Susanne Grosser/Martin Hoffmann
Welche Art von Analysemuster kann bei der Erstellung von Fallstudien
zerfallen(d)er Staaten zugrunde gelegt werden?
1. Aktualität und Relevanz der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit
„zerfallen(d)en Staaten“
„Die Debatte um Failed States ist zwar nicht neu, sie wird aber mit einer neuen Dringlichkeit
geführt.“ (Schneckener 2004: 510). Dieses Zitat Ulrich Schneckeners zeigt deutlich die
Aktualität des Themenbereichs der „zerfallen(d)en Staaten“. Seit den Terroranschlägen in den
Vereinigten Staaten von Amerika (USA) am 11. September 2001 erscheinen der
Weltgemeinschaft die so genannten failed states in einem ganz neuen Licht: Wurde die
diesbezügliche Diskussion zuvor von humanitären und entwicklungspolitischen
Gesichtspunkten beherrscht, so rücken nun sicherheitspolitische Erwägungen ins Zentrum, da
zerfallen(d)e Staaten als mögliche Rückzugsräume des internationalen Terrorismus gelten
(ebda.). Failed states werden also international zunehmend nicht mehr nur als ein lokales,
sondern vielmehr als ein regionales und sogar globales Problem wahrgenommen
(Schneckener 2004: 510). Entsprechend ist für die internationale Gemeinschaft die
Dringlichkeit gewachsen, Lösungsansätze für die von den zerfallen(d)en Staaten ausgehende
Gefährdungslage zu entwickeln, und somit nahm auch die Relevanz der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit failed states in den letzten Jahren zu – wie zahlreiche
Forschungsprojekte und Veröffentlichungen zu diesem Thema belegen.1
Im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit failed states wirft die Erstellung
von Fallstudien zu einzelnen zerfallen(d)en Staaten, wie sie in der vorliegenden Ausgabe der
Arbeitspapiere des Zentralinstituts für Regionalforschung präsentiert werden, jedoch Fragen
nach einer sinnvollen und angemessenen Vorgehensweise in diesem komplexen
Themenbereich auf: Wie lassen sich im jeweiligen Fall Form und Ausprägungsgrad des
Staatszerfalls qualitativ und quantitativ erfassen; wie können die in vielerlei Wechselwirkung
zueinander stehenden Gründe des Staatszerfalls verständlich beschrieben, wie die vielfältigen 1 Vgl. beispielsweise die guten Überblicke über die Forschungslage in: www.state-failure.de oder bei www.politik.uni-koeln.de/jaeger/forschung/state/html; beide zuletzt abgefragt am 02.08.2007; siehe auch das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag.
Möglichkeiten internationaler Intervention übersichtlich dargestellt werden? Kurz: Welche
Art von Analysemuster kann bei der Erstellung von Fallstudien zerfallen(d)er Staaten
zugrunde gelegt werden?
2. Welche Art von Analysemuster kann bei der Erstellung von Fallstudien zerfallen(d)er
Staaten zugrunde gelegt werden?
Im Folgenden soll schrittweise ein solches Analysemuster zur Erstellung von Fallstudien
zerfallen(d)er Staaten erarbeitet werden. Die einzelnen Stufen dieses nachfolgend skizzierten
Analyseschemas sind:
2.1 Grundlegende Überlegungen zum Staatsbegriff
2.2 Typologie schwacher, zerfallender und zerfallener Staaten
2.3 Quantitative Messung des Zerfallsgrades von failed states
2.4 Interne und externe Gründe für Staatszerfall
2.5 Internationale Bedrohungen durch Staatszerfall und Interventionsmöglichkeiten.
2.1 Grundsätzliche Überlegungen zum Staatsbegriff
Basis jeder politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit failed states sind grundsätzliche
Überlegungen zum Staatsbegriff. Erst eine grundlegende Beantwortung der Frage „Was ist
überhaupt ein Staat?“ erlaubt in weiteren Schritten, gleichsam in Abgrenzung zum voll
funktionierenden Modell eines Staates, die Auseinandersetzung mit schwachen, zerfallenden
oder zerfallenen Formen desselben. Überlegungen zum Staatsbegriff müssen aber stets in dem
Bewusstsein angestellt werden, dass der Staat an sich „nur auf einer relativ hohen
Abstraktionsebene“ (Anter 2003: 35) vorhanden ist und somit eine „bunte Vielfalt“ (ebda.) an
Definitionen existiert. An dieser Stelle kann und soll daher in keiner Weise der Anspruch auf
eine vollständige Darstellung des vielschichtigen Staatsbegriffes erhoben werden, sondern
dieser als Basis für die weitere Entwicklung eines Analysemusters zerfallen(d)er Staaten nur
in seinen Grundzügen umrissen und beleuchtet werden.
Ausgangspunkt jeder Analyse der Staatlichkeit ist heute der moderne, neuzeitliche Staat, wie
er sich im 17. und 18. Jahrhundert allmählich herausgebildet hat (Schneckener 2004: 511).
