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  • 8/3/2019 Wem gehrt die Stadt? - #12

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    WWem gehem gehrt die Srt die Stadtadt?t?(A(Ausgabe Nusgabe Nr. 1r. 12, 6. Dezember 2011)2, 6. Dezember 2011)

    Jrg Mller

    In unserer mittlerweile zwlften Ausgabe geht es im Schwerpunkt um

    Mglichkeiten emanzipatorischer und widerstndiger Stadtpolitiken.

    Untrennbar damit verbunden ist in der entlichen Diskussion seit

    einigen Jahren der Begri Gentrizierung, der den Prozess der

    Aufwertung von Stadtteilen beschreibt, die sich klischeemig an einer

    wachsenden (oftmals grn-alternativen) Infrastruktur von Galerien,

    Biolden und bermigem Latte Macchiato-Konsum ablesen lsst.

    Doch was fr einige ein honigser (T)raum zu sein scheint, wirdfr andere zu einer bitteren Realitt: Gentrizierung fhrt zu einer

    weitreichenden Verdrngung der bisherigen, meist rmeren

    Bewohner_innen zugunsten oder gerade durch konomisch, sozial und

    kulturell Privilegierte. An diesem Punkt knpfen wir an, um

    Notwendigkeiten und Potentiale der Raumaneignung sichtbar zu

    machen.

    Zunchst widmet sich Sebastian Friedrich dem Buch Wir bleiben alle

    von Andrej Holm und streicht die Vielschichtigkeit vonGentrizierungsprozessen und die Notwendigkeit breiter Bndnisse

    fr eektiven Widerstand heraus. Die Besprechung Huserkampf ist

    doch Achtziger von Franziska Plau fokussiert die Dynamiken

    stdtischer Machtverhltnisse am Beispiel des Ungdomshuset in

    Kopenhagen und hebt insbesondere die internationale Vergleichbarkeit

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    von Verdrngungsprozessen hervor. Ebenfalls fr auf andere Stdte

    bertragbar hlt Sebastian Kalicha in seiner Rezension zu Wie bleibt

    der Rand am Rand von Robert Sommer den Umgang mit

    Obdachlosigkeit in Wien und die erschreckenden bis absurden

    Versuche, Menschen, die nicht ins Stadtbild passen, aus denkonsumorientierten Zentren zu vertreiben. Davon ausgehend widmen

    sich zwei Autor_innen Publikationen zu Mglichkeiten der

    widerstndigen Raumaneignung. Konkrete Freiraumpolitiken und ihre

    Aushandlungen schildert Ulrich Peters in seiner Rezension zu Gender

    und Huserkampf und macht dabei deutlich, dass auch in linken

    Zusammenhngen ein Bewusstsein darber existieren muss, dass

    Freirume keine machtfreien Orte sind. Ein Beispiel fr individuelle,

    allnchtliche Raumaneignung betrachtet Jorane Anders in Der

    erschriebene Aufstand: Grati und Street-Art als Rckeroberung der

    Stadt.

    Eine traurige Aktualitt erhlt der von Tompa Lska rezensierte

    Sammelband Kaltland und die darin enthaltene Auseinandersetzung

    mit den Pogromen gegen Migrant_innen in den 1990er Jahren

    angesichts der erschtternden Morde durch organisierte Nazis und

    des Umstands, dass in der entlichen Debatte mal wieder

    Rassismus blo als gesellschaftliches Randphnomen behandelt wird.Einen gelungenen Blick in die Geschichte linker Arbeiter_innenkmpfe

    leistet nach Ismail Kpeli das Buch Sozialismus und Arbeiterbewegung

    in Deutschland: Von den Anfngen bis 1914. Mit welchen

    Normalisierungsstrategien die Bundeswehr ihre Nachwuchssorgen zu

    lsen versucht, stellt anschlieend Heinz-Jrgen Vo in seiner

    Rezension zu An der Heimatfront ausfhrlich dar. Nicht um Krieg, aber

    dafr um die Frage, wie Psyche und die Erndung des Anderen

    zusammengedacht werden knnten, geht es dann in Adi Quartis

    Rezension Fabelhafte Psyche! zu einem aktuell erschienenen Bndchen von Jacques Derrida. Schlielich denkt mal wieder Gabriel Kuhn

    allerhand zusammen. In seiner Rezension von Pogo, Punk und Politik

    stellt er sich gegen die weitverbreitete Annahme, Punk sei unpolitisch.

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    Zum Tode von Georg Kreisler, der in gewissem Sinne sehr politischen

    Punk machte, mchten wir die Rezension zu seiner vor zwei Jahren

    erschienenen Autobiographie Letzte Lieder aus unserem Archiv als

    eine Art Nachruf ans Herz legen.

    Und, wie immer: Wer rechtzeitig ber unsere neuesten Ausgaben

    informiert werden mchte, kann sich in der Spalte rechts mit E-Mail-

    Adresse fr den Newsletter eintragen.

    Und jetzt viel Spa beim kritischen Lesen!

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    http://www.kritisch-lesen.de/2009/10/letzte-lieder/http://www.kritisch-lesen.de/2009/10/letzte-lieder/
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    SStadtadt fr alle!t fr alle!

    Andrej Holm

    Wir bleiben Alle!Gentrifizierung - Stdtische Konflikte um Aufwertung und Verdrngung

    Von Sebastian Friedrich

    Der Stadtsoziologe Andrej Holm fhrt auf knapp 80 Seiten in dieVerdrngungsprozesse aus Stadtteilen ein und zeigt zugleich konkrete

    Handlungsperspektiven auf.

    Im Mrz 2008 titelte das ehemals alternative Berliner Stadtmagazin

    ZITTYNeuklln rockt! und fhrte die Lesenden durch den derzeit

    spannendsten Stadtteil Berlins. Zwar funktionierte der Grte der

    Berliner Bezirke noch whrend der Sarrazindebatte im Herbst 2010

    als Inbegri fr einen Problembezirk, dennoch breiten sich genau

    dort hippe Cafs, Ateliers und Szenekneipen aus, wo es im Schattender Rtli-Schule nur so vor Jugendgangs und Parallelwelten wimmeln

    msste, wrde man nach so manchen Medienberichten gehen. Bereits

    jetzt ernen erste Biolden und gekoppelt mit mehr oder weniger

    notwendigen Sanierungen steigen die Mietpreise rapide an, die sich

    viele rmere Bewohner_innen nicht mehr leisten knnen. Aus Protest

    gegen Verdrngungsprozesse werden Autos angezndet, Drohungen

    gegen Tourist_innen und Yuppies an Huserwnde gesprht oder

    neue Szenekneipen mit Farbe verschnert oder entglast. Neben diesenmedial verbreiteten Formen vernetzen sich jedoch auch zunehmend

    Betroene und Aktivist_innen, gehen Bndnisse ein, geben

    Stadtteilzeitungen heraus und versuchen somit auf anderen Ebenen

    Widerstand gegen Verdrngung zu organisieren. Ob Autozndler_in

    oder Stadtteilaktivist_in: Beiden sei ein 2010 bei Unrast erschienenes

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    schmales Bndchen empfohlen, das erhellende Einblicke in den

    komplexen Prozess der Gentrizierung liefert: Wir Bleiben Alle! von

    Andrej Holm.

    GenGentrificatiotrification-Prn-ProzesseozesseDer Begri Gentrication wurde erstmals in den 1960ern verwendet

    und machte aufgrund einer Renaissance der Innenstdte whrend der

    letzten Jahre Karriere fern von stadtsoziologischen Spezialdiskursen.

    Der Begri beschreibt einen Prozess, bei dem sich symbolische

    Aufwertung, Inwertsetzung und Verdrngung vollziehen. Idealtypisch

    luft Gentrication folgendermaen ab: Zunchst ziehen

    Knstler_innen, Studierende und Alternativszenen in einen maroden

    Stadtteil, weil die Mieten gnstig sind und sie sich dortEntfaltungsmglichkeiten erhoen. Diese Pioniere ernen

    Szenekneipen, Buchlden und Ateliers, worauf sich das Image des

    Stadtteils von Problemkiez in Szenekiez ndert. Die Stadtteile

    werden interessant fr Investor_innen und Besserverdienende: Aus

    einer symbolischen Aufwertung durch Modernisierungen der meist

    unsanierten Wohnungen wird eine bauliche Modernisierung. Damit

    steigen die Mieten, was zur Verdrngung der dort lebenden

    Bewohner_innen und spter hug auch der Pioniere fhrt. So

    geschehen etwa in Prenzlauer Berg, wo 15 Jahre nach Beginn der

    Modernisierungen lediglich 20% der frheren Bewohner_innen leben

    (vgl. S. 10). Dieser Prozess wird jedoch nicht immer nur durch

    symbolische Aufwertung (also den Imagewechsel) eingeleitet oder

    ist allein auf den Zuzug von Studierenden und Knstler_innen

    zurckzufhren. Holm stellt klar, dass Gentrication in

    Sanierungsgebieten oft entlich gefrdert wird.

