer, Kapka & Brindt (1996) sehen den Teufelskreis von niedriger Selbstwirksamkeit und Handlungsergebnissen als Grundlage für die langfristige Entstehung von Burn-out. Sie be-ziehen ihr Modell konkret auf die Arbeitssituation von Lehrern/innen und sehen als zentralen Bestandteil, der zum Burn-out führt, die Auswirkung dieser negativen Arbeitserfahrung auf sein Selbstkonzept und sein Selbstwirksamkeitserleben im Unterrichtskontext. Beurteilt ein Lehrer/in die eigene Aufgabenerfüllung als schlecht oder negativ – unabhängig davon, ob Ar-beitserfolge aufgrund eigener Defizite oder bestimmter Arbeits- und Organisationsmerkmale tatsächlich ausbleiben, bzw. erhält er/sie darüber keine adäquate Rückmeldung– gewinnt der Lehrer/in die Überzeugung, dass er/sie das Unterrichtsgeschehen/Eltern/ kollegiale Zusam-menarbeit/Schulführung nicht kontrollieren kann und stellt den Sinn seiner eigenen Arbeit in Frage. Das Erleben der geringen Wirksamkeit seines Handelns wirkt sich negativ auf sein Selbstkonzept aus und führt zur inneren emotionalen Erschöpfung, die wiederum eine wei-tere Reduzierung der eigenen Leistungsfähigkeit nach sich zieht und wiederholt zu einer „schlechten Aufgabenerfüllung“ beiträgt, womit sich der Teufelskreis schließt.

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Die anhaltende Überforderung, die zu Burn-out führt, kann auch im Sinne anhaltender Miss-erfolge interpretiert werden. Das häufige Erleben von Misserfolg verringert die Selbstwirk-samkeit, also die persönliche Überzeugung eine bestimmte zielgerichtete Handlung ausfüh-ren zu können. „ich bin mir sicher, dass ich etwas Bestimmtes kann, selbst wenn ich....“

Beobachtungen und Reflektionen aus dem Projekt „Individuelle Initiative und Gesundheit der Hannoversche Kassen“

Fallbeispiel 1:Herr B. unterrichtet Physik, Biologie und Mathematik für die Oberstufe. Gleichzeitig ist er für das Abitur in der Schule verantwortlich. Sein Stundenplan ist schwierig: sowohl vormit-tags, als auch nachmittags unterrichtet er Epochen, dazwischen sind Lücken. Herr B. sieht sich in einer schwierigen Klasse sowohl von Seiten der Eltern, als auch von Seiten der Kinder unter Beschuss. Er beschreibt sich als überarbeitet. „Ich bin am Ende.“ Zu Beginn des Ge-spräches beschreibt er seine Verantwortlichkeit in Bezug auf das Abitur als Hauptproblem. Im weiteren Verlauf rückt sein schwieriges Verhältnis zu den Kindern und den Eltern in den Vordergrund. Eltern wollen, dass ihre Kinder das Abitur machen, die Kinder sind aber mit dem Unterrichtsstoff überfordert. Auf die Frage, was eine positive Arbeitserfahrung war, beschreibt Herr B. eine Schulstunde, die er am Anfang seiner Lehrertätigkeit gegeben hat. Er war unvorbereitet zum Unterricht erschienen. Seltsamerweise hat sich dann in dieser 11. Klasse eine tolle Schulstunde entwickelt. Heute fühlt sich Herr B. völlig erschöpft. Er hat sich von den Kindern distanziert. Er findet, dass er auf einem so geringen Niveau un-terrichten muss, damit die Kindern überhaupt den Unterrichtsstoff noch verstehen, dass an ein Abitur nicht zu denken ist. Gleichzeitig fühlt er sich von Eltern gemobbt, die ihre Kinder angestiftet haben, „Fehler“ des Lehrers wie z.B. spätes Erscheinen, Ungeduld, falsche Dar-stellung etc. zu dokumentieren. Seine Kollegen stärken ihm nicht den Rücken. Das macht ihn noch stärker handlungsunfähig. Herr B. fragt sich, warum er sich das alles überhaupt noch antut.

Fallbeispiel 2:Frau M. ist Klassenlehrerin. Sie kommt gut mit ihrer Klasse klar und auch mit den Eltern. Die Arbeit macht ihr Spaß. Sie freut sich auf den Unterricht und auf die Gespräche mit den Eltern. Die Kollegen bewundern und respektieren sie, denn sie hat den Ruf, auch mit sehr schwierigen Klassen fertig zu werden. Man bittet sie, in allen wichtigen Gremien mitzuarbei-ten und schnell übernimmt sie dort auch eine Führungsrolle. In dem Coachinggespräch fragt sie sich, warum sie immer „die Retterin“ sein muss. Sie entdeckt im Verlaufe des Coachings, dass sie sich auch bewusst für eine andere Rolle entscheiden kann und schlägt in einem Gremium vor, dass sie in der Rolle der „Mitarbeiterin“ im Gremium tätig sein möchte und nicht im Zentrum. Die Kollegen akzeptieren diese Entscheidung. Frau M. stellt im Verlaufe des Coaching fest, dass dieser Schritt ihr erlaubt, frei zu sein, sich etwas Neues auszusuchen und initiativ zu sein.