Dieser wird in wissenschaftlichen Beiträgen häufig vor allem hinsichtlich seiner „Eigenschaft
als Ordnungsidee und Ordnungsinstrument“ (Anter 2003: 35) betrachtet und definiert. Max
Weber (1864-1920) grenzte den Staat von einem politischen Verband dadurch ab, dass dieser
„das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in
Anspruch nimmt“ (Weber 1922). Weber hob also das Gewaltmonopol des Staates besonders
hervor, wohingegen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), fast ein Jahrhundert vor
Weber, den Ordnungsbegriff weitergefasst hatte, indem er formulierte: „Durch die Gewalt,
meint die Vorstellung oft, hänge der Staat zusammen; aber das Haltende ist allein das
Grundgefühl der Ordnung, das alle haben.“ (Hegel 1820). Diese Gegenüberstellung Webers
und Hegels zeigt, dass selbst innerhalb der Betrachtung des Staates mit der Betonung der
Ordnungsidee immer wieder Kontroversen über die Akzentuierung des Begriffes bestanden
haben.
Eine weitere Definition des Staates lieferte Georg Jellinek (1851-1911), indem er festhielt:
„Der Staat ist die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter
Menschen“ (Jellinek 1922: 180 f.), wodurch die drei Elemente des Staates, nämlich das
Staatsgebiet, das Staatsvolk und die Staatsgewalt, beschrieben sind. Von der durch das
Vorhandensein dieser drei Elemente gekennzeichneten „De-facto-Staatlichkeit“ (Schneckener
2004: 511) grenzt Ulrich Schneckener ferner die „De-jure-Staatlichkeit“ (ebd.) ab, die erst
durch die internationale Anerkennung eines Staates gegeben ist.
Anhand dieser Erläuterungen zum Staatsbegriff tritt die diesem innewohnende Komplexität
und Vielfalt deutlich hervor, sodass letztlich nur „Minimalkriterien für Staatlichkeit“
(Schneckener 2004: 511) genannt sind. Diese sollen aber an dieser Stelle als Basis für die
Erstellung eines Analysemusters zerfallen(d)er Staaten ausreichen, zumal der Staatsbegriff im
Rahmen des weiteren Vorgehens in dieser Zeitschrift durch weitere Aspekte ergänzt werden
wird.
Als Zwischenstand sei darauf hingewiesen, dass der Staatsbegriff und die darin enthaltenen
zugehörigen Staatsfunktionen bis heute immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher
Debatten sind: So wird seit einigen Jahren über ein „Ende der Staatlichkeit“ (Anter 2003: 45)
diskutiert, da der Staat sich seit Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend aus ordnungs- und
sicherheitspolitischen Funktionen zurückgezogen habe (Anter 2003: 42-50).2
2 Beiträge zu diesem Themenbereiche finden sich auch bei Voigt (1993).
2.2 Typologie schwacher, zerfallender und zerfallener Staaten
Liefern die bisherigen Betrachtungen zum Staatsbegriff eher die Basis für ein Analysemuster
zerfallen(d)er Staaten, so kann die Einordnung des jeweils untersuchten Staates in eine
Typologie schwacher, zerfallender und zerfallener Staaten schon als ein erster konkreter
Analyseschritt verstanden werden. Doch liegt eine solche Typologie überhaupt schon vor, auf
die sich Bezug nehmen ließe? Tatsächlich haben sogar schon mehrere Autoren Vorschläge
zur Typisierung von failed states unterbreitet.3 Für das hier zu erstellende Analysemuster
zerfallen(d)er Staaten wird die Typologie nach Ulrich Schneckener ausgewählt und im
Folgenden genauer vorgestellt, da sich diese besonders durch Übersichtlichkeit und Klarheit
der Kriterien auszeichnet, wodurch auch eine relativ einfache Handhabbarkeit gegeben ist.
Zunächst muss aber zum besseren Verständnis das Konzept des Staates, welches Schneckener
seiner Typologie zugrunde legt, erläutert werden (Schneckener 2004: 511-513). Dabei erfährt
der bisher in diesem Aufsatz definierte Staatsbegriff bereits eine erste deutliche Erweiterung,
denn Schneckeners Auffassung geht weit über eine Definition mittels des Gewaltmonopols
bzw. der Ordnungsfunktion des Staates hinaus. Beruhend auf dem in den 1950er, 1960er und
1970er Jahren in der Welt der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD) entwickelten Profil bezieht Schneckener weitere „Dimensionen von
Staatlichkeit“ (Schneckener 2004: 512) mit ein, so vor allem den demokratischen
Verfassungsstaat, den Rechtsstaat, den Verwaltungsstaat sowie den Sozial- und
Wohlfahrtsstaat. Schneckener weist selbst darauf hin, dass ein solches Vorgehen folglich
„eine normative Grundorientierung“ (ebda.) beinhaltet und durchaus als problematisch
beurteilt werden könnte. Entsprechend ausführlich rechtfertigt der Autor sein diesbezügliches
Vorgehen (Schneckener 2004: 512 f.), u.a. mit der Gegenfrage, ob sich rechtsstaatliche
Elemente nur deshalb relativieren lassen, „weil sie vermeintlich als ‚westliche Importware’
gelten“ (Schneckener 2004: 512).
Im Einzelnen beschreibt Ulrich Schneckener drei Kernfunktionen des Staates als Grundlage
seiner Typologie (Schneckener 2004: 513 f.):
3 Vergleiche zum Beispiel Erdmann (2003).
1. Die Sicherheitsfunktion: Diese umfasst als „elementare Funktion des Staates […] die
Gewährleistung von Sicherheit nach innen und außen, insbesondere von physischer Sicherheit
für die Bürger“ (ebda.).
2. Die Wohlfahrtsfunktion: Dabei stehen „staatliche Dienst- und Transferleistungen sowie
Mechanismen der Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen“ (ebda.) im Mittelpunkt.