    Gentricationprozesse durchlaufen nicht immer den klassischen Weg.So knnen etwa Bronutzungen und Luxuswohnprojekte in ehemaligen

    Industrieanlagen auch zu Verdrngungsprozessen in umliegenden

    Gebieten fhren hier funktioniert Gentrication ganz ohne

    symbolische Aufwertung durch Pioniere. Auch kann Gentrication

    light verlaufen, wie etwa in Berlin-Kreuzberg, wo die Aufwertung

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    zwar noch nicht zu Verdrngung gefhrt habe, aber sich durch

    steigende Mietbelastungsquoten eine kleinteilige soziale Polarisierung

    und somit eine Verdrngung aus dem Lebensstil (S. 18) stattndet.

    kkoononomische und kulturmische und kulturelle Begrndelle BegrndungenungenNach der Beschreibung verschiedener Aufwertungs-Prozesse widmet

    sich Holm Erklrungsmodellen jenseits platter deterministischer

    Erklrungen, nach denen Gentrication schlicht ein natrlicher

    Prozess sei. Holm stellt klar, dass die Fragen nach den Ursachen keine

    abgehobene akademische Diskussion ist, sondern direkten Einuss auf

    Gegenstrategien hat. Wird etwa den Pionier_innen die Hauptschuld

    an Verdrngungsdynamiken gegeben und ihr Zuzug als urschliches

    Problem diagnostiziert, wren Widerstandsformen vor allem inDeattraktivierungsstrategien zu suchen, um das Image des Stadtteils

    zu verschlechtern. Holm erteilt diesem verkrzten Verstndnis eine

    Absage und befasst sich zunchst im zweiten Kapitel mit makro- und

    mikrokonomischen Begrndungszusammenhngen. Von

    traditionellen Wohnungsbauunternehmen htte sich der

    Immobilienmarkt zunehmend in ein Feld fr Spekulationen entwickelt,

    bei dem eine Immobilienanlage nicht mehr langfristig kalkulierbares

    Einkommen sichern soll, sondern schnelle Wertsteigerungen erhot

    werden.

    Holm spart nicht die kulturellen Logiken bei Aufwertungsprozessen

    aus. Statt aber schlicht das kontrastreiche Bild der Studenten,

    Knstler, Photographen als Schuldige zu zeichnen, blickt er auf die

    Schattierungen. So ndet hug eine Inwertsetzung von Subkulturen

    statt, indem etwa Ausdrucksformen der Hausbesetzer_innenszene in

    Marketingstrategien berfhrt werden. hnliches stellt Holm beim

    erfolgreichen Widerstand im Hamburger Gngeviertel fest, bei demes Aktivist_innen des Recht-auf-Stadt-Bndnisses im Sommer 2009

    gelang, durch medial gut vermittelte Besetzungen von Leerstand die

    Hamburger Brgerschaft dazu zu bringen, den Verkauf der Gebude

    an einen Investor rckabzuwickeln. Die knstlerfreundliche Lsung

    im Gngeviertel sollte aber nicht nur das Investitionsklima retten,

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    sondern wurde gleich mit in das Marketing fr die Marke Hamburg

    bernommen. (S. 36) Am Ende des Kapitels zu den kulturellen

    Logiken stellt Holm drei mgliche Anti-Gentrication-Aktivitten zur

    Diskussion: Nach einer Strategie der Dislokation sollten nicht-

    gentrizierbare oder bereits aufgewertete Rume als Platz fr Aktivitten gewhlt werden. Zweitens zeige das Beispiel der

    Kampagne KPI bleibt Risikokapital, dass Kulturen der

    Abschreckung durchaus funktionieren knnen bis heute haben sich

    fr das Hausprojekt in Berlin-Mitte keine Investor_innen gefunden,

    andererseits zeige das Beispiel der Roten Flora in St. Pauli, wie solche

    Widerstandsformen in das wilde Image eines Stadtteils integriert

    werden knnen. Eindringlich schlgt Holm drittens eine Kultur des

    Widerstands vor:

    Statt sich in immer wiederkehrenden Diskussionen ber

    die eigene Pionierrolle in stdtischen

    Aufwertungsprozessen den Kopf zu zerbrechen, wre es

    hilfreicher, wenn Knstler_innen oder auch

    Hausbesetzer_innen sich fter mal fragten, wie sie

    Stadtteilinitiativen und Nachbarschaftsorganisationen

    praktisch untersttzen knnen. (S. 38f)

    PPoliolitische Intische Interteressen und wissenschaftliche Diskurseessen und wissenschaftliche Diskurse

    Gentrication ist jedoch nicht nur durch konomische

    Angebotsbegrndungen und symbolische Aufwertungen begrndbar.

    Hinzu kommt eine Politik der Aufwertung, bei der Planungsvorgaben,

    Genehmigungsverfahren, Subventionen und stadtpolitische Leitbilder

    eine Rolle spielen. Im Sinne einer unternehmerischen Stadtpolitik

    werden Stdte wie Berlin zur Creative-City konstruiert und gegen

    andere Stdte im nationalen und globalen Wettbewerb derverschiedenen (Stadt-)Unternehmen in Stellung gebracht. Hegemonial

    ist in der Stadtpolitik eine allgemeine Wachstumsorientierung. Auch

    ein Blick auf ordnungs- und machtpolitische Strategien oenbart

    komplexe Taktiken zur Durchsetzung von Interessen. So dient die

    gegenwrtige Stadtpolitik der Ordnungspolitik und

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    Aufstandsbekmpfung. Geschickterweise gehen Aufwertungs- und

    Verdrngungsprozesse mit (lokaler und temporrer) sozialpolitischer

    Befriedung einher, indem mit migem Erfolg versucht wird, mittels

    der Orientierung einer Sozialen Mischung zu intervenieren. Durch

    die vermeintliche Einbeziehung der Bewohner_innen soll einekommunikative Stadtplanung ermglicht und dadurch die

    Mieter_innen diszipliniert werden. Zu

    Recht stellt Holm fest, dass Konstellationen, in denen alle

    gleichberechtigt miteinander reden und gemeinsame Lsungen

    suchen, () jedoch strukturelle Unterschiede [negieren] (S. 49).

    Nach den Komplexen konomie, Kultur und Politik widmet sich Holm

    im fnften Kapitel den diskursiven Legitimationsstrategien von

    Gentricationprozessen. Um den unangenehmen Beigeschmack despejorativen Begris der Gentrication etwas entgegen zu setzen, wird

    zum einen versucht, Verdrngungsdynamiken zu leugnen oder zu

    verharmlosen, indem etwa auf die durchaus bestehenden

    Schwierigkeiten bei der Messung von empirischen Verdrngungen

    verwiesen wird. Ein anderer Versuch besteht in

    Romantisierungsversuchen, bei denen behauptet wird, Problemkiezen

    wrde ein bisschen Gentrication ganz gut tun und doch alles ganz

    schn sei, wenn es eine soziale Mischung in einem Stadtteil gebe.Holm entgegnet, dass diese soziale Mischung nur selten stattnde.

    Oft sei das Gegenteil der Fall; so entstehen etwa durch rassizierende

    Verdrngungen von People of Color und Schwarzen Bewohner_innen

    weie Ghettos.

    WWas tun?as tun?