Vergleich der FallbeispieleDie beiden Beispiele dokumentieren zwei gegensätzliche Arbeitssituationen. Herr B. befin-det sich in der Abwärtsspirale. Die Situation ist schwierig und wird immer problematischer. Er findet keinen Weg heraus. Frau M. dagegen befindet sich in einem positiven selbstver-stärkenden Prozess. Ihr Erfolg wird anerkannt und führt zu noch mehr Erfolg. Bis der Erfolg

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selber auch zu einem Problem wird, sie fühlt sich nicht mehr frei und initiativ, da sie in zu vielen Initiativen anderer mitmacht.

Die folgende Abbildung beschreibt den positiven Prozess als „Engelskreis“, den negativen als „Teufelskreis“ und beschreibt mit Hilfe der Konzepte von Selbstwirksamkeit, Burn-out und Salutogenese die inneren und unterliegenden Faktoren.

Abbildung 1: Engels- und Teufelskreis der Selbstwirksamkeit

Engelskreis:Selbstwirksamkeit +

= BurnoutSaltugenese +

...als Erfolg

SWE- Beurteilung d. eigenen Leistung......als Unzulänglichkeit/Mißerfolg

Teufelskreis:Selbstwirksamkeit -

Burnout +Saltugenese -

mangelndes Feedbackmangelnde KompetenzA+O Schwächen

Unterrichtsgeschehen nichtmehr kontrollierbar [SOC 1]Erleben geringer SWeigenes Handeln [SWE, SOC 2]

emotionale Erschöpfung[burn out Stufe 1]

Depersonalisierung, Zynismus,Rückzug [Burn-out Stufe 2]Reduzierung d. eigenen

Leistungsfähigkeit

Führt zu nicht kooperativen Eltern-Schüler-Kollegen-Beziehungen,dysfunktional, schlechtes Klima

Schlechte Aufgabenerfüllung

Anforderungen individuell,systemisch/ statisch oder steigend

Burn-out

[SOC 3] "Was tue ich?!"

"Ich kann das Unterrichtsgeschehenbeeinflussen"; [SOC 1]Erleben d. Wirksamkeit d. eigenenHandelns [+SW] [SOC2]

emotionale Kraftquelle[Selbststärkung 1]

sucht mehr Begegnung,Wärme geben und kriegen[Selbststärkung 2]

kooperative Kollegen,Eltern-Schüler-Beziehungen,produktives Klima

Erhöhung d. eigenenLeistungsfähigkeit

erfolgreicheAufgabenerfüllung

eigeneZiele/Anforderungen

SOC3

Initiative

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Was passiert im Teufelskreis?

Herr B. beurteilt seine Tätigkeit als unzulänglich. Das hat verschiedene Gründe z.B. man-gelndes Feedback oder dass er eine schwierige Aufgabe in der Schule hat (Naturwissen-schaften und Abiturverantwortlicher), dass er als Mensch eher intellektuell agiert und seine Gefühle nicht leicht artikulieren kann. Im Ergebnis gestaltet sich der Unterricht als immer schwieriger. Herr B. erlebt sich nicht als „wirksam“. Egal, was er versucht, der Unterricht in einer seiner Klasse läuft schlecht. Dieser Zusammenhang ist eine der Kernthesen des Selbstwirksamkeitskonzeptes. Die eigene Handlung wird als negativ wahrgenommen, diese Wahrnehmung verstärkt die mangelnde Wirksamkeit und führt dann zur emotionalen Er-schöpfung. Herr B. beginnt die Kinder und Eltern zu „depersonalisieren“, er wird zynisch, nimmt die Schüler als demotiviert und nicht lernfähig war. Damit sind die ersten beiden Phasen des burn-out Syndrom sichtbar.

Der Teufelskreis hat begonnen. Die Leistungsfähigkeit des Lehrers sinkt, die Beziehungen zum Umfeld verschlechtern sich weiter. Kollegen/innen greifen ihn an, bzw. verteidigen ihn nicht. All dies nimmt Herr B. wahr und beurteilt sich selber als noch unzulänglicher. Der Teufelskreis beginnt von vorn.

Was passiert im „Engelskreis“?

Frau M. befindet sich in einer gegensätzlichen Schleife. Sie beurteilt ihre Leistung als posi-tiv und der Rücklauf aus ihrem Umfeld bestätigt sie. Sie erlebt eine hohe Wirksamkeit ihrer Tätigkeit (positive Selbstwirksamkeit). Die Arbeit wird ihr zur Kraftquelle (Selbststärkung), daher sucht sie Begegnung mit Kollegen, mit Schülern und mit Eltern. Diese Begegnungen geben ihr Wärme und Kraft. Das Beziehungsnetz in ihrem Umfeld erhöht ihre Leistungsfä-higkeit. Sie ergreift weitere Aufgaben und ist initiativ. Das führt zu einer weiteren positiven Wahrnehmung der eigenen Leistung. Der Engelskreis führt weiter.