3. Die Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion: Damit wird Bezug genommen auf „Formen der
politischen Partizipation und der Entscheidungsprozeduren […], die Stabilität politischer
Institutionen sowie die Qualität von Rechtsstaat, Justizwesen und öffentlicher Verwaltung“
(ebda.).
Auf der Basis dieses Konzepts des Staates erarbeitet Schneckener vier Typen fragiler
Staatlichkeit (Schneckener 2004: 514 f.):
1. Konsolidierte bzw. sich konsolidierende Staaten (consolidated bzw. consolidating states):
Bei ihnen sind alle drei genannten Kernfunktionen eines Staates im Wesentlichen über einen
längeren Zeitraum hinweg erfüllt. Beispiele sind die westlichen Industrieländer.
2. Schwache Staaten (weak states): Hier ist zwar die Sicherheitsfunktion des Staates noch in
hohem Maße oder wenigstens weitgehend intakt, Wohlfahrts- und/oder Legitimitäts- und
Rechtsstaatsfunktion aber weisen erhebliche Mängel auf, so zum Beispiel in Teilen Ghanas,
Venezuelas oder auch Albaniens.
3. Versagende oder verfallende Staaten (failing states): Bei diesen Staaten ist die
Sicherheitsfunktion im Unterschied zu den zuvor beschriebenen Typen stark eingeschränkt,
Wohlfahrts- und/oder Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion sind aber zumindest noch in
Teilen vorhanden. Beispiele hierfür sind Sri Lanka und Kolumbien.
4. Gescheiterte Staaten, gleichbedeutend mit Staatskollaps (failed bzw. collapsed states): Bei
diesem letzten Typ fragiler Staatlichkeit ist keine der drei genannten Staatsfunktionen mehr in
nennenswertem Ausmaß erfüllt. Dies gilt beispielsweise für Afghanistan, den Irak oder
Somalia.
Ulrich Schneckener baut seine Typologie fragiler Staatlichkeit also entlang der drei von ihm
definierten Kernfunktionen des Staates auf, wobei der Sicherheitsfunktion aber Priorität bei
der Zuordnung eines Staates zu einem bestimmten Typ zukommt (Schneckener 2004: 514).
Dies verdeutlicht auch eine von Schneckener erstellte Tabelle4, die eine schnelle Übersicht zu
der Typologie erlaubt:
4 Anmerkung: + Funktion wird erfüllt +/- Funktion wird leidlich erfüllt
-/+ Funktion wird nur ansatzweise erfüllt - Funktion existiert nicht oder nicht mehr
Abbildung 1: Analyseschema nach Schneckener
Sicherheit Wohlfahrt Legitimität/RechtsstaatKonsolidierte Staaten
+ + oder +/- + oder +/-
Schwache Staaten +/- N.N. N.N. Versagende Staaten -/+ N.N. N.N. Gescheiterte Staaten - -/+ oder - -/+ oder -
Quelle: Schneckener 2004: 515
Zu den Grenzen der Aussagekraft dieser Art von Typologie ist insbesondere, dies betont auch
Schneckener selbst, darauf hinzuweisen, dass darin kein „Stadienmodell“ (Schneckener 2004:
515) zu sehen ist, also ein Staat während seines Zerfallsprozesses keinesfalls alle
beschriebenen Typen schrittweise durchlaufen muss. Insgesamt aber liefert die Typologie
Ulrich
Schneckeners ein sinnvolles und gut handhabbares Instrument für eine erste Einordnung und
Beschreibung zerfallen(d)er Staaten. Dies ist damit ein erster Analyseschritt innerhalb des zu
erstellenden Analysemusters für Fallstudien zerfallen(d)er Staaten, wie es den folgenden
Studien in diesem Heft zugrunde liegt.
2.3 Quantitative Messung von failed states
Liefert Ulrich Schneckeners Typologie schon eine erste Einteilung und Beschreibung
zerfallen(d)er Staaten auf Grundlage einer eher qualitativen Vorgehensweise, so stellt sich in
einem nächsten Analyseschritt die Frage, ob es auch Möglichkeiten gibt, failed states
quantitativ zu messen und zu erfassen. Dies meint insbesondere, inwieweit eine Form von
Berechnungsmodell vorhanden ist, welches es erlaubt, anhand von Indikatoren den Status
oder aber den genauen Gefährdungsgrad eines bestimmten Landes bezüglich des völligen
Staatszerfalls zu bestimmen.
Ein solches Analyseinstrument hat der Fund for Peace entwickelt (Foreign Policy and The
Fund for Peace magazine 2006). Diese Organisation wurde 1957 von dem Investment-Banker
Randolph Campton gegründet, hat ihren Sitz in Washington D.C. und verfolgt das Ziel Kriege
zu verhindern, auch durch Verminderung möglicher Kriegsursachen. Seit 1996 konzentriert
sich der Fund for Peace besonders auf die Lösung von Konflikten, die von schwachen und
zerfallenden Staaten ausgehen.
Zur Beurteilung und quantitativen Messung von failed states wurde vom Fund for Peace die
vierstufige Methode des so genannten Conflict Assessment System Tool (CAST) entwickelt,
bestehend aus:
1. der Erfassung von insgesamt zwölf Indikatoren aus dem ökonomischen, sozialen und
politischen bzw. militärischen Bereich,
2. der Beurteilung von fünf staatlichen Kerneinrichtungen, die als essentiell für die
Aufrechterhaltung der Sicherheit gelten,
3. der Identifizierung möglicherweise überraschend eintretender Ereignisse und
4. der Erstellung einer conflict map auf der Basis der in den Schritten 1-3 gewonnenen
Erkenntnisse, welche abschließend die Risikoeinschätzung der analysierten Staaten bezüglich
des Staatszerfalls veranschaulicht (ebda.).
