Download - Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

Transcript
Page 1: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

forschung

forschung

Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster? Eine qualitative Studie im Rahmen des Transformationsprozesses zur Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg

Thomas Strehle

978-3-7815-2182-7

Lehrkräfte stehen vor weitreichenden Veränderungsprozessen, da

sich die Schulsysteme wandeln: Inklusion und das selbstgesteuerte,

individualisierte Lernen sind zentrale Elemente des Wandels. Doch

wie wird dies von den Lehrkräften gedeutet, welche Konsequenzen für

ihr unterrichtliches Handeln ziehen sie daraus und was bedeutet das für

Konzepte der Professionalität der Lehrkräfte? Vorliegende Arbeit geht

gezielt diesen Fragestellungen nach. Das geschieht hier vor dem Hinter-

grund des Schulstrukturwandels von der Haupt/Werkrealschule hin zur

Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. In einer qualitativen Studie

wird Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit dem Wandel gesucht

und gefragt, inwieweit dabei auch Tendenzen der Deprofessionalisierung

inhärent sind.

Der Autor

Thomas Strehle, geboren 1971, studierte

Lehramt und arbeitete danach 11 Jahre an

zwei Haupt/Werkrealschulen in Mannheim.

Schwerpunkt neben dem Unterrichten war dabei

vor allem die Berufsorientierung für die Schü-

lerinnen und Schüler; darüber hinaus Teilnahme an Fortbildungen für

den Führungskräftenachwuchs an Schulen in Baden-Württemberg und

berufsbegleitendes Studium der Erwachsenenbildung mit Abschluss M.A.

an der TU Kaiserslautern. Seit 2012 Abordnung an die PH Heidelberg an

das Institut für Erziehungswissenschaft. Schwerpunkte dort: Professions-

und qualitative Forschung im Kontext von Unterricht.

Tho

mas

Str

ehle

W

and

el d

er S

chu

le –

W

and

el d

er p

rofe

ssio

nel

len

Deu

tun

gsm

ust

er?

Page 2: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

Strehle

Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?

Page 3: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der
Page 4: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

Thomas Strehle

Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?

Eine qualitative Studie im Rahmen des Transformationsprozesses zur Gemeinschaftsschule

in Baden-Württemberg

Verlag Julius Klinkhardt Bad Heilbrunn • 2017

Page 5: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

Dieser Titel wurde in das Programm des Verlages mittels eines Peer-Review-Verfahrens aufgenommen. Für weitere Informationen siehe www.klinkhardt.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

2017.kg © by Julius Klinkhardt.Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Coverillustration: © GeorgePeters / istockphoto.

Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten.Printed in Germany 2017.Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem alterungsbeständigem Papier.

ISBN 978-3-7815-2182-7

Vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät 1 der PH Heidelberg unter dem Titel „Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster? Eine qualitative Studie im Rahmen des Transformationsprozesses zur Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg“ als Dissertation angenommen. Tag der Disputation: 25.01.2017.Gutachter: Prof. Dr. Karl-Heinz Dammer (Erstgutachter)/Prof. Dr. Carsten Rohlfs (Zweitgutachter).

Page 6: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

| 5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ......................................................................................................................... 9

1 Der Schulstrukturwandel Baden-Württembergs und Konsequenzen für die Professionalität der Lehrkräfte ........................... 11

1.1 Von der Haupt/Werkrealschule zur Gemeinschaftsschule .................................... 111.2 Wissen und Handeln im Schulstrukturwandel

aus professionstheoretischer Sicht ........................................................................ 121.3 Die Grenzen kompetenzorientierter Professionsansätze

für vorliegende Fragestellung ............................................................................... 141.4 Der strukturtheoretische Professionalisierungsansatz

als Grundlage vorliegender Arbeit ........................................................................ 161.5 Profession und Organisation ................................................................................ 191.6 Der Fokus der Arbeit: Profession und Transformation ......................................... 211.7 Fragestellung der Arbeit und weiteres Vorgehen ................................................... 23

2 Die Haupt/Werkrealschule .............................................................................. 25

2.1 Die demographische Entwicklung an der Haupt/Werkrealschule ......................... 252.2 Anschlüsse von Haupt/Werkrealschülern ............................................................. 262.3 Die Schülerschaft der Haupt/Werkrealschule ....................................................... 272.4 Reformen ............................................................................................................ 292.5 Handlungsmöglichkeiten der Einzelschule .......................................................... 302.6 Funktion der Haupt/Werkrealschule im Schulsystem .......................................... 322.7 Zusammenfassung und Ausblick ......................................................................... 33

3 Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg ................................... 35

3.1 Die Grundzüge der Gemeinschaftsschule ............................................................ 353.1.1 Lehren und Lernen an der GMS ............................................................... 353.1.2 Inklusion und Selbststeuerung als Bausteine

der GMS und Konsequenzen für die Forschungsfrage ............................... 363.1.3 Die Funktion der Gemeinschaftsschule im Schulsystem ............................ 39

3.2 Ein Baustein der GMS: Inklusion ........................................................................ 413.2.1 Inklusion: Annäherung an einen zentralen Begriff der Schulreform ........... 413.2.2 Begründungsmuster für Inklusion ............................................................. 423.2.3 Pädagogik der Vielfalt ................................................................................ 433.2.4 Inklusion und Exklusion –

Konsequenzen für die Haupt/Werkrealschule ............................................ 453.2.5 Inklusion: Empirische Erkenntnisse ........................................................... 463.2.6 Kritik am Konzept der Inklusion ............................................................... 49

Page 7: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

6 | Inhaltsverzeichnis

3.3 Ein Baustein der GMS: Selbststeuerung und Individuelles Lernen ....................... 523.3.1 Zum Unterschied von individuellem und selbstgesteuertem Lernen .......... 523.3.2 Begründungsmuster für die Bedeutung des Selbst im Lernprozess ............. 543.3.3 Annäherung an die Begriffe der Selbststeuerung, Selbstorganisation

und Selbstregulation .................................................................................. 563.3.4 Didaktische Konzepte ............................................................................... 573.3.5 Die Darstellung des selbstgesteuerten Lernens

durch das Kultusministerium .................................................................... 603.3.6 Kritik am Konzept des selbstgesteuerten Lernens ....................................... 61

4 Struktur und Individuum ................................................................................ 69

4.1 Der Deutungsmusteransatz ................................................................................. 694.1.1 Mundanformen sozialer Realität ................................................................ 694.1.2 Der Begriff des Deutungsmusters nach Oevermann .................................. 714.1.3 Zur Funktion von Deutungsmustern ........................................................ 724.1.4 Deutungsmuster und individuelles Handeln ............................................. 75

4.2 Giddens Theorie der Dualität von Struktur ......................................................... 774.2.1 Deutungsmuster und Struktur im Kontext der Forschungsfrage ................ 774.2.2 Handeln zwischen Intentionalität und Struktur ........................................ 784.2.3 Dualität von Struktur ................................................................................ 804.2.4 Dualität der Struktur: Konsequenzen für vorliegende Fragestellung ........... 83

4.3 Die Objektive Hermeneutik als Forschungsmethode ........................................... 844.3.1 Von der Dualität der Struktur zur qualitativen Forschung

im Rahmen dieser Arbeit .......................................................................... 844.3.2 Grundzüge der Objektiven Hermeneutik .................................................. 874.3.3 Latente Sinnstrukturen .............................................................................. 884.3.4 Sequenzanalyse und Fallstruktur ............................................................... 904.3.5 Objektive Hermeneutik – Konsequenzen für das Forschungsdesign

im Vergleich zur Grounded Theory ........................................................... 93

5 Empirischer Teil: Die Fallrekonstruktionen .............................................. 97

5.1 Grundlagen der Rekonstruktionen in vorliegender Arbeit .................................... 975.1.1 Die Rahmung des Forschungsfeldes .......................................................... 975.1.2 Die Strukturierung der Fälle ...................................................................... 985.1.3 Forschungsdesiderate zum Deutungsmusteransatz

in Transformationsprozessen ................................................................... 1005.1.4 Das Leitfrageninterview zur Generierung von Deutungswissen ............... 103

5.2 Die Rekonstruktion der Fälle ............................................................................. 1055.2.1 Typ 1: Ich bleibe hier – rekonstruiertes Deutungsmuster: Zweifel ........... 1055.2.2 Typ 2: Ich bleibe hier und gestalte den Wandel mit –

rekonstruiertes Deutungsmuster: Manifestierung .................................... 1265.2.3 Typ 3: Ich will da hin – rekonstruiertes Deutungsmuster: Innovation ..... 1485.2.4 Typ 4: Ich will da nicht hin – rekonstruiertes Deutungsmuster:

Separation ............................................................................................... 166

Page 8: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

| 7Inhaltsverzeichnis

6 Zusammenfassung und Fazit ......................................................................... 185

6.1 Die Deutungen der Haupt/Werkrealschule und der Gemeinschaftsschule ......... 1856.1.1 Die Deutungen der Haupt/Werkrealschule ............................................. 1856.1.2 Der Wandel zur Gemeinschaftsschule ..................................................... 187

6.2 Die Deutungen der Inklusion ............................................................................ 1916.2.1 Die Einstellungen der Lehrkräfte zur Inklusion ....................................... 1916.2.2 Die Deutungen der Inklusion – ein Vergleich der Studien ....................... 192

6.3 Anschlussmöglichkeiten an andere Untersuchungen .......................................... 1946.3.1 Überschneidungen und Unterschiede zu den Untersuchungen

von Meister und Ostermann-Vogt .......................................................... 1946.3.2 Überschneidungen und Unterschiede zu der Untersuchung

von Wittek .............................................................................................. 1956.4 Der strukturtheoretische Professionalisierungsansatz

im Spiegel der Deutungen ................................................................................. 1986.4.1 Der Begriff der Schulkultur und die rekonstruierten Deutungen ............. 1986.4.2 Die Bearbeitung der Antinomien ............................................................ 1996.4.3 Die Bearbeitung von Krisen in den Deutungsmustern ............................ 200

6.5 Analogien zwischen der Erwachsenenbildung undder Schulreform Baden-Württembergs .............................................................. 2036.5.1 Der Wandel in der Erwachsenenbildung ................................................. 2036.5.2 Die systemisch-konstruktivistischen Grundlagen des Wandels ................. 2046.5.3 Modernisierungsimperative und die Frage nach der

Entprofessionalisierung ........................................................................... 2056.5.4 Deprofessionalisierung und der strukturtheoretische

Professionalisierungsansatz ...................................................................... 2086.5.5 Tendenzen der Deprofessionalisierung im Kontext dieser Arbeit ............. 209

6.6 Zusammenfassung und Fazit ............................................................................. 2156.6.1 Forschungsdesiderate ............................................................................... 2156.6.2 Fazit ........................................................................................................ 216

Anhang: Literaturverzeichnis, Fragebogen ................................................... 219

Page 9: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der
Page 10: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

| 9

Vorwort

Als ich im Jahr 2010 von einer Schule, an der ich neun Jahre gearbeitet hatte, an eine andere wechselte, ging ich zunächst davon aus, es gäbe zwischen beiden Schulen in der Bearbeitung der selben Fragen keine oder kaum Unterschiede: Die Schulen liegen nur ein paar Kilometer Luftlinie auseinander, es ist dasselbe Schulamt, die rechtlichen Voraussetzungen unterschei-den sich nicht und auch die Kollegien waren in ihrer Zusammensetzung durchaus vergleich-bar genau wie auch das Milieu der Schülerinnen und Schüler. Kurzgesagt: Ich schloss von einer Gleichheit in den Voraussetzungen in einem Analogieschluss auf die Gleichheit in der Bearbeitung der mir bekannten Anforderungen.Dem war aber nicht so. Schnell stellte ich fest, dass mir bekanntes von den Lehrkräften ganz anders bearbeitet wurde, als ich es bis dahin kannte. Vorgaben, die in einem hierarchisch geordneten Schulsystem über höher gestellte Ebenen Schulen vorgegeben werden, lösen un-terschiedliche Möglichkeiten aus, damit umzugehen – und eben nicht nur die, die ich von meiner alten Schule, schulkulturell vororganisiert, kannte. Doch trotz der Unterschiede ver-blieben alle Handlungen in einer Art vorstrukturiertem Rahmen, so dass die gemeinsamen Bezugspunkte immer ersichtlich waren. Als ich dann nach weiteren zwei Jahren an dieser Schule an die Pädagogische Hochschule Heidelberg ins Fach Erziehungswissenschaft abgeordnet wurde, war schnell klar, dass in mei-ner Dissertation genau dieses Thema bezogen auf den Schulstrukturwandel in Baden-Würt-temberg bearbeitet werden soll: Vorgegebene Strukturen scheinen Handlungen der davon betroffenen Subjekte, hier die der Lehrkräfte, nicht zu determinieren, sondern vielmehr einen Rahmen zu schaffen, in dem gehandelt werden kann. Es gibt eine Strukturvarianz, innerhalb derer die Akteure vor dem Hintergrund spezifischer Muster handeln und Entscheidungen treffen. In der Auseinandersetzung mit der Literatur stieß ich dann in einem Lexikonartikel zur qualitativen Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung auf den Deutungsmusteran-satz nach Oevermann und im Anschluss an ein Doktorandenkolloquium an der Universität Mainz auf Giddens Konzept der Dualität von Struktur. Über diesen Weg konnte ich eine gedankliche Verbindung für mich ziehen zwischen vorgegebenen Strukturen, die dem Han-deln vorausgehenden und sich darauf beziehenden Deutungsmuster und möglichen Hand-lungskonsequenzen. Damit war zwar der Rahmen klar, aber noch nicht die Forschungsfrage. Die kristallisierte sich dann am Ende meines ersten Semesters an der PH HD heraus. Denn zum einen gab es Schulen der Schulart, an der ich 11 Jahre gearbeitet hatte, nämlich die Haupt/Werkreal-schule, immer weniger. Zum anderen wandelten sich die verbleibenden Schulen dieses Typs verstärkt zu den sogenannten Gemeinschaftsschulen um. So entstand das Thema meines For-schungsprojektes: Nämlich die Muster nachzuzeichnen, wie die von diesem Schulstruktur-wandel maßgeblich betroffenen Lehrkräfte, nämlich die der Haupt/Werkrealschule, diesen Prozess deuten. So geben die Einzelfallstudien dieses Bandes nicht nur einen Einblick in die Deutungen der Gemeinschaftsschule, sondern eben auch in die der Haupt/Werkrealschule. Die Arbeit fokussiert damit die Deutungen in institutionellen Transformationsprozessen vor dem Hintergrund des langsamen Verschwindens einer Schulart.

Page 11: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

10 | Vorwort

Prof. Dr. Karl-Heinz Dammer nahm mich mit dieser Idee nicht nur an, sondern führte mich auch gleichzeitig in den Forschungskreis der Objektiven Hermeneutik ein, in der dann auch ein Teil der Protokolle rekonstruiert wurde. Ohne seine Unterstützung wäre diese Schrift nicht entstanden, bei ihm will ich mich an dieser Stelle ganz besonders bedanken. Auch mein Zweitbetreuer, Prof. Dr. Carsten Rohlfs, war jederzeit für mich da – dafür vielen Dank. Unter den Studierenden, die die Fälle mit mir rekonstruierten, seien vier besonders genannt, ohne deren Hilfe das Forschungprojekt nicht möglich gewesen wäre: Lucas Ditz, Peter Ot-rembka, Tobias Slabschi und Martin Luban.