Fazit:

Das Konzept der Selbstwirksamkeit stellt die Fähigkeit zu handeln und gesund zu sein in einen Zusammenhang:

• ein negatives Verhältnis des Individuums oder des Ichs zum erwarteten Erfolg seiner Handlung ist gesundheitsgefährdend (Stress, Burn-out);

• ein positives und selbstbestimmtes Verhältnis des Ich/Individuum führt zu einem er-folgreichen Handeln und ist gesundheitsfördernd;

• es gibt sowohl im Positiven als auch im Negativen eine selbstverstärkende Spirale: d.h. Positives verstärkt Positives, Negatives verstärkt Negatives.

Selbstwirksamkeitserwartungen sind kognitive Überzeugungsmuster, die hilfreich oder schädlich sein können und so beständig, dass wir sie in der Regel subjektiv als die einzig mögliche Art zu denken erleben. Die wichtigste Quelle für eine hohe Selbstwirksamkeit ist die eigene Tätigkeit, die reale Erfahrung des Selbst im Handeln. Soweit der kognitive Regu-lationsprozess. Was liegt ihm zugrunde?

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Handeln findet im sozialen Raum statt. Welche inneren Voraussetzungen braucht es, um initiativ zu werden? Woher kommen die motivationalen Bedingungen der Möglichkeit, die darüber entscheiden, ob ich in einer Situation eine „Ich-kann“ Bewertung vornehme oder mich überfordert fühle und reaktiv werde? Diesen Fragen geht das Konzept der Salutogenese nach.

Salutogenese

„Was ich mir wünsche ist, aus der Starre in einen Prozess zu kommen, der mich sensibilisiert für Möglichkeiten, die entstehen würden, wenn ich es denn zulassen könnte.“

„Ich möchte meine Gefühle aktivieren, etwas sinnvolles Tun. Konkretes erleben. Selbstvergewis-serung, was ich kann. Dazugehören. Teil von etwas sein.“

Das Konzept der Salutogenese (Kohärenzgefühl) schaut das Individuum in Beziehung zu seinem Umfeld an. „Sense of Coherence“ oder das Kohärenzgefühl ist definiert als „eine globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein durchdringendes, über-dauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens besitzt“ und zwar im Vertrauen darauf, dass

• die Anforderungen aus der inneren und äußeren Erfahrungswelt im Verlauf des Lebens strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind;

• die nötigen Ressourcen verfügbar sind, um den Anforderungen gerecht zu werden;• diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Investition und Engagement verdienen.

Das Kohärenzgefühl beschreibt das Ausmaß der Emotionsregulierung, also die Fähigkeit, si-tuationsangemessen zu reagieren. Die Voraussetzung dafür ist, die eigene Emotion bewusst wahrnehmen zu können. Sinnfindung und Bedeutsamkeit sind zentrale Bestandteile des Ko-härenzgefühls. Die zentrale Frage für Antonovsky, den gedanklichen Vater der Salutogenese, lautet: Wie werde ich mehr gesund und weniger krank? Seine These: Menschen mit einem starken Kohärenzgefühl sind in der Lage erlebte Spannungen besser regulieren zu können.

Antonovosky starb 1994 in Beerscheba/Israel und lehrte als Professor für Soziologie in New York. Sein Hauptwerk „ Health, Stress and Coping“ ist 1979 erschienen und geht der Frage nach, warum werden Menschen unter gleichen äußeren Bedingungen krank, während andere Menschen, die den gleichen Bedingungen ausgesetzt sind, gesund bleiben. Ausgangspunkt für seine Arbeit waren Gespräche mit Frauen über ihre Erfahrungen im Konzentrationslager. Diese Frauen waren trotz der extremen Belastungen gesund geblieben. Er fand heraus, dass Menschen, denen es selbst unter den Bedingungen eines Konzentrationslagers gelang, sich als Handelnde wahrzunehmen, gesünder waren, als diejenigen, denen dies nicht gelungen war. Viktor E. Frankl2, selbst Überlebender von Auschwitz, glaubte an einen Sinn, der in der Person und Situation liegt. Frankl argumentiert, dass die Freiheit der persönlich gegebenen Entscheidung zugleich dem Individuum die Kraft verleihe, widrige Lebensumstände bewäl-tigen zu können“3

Das Konzept der Kohärenz (Zusammengehörigkeit) besteht aus drei Variablen, deren sub-jektive Bewertung in die positive Richtung Freiheitsgrade für Handlungsfähigkeit schaffen und damit das Kohärenzgefühl des Menschen stärken: Wer versteht, was um ihn oder sie

2 Viktor E.Frankl The Will to Meaning. Foundati-ons and Applications of Logotherapy. Penguin Books 1970.3 Aus: Rüdiger Lorenz, p.71

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geschieht, wer meint, damit umgehen zu können und darüber hinaus dem Geschehen Sinn und Bedeutsamkeit für die eigene Lebensaufgabe verleihen kann, der kann initiativ bleiben. „....hat der Mensch erst einmal Lebenserfahrungen gemacht, die durch die eigene Tätigkeit und durch eigene Entscheidungen hervorgebracht seien, dann fühle er sich nicht als Objekt anderer, die die Regeln lediglich vorgeben. ... Er finde vielmehr durch eigenes Tun mit anderen Konsens und erlebe dadurch ein Gefühl für die Bedeutsamkeit, die sich durch eigenverantwortliches Han-deln im Miteinander etabliert.“4