Der eigentliche sogenannte Failed States Index, der in Form eines Rankings alljährlich
veröffentlicht wird, basiert auf dem ersten Schritt des Conflict Assessment System Tool: Für
jeden analysierten Staat werden pro Indikator null bis zehn Punkte vergeben, wobei zehn
Punkte dem jeweils instabilsten und somit ungünstigsten Zustand entsprechen. Damit kann
jeder Staat nach Erfassung aller zwölf Indikatoren minimal null Punkte und maximal, d.h. hier
zugleich im schlechtesten Fall, 120 Punkte erreichen (ebda). Innerhalb des Indizes werden
dann farblich noch einmal je nach erreichter Punktzahl einzelne Risikogruppen
zusammengefasst: Die höchste Risikogruppe beispielsweise liegt zwischen 90 bis 120
Punkten, die niedrigste zwischen null und 29,9 Punkten. Zur Veranschaulichung dient im
Folgenden ein Auszug aus dem Failed States Index 2007, der hier der Übersichtlichkeit halber
auf die zehn meistgefährdeten Länder und ihre Gesamtpunktzahl beschränkt wird (The Fund
for Peace and Foreign magazine 2007):
Abbildung 2: Failed States Index (Auszug)
Rang Staat Gesamtpunktzahl 1 Sudan 113,7 2 Irak 111,4 3 Somalia 111,1 4 Zimbabwe 110,1 5 Tschad 108,8 6 Elfenbeinküste 107,3 7 Demokratische Republik Kongo 105,5 8 Afghanistan 102,3 9 Guinea 101,3 10 Zentralafrikanische Republik 101,0
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Daten des Failed States Index 2007 (ebda.)
Anhand dieses Auszugs aus dem Failed States Index 2007 ist zu erkennen, dass bei den zehn
meistgefährdeten Ländern afrikanische Staaten deutlich dominieren. Insgesamt bietet der
Failed States Index bei Betrachtung einzelner zerfallen(d)er Staaten die Möglichkeit, eine
erste Risikoabschätzung einzuholen und auch einen Vergleich zu anderen Ländern bei hoher
Fallzahl zu stellen. Wie schon bei der Anwendung der Typologie zerfallen(d)er Staaten nach
Ulrich Schneckener gilt aber auch hier, dass für einen sinnvollen Gebrauch des Failed States
Index immer zugleich dessen Grenzen berücksichtigt werden müssen, d.h. insbesondere die
sich aus der Art der Datengewinnung ergebenden Tatsache, dass ein solcher Index nurmehr
eine Endsumme der gesammelten Informationen wiedergibt, wodurch beispielsweise konträre
Forschermeinungen nicht ausgeführt werden.
Mit der quantitativen Messung von failed states anhand des Failed States Index ist dennoch
somit ein zweiter Analyseschritt innerhalb des zu erstellenden Analysemusters für Fallstudien
zerfallen(d)er Staaten getan.
2.4 Welche internen und externen Gründe bedingen Staatsverfall und -zerfall?
Von unterschiedlichen Autoren wurden ganz verschiedene Erklärungsfaktoren für die
Schwäche und den Verfall oder gänzlichen Zerfall von Staaten angeführt. Im Vergleich zeigt
sich, dass nicht alle Faktoren im selben Maße auf die einzelnen Fälle zutreffen müssen. Im
Einzelnen wird der Regionalforscher/die –forscherin gehalten sein, die jeweiligen Faktoren zu
isolieren und in ihrer Wirkungsweise zu gewichten. Dennoch lassen sich einige Variablen
herausfiltern, die auf die meisten der von uns im Folgenden untersuchten Fälle zutreffen.
2.4.1 Die späten Nachwirkungen von Kolonialismus und Dependenz
„[If] we are to understand the problem of contemporary state failure, we must necessarily start
by trying to understand the contribution of the colonial legacy.” (Mayall 2005: 37). Bei der
Betrachtung der externen Gründe für Staatsverfall bzw. -zerfall ist es unumgänglich, die
ehemaligen Kolonial- und Dependenzbeziehungen zu betrachten. Warum diese historischen
Prozesse für das globale Staatengefüge und speziell für weak states so wichtig sind, zeigt der
durch imperialistischen Eroberungsdrang verbreitete, in politikwissenschaftlicher Hinsicht
bedeutendste Export in die Kolonien: der Staat an sich. Die fundamentalen Prinzipien der
politischen Souveränität, der territorialen Integrität und des staatlichen Gewaltmonopols sind
als das Produkt moderner westlicher Gesellschaften den einverleibten Territorien
aufgezwungen worden – ohne Rücksicht auf bereits bestehende Gesetze, Ordnungen, soziale
Gefüge, Religionen und Weltanschauungen (ebda.). Folge des Zweiten Weltkrieges war ein
gänzlich erneuertes Staatengefüge. In diesem Umfeld der politischen Neuordnungen konnten
sich viele ehemalige Kolonien in Asien und Afrika die Unabhängigkeit erkämpfen. Die
überkommene „projection of power from a distant and alien metropole“ (Mayall 2005: 36)
wich einem neuen Ideal der Selbstbestimmtheit und Autarkie. Antikoloniale Nationalismen in
den „neuen“ freien Gesellschaften trieben diese Entwicklung voran, förderten aber auch
negative Begleiterscheinungen wie die Usurpation der Macht durch wenige machtgierige und
gewaltbereite Gruppen. Beispiele sind die Roten Khmer in Kambodscha oder als besonders
extremes Beispiel für die Forderung des unbedingten Rechts auf Selbstbestimmung der
Genozid der ultranationalistischen Hutu an der Bevölkerungsgruppe der Tutsi in Ruanda
1994. Nach dem Rückzug der Kolonialstaaten gab es im Wesentlichen – je nach individueller
Situation – zwei mögliche Szenarien: Entweder funktionierte der Staat und somit die
eingeführten Institutionen weiter oder der Staat kollabierte. Manche scheiterten bereits an
fundamentaler Güterbereitstellung von Gesetzen, Ordnung sowie minimalem Wohlstand
(Mayall 2005: 38).