    Die beiden abschlieenden Kapitel befassen sich mit der Frage, was

    gegen Verdrngungsprozesse getan werden kann. Aufwissenschaftlicher Ebene fehlt es vor allem an methodischen

    Werkzeugen zur Untersuchung von direkten und indirekten

    Verdrngungsdynamiken. Der Soziologe Holm wendet neben den

    Fragen nach wissenschaftlichen Interventionen den Blick aber

    insbesondere auf konkrete aktivistische Strategien, denn [s]o

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    vielschichtig und komplex stdtische Aufwertungsprozesse auch sein

    mgen, im Kern steht fr viele vor allem konomisch benachteiligte

    Haushalte immer die Frage, ob sie bleiben knnen oder gehen

    mssen. (S. 67) Wir Bleiben Alle! lautete etwa die Parole von

    Mieter_innen in Berlin-Prenzlauer Berg Anfang der 1990er Jahre, aufdie auch gegenwrtig bei Kampagnen Bezug genommen wird. Holm

    mahnt jedoch an, dass sich solche Kampagnen nur dann zu einer

    Klammer stadtpolitischer Forderungen entwickeln, wenn subkulturelle

    Selbstbezogenheiten seitens vieler Projekte und Initiativen

    berwunden werden.

    Gegen Verdrngung weist Holm auf die Mglichkeit der Kombination

    von Deattraktivierungsstrategien und sozial orientierter

    Wohnungspolitik, Mieterberatungsangeboten und die Verhinderungbeziehungsweise Verzgerung umstrittener Bauprojekte hin. Ein

    berwiegend gelungenes Beispiel stellen die Recht auf die Stadt-

    Kampagnen dar, die Anti-Gentrication-Kmpfe und Widerstand gegen

    berwachung und Privatisierung mit der Forderung nach Teilhabe

    insbesondere fr die Marginalisierten verbinden. In Hamburg etwa

    umfasste ein solches Bndnis ber 20 Gruppen: Von autonomen

    Initiativen bis zu Kleingrtner_innen. Das Konzept biete einen

    geeigneten Rahmen fr stdtische Konikte im Neoliberalismus. Holmempehlt horizontale Netzwerkstrukturen, breite

    Massenmobilisierungen und inhaltliche Fokussierungen auf

    Selbstermchtigungen.

    Wir Bleiben Alle! vereint berzeugend wissenschaftliche und

    aktivistische Aspekte und Interventionsmglichkeiten. Es gelingt

    Andrej Holm auf wenigen Seiten in geballter Form die

    Erscheinungsformen, Begrndungszusammenhnge und

    Mglichkeitsrume sowohl fr interessiertes Fachpublikum als auchfr Aktivist_innen verstndlich darzustellen. Der besondere Vorzug des

    Bandes liegt darin, dass Holm dennoch nicht vereinfacht und komplexe

    Zusammenhnge verkrzt, sondern seine Ausfhrungen profund durch

    zahlreiche Beispiele veranschaulicht. Ob der Seltenheit ist es geradezu

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    beeindruckend, dass ber die Vermittlung wissenschaftlicher Diskurse

    hinaus konkrete Handlungsperspektiven diskutiert werden.

    **

    Wer sich weiter mit dem Thema befassen mchte, sollte regelmig

    den Blog von Andrej Holm besuchen.

    Andrej Holm 2010: Wir bleiben Alle! Gentrizierung - Stdtische

    Konikte um Aufwertung und Verdrngung. Unrast Verlag, Mnster.

    ISBN: 987-3-89771-106-8. 80 Seiten. 7.80 Euro.

    [Link zum Artikel]

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    http://gentrificationblog.wordpress.com/http://www.kritisch-lesen.de/?p=3197http://www.kritisch-lesen.de/?p=3197http://gentrificationblog.wordpress.com/
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    Huserkampf ist doch AHuserkampf ist doch Achchtzigertziger

    Peter Birke / Chris Holmstedt Larsen (Hg.)

    Besetze deine Stadt! BZ din by!Huserkmpfe und Stadtentwicklung in Kopenhagen

    Von Franziska Plau

    Besetze deine Stadt fragt nach den Ursachen und Wirkungen der

    heftigen Proteste nach der Rumung des Ungdomshuset und zeigt,

    wie die Kmpfe um Freirume auf eine neoliberale Stadtentwicklung

    Bezug nehmen (knnen).

    Es mag sein, dass die Bltezeit der Hausbesetzer_innenbewegung in

    den 1980er Jahren und Auslufer davon hchstens noch Anfang der

    1990er Jahre lagen. Es mag sein, dass es seit der sogenannten

    Berliner Linie nicht nur in Berlin schwer bis unmglich geworden ist,

    neubesetzte Huser lnger als einen Tag zu halten. Es mag sein, dasses kaum noch besetzbare, leerstehende Huser in kommunalem Besitz

    gibt. Es mag sein, dass einfach die Radikalitt und Dringlichkeit fehlt,

    andere Themen strker im Vordergrund stehen oder es schlicht keine

    Huserkampfbewegung mehr gibt.

    Dennoch wird es heute zunehmend wichtiger, die durch die damaligen

    Besetzungen errungenen Freirume auch weiterhin zu verteidigen.

    Seit den 80er Jahren wurden zumindest die bereits besetzten Huser

    mehr oder weniger in Ruhe gelassen und die meisten davon wurdenlegalisiert und erhielten Nutzungs-, Miet- oder Pachtvertrge. In vielen

    deutschen Stdten und Kommunen nimmt aber die Tendenz zu,

    stadteigene Immobilien an private Investor_innen zu veruern, sei

    es nun, als Finanzspritze fr die leeren Kassen oder im Rahmen von

    gezielten Aufwertungs- und Stadtentwicklungsprogrammen. Mit dem

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    Verkauf werden die Eigentumsrechte aus der politischen Hand

    gegeben und eine Rumung zur privatrechtlichen Angelegenheit

    gemacht. Fr mehr und mehr ehemals besetzte Huser, die heute

    wichtige Orte alternativer Lebensentwrfe und unkommerzieller

    Kultur sind, wird dieses Bedrohungsszenario tatschliche juristischeRealitt.

    Ein uerst prominent gewordenes Beispiel hierfr ist das

    Ungdomshuset in Kopenhagen. Das 1982 besetzte und dann von der

    Stadt freigegebene autonome Jugendhaus wurde im Jahr 2000

    verkauft und im Mrz 2007 gerumt. Auf die Rumung folgten heftige

    Ausschreitungen und monatelange Proteste, die Polizist_innen,

    Politiker_innen, aber auch die Aktivist_innen selbst berraschten.

    Wie und wieso es dazu kam ist daher die zentrale Frage, die den

    Ausgangspunkt fr das Buch Besetze deine Stadt! BZ din By! bildet.

    In diesem Buch versammeln die Herausgeber Peter Birke und Chris

    Holmsted Larsen Analysen ber den ersten groen Aufruhr des 21.

    Jahrhunderts in Dnemark (S. 53) und Gesprche mit Aktivist_innen,

    die sich in der einen oder anderen Form fr das Ungdomshuset

    eingesetzt haben.

    Die Dynamik des WDie Dynamik des Widerstandsiderstands

    Die Interviews werden mit sehr unterschiedlichen Beteiligten gefhrt,

    darunter Nutzer_innen des Hauses, ein Vertreter einer

    Nachbar_innengruppe, ein Politiker aus der Kopenhagener

    Brgerversammlung und deutsche Untersttzer_innen, die sich in

    Kopenhagen und Hamburg eingebracht haben. Ein eigenes Kapitel

    wird den Bewohner_innen der Freistadt Christiania gewidmet, einem

    seit 1971 besetzten Gebiet in Kopenhagen, in dem mittlerweile um

    die 1000 Bewohner_innen autonom leben. Dadurch werden sehr

    unterschiedliche Perspektiven auf das Ungdomshuset, die Rumung,

    die Proteste, und auch die Stadtentwicklung in Kopenhagen

    dargestellt. Es werden Innenansichten zu den Straenkmpfen und

    Auseinandersetzungen mit der Polizei und den Verhandlungen mit der

    Politik eingebracht, sowie die Bedeutung der transparenten

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    entlichkeitsarbeit, der vielfltigen kreativen Aktionen, der breiten

    Bndnisse und der Untersttzung hervorgehoben. Die Rumung hatte

    eine starke Politisierung zur Folge (Pltzlich war das Haus weg, aber

    statt 100 waren es nun 1.000 AktivistInnen (S. 103)), die sowohl

    viele linke Gruppen mit einem gemeinsamen Ziel zusammenbrachte,als auch Anlass fr viele bisher eher passive Bevlkerungsgruppen

    bot, ihren Unmut ber die rechte Monokultur (S. 70), die neoliberale

    Stadtverwertung und die Ausgrenzung vieler Bevlkerungsgruppen zu

    artikulieren.