Nach Antonovsky beeinflussen die folgenden Variablen maßgeblich die Entstehung eines starken bzw. schwachen Kohärenzgefühls:

1. Dimension: Verstehbarkeit, Verständlichkeit – Die Erfahrung ein Verständnis für Zu-sammenhänge herstellen zu können und damit eine Kontrollierbarkeit bzw. Geordnetheit der Dinge zu erleben. Ein Beispielsatz, der z.B. die Ausprägung dieses Verständnisses „misst“, lautet: Beispiel: „Wenn Sie mit anderen Leuten sprechen, haben sie das Gefühl, dass Sie nicht ver-standen werden?“ (1 Habe nie dieses Gefühl – 7 Habe immer dieses Gefühl) oder „Waren Sie schon überrascht vom Verhalten von Menschen, die Sie gut zu kennen glaubten?“ (1 Das ist nie passiert – 7 das ist immer wieder passiert)

2. Dimension: Steuerbarkeit, Handhabbarkeit – Diese Dimension bezieht sich auf ein optimistisches (Selbst)Vertrauen, die Lebensaufgaben zu meistern und Ressourcen da-für mobilisieren zu können und damit eine Ausgewogenheit zwischen Überlastung und Unterforderung herstellen zu können, so dass die Lebensanforderungen gesamthaft handhabbar sind.Beispiel: „Haben Sie das Gefühl, dass Sie ungerecht behandelt werden? (1 sehr oft – 7 selten oder nie) oder „Was beschreibt am besten, wie Sie Ihr Leben sehen? (1 man kann immer einen Weg finden, mit schmerzlichen Dingen im Leben fertig zu werden – 7 Es gibt nie einen Weg, mit Dingen im Leben fertig zu werden).

3. Dimension: Bedeutsamkeit, Sinnhaftigkeit betrifft die Überzeugung, dass das Leben und die gestellten Aufgaben eine Herausforderung sind, die einen Sinn haben.

Fazit:

Wir alle erleben heute viele Entwicklungen als von uns selbst abgekoppelt und nicht mehr verstehbar, steuerbar und sinnhaft. Die Schule könnte ein Mikrokosmos oder ein weiteres Abbild dieser Entwicklung sein.

Lorenz unterscheidet zwischen generalisierten Widerstandsressourcen und Widerstandsdefi-ziten. Ressourcen im Umgang mit den Alltagsherausforderungen liegen darin, Ereignisse als konsistent und zusammenhängend zu verstehen, Über- und Unterforderung balancieren zu können und an gesellschaftlich anerkannten oder in den Organisationen wichtigen Entschei-dungsprozessen partizipieren zu können. Konsistenz, Balance und Partizipation stärken das Kohärenzgefühl und die Widerstandsfähigkeit. Inkonsistenz der Lebens- und Arbeitszusam-menhänge, die Unausgewogenheit von Über – und Unterforderung und der Ausschluss von Entscheidungsprozessen schwächt es.

Auch auf der Ebene des Kollegiums entstehen Muster, die die kollektive Kohärenz stärken oder schwächen, wie die oben beschriebenen Fallbeispiele des Teufelskreis (Herrn B) und

4 Viktor E. Frankl nach Rüdiger Lorenz, Saluto-genese. Grundwissen für Psychologen, Mediziner, Gesundheits- und Pflege-wissenschaftler. Verlag Reinhardt 2005

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Engelskreis (Frau M) zeigen: Im Teufelskreis sieht Lehrer B. keine Möglichkeit, seine Situa-tion selbst zu verändern. Er fühlt sich durch die Situation bestimmt und erlebt sich als auf die anderen Akteure reagierend (schwache Schüler, schwierige Eltern usw.). Die Umgebung (Eltern, Schüler, Kollegen) hingegen bewertet das nicht können, als ein nicht wollen („in-itiativlos“, „herzlos“). Allen gemeinsam ist, dass sie von ihren Blickwinkeln gefangen und reaktiv sind und auf diese Weise den Teufelskreis stabilisieren. Gemeinsam entsteht ein System der Inkohärenz zwischen allen Beteiligten (alle reagieren, niemand versteht, was los ist, und es macht auch keinen Sinn).

Frau M. steht im Gespräch mit ihrer Umgebung und versteht, was die Menschen um sie herum wollen. Über- und Unterforderung sind einigermaßen ausgeglichen, weil sie für die Entwicklungsschritte, die sie sich setzt, Zuspruch und Unterstützung erhält. Sie erzeugt die Ergebnisse, die von ihr erwartet werden und fühlt sich kompetent, dies auch zu tun. Weil Frau M sich als gestaltungsfähig erlebt, gestaltet sie auch und wird zu immer mehr Gestal-tungsaufgaben hinzu gezogen. Auf der Ebene der betroffenen Interessensgemeinschaft um sie herum entsteht ein gemeinsames Kohärenzfeld. Selbst als sie die Erwartungen der ande-ren an sie enttäuscht (indem sie um eine andere, weniger aufwendige Rolle in dem Gremium bittet), bleibt die Kohärenz des sozialen Feldes erhalten, die anderen ändern daraufhin ihren Blickwinkel, weil man ihr Motiv versteht und sie ihre Sache gut macht.