Der polemische und in diesem Zusammenhang geläufig gewordene Begriff der Kleptokratie
bezeichnet eine Form der Staatsführung, die den realen Machtmissbrauch der nationalen
Regierungen zwecks der eigenen Bereicherung darstellt. Selbst argumentierend, dass sie als
nationale Regierungen viel eher die Interessen der Bevölkerung bedienen würden als die
ehemaligen Kolonialmächte, bereichern sich jene oftmals systematisch selbst an den
Rohstoffen und Bodenschätzen ihres Landes. Somit werden die ohnehin essentiellen
Probleme der ökonomischen und somit oft auch politischen Abhängigkeit noch verstärkt,
werden ehemals leistungsfähige Volkwirtschaften zu reinen Rohstofflieferanten degradiert
(Mayall 2005: 46). Diese Abhängigkeiten vieler ehemaliger Kolonien resultieren aus der weit
verbreiteten stark ländlichen Prägung in Kombination mit niedrigen Bildungsstandards und
keiner eigenen verarbeitenden Industrie.
Ein weiteres von außen kommendes Problem sind die willkürlichen Grenzziehungen der
Kolonialmächte quer durch ethnische, religiöse und stammesrechtlich zusammengehörige
Gebiete. Bis zum 20. Jahrhundert wurden Grenzen durch Kriege, Heiraten oder ökonomische
Gründe durch die Kolonialmächte in regelmäßigen Abständen verschoben; Territorium war
der legitime Preis des Kriegsgewinns. Inzwischen ist es allerdings zu spät, diese Fehler zu
beheben, da separatistische Bewegungen Motive und Vorteile daraus ziehen könnten (Mayall
2005: 44).
Die genannten externen Gründe sind für sich genommen unvollkommen und unzulänglich für
die Erklärung von Staatsverfall und -zerfall, aber zusammengenommen können sie
ansatzweise die Auswirkungen des Auftreffens der Imperialpolitik auf verschiedene
vorimperialistische Strukturen und Staatsformen erläutern.
Als exotischer Export auf autoritäre und clangeführte Länder wie Afghanistan5 oder Somalia,
in denen Clanloyalitäten und -rivalitäten gesellschaftlich stärkere Wirkungen entfalten als
Staatsgebilde, konnte die Übertragung des europäischen Staatenbildes nur zur Übervorteilung
europäischer Großmachtinteressen auf Kosten der Kolonialstaaten dienen (Mayall 2005: 49).
Die Dependenztheorie ist die klassische Deutung für Staatsverfall/ -zerfall, liefert aber für
sich betrachtet ohne hinzukommende interne Faktoren für staatliches Kollabieren eine
einseitige und oberflächliche Betrachtung.
2.4.2 Security Dilemma und Violent Predation
Wann und wie begünstigen Sicherheitsversagen und daraus resultierendes Gewaltaufkommen
den Zerfall eines Staates? Wenn ein Staat die von Schneckener beschriebene
Sicherheitsfunktion, die als „elementare Funktion des Staates […] die Gewährleistung von
Sicherheit nach innen und außen, insbesondere von physischer Sicherheit für die Bürger“
5 Siehe dazu den Beitrag von Adorf und Kruska in diesem Band.
(Schneckener 2004: 513) nicht mehr gewährleisten kann und es infolge dieses
Sicherheitsversagens zu bewaffneten Gruppenbildungen kommt, müssen die Bürger als
Individuen selbstständig auf die Gewalt reagieren. Sie können sich nicht mehr an staatliche
Stellen richten, da diese ihr Machtmonopol verloren haben, bzw. dieses nicht mehr aus
eigener Kraft behaupten können. Wenn also die öffentliche Ordnung und die staatliche
Autorität zusammenbrechen, versuchen die Bürger selbst für ihre Sicherheit zu sorgen und
bewaffnen sich zum Selbstschutz aus Angst vor dem Sicherheits- und Kontrollverlust des
Staates. Dadurch fühlen sich andere Akteure wiederum bedroht und rüsten auf, wodurch sich
die erste Gruppe bedroht fühlt und weiter aufrüstet. Diese aus Selbstschutz und Angst vor
Gewalt erzeugte Spiralentwicklung wird als Sicherheitsdilemma bezeichnet (Kasfir 2004: 55).