    Sehr aufschlussreich sind dabei vor allem Peter Birkes Analysen, die

    das Geschehen um das Ungdomshuset in eine breitere und auch

    globale Entwicklung einbetten und so Zusammenhnge aufzeigen,

    die erkennen lassen, dass es bei den massiven Protesten um mehr ging,als nur um das Haus als solches.

    Das Das UUnnternehmen Sternehmen Stadtadt als globales Phnot als globales Phnomenmen

    Seit ungefhr Mitte der 1990er Jahre hielt in Dnemark wie auch

    in Deutschland eine politische und wirtschaftliche Haltung Einzug,

    die meist als Neoliberalisierung bezeichnet wird. Charakteristisch ist

    dabei eine politische Ausrichtung entsprechend (kapitalistischer)

    konomischer Logiken und eine radikale Marktorientierung. Auch dieStadt wird unter diesen Gesichtspunkten betrachtet und in

    Kopenhagen (wie brigens auch in Hamburg) als Unternehmen

    ausgerufen. Zentrale stdtische Versorgungsleistungen, unter

    anderem eben auch die Wohnungsversorgung, werden privatisiert und

    den Krften des Marktes berlassen. Das uert sich in dem Verkauf

    kommunaler Wohnungs- und Immobilienbestnde, in dem Rckgang

    oder sogar Wegfall von sozialem Wohnungsbau und eben ganz

    marktkonform - in (teilweise exzessiv) steigenden Mieten vor allem imInnenstadtbereich.

    Im Unternehmen Stadt stehen nicht mehr die Bedrfnisse der

    breiten Bevlkerung im Vordergrund, sondern das eziente

    Funktionieren und wirtschaftliche Wachstum der Stadt an sich. Das

    zeigt auch die Vermarktung der Stadt, deren Ziel es ist, die

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    innovativen, reichen und beweglichen Betriebe und

    Bevlkerungsschichten anzuziehen bzw. zum Bleiben zu bewegen,

    immer in der Konkurrenz mit anderen urbanen Zentren (S. 22). Um

    diese anzuwerben, wird die Stadt zur Marke gemacht und durch

    Prestige-Objekte, die die Autoren als Leuchttrme (S. 34)bezeichnen, signalisiert, dass es sich um innovative, oene und

    moderne Weltstdte handelt. Die Funktion dieser Leuchttrme ist es

    dabei zum einen, nach auen zu strahlen; zum anderen frieren sie

    den utopischen Gehalt der Vorstellungen ein, die mit der neuen Stadt

    verbunden sind. (S. 40). In Kopenhagen steht hierfr zum Beispiel die

    von einer Stiftung des grten dnischen Konzern Mrsk gespendete

    Neue Oper; in Hamburg die Elbphilharmonie und in Berlin Objekte wie

    die O2-Arena. All diese die Parallelitt ist einfach erstaunlich! sind

    eingebettet in neugeschaene Wohn-, Arbeits- und Vergngungsviertel

    fr die anzuwerbende kreative Klasse: was in Berlin Mediaspree und

    in Hamburg Hafencity genannt wird, heit in Kopenhagen restad,

    ein auf der Insel Amagar komplett neu entstehendes Viertel, das als

    Standort fr eine Mischung aus Kultur, Kommerz, teurem Wohnraum,

    prekrer Dienstleistungsarbeit und gehobenen Arbeitspltzen (S. 46)

    geschaen wird. Immer in Hafennhe gelegen bzw. auf ehemaligen

    Hafengebieten erbaut, zeigt sich nicht nur die Ablsung der

    Industriegesellschaft, sondern auch ein globaler Bezug dertransnationalen Stadt (S. 41).

    GenGentrifizierung und die krtrifizierung und die kreatieativve Se Stadtadtt

    Die kreative Stadt (S. 43) zeichnet sich gleichzeitig durch einen

    oenen, liberalen und alternativ angehauchten Flair aus. Dafr knnen

    selbst Projekte wie Christiania vereinnahmt werden: Ich fhre die

    Investoren durch die freie Stadt, durch Christiania. Wenn kreative

    Leute und Gruppen dorthin gehen und diese alternative Architekturerleben, dann kann ich schnell ein Aueuchten in ihren Augen sehen:

    Die Zeit ist reif frs Geschft! wird beispielsweise ein Vertreter der

    stdtischen(!) Marketing-Agentur Wonderful Copenhagen zitiert (S.

    20). Dadurch wird der subtile Aufwertungsprozess namens

    Gentrizierung in vielen alternativen Vierteln in Gang gesetzt, wie

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    eben auch in Nrrebro, wo das Ungdomshuset stand. Das Viertel

    Nrrebro passt ganz klassisch in die Aufwertungsschablone: ein

    verarmtes, heruntergekommenes, innenstadtnahes ehemaliges

    Arbeiter_innenquartier mit Altbaubestnden, das von jeher als linke

    Hochburg fr die Arbeiter_innenbewegung ebenso wie fr dieBesetzer_innenbewegung als Schauplatz diente und sich so als ein

    lebendiges Zentrum alternativer Kultur entwickelte. Die Geschichte

    der gentrizierungstypischen Invasionszyklen soll an anderer Stelle

    erzhlt werden. Viel wichtiger und oft bersehen ist, dass am Ende

    der Verdrngungsprozesse selten eine vllig homogene neue

    Sozialstruktur steht, sondern diese eher zu einer Zersplitterung,

    Ausung und Individualisierung stdtischer Rume (S. 36) fhren.

    In einigen schicken, modernisierten Straenzgen siedeln sich

    Knstler_innen, Designer_innen und IT-Fachleute an, einige Ecken

    weiter wohnen weiterhin Erwerbslose, Migrant_innen und schlecht

    bezahlte Arbeiter_innen. Diese kleinrumliche Polarisierung

    (ebenda) spiegelt sich in den widersprchlichen Zuschreibungen als

    hippes Viertel einerseits und als fremd und gefhrlich

    andererseits wieder und birgt ein enormes soziales

    Spannungspotenzial.

    Und obwohl Kopenhagen boomt, geht das neoliberale Versprechen,dass wirtschaftliches Wachstum den Lebensstandard fr alle

    Bevlkerungsschichten steigern wrde, nicht auf. Soziale

    Unterschiede werden vielmehr verschrft. Und so ist es kein Wunder,

    dass das Bild der kreativen Stadt brchig wird. An dieses Brchen

    und Rissen des Images der Stadt gilt es anzusetzen:

    Es ist kein Zufall, dass die Subversion der Bilder dort am

    strksten ist, wo sich die Stadt-Realitten strker brechen

    als anderswo. Die Rebellion fand in den Stadtteilen statt,die frher und heute an der Schwelle zwischen der

    reprsentativen Innenstadt und der untergrndigen

    anderen Stadt liegen. (S. 35)

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    FFrreirume als Gegeneneirume als Gegenentwrftwrfee

    Vor diesem Hintergrund stellt das Buch auch die Bedeutung von

    Freirumen dar und die Beschreibung der Kultur des Ungdomhuset

    hebt einige Aspekte davon hervor: Selbstverwaltung,

    basisdemokratische Entscheidungsprozesse, bewusster Umgang mit

    Hierarchien und Diskriminierung, unkommerzielle Veranstaltungen

    auch als Plattform fr Knstler_innen jenseits des Mainstream,

    niedrige Preispolitik um die Teilhabe Vieler zu ermglichen,

    Vermittlung politischer Inhalte um der gedankenlosen Feier- und

    Konsumkultur etwas entgegenzuhalten. Es geht darum, einen Ort zu

    schaen, in dem eine Gegenkultur, ein anderes Leben, andere Formen

    des Zusammenlebens mglich werden, die auf anderen Werten und

    Normen als den gesellschaftlich Praktizierten basieren und so dengesellschaftlichen Konventionen etwas entgegenzusetzen.