Bedingungen der Handlungsfähigkeit: Von der Aufopferung zum freien Willen

Die Konzepte Selbstwirksamkeit und Salutogenese bieten Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass ein vom Individuum initiiertes Handeln ein entscheidender Hebel für Ge-sundheit ist. Die Fähigkeit, zu handeln, wird zum Hebel für positive Veränderung:

• Das Konzept der Selbstwirksamkeit beschreibt, was eine selbstwirksame Person denkt („ich kann“).

• Das Kohärenzgefühl beschreibt, wie und ob die Person die Situation als verstehbar, handhabbar und sinnhaft erfährt und erlebt. Es bildet die Motivation darin zu vertrau-en, das Leben selbstverantwortlich und eigenständig zu gestalten, weil die Ressourcen, die dafür gebraucht werden zum rechten Zeitpunkt zur Verfügung stehen.

Wie organisiert man als Einzelner und als Schule konsistent verstehbare, balancierte und partizipative Lebens- und Arbeitsverhältnisse?Beide Konzepte, Selbstwirksamkeit und Salutogenese stoßen an eine Grenze, wenn es da-rum geht, zu verstehen, warum ein Mensch eine Situation als verstehbar, handhabbar oder sinnhaft erfährt. Worin liegt der Unterschied zwischen der Überzeugung „ich kann nur noch reagieren “ und „ich lebe und gestalte“? Kann der Einzelne sich bewusst entscheiden, ob sie oder er der ersten oder der zweiten Gruppe zugehört? Was sind mögliche Hebel in der Kontrolle des Einzelnen, durch die er handlungsfähig wird?

Beide Konzepte stoßen an ihre Grenze, wenn es um die Frage nach der Quelle oder dem Ausgangspunkt von Handlung geht. Was ist der innere Ort, der den Ausgangspunkt von Handlung bildet und wie lässt sich ein bewusster und willentlicher Zugang zum Handeln entwickeln? Ein Blick auf die Beobachtungen aus den Coachinggesprächen zeigt zudem, dass diese zentrale Frage sich nicht nur auf die individuelle Handlungsfähigkeit und den indi-

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viduellen Willen beziehen, sondern auch auf die gemeinsame Handlungsfähigkeit und den gemeinsamen Willen als Schule.

Beobachtungen aus Waldorfschulen: Wo liegen Hebelpunkte für positive Veränderungen?

Die folgenden Beispiele stammen aus unterschiedlichen persönlichen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen von Lehrern/innen, die beschreiben, wo sie persönlich Ansatzpunkte für eine positive Veränderung gefunden haben.

Lehrer/in 1:„Früher habe ich aus der Belastung heraus zusätzliche Jobs angenommen, von denen ich schon vorher wusste, dass sie mich eigentlich überfordern. Aber der Druck von außen war zu groß und die innere Kraft NEIN zu sagen, zu gering. Ich merke immer mehr, ich war der Marionetten- und Fadenzieher.

Das hat begonnen sich an verschiedenen Stellen zu verändern, denn wer außer mir selbst ent-scheidet eigentlich darüber? Ich frage die Schüler: Ja, wie wollt ihr denn den Abend gestalten? Ich merke, ich bin entspannter, positiver und nicht weniger erfolgreich. Ich entwickele vor-ausschauende Ideen mich zurückzunehmen... wenn Du was Bekanntes machst, weißt Du, was dabei rauskommt. Deshalb ist es gut, von vorneherein sortierter vorzugehen: wie kannst du die Aufgabe, bevor du sie annimmst, so verändern, dass sie dich stärkt? Im vorhinein Grenzen zu definieren, was drin ist in der Aufgabe und was draußen?“

Lehrer/in 2:„Für mich spannend war der Weg von der Diskussion einer Umstrukturierung der Arbeitsprozesse, der Erweiterung des Methodenrepertoires, also von doch mehr äußerlichen, organisatorischen Aspekten der Berufsausübung zu tiefer liegenden Schichten vorzustoßen und sozusagen zu den Ursachen der Ursache vorzustoßen. „

Lehrer/in 3:„Rolle des Klassenbetreuers neu definieren, Teamarbeit in der Klassenbetreuung, Nicht aus Be-drängnis Zusagen machen, Absprachen so konkret wie möglich, Strukturen auf mehrere Schultern verteilen, Eltern und Schüler mit ins Team und in die Verantwortung nehmen,...“

Lehrer/in 4:„...ich versuche nun Freiheitsmomente zu erkennen, wo ich handeln kann und nicht gehandelt werde.“ „Wenn ich aufmerksam bin, kann ich andere Möglichkeiten sehen. Dann bin ich frei, andere Wege zu gehen.“

In diesen Beispielen beschreiben Lehrer/innen, wie sie weg aus der Reaktivität die eigene, selbstbestimmte Handlungsfähigkeit als Kraftquelle entdecken. Diese Veränderungserfah-rungen bleiben jedoch individuell, wenn sie nicht in einen systematischen Raum einge-bunden sind. Die Zitate im folgenden Abschnitt machen deutlich, dass die Gestaltung des gemeinsamen Raums im Kollegium/Gesamtorganismus als vielfach nicht verstehbar, hand-habbar und sinnhaft erlebt wird. Die abschließende Frage ist, was brauchen Schulen, damit Lehrer/innen individuell und die Schule als Ganze bewusst handlungsfähig werden oder anders gesagt, nicht reaktiv handeln, sondern aus einem freien Willen heraus?