Der parallel hierzu stattfindende Prozess des gewaltsamen Raubes – violent predation –
resultiert nicht aus dem Motiv der Angst, sondern der Gier. Durch den Wegfall staatlicher
Kontrollen und Aufsicht wird diese durch Gier entfesselte Selbstbereicherung erst ermöglicht
und zieht unausweichlich zügellose Gewaltanwendung nach sich.
Als Folge dieser beiden miteinander verbundenen Prozesse fällt der Staat mehr und mehr in
sich zusammen, was wiederum diese beiden selbstzerstörerischen Prozesse begünstigt, welche
erneut den Staatszerfall beschleunigen (Kasfir 2004: 65f.). Dies führt zu einer Spirale der
Gewalt, in deren Verlauf eine stetige Umverteilung ehemals staatlicher Macht an andere
gewaltbereite und gewaltsame Akteure stattfindet. Analytisch ist im Nachhinein nur noch
schwer feststellbar, welcher der beiden Prozesse zuerst und welcher zu welchem Anteil für
den Staatszerfall verantwortlich ist.
2.4.3 Interne Gründe für Staatszerfall – bewaffnete Banden und die Verbreitung von
Schusswaffen
Eine der Hauptursachen für den rapiden Anstieg der Gewalt in einem zerfallen(d)en Staat ist
die weitflächige Verbreitung von small arms – eine Kategorie, die leichte und schwere
Sturmgewehre, Maschinenpistolen, raketengestützte Granatwerfer, leichte Mörser sowie
Landminen u.ä. einschließt. Diese Waffen gelangen auf die Märkte auch schwacher Staaten
durch den internationalen Waffenhandel, welcher globale Schwarzmärkte, Waffenschieber,
aber auch und vor allem die fünf größten Waffenhersteller- und Händlerstaaten6 umfasst.
6 Die fünf größten Waffenhersteller- und Händlerstaaten stellen zugleich die fünf ständigen Mitglieder (USA, Frankreich, Großbritannien, Russland und die Volksrepublik China) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN).
Weltweit, insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges, werden diese Waffen in hohen
Stückzahlen verbreitet und sind vergleichsweise günstig zu erwerben. Aus diesem Grund
gehören sie zur weltweiten Standardausrüstung von Milizen, Guerillas, Todesschwadronen
und ähnlichen paramilitärischen Verbänden (Klare 2004: 116f., 124). Bei schweren
militärischen Waffen wie Panzern, Kampfhubschraubern oder Kampfjets ist qualifiziertes
Personal zur Bedienung und Wartung dieser komplexen Waffensysteme nötig, ganz
abgesehen von den immensen Kosten. Aus diesem Grund wird leicht und preiswert zu
beschaffenden und selbst von Kinderhand zu bedienenden Waffen der Vorzug gegeben.7
Bewaffnete und gewaltbereite Gruppen finanzieren sich oft aus Drogenschmuggel,
Menschenschmuggel, räuberischem Rohstoffhandel (Gold, Silber, Kupfer, Diamanten),
Kidnapping, räuberischer Erpressung, Prostitution, Raubüberfällen und dem illegalen,
international geächteten Handel von unter Artenschutz stehenden Tierarten. Sobald sich diese
Gruppen gegenseitig oder die regulären Regierungstruppen bekämpfen und internationale
Hilfsorganisation in ihrer Arbeit behindern oder ausrauben, ist es für die Regierung kaum
noch möglich Morde, Vertreibungen und Plünderungen an der Zivilbevölkerung zu
verhindern (Klare 2004: 120f.). Die Regierung ist gezwungen finanzielle Mittel von
Entwicklungshilfeprojekten und fundamentalen Versorgungsprogrammen abzuziehen um das
eigene Militär aufzurüsten. Weiter angeheizt wird dieser interne Konflikt durch ethnische und
politische Differenzen in der Gesellschaft, ökonomische Stagnation, Klientelwirtschaft und
ausufernde, weit verzweigte Korruption. Die Privatisierung der Sicherheit als Reaktion auf die
bewaffneten Truppen schafft weitere, bald unkontrollierbare und autark handelnde lokale
Gewaltmonopolisten, deren Interessen sich gegebenenfalls auch gegen den Staat richten
können. Aus diesen Gründen schafft das Erscheinen von paramilitärischen Verbänden in
schwachen, zerfallenden und geteilten Gesellschaften und Staaten einen sprunghaften Anstieg
der Gewalt im umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Verlust der eigenen Autorität des
Staates.
Michael T. Klare konstruiert ein Fünf-Punkte-Programm zur Reduzierung und effektiven
Kontrolle des internationalen Waffenhandels (Klare 2004: 127ff.). Einzeln betrachtet
erscheinen diese Punkte wenig wirksam, doch zusammen genommen könnten sie ein Erfolg
versprechendes Konzept bieten: Transparenz über das Waffenhandelsvolumen und somit die
Waffenhandelsströme ist wünschenswert, aber mit Blick auf den weit verbreiteten und
verzweigten illegalen und somit undokumentierten Handel kaum realisierbar. Der zweite 7 Weltweit werden zurzeit immer noch über 300.000 Kinder zum aktiven Dienst an der Waffe gezwungen (Terre des Hommes o.J.).