Page 12: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

| 11

1 Der Schulstrukturwandel Baden-Württembergsund Konsequenzen für die Professionalität der Lehrkräfte

1.1 Von der Haupt/Werkrealschule zur Gemeinschaftsschule

Als im Jahr 2011 die Landtagswahlen in Baden-Württemberg stattfanden und eine Koalition aus Grünen und SPD die Mehrheit gewann, wurde schnell klar, dass die Bildungspolitik durch die neu entstandene Koalition reformiert werden sollte. Kernstück dieser Reform war von Anfang an die sogenannte Gemeinschaftsschule. Deren zentraler Gedanke ist das längere gemeinsame Lernen: Die Aufteilung der Schülerinnen und Schüler nach der vierten Klasse auf die verschiedenen Schularten des Sekundarschulsystems entfällt. Gleichzeitig sollen dort alle optimal gefördert werden. Das hat zur Folge, dass alle Bildungsstandards angeboten wer-den. „Die Schülerinnen und Schüler lernen länger gemeinsam voneinander und miteinan-der, bis zur zehnten oder sogar der 13. Klasse. … Die Schule geht auf die unterschiedlichen Begabungen und die unterschiedliche Herkunft sehr gut ein“ (Warminski-Leitheußer 2012, ohne Seitenangabe). Die neue Landesregierung konstituierte sich im Mai des Jahres 2011. Die ersten Gemeinschaftsschulen gingen ein Jahr später, nämlich zum Schuljahr 2012/13 an den Start (vgl.Kultusportal/Starterschulen). Da zunächst das Schulgesetz geändert werden musste, konnten die Schulen nicht gleich zum Schuljahr 2011/12 starten.Fast gleichzeitig mit dem Entstehen einer neuen Schulart vollzog sich im Schulsystem des Landes Baden-Württemberg ein weiterer Wandel, nämlich das Verschwinden einer bereits existierenden Schulart – der Haupt/Werkrealschulen. Diese wird von immer weniger Schü-lern und Schülerinnen besucht, so dass sich die Anzahl der Haupt/Werkrealschulen in den letzten Jahren rapide verringerte. Auf die Gründe, weswegen immer weniger Schüler auf diese Schulart wechseln und wie sich die Schülerzahlen dort tatsächlich verändert haben, wird genauer in Kapitel 2 eingegangen. Auf den ersten Blick sind das Entstehen einer neuen Schulart und das langsame Verschwin-den einer anderen zwei Prozesse, die zwar im gleichen Schulsystem stattfinden, aber nicht in näherem Zusammenhang stehen. Blickt man aber genauer hin, fällt auf, dass in den ersten drei Jahren, in denen Schulen die Möglichkeit gegeben wurde, sich zu einer Gemeinschafts-schule hin zu entwickeln, fast ausschließlich ehemalige Haupt/Werkrealschulen diesen Weg gegangen sind und Realschulen oder Gymnasien kaum diese Option wählten:

1. Unter den 35 Schulen, die im Schuljahr 2012/13 an den Start gingen, waren ausschließlich ehemalige Haupt- oder Werkrealschulen (vgl. Kultusportal 1358486). Insgesamt verteilten sich die Gemeinschaftsschulen dieser sogenannten ersten Tranche sehr ungleich über das Land: Während es im Regierungsbezirk Karlsruhe nur drei Schulen waren, machten sich im kleineren Regierungsbezirk Tübingen zehn Schulen auf den Weg (ebenda).

2. In der zweiten Tranche zum Schuljahr 2013/14 veränderte sich das Bild minimal: 87 weite-re Schulen wurden nun zu einer Gemeinschaftsschule, davon waren 83 ehemalige Werkre-alschulen; die vier anderen waren Realschulen, die zum Teil aber schon in einem Verbund mit der Hauptschule vor Ort kooperierten (vgl. Kultusportal Gesamtliste zweite Tranche).

Page 13: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

12 | Der Schulstrukturwandel Baden-Württembergs

3. Zum Schuljahr 2014/15 hatten 108 Schulen einen Antrag auf die Einrichtung einer Ge-meinschaftsschule gestellt (vgl. Kultusportal: hohe Zahl an Anträgen). 93 sind ehemalige Haupt/Werkrealschulen, 15 Realschulen. „Unter den 15 Realschulen befinden sich sieben, die bislang selbständig sind sowie sechs, die bisher in der Regel mit einer Grund- und Haupt/Werkrealschule im Rahmen eines Schulverbundes geführt werden. Zwei Anträge stammen von privaten Trägern“ (ebenda).

Zusammen genommen ergibt sich folgendes Bild: Unter den 230 im Schuljahr 2014/15 in Baden-Württemberg existierenden Gemeinschaftsschulen waren 211 ehemalige Haupt/ Werkrealschulen, 9 Realschulen, 8 Verbundschulen und kein Gymnasium. Dieses Bild wird auch über die Zahlen der vierten Tranche bestätigt: Von den 62 Schulen, die zum Schuljahr 2015/16 zu einer GMS wurden, waren 53 ehemalige Werkrealschulen bzw. Grundschulen mit einer Werkrealschule (vgl. Liste der Gemeinschaftsschulen 2015/16)1.

1.2 Wissen und Handeln im Schulstrukturwandel ausprofessionstheoretischer Sicht

Die Gemeinschaftsschule (GMS) setzt inhaltlich und strukturell andere Schwerpunkte als die bis dahin existierenden Schularten im Sekundarsystems Baden-Württembergs. Alle Ab-schlüsse des Sekundarschulsystems sollen dort angeboten werden, auch die Öffnung hin zum Abitur wird angestrebt. Darüber hinaus versteht die GMS sich als inklusive Schule, in der die Schüler selbstgesteuert lernen sollen. Beide Dimensionen, die der Inklusion als strukturelle Maßnahme und die der Selbststeuerung als spezifische Ausgestaltung der Unterrichtsmetho-dik, werden in Kapitel 3 heraus gearbeitet. Diese auf der Makro-Ebene des Schulsystems eingeführten Veränderungen haben Auswir-kungen auf das Handeln der Lehrkräfte in der Schule: Sie unterrichten nun inklusive Klassen im Modus der Selbststeuerung. Beides wird über die Schulverwaltung direktiv vorgegeben – es sind Kernelemente des Lehrens und Lernens an einer GMS. Mit diesen genannten Ände-rungen sind nun hauptsächlich ehemalige Lehrende an Haupt- und Werkrealschulen betraut, da sich, wie im letzten Kapitel gezeigt, fast ausschließlich Haupt/Werkrealschulen zu einer Gemeinschaftsschule entwickelten2.Durch diese Reformen verändern sich zum einen die für die tägliche Arbeit der Lehrkräfte notwendigen Wissensbestände; zum anderen erwachsen aus den genannten neuen Direkti-ven andere Grundlagen für das unterrichtliche Handeln. Alle Bildungsstandards der Sekun-darstufe müssen der heterogenen Schülerschaft, die aus Werkrealschülern, Realschülern oder auch Gymnasiasten bestehen kann, genauso angeboten werden wie auch Kenntnisse über die Organisation selbstgesteuerter Lernprozesse notwendig sind. Wissen und Handeln sind dabei eng miteinander verwoben und gründen in der jeweiligen Biografie der Lehrkräfte. “Wissensbestände entstehen in Entwicklung und in der individuellen Auseinandersetzung mit den Erfahrungen durch eigenes Handeln, gleichzeitig aber stellen sie immer mit auch

1 Unter den 9 Schulen, die nicht aus einer Werkrealschule hervorgingen, befinden sich interessanterweise auch zwei Neugründungen, nämlich in Radolfzell und Ludwigsburg. Die dann noch verbleibenden 7 Schulen waren davor in drei Fällen ein Schulverbund zwischen einer Werkrealschule und einer Realschule und in vier Fällen eine Realschule (vgl. Liste der Gemeinschaftsschulen 2015/16).

2 Dies bezieht sich allerdings nur auf die ersten Jahre der Gemeinschaftsschule. Langfristig und auch durch das Kultusministerium angestrebt, ist eine Entwicklung, an der GMS Lehrkräfte aller Schularten zu beschäftigen.