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Infrastrukturen für einen Zugang zur individuellen und kollektiven Handlungsfähigkeit und freien Willen

„Es gibt viele kleine Realitäten, die unverbunden nebeneinander stehen – unser Problem ist, dass wir ein Wahrnehmungsvakuum haben, was das Ganze betrifft.“

„Als Kollegium suchen wir händeringend nach einer Form der gemeinsamen Wahrnehmung, ohne dass man alles mit allen bequatschen muss und wo man zu dem, was die Gremien vorschlagen klar ja oder nein sagen kann.“

„Das wichtigste überhaupt: welche Formen kann man installieren, das klingt jetzt so technisch, aber ich finde kein besseres Wort, ... die im Alltag.... also einen Rahmen oder ein Gerüst, dass man weitermachen kann... für weitere Konferenzen benutzen kann... um was aufzuknacken, um aus den Zwängen rauszukommen und wieder gestalten zu können?“

Die folgende Abbildung beschreibt den Möglichkeitsraum für Interventionen, die eine Er-neuerung der Handlungsfähigkeit zum Ziel haben. Auf der vertikalen Achse werden zwei Phasen des Ins-Handeln-Kommen unterschieden. Phase I die Motivationsphase, Phase II die Ausführung der Handlung. Die horizontale Achse unterscheidet zwischen individueller und kollektiver Handlung. Die dadurch entstehenden vier Räume geben Beispiele für unter-schiedliche Unterstützungsstrukturen von (gesundheitsbezogenen) Veränderungsprozessen.

Phase IIAusführung

Supervision/ Kompetenzentwicklung

• Selbstreflektion• Feedback• Üben• Intention

Kann ich das?Dient es meinem Ziel?

Prototypen/ Kompetenzentwicklung

• neue Prozesse/Infrastrukturen kollektiver Selbstreflektion + feedback

• Fallarbeit • Hebelpunkte

Können wir das?Dient es unserem Ziel?

Phase IMotivation

Coaching 1:1: Was will ich?

• Projektcoaching• neue Selbstwahrnehmung• Ziel• Ergebnis• lernen + loslassen

Gremienarbeit/Projektarbeit/WorkshopWas wollen wir?

• Teil-Ganzes-neue Selbstwahrnehmung

• Ziel/Ergebniserwartungen• Kompetenzen

Individuell Kollektiv

Abbildung 2: Mögliche Interventionen für positive Veränderung

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Raum I: Mobilisierung durch einen persönlichen Perspektivenwechsel: „...ich muss einen anderen Blick entwickeln. Ich muss die Kinder besser erkennen, um sehen zu können, was mir die Kraft raubt. Wenn ich meine „alten“ Kriterien anlege, „stören“ die Kinder. Ich brauche neue Kriterien, um sie nicht als Last, sondern als Möglichkeit zu sehen.“

Raum II: Mobilisierung durch einen kollektiven Perspektivenwechsel „Beliebigkeit. Un-terschiedliche Facetten in der Art, wie wir auf Unterricht zugreifen. Jeder tut was und wie er will. Wir brauchen einen Perspektivenwechsel vom kleinsten gemeinsamen Nenner, alles neben einander unberührt stehen zu lassen, zu einer gemeinsamen Grundlage für das Ganze, von dem ausgehend jeder seinen Stil entwickeln kann.“

Raum III: Ausführung: Entwicklung individueller Dialog- und Reflektionskompetenz und Praxis„...ich höre mir einfach etwas an, das man im Zuhören sein inneres eigenes Stimmchen zurück-bekommen kann. Was passiert mit mir, wenn ich höre? Das man das in Formen kriegt, dieses Hören, so das man es kultivieren kann.

Raum IV: Ausführung: Entwicklung kollektiver Dialog -und Reflektionskompetenz und Praxis„Wie können wir sprechen ohne zu verletzen? Wie können wir zuhören ohne sich kritisiert zu fühlen? Wie schaffen wir Offenheit und Veränderungsbereitschaft? Auf was stehen wir? Nicht auf das Alte. Aber wo kommt das Neue her? Wie kommen wir an das Eingemachte? Wie an die Erneuerung des Impulses?“

Die in diesem Möglichkeitsraum beschriebenen Interventionen durchbrechen den Kreislauf von Burn-out nur, wenn sie die individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit aus einem freien Willen heraus ermöglichen. D.h. sie brauchen eine spezifische Qualität, um nachhaltig wirksam zu werden. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie diese Qualität in Veränderungsprozessen gewährleistet werden kann.