    In dem lesenswerten Schlusskapitel Fallstricke der Freiheit wird

    die alltgliche Realitt in Hausprojekten, autonomen Zentren und

    selbstverwalteten Veranstaltungsorten vor dem Hintergrund dieser

    und anderer politischer Ansprche kritisch reektiert. Ein Freiraum

    ist durch seine bloe Existenz und der Abgrenzung nach auen nicht

    automatisch frei von den kritisierten gesellschaftlichen Normen,

    Hierarchien und Machtverhltnissen. Diese sind immer und berall vorhanden (in informellen, alternativen Strukturen oftmals viel

    unsichtbarer), knnen allerdings hinterfragt, verhandelt, und

    umdeniert werden. Und eben genau da(fr) sollte ein Freiraum

    geschaen werden: fr eine kontinuierliche Arbeit daran, die

    Machtverhltnisse, geltenden Normen und die Art, zusammen zu

    leben, zu verndern (S. 200). Und letztendlich geht es damit auch

    immer ein wenig um einen Ort, an dem ein anderes Leben, ein anderes

    Miteinander, eine andere Gesellschaft ausprobiert werden kann.Dieser innovative, kreative und alternative Ansatz ist nicht vor

    Vereinnahmungsangrien gefeit, wie das oben erwhnte Beispiel von

    Christiania zeigt. Wichtig ist es deshalb fr solche Projekte auch,

    nicht isoliert in dem geschtzten Rahmen des Freiraums zu agieren,

    sondern in aktiver Auseinandersetzung auf den sie umgebenden

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    gesellschaftlichen Raum Bezug zu nehmen und statt zu einem

    Standort- zu einem Strfaktor zu werden (S. 194).

    Huserkampf und SHuserkampf und Stadtadtententwicklungtwicklung

    Das Buch zeigt, wie wichtig es ist, die Bedrohung von alternativenProjekten und den Erhalt von linken Freirumen in einem Kontext

    von neoliberaler Stadtverwertung zu denken und das auch deutlich zu

    machen. Ein sehr positives Beispiel ist ein Bericht in der Tagesschau

    anlsslich der Rumung der Liebigstrae 14 in Berlin: Dort wird das

    Bild der linken Chaoten und Randalierer dierenzierter dargestellt

    und die Proteste in einen Zusammenhang mit Gentrizierung & Co.

    gestellt.

    Gleichzeitig mssen Mittel und Wege des Widerstands gegen den

    Ausverkauf unserer Stdte gefunden werden. Es kann nicht sein, dass

    die fr die Rumung des Ungdomshuset verantwortliche

    Brgermeisterin Ritt Bjerregrd mit Verweisen auf Privateigentum und

    das dazugehrige Zivilrecht ihre Hnde in Unschuld wscht: Die

    Kommune hat [den Jugendlichen] gegenber keine Verpichtungen.

    Ich kann nicht ndern, dass ihnen das Haus eindeutig nicht gehrt

    ( Arte 2010). Dieser Rechtfertigungsrhetorik mssen politische

    Strategien entgegengesetzt werden, die Rumungen zu einerhochpolitischen Sache machen. Im Falle des Ungdomhuset hat sich die

    Militanz und Ausdauer der Proteste bewhrt: im Juli 2008 bekamen

    die Aktivist_innen ein neues Haus, das allen Forderungen gerecht

    wurde. Auch boten die Ausschreitungen in Kopenhagen Drohpotenzial

    fr andere bedrohte Projekte, frei nach dem Motto: Ihr knnt uns

    ruhig rumen, aber dann habt ihr dieselbe Situation wie in

    Kopenhagen, nur zehnmal so krass. (Aussage von Aktivist_innen in

    Bezug auf die Kpi in Berlin, S. 124).

    Wir sollten uns daran erinnern, dass auch die Besetzungen in den

    80er und 90er Jahren ihren Ausgangspunkt in der verheerenden

    Wohnungspolitik hatten und Widerstand gegen das Programm der

    chendeckenden Stadtsanierungen, gegen private Luxussanierungen,

    spekulativen Leerstand, Wohnungsknappheit, und hohe Mieten waren

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    http://www.youtube.com/watch?v=O0vmdYPaEw4http://www.youtube.com/watch?v=O0vmdYPaEw4
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    eine Aufzhlung, die uns doch bekannt vorkommen msste. In Zeiten

    radikaler kapitalistischer Verwertungspolitiken wird es sicherlich

    immer schwieriger, aber gleichzeitig auch immer wichtiger, Freirume

    zu schaen und zu verteidigen, sie als alternative Lebensrume

    hochzuhalten, und die Kmpfe darum gleichzeitig als tiefergehendenWiderstand gegen den Umbau zur neoliberalen Stadt und in Allianz mit

    anderen betroenen Gruppen und Initiativen zu begreifen. Denn:

    Angesichts der hohen Geschwindigkeit, mit der sich die

    soziale Struktur der europischen Grostdte aktuell

    verndert, angesichts des Geflles zwischen Arm und

    Reich, das in diesen Vernderungen immer grer wird,

    des kleinrumigen Nebeneinanders von Boom und

    Ausgrenzung, Potenzialen und Repression, ist diePerspektive unwahrscheinlicher geworden, dauerhaft

    unberhrte Inseln der Selbstverwaltung zu schaen. Aber

    gleichzeitig sind die Mglichkeiten gewachsen, den

    Rausch von Inwertsetzung und Aufwertung stren und,

    wenn auch nur fr einige wenige glckliche Momente,

    relativ weitgehende Forderungen durchsetzen zu knnen.

    (S. 15)

    **

    Das Buch ist derzeit vergrien, kann aber hier kostenlos

    heruntergeladen werden.

    Peter Birke / Chris Holmstedt Larsen (Hg.) 2008: Besetze deine Stadt!

    BZ din by! Huserkmpfe und Stadtentwicklung in Kopenhagen.

    Assoziation A, Berlin/Hamburg.

    ISBN: 978-3-935936-67-5. 224 Seiten. 14.80 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 18 von 63

    http://www.assoziation-a.de/dokumente/Besetze_deine_Stadt.pdfhttp://www.kritisch-lesen.de/?p=3201http://www.kritisch-lesen.de/?p=3201http://www.assoziation-a.de/dokumente/Besetze_deine_Stadt.pdf
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    UUrbane, rrbane, reflektierte Weflektierte Wuutt

    Robert Sommer

    Wie bleibt der Rand am RandReportagen vom Alltag der Repression und Exklusion

    Von Sebastian Kalicha

    Das gegenwrtige System produziert unweigerlich und unaufhrlicheinen sozialen Rand. Robert Sommer schreibt von diesem Alltag der

    Repression und Exklusion anhand des Beispiels Wien.

    Der oder die Obdachlose, der/die in Wien auf der Strae steht mit

    einer Zeitschrift zum Verkauf auf der in groen Lettern Augustin steht,

    gehrt nach Wien wie der leicht charmante, leicht grantige (schlecht

    gelaunte) Kellner im Wiener Kaeehaus ein Klischee brigens, das

    als eines der wenigen tatschlich immer wieder zutrit. Nur: ein

    entscheidender Unterschied zum Kellner tut sich dann doch auf. Sinddiese begehrt bei TouristInnen und WienerInnen gleichermaen, ist

    der/die Augustin-VerkuferIn ein nicht wirklich willkommener Teil der

    frhlichen Mischung aus Stephansdom, Wienerschnitzel und Fiaker.

    Und das trit nicht nur fr den noblen 1. Bezirk zu, ber den der

    Innenstadtmetternich Ursula Stenzel (S. 32) von der konservativen

    sterreichischen Volkspartei wacht (ja, das darf als Drohung

    verstanden werden).

    Die Menschen, die die Straenzeitung Augustin verkaufen und/oderfr sie schreiben, ein System, das sie exkludiert und mit Repressalien

    berzieht und was daraus fr Geschichten, Schicksale und skandalse

    Normalzustnde entstehen, ist der Fokus von Wie bleibt der Rand am

    Rand. Geschrieben wurde es von dem Journalisten Robert Sommer,

    der 1995 den Augustin, diese Tribne textlicher Zeugnisse von

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    http://www.kritisch-lesen.de/author/sebastian-kalicha/http://www.kritisch-lesen.de/author/sebastian-kalicha/
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    Outsidern (), denen die Mehrheit der Gesellschaft nichts anderes

    zutraut als den Steuerzahlern auf der Tasche zu liegen (S. 84), mit

    gegrndet hat und seither mit dabei ist.

    ReprRepressioession und Exklusion und ExklusionnDer Autor fhrt den/die LeserIn mit seinen Reportagen in verschiedene

    Bereiche, in denen diese Marginalisierten, die aus unterschiedlichen

    Grnden an den sozialen Rand gedrngt werden, landen. Eben jener

    soziale Rand hat, wie man schon im Klappentext erfhrt, laut dem

    Autor systemstabilisierende Wirkung. Es bilde sich eine soziale

    Schicht () deren Integration entgegen allen politischen

    Beteuerungen nicht vorgesehen sei.