Page 14: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

| 13Wissen und Handeln im Schulstrukturwandel

die Basis dieses Handelns dar“ (Kolbe 2005, S. 207). Die von Helsper in diesem Zusammen-hang eingeführten Begriffe Wissensbasis und Handlungsgrammatik (vgl. Helsper 2007, S. 579) verweisen im Anschluss an Kolbe auf spezifische Wissensbestände und darauf aufbau-ende Handlungen als Grundbedingungen der Lehrertätigkeit, die zwar in Abhängigkeit von Zielgruppe und Schulform variieren können, dennoch den Beruf maßgeblich als zentrales Muster charakterisieren. Rekonstruktionen des Lehrerhandelns, Diskurse um die Bestimmung von Handlungs- und Wissenskompetenzen im Lehrerberuf oder das Nachzeichnen individueller beruflicher Ent-wicklungslinien werden in der deutschsprachigen Forschung unter dem Stichwort der Profes-sionalisierung diskutiert. Mit diesem Begriff „wird schließlich eine mikrosoziologische Sicht auf Professionen eingenommen. Dies bedeutet, dass der gemeinsame Kern der hier gemein-ten Berufe in einer spezifischen Typik der von ihnen zu lösenden Handlungsanforderungen verortet wird“ (Hericks/Stelmaszyk 2010, S. 232). Damit kommt dem Professionalisierungs-begriff eine doppelte Bedeutung zu: Auf einer individuellen Ebene geht es um die Frage des Prozesses, wie die für den Beruf notwendigen Kompetenzen erworben werden oder wie mit typischen Handlungsanforderungen umgegangen wird; das fasst Terhart unter das Stichwort „Herausbildung einer professionellen Kompetenz“ (Terhart 2005, S. 88). Auf einer kollek-tiven Ebene wird dann thematisch, über welche historischen Entwicklungslinien ein Beruf zu einer Profession geworden ist und ob die zugrunde liegende Tätigkeit überhaupt einer bestimmten Profession bedarf (vgl. Bonnet/Hericks 2013, S. 42). Der Schulstrukturwandel und seine Konsequenzen für das berufliche Handeln und Wissen der betroffenen Lehrkräfte lassen sich damit dem Professionalisierungsdiskurs zuordnen, der gleichzeitig das notwendige begriffliche Repertoire zur Verfügung stellt, um die Veränderungen zu beschreiben.Einer dieser Begriffe ist der schon angesprochene Wissensbegriff, auf den im Zuge des Dis-kurses um die Professionalisierung von Lehrkräften immer wieder Bezug genommen wird. Lehrkräfte benötigen für die Ausübung ihrer Tätigkeit spezifische Wissensbestände, denn „es braucht tiefes Verstehen, wer anderen beim Verstehen helfen will…“ und „es muss um Grün-de für die Aneignung dieses Wissens wissen, wer möchte, dass Schüler mit Gründen lernen“ (Neuweg 2005, S. 214). An dieser Argumentation Neuwegs wird deutlich, dass Lehrkräfte nicht nur Fachwissen benötigen, um Verstehensprozesse bei Schülern anzuleiten – dazu kom-men Kenntnisse darüber, wie dieses Wissen sequenziert und begründet Schülern vermittelt werden kann. Vermittlung wird dann als Weg modelliert, um Wissensbestände in pädagogi-schen Handlungssituationen über Verstehensprozesse auf Seiten der Adressaten weitergeben zu können. Diesem Aspekt liegt die Annahme einer komplexen Lebenswelt zugrunde: Um die bewältigen zu können, braucht das Individuum notwendig Wissen, das es nicht im all-täglichen Umgang erwerben kann und deswegen auf vermittelndes Handeln durch Professi-onelle angewiesen ist (vgl. Combe/Helsper 2002, S. 40). Aus dem Wissen der Professionellen folgt allerdings noch kein Handeln – wer über fachwis-senschaftliches und fachdidaktisches Wissen verfügt und auch die entsprechenden motivati-onalen und volitionalen Überzeugungen hat, ist nicht zwangsläufig dazu in der Lage, seine Kenntnisse in pädagogische Handlungssituationen zu transferieren. Dies liegt vor allem an der Differenz zwischen Wissen und dem Können, hier verstanden als Handlungsfähigkeit. Aufgrund dieser mangelnden Integrationsfähigkeit zweier verschiedener Welten „kann man zu dem Befund gelangen, dass pädagogisches Wissen zwar nicht handlungsleitenden, wohl aber handlungsvorbereitenden, wahrnehmungs- und problemdefinitionsleitenden Charakter hat…“ (Neuweg 2011, S. 23).

Page 15: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

14 | Der Schulstrukturwandel Baden-Württembergs

1.3 Die Grenzen kompetenzorientierter Professionsansätze für vorliegende Fragestellung

In neueren Veröffentlichungen zur Lehrerprofessionalität wird das für den Beruf notwendige Wissen weiter ausdifferenziert, in Kompetenzbereiche oder auch Domänen (vgl. Paseka u.a. 2011, S. 24ff) unterteilt. Neben das fach- und fachdidaktische Wissen treten noch weitere Dimensionen, die vor allem in kompetenzorientierten Ansätzen zur Lehrerbildung relevant werden. Dazu zählen neben pädagogischem Wissen, unter dem die Fertigkeit verstanden wird, Lehr/Lernsituationen anspruchsvoll zu gestalten, auch selbstregulative Fähigkeiten: Das sind jene Überzeugungen auf Seiten der Lehrkräfte, die sich unter den Stichworten Selbst-wirksamkeit, Enthusiasmus und Freude am Unterrichten subsumieren lassen (vgl. Zlatkin-Troitschanskaja u.a. 2013, S. 9/10). Als weitere Dimension konnten fundamentale Einsich-ten der Lehrerinnen und Lehrer identifiziert werden, die Auswirkungen auf die Gestaltung des Unterrichts haben. „So können z.B. die konstruktivistisch orientierten Lehrerüberzeu-gungen den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern positiv beeinflussen“ (ebenda, S. 9)3.Aus diesen genannten Feldern lassen sich dann im Rahmen der Professionalisierungsdebatte von Lehrkräften Kompetenzen generieren, die versuchen, Wissen und Handeln auf diesem Weg zu fassen (vgl. Neuweg 2010, S. 26). Das Handeln wird dem Wissen dann konstitutiv nachgeordnet und erscheint als Folge bewusster Regulationsprozesse: Ziel ist, „kausal ver-standenes Wirkungswissen über Unterricht anzustreben und bereitstellen zu wollen“ (Kolbe 2005, S. 213), um Lehrerhandeln auf diesem Weg wissenschaftlich begründbar ableiten zu können. Auf dieser Struktur baut der kompetenztheoretisch orientierte Bestimmungsansatz innerhalb der Lehrerprofessionsforschung auf. Unter Kompetenzen werden dabei innerhalb dieses Ansatzes kognitive Leistungsdispositionen verstanden, die prinzipiell erlernbar und entwicklungsfähig sind (vgl. Kunter 2010, S. 311). Aus der Entwicklungsfähigkeit lassen sich Stufenmodelle des Kompetenzerwerbs ableiten, denen dann die Leistungen des Lerners/der Lernerin zugewiesen werden können (vgl. Meyer 2012). Gerade der Bereich des Lehrerhandelns wird auf der Grundlage sogenannter evidenzbasierter Domänen innerhalb des kompetenzorientierten Ansatzes genau ausformuliert. Es werden Kompetenzbereiche auf der Basis empirischer Forschung definiert, die notwendig sind, um die komplexen Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern zu bewältigen (vgl. Terhart 2011, S. 207). Zu den fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen und pädagogischen Kompetenzen zählt Kunter noch eine Beratungs- und Diagnosekompetenz (vgl. Kunter 2010, S. 307ff). „Man sucht heute nicht mehr nach allgemeinen, berufs- und unterrichtsfremden Persönlich-keitseigenschaften von Lehrpersonen, sondern lenkt den Blick auf Kompetenzen und Orien-tierungen, die einen inhaltlichen Bezug zum Geschäft des Unterrichts aufweisen“ (Helmke 2012, S. 110). Der von Helmke hier genannte inhaltliche Bezug lässt sich wiederum der Vermittlung von Inhalten und Kompetenzen durch Unterricht zuordnen. Dieser Ansatz versucht also einen Zusammenhang herzustellen zwischen den sich im unter-richtlichen Handeln der Lehrperson manifestierenden Kompetenzen und dem möglichst er-

3 Die Bereiche, die als notwendig für das Lehrerhandeln erachtet werden, sind dabei flexibel. Sliwka/Klopsch for-mulieren sie über die Erwartungen, die gesellschaftlich an Lehrer und Lehrerinnen herangetragen werden. „Die vorhandene Qualität wird von der Gesellschaft gerne daran gemessen, ob die Schulen dazu in der Lage sind, mit Kindern von unterschiedlicher Herkunft effektiv zu arbeiten, sensibel auf kulturelle und geschlechtsspezifische Anliegen einzugehen und sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler genauso gezielt zu fördern wie Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwächen“ (Sliwka/Klopsch 2012, S. 14).