Vorschlag, das Angebot zu hemmen bzw. durch Auflagen und Sanktionen einzuschränken, ist
aufgrund der weiter oben beschriebenen fünf größten Waffenlieferanten und ständigen
Mitglieder des UN-Sicherheitsrates nahezu realitätsfern. Die Nachfrage zu hemmen bzw. zu
unterbinden erscheint schon wesentlich sinnvoller, allerdings hatte das Programm der
Economic Community of West African States (ECOWAS) mit eben diesem Ansatz eher
mäßigen Erfolg. Um den Schwarzmarkt einzudämmen und den illegalen Handel mit enorm
hohen Stückzahlen an Waffen zu unterbinden, wäre die aktive Hilfe der betroffenen Staaten
nötig – eine Hilfe, die ohne funktionierende Regierung im Sinne von Souveränitäts- und
Autoritätsausübung nicht oder nur mit fremder Hilfe zu bewerkstelligen ist. Die schwierigste
und wohl auch gefährlichste Aufgabe wäre dann, direkt in den Krisenregionen die Waffen
von den Kämpfern einzusammeln und zu vernichten; entsprechende Programme bei der UN
und bei der Weltbank werden bereits durchgeführt.8 Aber noch wichtiger ist es, diesen
ehemaligen Kämpfern, die häufig über keine zivile Berufsausbildung verfügen, eine
Ausbildung und eine regelmäßige, friedliche Arbeit zukommen zu lassen, Arbeitsmärkte und
schließlich neue Zivilgesellschaften zu schaffen.
Diese Ansätze könnten zerfallen(d)en Staaten Perspektiven bieten, um mit Hilfe externer
Akteure wie Nichtregierungsorganisationen oder Hilfsorganisationen gravierende interne
Probleme wie Gewalt und Kriminalität, paramilitärische gewaltbereite Gruppierungen und
hohes ziviles Waffenaufkommen in den Griff zu bekommen.
2.5 Internationale Bedrohungen und Interventionsmöglichkeiten
2.5.1 Fragile Staatlichkeit als globales Sicherheitsrisiko
Nach der Betrachtung dieser internen und externen Faktoren und Gründe für Staatsverfall
bzw. -zerfall soll nun das Augenmerk auf den Kontext der internationalen
Staatengemeinschaft gerichtet werden: Welche Risiken, Bedrohungen und Gefahren
erwachsen aus fragiler Staatlichkeit?
Zerfallen(d)e Staaten können Ordnung weder nach innen noch nach außen gewährleisten und
werden spätestens seit dem 11. September 2001 als ernst zu nehmendes Sicherheitsrisiko
8 Siehe dazu den Beitrag von Schmalz/Mujic in diesem Band.
eingestuft: „America is now threatened less by conquering states than we are by failing ones“,
so die U.S. National Security Strategy (Washington D.C., 17.9.2002: 1).
Internationale Gefährdungen können aus lokalen Problembereichen wie dem Irak oder
Afghanistan entstehen, wenn diese über lange Zeit ignoriert werden. Zur Ausarbeitung und
Beschreibung der möglicherweise entstehenden Bedrohungen wurde 2004 vom damaligen
UN-Generalsekretär Kofi Annan ein Expertengremium (High Level Panel) beauftragt,
welches sechs „Bedrohungscluster“ identifiziert (Schneckener 2005: 27):
1. wirtschaftliche, soziale und ökologische Bedrohungen,
2. zwischenstaatliche Konflikte,
3. innerstaatliche Konflikte,
4. Weitergabe nuklearer, biologischer und chemischer Waffen,
5. Terrorismus,
6. transnational organisierte Kriminalität.
Schwache oder zerfallende Staaten bieten diesen Bedrohungen Raum und Nährboden um zu
entstehen und stärker zu werden. Sie bieten ohne wirksame staatliche Kontrollen global
operierenden Terrornetzwerken wie Al-Quaida nutzbare, weitestgehend unkontrollierte
Infrastrukturen, Rückzugs- und Ruheräume wie in Pakistan, auf den Philippinen, in
Indonesien oder im Jemen (Schneckener 2005: 29). Um diesen Gefahren zu entgegnen, ist es
notwendig, Staaten vor dem Staatszerfall zu bewahren oder den schon begonnenen Prozess
des Zerfalls aufzuhalten und umzukehren. Für die meisten zerfallen(d)en Staaten ist es schier
unmöglich, sich aus eigener Kraft wieder aufzubauen, zu reformieren und ohne externes
Einwirken eine Verschiebung der aktuellen Macht- und Kräfteverhältnisse zu Gunsten der
eigenen Regierung zu bewirken. Doch was kann die internationale Gemeinschaft tun?
2.5.2 Antworten der internationalen Staatengemeinschaft auf Staatsverfall bzw. -zerfall
Der internationalen Gemeinschaft stehen verschiedene zivile und militärische Mittel und
Möglichkeiten zur Verfügung, um den internationalen Bedrohungen durch failed states
entgegenzutreten.9 Theoretisch überwiegen die zivilen Möglichkeiten (von Einsiedel 2005:
20ff.). Weltweit gibt es in den wohlhabenden Staaten beispielsweise eine relativ hohe