    Die Bereiche, auf die der Autor thematisch eingeht sind die Stadt

    und damit verbundene Phnomene wie Gentrizierung oder soziale

    Suberung; die Obdachlosenszene auf Wiens Bahnhfen und wie sich

    der Charakter dieser Beziehung im Laufe der Zeit nderte; Fragen

    zum Straf- und Gefngnissystem; das Thema Psychiatrie und ihre Rolle

    in unserer Gesellschaft; Alten- oder SeniorInnenheime, die Sommer

    in Anlehnung an Erving Goman als ein Beispiel einer totalen

    Institution (S. 105) bezeichnet; Drogen und Drogenpolitik; sowie die

    Entwicklungen, die sich in der BettlerInnenszene seit der EU-Osterweiterung getan haben und der begleitet wird von einem

    antiziganistischen Backlash. Abgerundet wird das Ganze von einer Art

    Pro- und Epilog, die allgemeine Reexionen zu bereits Geschriebenem

    oder Neuem enthalten. Wie sich im Laufe der Lektre herausstellt,

    schreibt der Autor ber all dieses Felder sprachlich hervorragend,

    politisch radikal und ohne naive Illusionen eine wahre Wohltat!

    VVoon Bahnhn Bahnhffen, Gefngnissen und Pen, Gefngnissen und Psysychiatrienchiatrien

    Robert Sommer beginnt seine Ausfhrungen mit einem Kapitel zur

    (neoliberalen) Stadt und ihr Verhltnis zu jenen, die sich nicht in eine

    Verwertungs- und Ntzlichkeitslogik einfgen wollen oder knnen. Als

    Augustin-Mitarbeiter hat er hier einiges zu berichten: Ich glaube,

    niemand (auer der Polizei) verfgt ber eine grere Sammlung der

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    Grausamkeiten auf dem Gebiet der Unsichtbarmachung oder

    Vertreibung der Armen aus den Kommerzzonen der Stadt als der

    Augustin (S. 27f). Begleitet wird dieser Teil des Buches von teils

    skurrilen, teils erschreckenden Geschichten ber realsatirische

    Verordnungen, wie man beispielsweise StraenmusikerInnen oderBettlerInnen ihr Handeln verbieten knnte. Das reicht dann von

    Gesetzen, die unbegrndetes Stehen (S. 26) illegal machen oder

    die Kunststcke von StraenknstlerInnen zum Sicherheitsrisiko

    hochstilisieren.

    Auch das Thema Bahnhof Sommer nennt sie klimatisierte Shopping-

    Center mit Gleisanschluss (S. 46) ist eines, das man zwangslug

    diskutieren muss, setzt man sich mit Obdachlosigkeit in der Stadt

    auseinander.

    Obdachlose halten sich immer noch gerne auf Bahnhfen

    auf. Obwohl man ihnen alles genommen hat, was ihre

    Anwesenheit am Bahnhof halbwegs ertrglich macht. ()

    In modernen Bahnhfen haben private Uniformierte alle

    Freiheit der Welt, um die Polizei zu ersetzen und um die

    Nicht-Teilnahme am Konsumieren im besten Fall nur noch

    dieses eine mal zu tolerieren. Warum sich Obdachlose

    immer noch gerne in und um Bahnhfe(n) aufhalten,

    obwohl hier ihre Prsenz schon an den Drehkreuzen der

    50-Cent-Toiletten-Eingngen symbolisch zermalmt wird,

    ist ein Rtsel. Oder auch nicht. Die Unerwnschten haben

    das prinzipiell feindliche Verhalten der Umgebung in ihren

    Alltag lngst integriert. Sie sind resistent gegen eine

    Architektur, in denen die berwachungskameras wie die

    Pechrinnen der Ritterburgen ausschauen. Aus diesen

    immer auf die Subalternen gerichteten Kameras trpfeltdas Pech der Verachtung. (S. 46)

    Bei seinen Reexionen zum Thema Gefngnisse wird klar, warum sich

    Sommer auch gerne mal auf den Anarchisten Erich Mhsam bezieht,

    denn seine Kritik geht stark in Richtung der vlligen berwindung

    Seite 21 von 63

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    des Gefngnis- und Strafsystems. Den Kriminalsoziologen Wolfgang

    Stangl zitierend, dass das Strafrecht und die Psychiatrie die beiden

    groen gesellschaftlichen Systeme bilden, die abweichendes Verhalten

    kontrollieren (S. 73), ergnzt der Autor: [N]achdem sie es erzeugt

    haben, wie man im Sinne der Intention des vorliegenden Buchesergnzen knnte (S. 73).

    Sommer ist nicht nur selbst ein brillanter Formulierer, bei dem man

    Lust htte in Einem durch zu zitieren, er zitiert auch selbst Passagen,

    die nicht nur politisch, sondern auch literarisch von hohem Wert sind.

    So beginnt er sein Kapitel Der Hammer der Diagnose zum Thema

    Psychiatrie mit einem Zitat von Ernst Kostal: Psychiatrie die

    Avantgarde reaktionrer Aggressivitt und aggressiver Ausgrenzung

    der unter dem Vorwand des Krankheitsbegris von ihr zurNichtzugehrigkeit Verdammten. (S. 84)

    Bei all den behandelten Themen fdelt der Autor zwar immer wieder

    ausfhrlich persnliche Erlebnisse von Augustin-AutorInnen/

    VerkuferInnen ein, behandelt derartige Themen aber auch von

    anderen Blickwinkeln, z.B. von jener der SozialarbeiterInnen. Er fragt

    hier z.B. in wie fern sich die Sozialarbeit in einem vom Neoliberalismus

    geprgten Umfeld verndert und entwickelt hat. Hier noch einmal am

    Beispiel Bahnhof dargelegt:

    In dem Mae, in dem neue Sicherheitsdienste entstehen

    und in dem ihre Zustndigkeit im entlichen und

    halbentlichen Raum wchst, wird die Sozialarbeit, wie

    sie vor ihrer Instrumentalisierung durch die neoliberale

    Stadt deniert worden war, verdrngt. (S. 55)

    Das teils berspitzte und scharfe Formulieren trgt zwar viel zur

    Qualitt des Buches bei, der Vergleich von Bettelverboten in mehreren

    sterreichischen Stdten mit neuerlichen Endlsungen der

    Zigeunerfrage, die es schon im Ansatz zu ersticken gelte (S. 152)

    also oenbar eine Anspielung an die Ermordung Zehntausender Roma

    und Sinti in den Konzentrationslagern der Nazis , ist dennoch ein

    rhetorischer Gri daneben. hnliches mag man auch beim Vergleich

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    des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (ein

    Klassikationssystem fr psychische Erkrankungen) mit dem Malleus

    Malecarum (eher bekannt unter dem Namen Hexenhammer; eine

    1486 verentlichte Schrift, die whrend der spanischen Inquisition

    zur Hexenverfolgung gebraucht wurde) denken. Wobei: Sommers Argumentation geht in die Richtung, dass Psychiatrie im Grunde

    genommen nichts anderes sei als ein Instrument zur Sanktionierung

    von Normabweichung. Dieser Logik folgend, scheint der Vergleich in

    Anstzen auch wieder schlssig abhngig ist das freilich davon, ob

    man mit dieser These zu Psychiatrie grundstzlich etwas anfangen

    kann oder nicht.

    SStdtdtebergrtebergreifeifende Relevanzende Relevanz

    Wie bleibt der Rand am Rand ist inhaltlich und zum Teil auch

    sprachlich ein zutiefst wienerisches Buch. Sommers teils bitter-

    ironische Ausfhrungen werden hier zur gnadenlosen Anklage und

    zur politischen Wae gegen ein System, das an zahlreichen Fronten

    einen Krieg niederer Intensitt gegen seine Marginalisierten fhrt. Die

    berlegungen, die in diesem Buch angestellt werden, haben aber

    und das ist wichtig allgemeine Gltigkeit und stdtebergreifende

    Relevanz. Sie sind fr alle da, die schon immer urbane, reektierte

    Wut (S. 8) pointiert auf den Punkt gebracht lesen wollten. Und hierfr

    ist es egal, ob man in Wien, Hamburg, Kopenhagen oder sonst wo

    wohnt. Darum ist die Lektre von Sommers Gedanken auch dann mit

    Nachdruck zu empfehlen, wenn man noch nie einen Fu nach Wien

    gesetzt hat.