Page 16: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

| 15Die Grenzen kompetenzorientierter Professionsansätze

folgreichen Lernen der Schüler: Aus dem Output des Unterrichts werden Konsequenzen über die dies ermöglichenden oder auch verschließenden Kompetenzen der Lehrkraft gezogen. Grundlage dafür liefern häufig Modelle, in denen zu Dimensionen des Unterrichts Heraus-forderungen benannt werden, denen die Lehrkräfte dann entsprechen sollen. Die Erfassung der pädagogischen Kompetenz kann über die Beantwortung von Testaufgaben erfolgen, die in einem zweiten Schritt skaliert werden, um so Unterschiede zwischen den befragten Perso-nen feststellen zu können (vgl. König u.a. 2010, S. 78ff).Dieser Ansatz kann aus einem forschungspraktischen Grund nicht für vorliegende Arbeit verwendet werden, der sich aus der spezifischen Fragestellung ergibt. Im Blickpunkt stehen hier die Folgen des Strukturwandels für das Lehrerdeuten und -handeln aus der Perspektive der Hauptschullehrkräfte. Damit ist das Forschungsinteresse zum einen prozessorientiert, zum anderen aber auch spezifisch auf eine Schulart angelegt, da bisher fast ausschließlich ehemalige Werkrealschulen sich hin zu einer GMS entwickeln wollen. Die Arbeit an einer Haupt/Werkrealschule wiederum ist gekennzeichnet durch eine besondere Schülerschaft, die deswegen auch spezifische Kompetenzen auf Seiten der Lehrkräfte notwendig macht. „Zur Strukturproblematik dieser Schulform gehören neben dem multiproblembelasteten Schü-lerklientel (Jugendliche mit brüchigen Schulkarrieren, Migrationshintergrund …) … auch … schwierige Übergänge in Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnisse“ (Niemann 2014, S. 351). Auch über kompetenzorientierte Professionsansätze lassen sich prinzipiell temporär angelegte Entwicklungen von Lehrkräften nachzeichnen, die dann aber auf bestimmte Bedingungen angewiesen sind. Die Erfassung der Folgen des Schulstrukturwandels auf das Lehrerhandeln würde auf der Voraussetzung beruhen, Modelle zur Verfügung zu haben, die die spezifisch notwendigen Kompetenzen von Hauptschullehrkräften erfassen, um sie dann mit Kompe-tenzmodellen von Lehrkräften an Gemeinschaftsschulen abzugleichen. Nur über die Formu-lierung von evidenzbasierten Kompetenzbereichen sind im Anschluss an diesen Ansatz Aus-sagen darüber möglich, welche Anforderungen an das Lehrerhandeln sich an den einzelnen Schulformen ergeben und wie sie sich gegebenenfalls verändert haben. Der kompetenzorientierte Ansatz liegt der Begleitforschung zu den Gemeinschaftsschulen (WissGem) zugrunde – ein Forschungsprojekt, das von 2013-2016 diese Schulform erforsch-te. Lehrkräfte gelten dabei als wesentlicher Faktor, Transformationen umzusetzen. „Eine Re-form, wie die Einführung der Gemeinschaftsschule, kann demnach nur gelingen, wenn die Lehrkräfte über die erforderlichen professionellen Kompetenzen und Qualifikationen ver-fügen…“ (Bennemann/Schönknecht 2016, S. 19). Zentrale Dimensionen für die Arbeit an einer GMS sind dabei die Kompetenzen der Lehrkräfte in den Bereichen „Kooperation und Schulentwicklung, Umgang mit Heterogenität sowie Inklusion“ (ebenda, S. 20). Auf dieser Grundlage, die von einer exakten Vermessung berufsrelevanter Fähigkeiten ausgeht, lassen sich dann wiederum Rückschlüsse ziehen, genau diese als relevant erachteten Kompetenzen in der Ausbildung von Lehrkräften zu vermitteln.Während Kompetenzraster im Rahmen der Begleitforschung zur Gemeinschaftsschule also auf der Grundlage von WissGem formuliert werden können, existieren solche exakt formu-lierten Kompetenzmodelle für Haupt/Werkrealschullehrkräfte nicht – es fehlt die Grundlage für das Nachzeichnen der Entwicklung. Deswegen wird hier auf einen anderen professions-theoretischen Ansatz zurückgegriffen, der im folgenden Kapitel näher beschrieben wird und auch dem hier verfolgten Forschungsprogramm näher liegt.

Page 17: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

16 | Der Schulstrukturwandel Baden-Württembergs

1.4 Der strukturtheoretische Professionalisierungsansatz als Grundlagevorliegender Arbeit

Neben dem eben dargestellten kompetenzorientiertem Ansatz gibt es den strukturtheore-tischen Ansatz zur Lehrerprofessionalität, der zu vorliegender Fragestellung kompatibel erscheint (vgl. für eine Gesamtübersicht über Professionalisierungsansätze bei Lehrkräften: Terhart 2011/Hermann 2013/Bonnet, Hericks 2014). 4

Grundlage dafür bildet ein Aufsatz Ulrich Oevermanns aus dem Jahr 1996, auf den immer wieder Bezug genommen wird, wenn dieser Ansatz dargestellt wird (vgl. Helsper 2004, 2007 und 2011/Kolbe 2005/Hermann 2013/Terhart 2011/Bonnet, Hericks 2014). Oevermann geht dabei in seiner Argumentation von einer Autonomie der Lebenspraxis aus, die als Struk-turprämisse betrachtet wird (vgl. Oevermann 1996, S. 80). Diese Lebenspraxis ist geprägt von einem Entscheidungszwang der Individuen zwischen Angeboten und damit Handlungs-alternativen. Ziel des professionalisierten Handelns ist, die in und durch die Lebenspraxis beschädigte Autonomie der beteiligten Individuen zu respektieren und wiederherzustellen (vgl. Oevermann 1996, S. 80). Professionelles Handeln ist der „gesellschaftliche Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis unter Bedingungen der verwissenschaftlichen Rationa-lität, das heißt unter Bedingungen der wissenschaftlich zu begründenden Problemlösung in der Praxis“ (ebenda). Bereits an dieser Sequenz wird die Trennung von Theorie und Praxis in Oevermanns Modell deutlich: Sie begegnen sich im Spektrum der lebenspraktischen Auto-nomie, sind aber dennoch zwei verschiedene Welten. Aus dieser Dialektik von Theorie und Praxis lässt sich dann auch Oevermanns Verständ-nis des dem Handeln zugrunde liegendem Wissen, dem eigentlichen Handeln und seiner Rekonstruktion ableiten. Theoretisch fundierte Wissensbestände werden an einem dem Er-kenntnisgewinn verpflichteten Ort, beispielsweise einer Universität, vermittelt. Dort wird um der Erkenntnis willen geforscht (vgl. Oevermann 2004b, S. 43). Professionelles Handeln besteht dann, in einem zweiten Schritt, in der Anwendung wissenschaftlich basierter Regeln vor der Besonderheit des jeweiligen Falls, in dem gehandelt wird (vgl. Reinisch 2009, S. 34). Diese beiden Elemente, das theoretisch fundierte Wissen um die Situation und das Handeln in ihr werden als prinzipiell widersprüchlich verstanden, so dass sich, wenn man diesem Ansatz folgt, die Situation erst nach dem Handeln in ihrer gesamten Vielfältigkeit verstehen lässt. „Denn jenseits wissenschaftlicher Klassifikationen ist nur in der Rekonstruktion des Einzelfalls zu klären, welche Form der professionellen Intervention angemessen ist“ (Helsper 2011, S. 150). Mit dieser Trennung und dem Beharren auf einer Autonomie der Lebenspra-xis wird gleichzeitig eine Absage an Modelle erteilt, die von einem prinzipiellen Transfer theoretisch fundierter Wissensbestände auf die Praxis ausgehen.Oevermann verbindet in diesem Aufsatz weiter professionelles Handeln mit dem Stichwort der Krisenbewältigung und knüpft dabei an die eben dargestellte Autonomie der Lebenspra-xis an. Diese von Oevermann so bezeichnete erste Phase (vgl. 1996, S. 82) als Ort des pro-

4 Neben den strukturtheoretischen und kompetenzorietierten Ansätzen erwähnen Terhart und Bonnet/Hericks, im Gegensatz zu Hermann, noch den berufsbiografischen Ansatz. Dieser „richtet seinen Blick auf individuelle Pro-fessionalisierungsprozesse von Lehrpersonen sowie zum Teil auch auf deren Wechselwirkungen mit dem gesamten Lebenslauf, um so in longitudinaler Perspektive Entwicklungsverläufe des Aufbaus, der Weiterentwicklung und des Verlusts von Professionalität zu rekonstruieren“ (Bonnet/Hericks 2014, S. 7). Aus welchen Gründen dieser Ansatz nicht zugrunde gelegt wurde, wird im Kontext der Auseinandersetzung mit der Untersuchung von Wittek näher erörtert (vgl. Kapitel 6.3.2).