9 Siehe dazu auch die Beiträge von Heckmann/Rayzig/Richter und von Kiefer/Mostowtisch in diesem Band.
Bereitschaft zu humanitärer Hilfe, ohne dass das Prinzip der Staatssouveränität von ihnen in
Frage gestellt wird. Gleichzeitig besteht für schwache Staaten die Möglichkeit, innerhalb
eines internationalen Treuhandsystem (z.B. durch die UN oder einen anderen Staat) nicht
funktionierende Institutionen zu unterstützen oder zu ersetzen (Krasner 2005). Ein weiteres,
häufig eingesetztes Instrument dominierender Akteure ist die (erzwungene) Demokratisierung
eines Staates. Eine andere Möglichkeit ist das nation-building, wobei ein Gefühl der
nationalen Zusammengehörigkeit geschaffen werden soll. Wenn all diese Mittel nicht
funktionieren, können ökonomische Sanktionen gegen einen Staat verhängt werden. Diese
sind allerdings nur wirksam, solange es noch funktionierende Institutionen und Wirtschaft
gibt. Versagt auch diese Maßnahme, kann als letztes Mittel militärisch interveniert werden,
entweder durch Einzelstaatsmissionen oder durch Missionen der UN, die zwar international
legitimiert sind, aber gemessen an ihrem eigenen Anspruch im Schnitt eher mäßigen Erfolg
haben (von Einsiedel 2005: 29).10
2.5.3 Die regionalen Auswirkungen zerfallen(d)er Staatlichkeit
Nachdem der Fokus auf der globalen Dimension für state failure lag, werden nun
abschließend die direkten negativen regionalen Auswirkungen von failed states betrachtet.
Zwei Theorien beschreiben anschaulich die regionalen Auswirkungen zerfallender Staaten:
Laut Diffusionstheorie werden in einen bereits bestehenden Konflikt neue Akteure hinein
gezogen. In der Ansteckungstheorie hingegen werden Nachbarstaaten durch den spill-over-
Effekt des Konflikts „angesteckt“; ein neuer Konflikt bricht deshalb leicht in der
unmittelbaren Nähe eines bereits bestehenden aus (Lake/Rothshild 1998 zitiert nach Lambach
2007: 38). Beide Theorien schließen sich keinesfalls gegenseitig aus, vielmehr scheinen sie
verschiedene Phänomene der gleichen regionalen Gefahr zu beschreiben, die von failed states
ausgeht. Die regionale Bedrohung durch einen solchen Konflikt ist also quantitativ und
qualitativ wesentlich höher als die globale.
Daniel Lambach unterscheidet zwei verschiedene regionale Effekte: langfristige und
kurzfristige Faktoren (Lambach 2007: 39ff.). Langfristig und strukturell gesehen wird das
Militär politische Beziehungen zu wichtigen regionalen Akteuren aufnehmen, Nachbarstaaten
werden sich wahrscheinlich mit bestimmten Volksgruppen solidarisieren; die
Schattenwirtschaft und der Schwarzmarkt werden florieren. Kurzfristig kann es zu
10 Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Schmalz/Mujic in diesem Band.
militärischen Interventionen im umliegenden Grenzgebiet kommen, ebenso zu Gegenschlägen
der angrenzenden Staaten. Flüchtlingsströme, die, sobald sie sich niedergelassen haben, aber
wieder zu den strukturellen Faktoren zählen, und Waffenhandel, ethnologische, soziale und
gesundheitliche Krisen könnten kurzfristig auftreten.
Beeinflusst durch militärische, soziale und ökonomische Netzwerke, durch Flüchtlingsströme,
illegalen Handel und – wo bereits von außen interveniert wurde – durch international tätige
Akteure wie internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen oder andere
Staaten können diese regionalen Konflikte aber schnell einen transnationalen Kontext
bekommen. Lösungsansätze könnten hier der Versuch der (Wieder-) Einführung der
Rechtsstaatlichkeit und der ökonomischen Regulation sein.
3. Ein schematisches Analysemuster zur Erstellung von Fallstudien zerfallen(d)er Staaten – Vorteile und Grenzen
Am Ende dieses Aufsatzes soll kurz noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückgekommen
werden, welche Art von Analysemuster bei der Erstellung von Fallstudien zerfallen(d)er
Staaten zugrunde gelegt werden kann. Die vorausgehenden Kapitel haben Schritt für Schritt
ein einfaches Schema bzw. Raster entwickelt: Die grundlegende Klärung des Staatsbegriffs,
die Einordnung in eine Typologie zerfallen(d)er Staaten, die Möglichkeiten zur quantitativen
Messung von failed states, die Analyse externer und interner Ursachen für Staatszerfall und
schließlich der Blick auf die verschiedenen Interventionsmöglichkeiten. Diese Schritte bzw.
Überlegungen können jeweils als Anhaltspunkt bei der Erstellung von Fallstudien dienen,
indem sie Schritt für Schritt auf den jeweiligen Staat angewandt werden: Welcher Typ von
zerfallen(d)em Staat nach Schneckener liegt vor? Wie wird der betrachtete Staat im Failed
States Index bewertet? Welche externen oder internen Gründe für Staatszerfall lassen sich
erkennen? Und schließlich: Welche Interventionsmöglichkeiten wurden in dem jeweiligen
Staat bislang ergriffen, mit welchen Konsequenzen?
Ein so vereinfachtes Schema, wie es hier vorgeschlagen wird, bietet den Vorteil, beim
Herangehen an den zu analysierenden Staat als Handreichung bei der Strukturierung des
umfangreichen Informations- und Datenmaterials dienen zu können. Aber natürlich hat ein
solches Schema auch seine Grenzen: Es kann nicht alle jeweiligen Spezifika des betrachteten
Landes erfassen. Gerade diese müssen jedoch von den Autoren der Fallstudien gleichsam am
Ende ihres umfangreichen Materialstudiums erkannt, hervorgehoben und berücksichtigt
werden, um zu einer wirklich vollständigen und zutreffenden Analyse des jeweiligen Staates
zu gelangen.
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