    Robert Sommer 2011: Wie bleibt der Rand am Rand. Reportagen vom

    Alltag der Repression und Exklusion. Mandelbaum Verlag, Wien.

    ISBN: 978385476-606-3. 152 Seiten. 9.90 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 23 von 63

    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3213http://www.kritisch-lesen.de/?p=3213
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    Die PDie Poliolitisierung des Alltagstisierung des Alltags

    amantine

    Gender und HuserkampfGenderspezifische Aspekte und anti-patriarchale Kmpfe in denHuserbewegungen in der BRD und Westberlin

    Von Ulrich Peters

    Linke Strukturen und deren Aktivitten bieten Mglichkeiten, einer

    durchkapitalisierten Gesellschaft Alternativen aufzuzeigen. Dazugehrt auch die Aneignung von Husern. Das aber auch innerhalb

    dieser Kmpfe Macht- und Unterdrckungsverhltnisse prsent sind,

    zeigt das Buch Gender und Huserkampf von amantine.

    Der Kampf gegen Gentrizierung beziehungsweise Umstrukturierung

    blickt auf eine lange Geschichte zurck. Die Auseinandersetzungen,

    welche den sozialen und konomischen Umstrukturierungsprozess

    eines Stadtteils, der mit einer gezielten Aufwertung des Wohnumfeldes

    sowie Restaurierungs- und Modernisierungsmanahmen zu einer

    entscheidenden Vernderung der Bevlkerungsstruktur fhrt (S. 49),

    gingen und gehen immer auch mit Aneignung von Rumen, die sich als

    Gegenpol dieser kapitalistischen Verwertungslogik verstehen, einher.

    Diese Kmpfe und ihre Traditionen werden in dem Buch Gender

    und Huserkampf von amantine, im jeweiligen historischen Kontext,

    chronologisch dargestellt. Linke Rume sind nicht frei von

    Hierarchien, auch wenn dieser Anspruch hug formuliert bzw.

    vorausgesetzt wird. Die umfangreiche Darstellung von Besetzungenbildet den Rahmen, um die Auseinandersetzungen um Gender,

    Sexismus/Homophobie und anti-patriarchale Kmpfe sowie die

    eigenstndige Organisierung von FrauenLesben-Queer-Trans/Tunten

    in den Huser/Wagenplatzbewegungen der BRD zwischen 1970 und

    2010 zu beleuchten.

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    http://www.kritisch-lesen.de/author/ulrich-peters/http://www.kritisch-lesen.de/author/ulrich-peters/
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    Dies geschieht mit Hilfe der Auswertung einer Vielzahl von

    Schriftstcken aus der Besetzer_innenszene sowie verschiedenen

    Interviewpartner_innen zum Beispiel des Frauenhauses in der

    Hamburger Hafenstrae oder dem Berliner Wagenplatz Schwarzer

    Kanal. Auch wenn diese Auswahl kein Patentrezept zur berwindungvon Macht- und Unterdrckungsverhltnissen darstellen kann, gelingt

    es amantine, die theoretische Auseinandersetzung um gender

    nachvollziehbar einzuordnen. Hilfreich ist dabei die Erkenntnis, dass

    die Debatten bisher berwiegend in einer zunehmend spezialisierten

    Sprache [gefhrt werden], die oft von vielen auerhalb der

    Universitten gar nicht verstanden wird und an der sich vorwiegend

    weie Deutsche [die] nicht selten einen privilegierten

    Familienhintergrund [haben] (S. 217) beteiligen. Dieser Erkenntnis

    kann dazu beitragen, sich intensiver mit theoretischem

    Hintergrundwissen auseinanderzusetzen und es auch in die Praxis zu

    bertragen. Denn genau hier sieht amantine den wesentlichen Faktor.

    Entscheidend ist letztendlich die Vernderung im Konkreten, in der

    Praxis und nicht durch das Rezipieren theoretischer Diskurse. Nicht

    wenige sprechen deswegen von einem patriarchalen Rollback, der sich

    in immer wiederkehrenden Vorfllen und Diskussionen oenbare. (S.

    221)

    Der BDer Blick zurck...lick zurck...

    Stadtentwicklungspolitische Entscheidungen, mit zum Teil

    verheerenden Folgen fr Anwohner_innen, sahen und sehen sich

    immer auch mit dem Widerstand von Betroenen konfrontiert.

    amantine zeichnet daher im ersten Teil des Buches Huserkmpfe

    historisch nach. Ersichtlich wird dabei, dass sich die Beweggrnde

    von den ersten Besetzungen beziehungsweise Aneignungen von

    entlichen Rumen nicht wesentlich von aktuellen unterscheiden. ImApril 1872 wurden zwei Huser in Berlin besetzt und es entstanden

    mehrere sogenannte Httendrfer. Die bekannteste war wohl die

    Republik Barackien, die in der Nhe des Cottbusser Tores bis zu 163

    Familien beherbergte. Die kulturelle und politische Bedeutung Berlins

    fhrte in dieser Zeit zu einem Bauboom.

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    Der grte Teil der Baumanahmen unterlag jedoch

    Kapitalmaximierungs- und Reprsentationsinteressen ().

    In erster Linie wurde Raum fr Gewerbe und Industrie,

    politische Verwaltungen und Konsumeinrichtungen

    geschaen. () Huser wurden abgerissen fr Geschfts-und Brozwecke und ganze Stadtteile aufgekauft, um dort

    Platz fr Warenhuser oder Gebude fr Behrden zu

    schaen. (S. 9)

    Nicht nur aus diesen Grnden, kommt es auch 100 Jahre spter zu

    einer neue Hochphase der Hausbesetzungsbewegung. amantine teilt

    diese Bewegung in zeitliche Phasen ein und zeichnet anhand derer

    die Entwicklung dieser Szene nach und die sich in ihnen ergebenden

    Debatten, Auseinandersetzungen, Niederlagen aber auch (Teil-)Erfolge. Dieser Einteilung nach erfolgt die Darstellung von

    Bewegungen um die Jahre 1970, 1980/81, 1989/90 sowie von 1990 bis

    2009. Die antikapitalistischen Beweggrnde beziehungsweise sich aus

    der Lebensrealitt ergebende Motivation zur Aneignung von Husern,

    Pltzen oder entlichem Raum wird in den neueren Bewegungen

    noch ergnzt, durch explizite Schaung von Freirumen fr linke

    Politik und Subkultur. Auch geht es um den Anspruch, im

    Zusammenleben die persnliche Vernderung zu suchen und Auseinandersetzung mit Machtverhltnissen, die sich auch in

    menschlichen Beziehungen aufzeigen.

    Die erste Hausbesetzung dieser Zeit ndet am 10. April 1970 durch

    einen Verein, der antiautoritre Jugendarbeit leistet, in Kln statt.

    Als weitere Zentren bilden sich Frankfurt a.M., hier insbesondere

    auch mit einem hohen Anteil an Mietstreiks und Besetzungen von

    Migrant_innen, auch wenn diese hug nicht auf groes Interesse

    der deutschen Linken stieen, sowie Hamburg und Berlin. Auch ersteHausbesetzungen in Ost-Berlin, die es seit den 1970er Jahren gab, und

    die Entstehung von Wagenpltzen, von denen es laut einer Schtzung

    aus dem Jahre 2007 circa 160 in der gesamten BRD gibt, nden ihren

    Platz in der facettenreichen Auistung von Besetzungsbewegungen.

    Gerade aber West-Berlin, mit dem Schwerpunkt auf Kreuzberg, gilt als

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    Ursprung der Hausbesetzer_innenbewegung der 1980er Jahre, in der

    Neue Soziale Bewegungen und die sich entwickelnde Autonome Szene

    zusammentreen.