Page 18: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

| 17Der strukturtheoretische Professionalisierungsansatz

fessionellen Handelns ist geprägt von Spontanität, Intuition oder auch Reflexen. Sie besteht aus einer Entscheidungsbildung und -durchsetzung als Antwort auf Krisen, die stellvertre-tend für eine kollektive Praxis erfolgt (vgl. S. 83). Krise wird dabei als nichttraumatisier-tes Moment gefasst, bei der alte Routinen zerbrechen und neue entwickelt werden müssen (vgl. Bonnet/Hericks 2014, S. 6). In der zweiten Phase liegt dagegen die Rekonstruktion der entscheidungsbasierten Praxis im Zentrum professionellen Handelns. „In ihnen steht die problematisierende Bearbeitung von Geltungsfragen im Mittelpunkt, nicht so sehr die Verantwortung für eine praktisch folgenreiche Entscheidung in einer Krisenkonstellation“ (S. 84). Professionen arbeiten, so lässt sich im Anschluss an das bis hierhin gesagte formulie-ren, in gesellschaftlich relevanten Bereichen, die im Prinzip krisenanfällig sind. Aufgabe des Professionellen ist es dann, die gesellschaftliche Praxis aufrechtzuerhalten, indem Lösungen für Krisen angeboten werden oder so gehandelt wird, dass Krisen vermieden werden können. Aus diesem Modell Oevermanns entwickelt Helsper die Grundlagen des strukturtheoreti-schen Professionalisierungsansatzes bei Lehrkräften. Er identifiziert dabei Bildung als zentra-les Element des Lehrerhandelns (vgl. Helsper 2004, S. 62): Es ist das soziale, für das Kollektiv eminent wichtige Gut, für dessen Vermittlung Lehrerinnen und Lehrer zuständig sind. Im Moment der Vermittlung sind die Adressaten des professionellen Handelns davon getrennt und haben keinen Zugriff darauf. Erst über das Tun des Lehrers wird der Zugang ermöglicht. Im strukturtheoretischen Ansatz wird diese Separation zwischen Schülern und dem Gut Bil-dung als Krise verstanden, die professionelles Handeln notwendig macht: Die Profession des Lehrers/der Lehrerin sorgt in einer ausdifferenzierten Gesellschaft für die Bewältigung dieses als für das Individuum und das Kollektiv kritisch zu beurteilenden Problems (vgl. Paseka/Schratz/Schrittesser 2011, S. 8). Es geht also „um die stellvertretende und stellvertretend deutende Bearbeitung von individuellen oder sozialen Krisen, um die Bearbeitung von jenen Manifestationen des latent stets möglichen Scheiterns von Routinen als Orten einer struk-turell erforderlichen, aber ohne Erfolgssicherheit stattfindenden Erzeugung des neuen – als Krisenlösungsversprechen“ (Helsper 2004, S. 62). An diesem Zitat ist vor allem der Begriff des Krisenlösungsversprechens bedeutsam, um den die Bearbeitung von Deutungsfragen im professionellen Handeln kreist. Professionelle verfügen zwar prinzipiell über die Fähigkeit, Krisen lösen zu können, doch folgt daraus nicht per se die vorauseilende Annahme, dass dies tatsächlich auch gelingt. Der Grund dafür liegt in der von Oevermann herausgearbeiteten Autonomie der Lebenspraxis, die über die dort entwickelten Muster auf Seiten der Lehrkräfte und der Schüler nicht zwangsläufig deckungsgleich mit der Entfaltung der professionellen Absichten sein muss. In anderen Veröffentlichungen, die sich auch als Weiterentwicklung des strukturtheoreti-schen Ansatzes verstehen, wird der Bildungsbegriff in einer Reformulierung im Anschluss an Humboldt in erweiterten Zusammenhängen auf das Handeln der Lehrkräfte gewendet. Lehrkräfte erscheinen hier nicht nur als diejenigen, die Krisen lösen, sondern auch als Auslö-ser von Krisen (vgl. Bonnet/Hericks 2013, S. 42). Beide Momente, die des Krisenlösens und des -auslösens, werden von Bonnet/Hericks dann (vgl. S. 36 und S. 51) bildungstheoretisch gefasst und als Elemente des Professionalisierungsprozesses gesehen. Grundlage dafür ist das Konzept der transformatorischen Bildung, wie es von Koller vorgelegt wurde. Darin kommt dem Moment der Krise als Bildung auslösender Prozess eine zentrale Rolle zu. „Bildungspro-zesse bestehen demzufolge also darin, dass Menschen in der Auseinandersetzung mit neuen Problemlagen neue Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Pro-

Page 19: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

18 | Der Schulstrukturwandel Baden-Württembergs

blemen hervorbringen, die es ihnen erlauben, diesen Problemen besser als bisher gerecht zu werden“ (Koller 2012, S. 16).Anliegen des strukturtheoretischen Ansatzes ist, daher rührt auch sein Name, den „Struktur-kern professionellen Handelns zu bestimmen“ (Helsper 2011, S. 149). Zu diesem Kern zählt der schon angesprochene Bereich der Krise, deren Lösung bzw. Auslösung im Modus des stellvertretenden Deutens. Dabei bleibt der Ansatz aber nicht stehen, sondern bemüht sich um eine weitere Klärung des Strukturkerns. Im Anschluss an den Terminus der Krise wird die Lehrer-Schüler-Beziehung weiter ausdifferenziert. Sie „wird als widersprüchliche Einheit von rollenförmig-spezifischen und diffusen, universalistischen und partikularistischen Bezie-hungskomponenten verstanden, insofern sie den Schüler aufgrund seiner noch unvollkom-menen Rollenhandlungsfähigkeit nicht nur in seiner Schülerrolle, sondern in seiner ganzen Persönlichkeit erfasst“ (Hermann 2013, S. 12). Unterschiedliche Erwartungen und differente Konzepte über das Verständnis von Schule und Unterricht, die sich zum Teil rollenspezifisch erklären lassen, rahmen das professionelle Handeln der Lehrkräfte. Verschiedene Handlungs-logiken der Beteiligten bilden also den Ausgangspunkt strukturtheoretischer Überlegungen zum Aspekt der Professionsantinomien (vgl. Helsper 2011, S. 156). „Die grundlegenden beruflichen Aufgaben und Anforderungen an Lehrer werden von strukturtheoretischen An-sätzen als in sich widersprüchlich dargestellt“ (Terhart 2011, S. 206). Helsper entwickelte in weiteren Veröffentlichungen verschiedene Ebenen, um die pädagogi-schen Antinomien differenzieren und strukturieren zu können. Diese Antinomien bedingen, wie Helsper in einer Replik auf Baumert/Kunter erwidert, eine Ungewissheit pädagogischen Handelns: Der Erfolg kann nicht sicher versprochen werden, da die Konsequenzen pädagogi-schen Handelns weder gesteuert noch direkt vorausgesagt werden können (vgl. Helsper 2007, S. 571). Eine der konstitutiven, da nicht aufhebbaren Antinomien ist die schon genannte der verschiedenen Handlungslogiken von Lehrern und Schülern, die sich um das Element der Vermittlung aufbaut (vgl. Helsper 2004, S. 67). In derselben Veröffentlichung spricht Helsper neben verschiedenen Antinomieformen auch von Modernisierungsantinomien, die sich um eine Differenz zwischen gesellschaftlichem Wandel bei gleichzeitiger Notwendig-keit struktureller Ordnungsschemata gruppieren. „Dem entsprechen Enttraditionalisierun-gen und Entbettungen, in denen einerseits die nah wirkenden sozialen Regeln und Zwänge abnehmen, die Geschlossenheit von Lebensformen und deren soziale Vererbung erodiert, zugleich aber auch Halt gebende Strukturierungen und Einbindungen entfallen, die nun aus eigener Kraft generiert werden müssen“ (Helsper 2004, S. 69). In diese Gruppe fällt auch der Anspruch an das Individuum, sich autonom und selbstverantwortlich zu verhalten; dieser Anspruch wird mit dem Duktus der prinzipiellen Machbarkeit unterlegt, dem das Risiko des Scheiterns und des Zwangs, auch tatsächlich autonom zu sein, anhaftet und damit auch antinomisch aufgebaut ist (vgl. Helsper 2004, S. 69). Dieser Ansatz geht also von einem unverhandelbaren Kern des Lehrerhandels aus, der über Schularten und Altersstufen hinweg Gültigkeit beansprucht. Ausgehend von einem solchen unwandelbaren, permanent gültigen Element wird es dann möglich, die Frage danach zu stellen, inwieweit sich in den Deutungen der ehemaligen Hauptschullehrkräfte, die nun an einer GMS arbeiten, Änderungen in der Bearbeitung dieser grundlegenden Fragen ergeben haben. Im empirischen Teil dieser Arbeit wird dies erschlossen und dargestellt.