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Teil III: Die Qualität von Veränderungsprozessen: Bedingungen zur Erneuerung von Handlungsfähigkeit

Was ist die Qualität des Handelns, die eine Veränderung des Denkens, Fühlens und der Ergeb-nisse bewirkt? Dieser Frage geht der von Scharmer am MIT in Cambridge, USA entwickelte U-Prozess (Presencing) nach. Scharmer beschreibt am Beispiel eines Malers drei Perspekti-ven, von denen aus jede Handlung betrachtet werden kann. Um die Arbeit eines Maler zu verstehen, kann man

1. das fertige Bild betrachten2. auf den Künstler/in schauen, während sie malt oder3. auf den Moment blicken, wenn der Künstler/in vor der leeren Leinwand steht.

Was geschieht in dem Augenblick vor der leeren Leinwand? Scharmer argumentiert, dass es genau dieser Moment vor der leeren Leinwand ist, an dem sich die Qualität einer Handlung entscheidet und in der ein Hebel für eine positive Veränderung liegt. Die Forschungen im Bereich von Salutogenese, Burn-out und Selbstwirksamkeit unterstützen dieses Argument, indem sie den Zusammenhang zwischen Handlungsfähigkeit und Gesundheit aufzeigen. Der U-Prozess benennt verschiedene Ausgangspunkte von Handlung. Die häufigste Form von Handeln ist das, was Scharmer „Herunterladen“ nennt. Ein Problem tritt auf und was folgt, ist eine Reaktion. Ein Kollege macht einen Vorschlag in der Konferenz, andere Kolle-gen reagieren mit „...das machen wir aber immer schon so.“ Diese Reaktion basiert auf den Erfahrungen der Vergangenheit. Immer gleiche Verhaltensmuster wiederholen sich. Um aus diesen Mustern auszubrechen, muss der Ausgangspunkt von Handlung die reaktive Ebene verlassen und aus einem in der Zukunft liegenden Möglichkeitsraum ausgeführt werden. Das erfordert ein Bewusstsein und eine Wahrnehmung dieser zukünftigen Möglichkeit. Nicht jede Handlung braucht diese bewusste Verschiebung. Im Umgang mit wenig komplexen Pro-blemen können Routinen sehr effektiv sein, die aus den Erfahrungen der Vergangenheit heraus entstanden sind. Doch je komplexer die Zusammenhänge oder Problemstellungen sind, desto notwendiger ist es, die Muster der Vergangenheit zu verlassen und aus einem zukünftigen Möglichkeitsraum heraus zu handeln. Im folgenden beschreibt eine Lehrerin auf individueller Ebene ihre Erfahrung, an diesen Möglichkeitsraum anzuknüpfen.

„Wenn ich auf die ganze Entwicklung (des Coachings) gucke, dann habe ich mich erst aus allem rausgezogen – das Gefühl zu versumpfen und ... den Mut zu bekommen, sich aus allem zurückzu-ziehen – und jetzt guck ich wieder danach, rauszugehen, Fühler rauszustrecken: worum willst du dich kümmern? Dabei muss ich aufpassen, dass ich nicht in die alten Muster zurückfalle. Glaube ich aber nicht, weil ich durch ein tiefes Tal gegangen bin (holt mit der Hand zu einem großen, U-förmigen Bogen aus). Alles, was zu machen ist, ist gemacht. Auf der Aufwärtsbewegung fühle ich mich sortiert, habe nicht mehr das Bedürfnis, mich rauszuziehen, sondern eher die Frage: Wo kann ich was machen? Ich gehe an das, was ich ergreifen will, dran nicht aus der Verpflichtung, sondern aus der eigenen Entscheidung heraus, nicht von außen bestimmt, sondern weil ich das als richtig für mich gefühlt habe.“

Erst nachdem sie sich aus dem Zusammenhang herausgezogen hatte, wurde es ihr möglich, sich aus freien Stücken wieder neu in den Arbeitszusammenhang zu begeben. Mit dem Schritt „raus“ wurde es ihr möglich, alte Muster zu durchbrechen. Die zweite zentrale Erfahrung in dieser Beschreibung ist, dass die Lehrerin durch „ein tiefes Tal gegangen ist“. Danach war es

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ihr möglich, nicht aus der Verpflichtung (alte Muster), sondern aus der eigenen Entscheidung bewusst zu handeln. Es genügt also nicht allein, Abstand zu gewinnen und sich aus dem Zusammenhang herauszuziehen, sondern diese Erfahrung muss einen Anknüpfungspunkt an den eigenen freien Willen bieten.

Hier liegt ein Schlüsselpunkt. Wie lässt sich systematisch im Abstand zu der Situation der eigene Wille wahrnehmen? Scharmer macht dazu mit im U-Prozess einen Vorschlag. Nach dem Loslassen der Muster aus der Vergangenheit beschreibt der U-Prozess verschiedene Schritte, die die Grundlage für ein Anknüpfen an die eigene Zukunftsmöglichkeit bilden. Die folgende Abbildung fasst diese Schritte zusammen.

Abbildung 3: der U-Prozess des Presencing

Access Your

Open Mind

Open Heart

Open Will

anwesend werden

Who is my Self?What is my Work?

innehalten

umwenden

loslassen entstehen lassen

hervorbringen

verkörpern

runterladen

hinschauen

hinspüren verdichten

ertasten, erproben

realisieren

VOJ

VOC

VOF

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Auf der linken Seite des U beginnt der Prozess mit dem Innehalten des Handelns und dem Suspendieren von alten Mustern. Handlungs- oder Denkmuster werden bewusst und durch-brochen. Im oben beschriebenen Fall hat das Gespräch mit einem externen Coach zu dieser Wahrnehmung verholfen. Als zweiten Schritt benennt Scharmer das „Hinsehen“ und „Hin-spüren“ und meint damit, das genaue, jetzt vom Urteil der Vergangenheit befreite Hinse-hen. Diese Form von Sehen ist eine künstlerische Tätigkeit, die zu einem „Umwenden“ des Blickes, zu einem „Loslassen“ alter Muster und dann zu einem tieferen „Anwesend werden“ des Handelnden führt (presencing). Aufbauend auf diesem neuen Sehen kann eine Wahr-nehmung der Zukunftsmöglichkeit stattfinden. Zusammenfassend beschreibt Scharmer diese drei Schritte als Öffnungsprozess oder als die linke Seite des U.

Am tiefsten Punkt des U findet dann ein Umstülpungsprozess statt, an dem das Selbst sich mit seiner höchsten Zukunftsmöglichkeit verbindet. Dieser Schritt erfordert einen inneren Ort der Stille und Leere, der den Raum gibt, das individuelle oder kollektive Selbst wahrzu-nehmen und die Frage zu stellen: Was ist meine Aufgabe? Wozu sind wir/bin ich hier? Was will ich/was wollen wir in die Welt bringen?

Auf der rechten Seite des U-Prozesses wird in drei Schritten dann dieser wahrgenommene Wille in die Handlung gebracht, zunächst in einer Verdichtung der Intention (verdichten), in ein hervorbringendes „Erproben“ und „Ertasten“ des neuen im experimentellen Tun (pro-totyping) und dann in im „realisieren“ und „verkörpern“ des Neuen in Praktiken und In-frastrukturen. Dieser Gesamtprozess kann sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene erfolgen.

Diesem Prozess liegen verschiedenen Bewusstseinsebenen zugrunde, aus dem heraus Hand-lung in die Welt kommt. Scharmer unterscheidet vier Ebenen als Archetypen oder Ausgangs-punkte von Handlung, wobei diese sich auf individuelle und kollektive Handlungen beziehen können.

1. Handlung aus alten Mustern heraus (Herunterladen): 2. Handlung aus gegenständlicher Wirklichkeitswahrnehmung3. Handlung aus selbst-reflektiver Wirklichkeitswahrnehmung4. Handlung aus selbst-transzendierender, generativer Wirklichkeitswahrnehmung

Zurück zu der Ausgangsfrage: warum erschöpfen sich Waldorflehrer und Lehrerinnen? In den Gesprächen sind verschiedenen individuelle, aber auch systematische Gründe deutlich geworden. Die systematischen Gründe umfassen Kreisläufe, aus denen auszubrechen eine tiefere Ebene von Veränderungsprozessen Vorraussetzung ist. Die Konzepte von Salutogene-se, Burn-out und Selbstwirksamkeit verweisen auf einen deutlichen Zusammenhang von Ge-sundheit und Handlungsfähigkeit. Diese Handlungsfähigkeit in einer Qualität herzustellen, dass der individuelle Wille eines jeden Lehrers/in sich mit der höchsten Zukunftsmöglichkeit seines Selbst, aber auch des höheren Selbst der Gesamtheit Schule verbindet, erscheint uns als entscheidender Hebelpunkt. Anbetracht der aktuellen Herausforderungen stoßen die existierenden Problemlösungsstrategien an ihre Grenzen. Die Aufgabe ist es, soziale Tech-nologien so weiterzuentwickeln, dass diese Verbindung ermöglicht wird. Mit der Darstellung des U-Prozess wurde ein Vorschlag vorgestellt, wie eine solche soziale Technologie diese Verbindung herstellen könnte.

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Literatur

Antonovsky, A. (1979) Health, Stress and Coping. San Francisco: Jossey-Bass.

Antononvsky A. (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Hrsg. Franke, A. Dgvt Verlag.

Bandura, A. (1986) Social foundations of thought and action, Prentice-Hall Englewood Cliffs, NJ

Bandura, A. (1997) Self-efficacy: the exercise of control.

Frankl, Viktor, E. (1970) The Will to Meaning. Foundations and Applications of Logotherapy. Penguin Books.

Lorenz, R. (2005) Salutogenese. Grundwissen für Psychologen, Mediziner, Gesundheits-und Pflegewissenschaftler. Verlag Reinhardt

Maslach, C., SE Jackson, MP Leiter (1996) Consulting Psychologists. Press Palo, Alto, CA

Schaarschmidt, U. (1999) Beanspruchungsmuster im Lehrerberuf. AW Fischer - Psychologie in Erziehung und Unterricht.

Scharmer, C. Otto (2007) Theory U: Leading from the Future as it Emerges. SoL Publication, Cambridge, MA.

Schmitz, G.S. (2003) Empfehlungen der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung un-ter http://www.boell.de/downloads/bildung/doku_profession_ethos.pdf

Seligman, M. (1991) Learned optimism. NY: Knopf.