Page 20: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

| 19Profession und Organisation

1.5 Profession und Organisation

Unabhängig davon, auf welchen der dargestellten Professionsansätze Bezug genommen wird, findet das Handeln von Lehrkräften innerhalb der Organisation Schule statt. Eine Klärung dieses Verhältnisses ist besonders für vorliegendes Forschungsinteresse wichtig, da der Ort des professionellen Handelns nicht nur die Organisation Schule ist, sondern die in Kapitel 1 angesprochenen Veränderungen für das Handeln der Lehrkräfte nur über die Schule als Ins-titution manifest werden. Die wiederum ist Teil der komplexen Organisation Bildungssytem und mit diesem vielfältig verbunden: Veränderungen in der Zielsetzung pädagogischer Arbeit lassen sich so nur vor dem Hintergrund organisatorischer Vorgaben verstehen. Organisation erscheint damit, in einer groben Annäherung, als Teil von Struktur. Das Verhältnis von Professionellen zur Organisation wurde dabei lange vorwiegend anta-gonistisch aufgefasst, „bei der die Handlungsautonomie der Professionellen mit einer büro-kratischen Logik der Organisationen konkurrierte“ (Pfadenhauer/Brosziewski 2008, S. 79). Oevermann sieht, dem ganz ähnlich, Schule als formale Organisation, die den „Blueprint der institutionellen Vorkehrungen“ (Oevermann 2008, S. 68) schon immer bereitstellt, bevor der erste Unterricht begonnen hat. Mittlerweile haben sich aber, wenn man Pfadenhauer/Brosziewski folgt, komplementäre Ansätze zur Verhältnisbestimmung durchgesetzt, die die Abhängigkeiten voneinander betonen. Schimank unterscheidet in seiner akteurtheoretischen Sicht, um das Wechselverhältnis von Handeln und Strukturen zu beschreiben, in eine Logik der Situation und in eine Logik der Se-lektion: Erstgenannte wird bestimmt durch die Beschaffenheit der Situation und ihre Wahr-nehmung durch den Akteur, letztgenannte bezieht sich auf den Vorgang der Handlungswahl (vgl. Schimank 2010, S. 24). „Aus der Handlungswahl lässt sich also erschließen, welche der Situationsbedingungen der Akteur als die für sein Handeln entscheidenden wahrgenommen hat“ (Schimank 2010, S. 25). Wird dieses Ordnungskriterium in einer professionstheoreti-schen Sicht auf die Lehrkraft und ihren Einbezug in die Schulstruktur übertragen, so wird die Schule zu dem Ort, der eine Situation schafft, die zum einen „überhaupt erst die Profes-sion mit dem Fall zusammenbringt“ (Pfadenhauer/Brosziewski 2008, S. 90), zum anderen Handlungen vororganisiert, zwischen denen sich Professionelle entscheiden können. Schule als Organisation stellt Entscheidungsnetzwerke zur Verfügung, die jeweils zwischen Schulart, dem Unterrichtsfach oder dem Alter der Adressaten variieren können: Sie schafft und struk-turiert Situationen als Grundlage für professionelle Entscheidungen. In einer mehrperspektivischen Sicht auf das Verhältnis zwischen Organisation und Profession löst sich der eben dargestellte Problemkomplex, das Bereitstellen von Handlungsalternati-ven als Basis für Entscheidungen, nicht auf, sondern wird maßgeblich erweitert. Bedeutung kommt dabei vor allem dem Begriff der Schulkultur zu, der die Bedeutung der Schule als Organisationseinheit für pädagogische Praktiken und die zugrundeliegenden Sinnstrukturen betont. Schule wird dabei als spezifische Organisationsform gesehen, in der sich gesellschaft-liche Ressourcen materieller und nicht materieller Art wiederfinden (vgl. Göhlich 2007, S. 111). Damit wird, wie Helsper schreibt, die Außensteuerung der Einzelschule als Element eines komplexen Schulsystems nicht negiert, sondern anders gewendet: Es findet eine Ori-entierung am Eigensinn und der Autonomie pädagogischer Institutionen statt, die über das Handeln der beteiligten Personen Gestalt annimmt (vgl. Helsper 2008a, S. 116). Fend spricht hier von der Bedeutung der Akteurskonstellationen und der Interaktionsformen; wie die Schulkultur gestaltet wird, hängt damit ab von den Wahrnehmungen der Akteure

Page 21: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

20 | Der Schulstrukturwandel Baden-Württembergs

und den sich daraus ergebenden Formen der Kommunikation (vgl. Fend 2006, S. 158). „Die Schulkultur wird generiert durch die handelnde Auseinandersetzung der schulischen Akteure mit übergreifenden, bildungspolitischen Vorgaben und Strukturierungen vor dem Hintergrund historischer und kultureller Rahmenbedingungen…“ (Helsper 2008a, S. 122). Alle Diskurse, Interakte oder Praktiken des alltäglichen Handelns in der Schule werden bei diesem Ansatz in Beziehung gesetzt zu bildungspolitischen und -systemischen Rahmenbe-dingungen (vgl. Kluchert 2009, S. 326), mit denen sich die Akteure auseinandersetzen und dadurch anschlussfähiges Handeln schaffen. Unter Bezugnahme auf einen Mehrebenenan-satz der Schulsteuerung erscheint das schulische Geschehen damit aus der Perspektive der Makroebene als unterdeterminiert (vgl. Fend 2008, S. 154). Das Handeln vor Ort ist „nicht vollkommen vorhersagbar“, „folgt einer eigenen Logik“ (ebenda) und manifestiert sich dann in einer je spezifischen Schulkultur. Die Einbettung der Schule in übergeordnete Bedingungsfelder wird damit als Beziehung konfiguriert, die, auf die Einzelschule bezogen, ermöglichend oder begrenzend auf die zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen wirken kann. Gleichzeitig wird dadurch ein Raum geschaffen, in dem die beteiligten Akteure handeln können. Über dieses Konstrukt eines strukturell organisierten Raumes wird es dann auch möglich, Unterschiede zwischen Schu-len des gleichen Schultyps in Lehr-, Lern- und Leitungsformen zu erklären. „Die jeweilige Schulkultur stellt die einzelschulspezifische Strukturvariante dar, in der die Strukturprobleme des Bildungssystems und die grundlegenden Antinomien des pädagogischen Handelns … je spezifisch gedeutet werden…“ (Helsper 2008b, S. 67). In dieser Auseinandersetzung mit Vorgaben werden dann, wenn man Helsper weiter folgt, Praktiken, Regeln und Sinnentwürfe generiert, die in je spezifischen Schulmythen ihren Ausdruck finden (vgl. Helsper 2008b, S. 67). Gleichzeitig können an einer Schule divergierende Sinnentwürfe einen institutionali-sierten Kampf um Dominanz verstrickt sein (vgl. Helsper 2008a, S. 122). Schulen bestehen damit „aus bewährten Handlungsschemata und deren Verkettung nach Regeln“ und aus typi-schen Umgangsweisen „über die getroffenen Entscheidungen/Handlungen, mit denen ihnen Sinn zugeschrieben wird“ (Radtke 2004, S. 137). Diese Bestimmung des Verhältnisses der Lehrkraft zu der jeweiligen Einzelschule als Teil einer um die Stiftung von Sinnordnung bemühten Konstruktionsgemeinschaft in der Abhän-gigkeit von prinzipiell wandelbaren Rahmenbedingungen ist zum einen anschlussfähig an den oben dargestellten strukturtheoretischen Ansatz, zum anderen ergeben sich daraus auch Auswirkungen auf den Professionalisierungsprozess der Lehrperson. Helsper unterscheidet, um das Spannungsverhältnis der Schulkultur näher zu fassen, in die Bereiche imaginar, real und symbolisch. Das Reale bezieht sich zum einen auf die konstitutiven Antinomien pädago-gischen Handelns, die prinzipiell nicht aufzuheben sind, zum anderen auf die Strukturprob-lematiken, deren Grundlegung auf einer höheren Ebene stattfindet und die sich dem direkten Zugriff der Lehrkraft entziehen. „Das Reale – so die These – kann als Ergebnis des Handelns kollektiver Akteure auf der Ebene der Einzelschule nicht grundlegend aufgehoben, sondern lediglich spezifisch bearbeitet werden“ (Helsper 2008b, S. 68). Die Antinomien bilden damit nicht nur den Kern pädagogischen Handelns, sondern finden sich auch wieder in den Ausei-nandersetzungen um Strukturproblematiken, die unterschiedliche Ordnungsmuster hervor-bringen können (vgl. Helsper 2008a, S. 126). Während sich das Imaginäre auf die Entwürfe der Schule oder der darin handelnden Akteure bezieht, kommt im Symbolischen die Ent-faltung „von Interaktionen, Praktiken, Artefakten, Routinen und Arrangements“ (Helsper 2008b, S. 68) zum Ausdruck.

Page 22: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

| 21Der Fokus der Arbeit: Profession und Transformation

Im Anschluss an das hier angesprochene Konzept der Schulkultur lässt sich die Einzelschule als ein Ort begreifen, in dem Deutungen der strukturellen Bedingungen stattfinden, die dann wiederum Handeln generieren. Sinn wird auf diesem Weg geschaffen, der sich in Praktiken manifestiert. Offen ist dieses Konzept, weil es die Möglichkeit von Veränderungen theore-tisch einbezieht und gleichzeitig geschlossen, da die jeweilige Schulkultur in Beziehung zu einer strukturell erzeugten Varianz gesetzt wird. Daraus ergeben sich Konsequenzen für den Professionalisierungsprozess der Lehrkraft, der dann in Abhängigkeit von der Schulkultur gedacht werden kann. „Damit wird für die Herausbildung eines praktisch-professionellen Habitus pädagogisch-professionellen Könnens die jeweilige Schulkultur als konstitutiv ange-nommen und damit das praktische Handeln in schulkulturellen Sinnmustern als ein zentra-ler Generierungsort pädagogisch-professioneller Habitus bestimmt“ (Helsper 2008a, S. 131).Das Verhältnis des Handelns von Lehrkräften zur Organisation Schule lässt sich aber nicht nur verstehen als die Bereitstellung von Optionen oder die Strukturierung von Sinnmus-tern, über die Handeln organisiert wird, sondern kann auch unter dem Aspekt gesehen werden, inwieweit sie professionelles Handeln überhaupt zulassen oder auch verhindern. Auch diese Fragestellung ist anschlussfähig an den strukturtheoretischen Ansatz, da der als Kern definierte Bereich pädagogischen Handelns in Beziehung zur Organisation bzw. deren Wandlungsprozessen gesetzt werden kann. Unter dem Stichwort der Deprofessionalisierung werden jene Prozesse gefasst, die Professionalität verhindern, einschränken oder unmöglich machen. Hermann sieht Tendenzen der Deprofessionalisierung, die „aus der Überfrachtung des Lehrerberufs mit der Summe absehbar nicht zu erfüllender Anforderungen“ (Hermann 2013, S. 14) resultieren. Diesen Gedanken behält auch Helsper in seiner Erklärung des Be-griffs bei, bezieht ihn allerdings deutlicher auf den Kern pädagogischen Handelns. „Depro-fessionalisierung setzt ein, wenn derartige Berufe durch Außensteuerung und Kontrolle in ihrer Eigenstruktur bedroht werden“ (Helsper 2011, S. 151). Dieser Gedanke wird im letzten Kapitel noch einmal aufgegriffen und erweitert dargestellt.

1.6 Der Fokus der Arbeit: Profession und Transformation

Der Wandel im baden-württembergischen Schulsystem ist der Rahmen dieser Arbeit, der in Bezug zur Profession gesetzt wird. Diese Transformation ist die eines komplexen sozialen Systems, in dem nun eine Schulform zugelassen wird, die hier bis vor kurzem nicht existierte und die darüber hinaus mit spezifischen Inhalten gekoppelt wird, die das Lehren und Lernen dort maßgeblich prägen. In der Erziehungswissenschaft wird dieser Bereich gezielt von der sogenannten Governance-Forschung in den Blick genommen, die das „Zustandekommen… sozialer Ordnung unter der Perspektive der Handlungskoordination zwischen verschiedenen sozialen Akteuren in komplexen Mehrebenensystemen“ (Altrichter/Helm 2011, S. 28) un-tersucht. Dabei widmet sich dieser Forschungszweig unter anderem der Frage, wie Lehrkräfte veränderte Strukturangebote aufgreifen (ebenda, S. 29) und welcher Logik die Wahrneh-mungs- und Deutungsmuster der betroffenen Subjekte folgen (vgl. Altrichter/Maag Merki 2010, S. 18). Konzeptualisiert werden die Lehrkräfte dann, wenn man diesem Zitat folgt, als davon Betroffene und im System Handelnde, aber noch nicht als Professionelle mit einem distinktiven Habitus, die die sie umgebenden Strukturen vor dem Hintergrund einer spezi-fischen Professionalität sehen. Die Transformation des baden-württembergischen Schulsystems verfolgt ein bestimmtes Ziel: Wie allen Maßnahmen der Schulsteuerung inhärent, sollen über sie Qualität aufrechter-

Page 23: Wandel der Schule – Wandel der professionellen Deutungsmuster?download.e-bookshelf.de/download/0010/6165/84/L-G-0010616584... · Thomas ehle trS Wandel der Schule – Wandel der

22 | Der Schulstrukturwandel Baden-Württembergs

halten bzw. verbessert werden (vgl. Feldhoff u.a. 2012, S. 72). Über diese qualitätsorientierte Bestimmung kann der Begriff der Transformation im Rahmen dieser Arbeit noch um eine Dimension erweitert werden, nämlich die der Innovation. Während Transformation zunächst wertneutral einen Wandel beschreibt, ist mit Innovation eine Steigerung verbunden. Darun-ter werden Lösungen verstanden, „die in irgendeiner Weise eine qualitative Verbesserung gegenüber vorherigen Lösungen darstellen sollen“ (John 2013, S. 71). Dies lässt sich dann auch auf das Schulsystem übertragen. Schulinnovationen sind beabsichtigte und zielgerich-tete Maßnahmen, die das Bildungssystem auf eine bestimmte Weise verbessern sollen (vgl. Goldenbaum 2013, S. 151). Man spricht dann von Innovation, wenn etwas nicht mehr nur eine mentale Konstruktion ist, sondern „eine sprachlich-kommunikative und aktive Umset-zung erfährt“ (Bormann 2011, S. 44). All dies trifft auch auf die Implementierung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg zu. Über sie soll das Bildungssystem innoviert werden, um so zu Verbesserungen zu gelangen. Zentrale Elemente sind dabei das längere gemeinsame Lernen, Inklusion und die Bedeutung selbstgesteuerter Lernprozesse. Nach Goldenbaum lässt sich der Grad der Innovation da-bei noch genauer fassen. Sie unterscheidet zwischen Verbesserungs- und Basisinnovationen. Während erstere evolutionär und kleinschrittig angelegt sind, beschreibt letztgenanntes tief- und richtungsweisende Neuerungen (vgl. Goldenbaum 2013, S. 151), die für alle Beteiligten elementare Auswirkungen haben. Die Einführung der GMS kann aufgrund der mit ihr ver-bundenen Folgen als Basisinnovation bezeichnet werden. Doch sind nicht nur die Änderungen selbst, hier die Einführung der Gemeinschaftsschule, Ausdruck bestimmter Zuschreibungen, um als problematisch empfundene Situationen auf-zulösen, sie treffen auch auf eine spezifische Realität, in der sie sich bewähren müssen. Es finden Aushandlungsprozesse statt, die den Neuerungen Sinn und Funktionalität zu schrei-ben. Im Kontext dieser Arbeit stehen nun die im Individuum angelegten, aber dennoch über es hinausweisenden Deutungen im Vordergrund, die als mentale Repräsentationen auf Er-möglichung und Begrenzung des Kollektivs verweisen und im empirischen Teil dieser Arbeit erschlossen werden sollen. Das Bundesland als zentraler Akteur im Bildungswesen, das über Inhalte genauso entscheidet wie über die Implementation von Innovationen, überlässt den Lehrkräften aber „die Umset-zung innerhalb von Ableitungs-, Ausdeutungs- und Anwendungsbeziehungen“ (Bohl u.a. 2015, S. 37). So geht es in vorliegender Studie eben nicht um die Beschreibung der Steu-erungsmodi, deren Scheitern oder mögliche Alternativen, und auch nicht darum, „welche Dispositionen und organisationalen bzw. strukturellen Rahmenbedingungen Innovationsbe-reitschaft und Transferaktivitäten in welcher Art begünstigen“ (Bormann 2011, S. 44) – son-dern um die Ver- und Bearbeitung, die Wahrnehmung und Deutung eben dieser Verände-rungsimpulse durch die einzelnen Lehrkräfte. Damit werden zwei Dimensionen, nämlich die eines der Lehrkraft übergeordneten Systems, das Bedingungen und Ziele des Lehrerhandelns vororganisiert, und die des Handelns der Lehrkraft selbst miteinander verbunden. Letzt-genanntes zählt zum Diskurs der Professionalität, so dass der Professionsbezug des Einzel-falls vor dem Hintergrund veränderter Rahmenbedingungen thematisiert wird. Dabei ist mit Schimank festzustellen: „Insgesamt ist also Profession bisher nahezu ein blinder Fleck der Governance-Forschung im allgemeinen geblieben und kommt auch bei der Betrachtung von Educational Governance im Besonderen noch zu wenig und zu unscharf in den Blick“ (Schimank 2014, S. 128). Dieser Befund irritiert, da die Professionellen, in diesem Fall die Lehrkräfte, diejenigen sind, die Transformationen in ihre tägliche Arbeit und in ihr Profes-