    Diese Einschtzung hngt des Weiteren mit dem Umstand zusammen,dass die rechtlich ungeklrte Situation nach Ausung der DDR und

    der enorme hohe Leerstand in vielen Ostberliner Bezirken, vor allem

    aber Friedrichshain und Prenzlauer Berg, ein guter Nhrboden fr

    Besetzungen war. Allein in Berlin gab es schtzungsweise von 1971

    bis 2010 an die 400 Besetzungen. Circa 200-250 Huser sind

    insgesamt legalisiert worden. (S. 37) Diese Welle von Legalisierung

    ist mit Sicherheit nur ein Faktor, der dazu fhrte, dass von einer

    Bewegung mit hohem Aktivismus, gesellschaftlicher und politischer

    Relevanz, in der Form nicht mehr zu sprechen ist. Dennoch, und daswird in der theoretischen Auseinandersetzung mit Gentrizierung

    deutlich, haben

    die Huserkmpfe () neben dem Ziel des eigenen

    Wohnraums, dem Aufbau politischer Strukturen und

    Subkulturen und letztendlich der Verwirklichung anderer

    kollektiver Lebensformen jenseits des Mainstreams auch

    die Umstrukturierungsmanahmen und

    Gentrizierungsprozesse thematisiert und bekmpft (S.

    54).

    ...m...muss sich auch nach innen richuss sich auch nach innen richten!ten!

    Die Frauenbewegung der spten 1960er Jahre hat gesellschaftliche

    Strukturen wesentlich verndert. Nicht nur die Analyse der

    Herrschafts- und Machtverhltnisse in Beziehungen, die Ausbreitung

    alternativer Wohn- und Lebensformen bis hin zur tendenziellen

    Ausung der patriarchalen Kleinfamilie als gesellschaftliche

    Normvorstellung ist dieser anzurechnen. Als wesentlichen

    Kristallisationspunkt dieser Debatten sieht amantine die Wohn- und

    Lebensstrukturen in besetzten Husern beziehungsweise

    Hausprojekten. Autonome FrauenLesben als Teil der autonomen

    FrauenLesben-Bewegung als auch als Teil der Autonomen und

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    Huserbewegung spielten in diesen Auseinandersetzungen eine

    entscheidende Rolle. (S. 67) In der Theorie hat sich der

    Intersektionalittsansatz (Begriserklrung siehe hier) und gender als

    soziale und kulturelle Konstruktion weit verbreitet. amantine geht es

    daher mageblich um die Sichtbarmachung von FrauenLesbenWiderstand gegen patriarchale Strukturen (S. 67). In vielen zum Teil

    drastischen Schilderungen von Auseinandersetzungen wird deutlich,

    dass die Kmpfe in unterschiedlicher Intensitt immer weiter gefhrt

    werden mssen und von einem Standard noch lange nicht die Rede

    sein kann. Die radikale Kritik an mnnerdominierten Strukturen in

    politischen Gruppen fhrte schon in der 68er-Bewegung zur

    Notwendigkeit einer feministischen Gegenkultur, die sich unter

    anderem in der Besetzungsbewegung niederschlgt. Grnde nden

    sich auch in der frhen Kritik am Begri der sexuellen Revolution,

    die in erster Linie fr mnnerzentrierte Krperlichkeit, () fr ein

    patriarchales Herrschaftssystem, das durch sozialistische

    Umsturzvorstellungen nicht berhrt worden war, fr weibliche

    Abhngigkeit, Entmndigung und Unterwerfung (S. 76) stand.

    Die erste ausschlielich von Frauen erfolgte Hausbesetzung gab es

    1973 in Frankfurt a.M. Neben dem Kampf gegen Leerstand ging es

    hier, wie auch bei spteren Besetzungen, darum, die selbstbestimmteFrauenorganisierung zu strken und Rume von Frauen fr Frauen zu

    schaen. Anfang der 1980er Jahre trafen feministische Positionen mit

    dem Entstehen der Autonomen zusammen und die Selbstorganisierung

    von Frauen, die nun auch deutlicher die Auseinandersetzung mit linken

    Mnnern suchte, gewann an Bedeutung. So entstanden Anfang der

    1990er Jahre in Berlin ein Frauenhaus in der Mainzer Strae, ein

    FrauenLesben-Haus in der Brunnenstrae, der queere Wagenplatz

    Schwarzer Kanal, das Hausprojekt Liebigstrae 34 oder das

    Tuntenhaus, um nur einige Beispiel zu nennen.

    Ein Teil der autonomen Frauen- und Lesbenbewegung,

    die sich in der Huserbewegung verorteten, aber

    eigenstndig organisierte und nicht mit Mnnern

    zusammenleben wollte, hat dies mit patriarchalen und

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    http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/uberschneidungen-von-unterdruckungen/http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/uberschneidungen-von-unterdruckungen/
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    dominanten Verhaltensweisen und Strukturen der

    mnnlichen Genossen in gemischten Gruppen der

    autonomen, anti-autoritren Linken im Allgemeinen und

    innerhalb der Huserbewegung im besonderen

    begrndet. (S. 116)

    Daher nden genau hier auch Debatten und Auseinandersetzungen um

    Sexismus, sexualisierte Gewalt und Patriarchat statt, von denen im

    Buch einige nachgezeichnet werden. Da diese zum Teil sehr massive

    Gewalt und Reaktionen darauf dar(stellen) und besser in einem

    sicheren Umfeld und in einer Situation der emotionalen Stabilitt

    gelesen werden (sollten), da die Gefahr von Triggern (Auslsern)

    gegeben ist (S. 128) wird hier eher auf die theoretischen

    Auseinandersetzungen und deren Umgang eingegangen werden.Deutlich herausgestellt wird allerdings, dass unabhngig vom

    jeweiligen Kontext die Beispiele umfassen einen Zeitraum von 25

    Jahren Sexismus und sexualisierte Gewalt hug unhinterfragter

    Bestandteil von Beziehungen und alltglichem Verhalten in linken und

    subkulturellen Strukturen sind. Dieser ndet sich jedoch nicht nur im

    eigenen Wohnumfeld wieder, sondern ebenso auch auf Demonstration,

    Kongressen oder anderen politischen Veranstaltungen. Wie wenig

    Sensibilitt im Umgang vorherrscht, beschreibt amantine unteranderem am Beispiel der Auseinandersetzung um sexistische

    Grenzberschreitungen der Gruppe Fuck for Forest (FFF) auf einem

    Anarchie-Kongress 2009 in Berlin.

    "Dazu zhlen das permanente Nackt-Herumlaufen der

    Gruppe FFF auf dem Kongress, die Weigerung sich

    anzuziehen und anzuerkennen, das Nacktheit eine

    Grenzberschreitung darstellen kann, und das, obwohl sie

    von mehreren darauf hingewiesen worden waren, dasssich einige durch die Nacktheit, insbesondere der Mnner,

    erheblich beeintrchtigt fhlten sowie homophobe

    uerungen wie Hardcorelesbe." (S. 150)

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    Aufgrund einer nicht geringen Anzahl von Solidarisierungen durch

    Teilnehmer_innen und der Einsicht, dass ein Ausschluss der Gruppe

    und Untersttzer_innen nicht gewaltfrei durchzusetzen schien, musste

    der Kongress letztlich abgebrochen werden. Nur eines von mehreren

    Beispielen, an denen deutlich wird, dass eine Auseinandersetzung beranti-sexistische Praxis noch lange nicht Einzug gehalten hat.

    Als Mittel der Auseinandersetzung und Etablierung von anti-

    sexistischer Praxis beschreibt amantine abschlieend die

    Organisierung von/in Mnnergruppen und die Kritik an

    Heteronormativitt sowie die Sichtbarmachung von Trans/Queer/

    Tunten. Die ersten Mnnergruppen entstanden in den 1970er Jahren,

    doch erst Ende der 1980er Jahre bildete sich eine Bewegung heraus,

    die sich kritisch mit ihrem eigenen Sexismus, Sexismus in der Szeneund patriarchalen gesellschaftlichen Strukturen beschftigte.

    Wesentlich war und ist auch heute noch eine kritische Reexion

    mnnlicher Militanz auf Demos. Diese ist notwendig,

    um so zu verhindern, da Gewalt sich verselbststndigt,

    Ausdruck mnnlichen Macker- und Gewaltverhaltens ist.

    () Schwarzgekleidete sich als autonome Antifas

    bezeichnende Macker tragen ihre Revierkmpfe mit meist

    mnnlichen Faschos aus und/oder pbeln Frauen an.

    Antifa ist in und das scheint auch zu heien, da viele

    Mnner ihr Mackerverhalten unter dem Deckmantel

    Antifa ausleben knnen. () Dazu gehren auch coole

    Sprche und Verbalradikalismus und das Abwerten von

    anderen Widerstandsformen sowie das Abqualizieren von

    Frauen in Stresssituationen mit Faschos. (S. 168)

    Dass diese 15 Jahre alte Kritik noch immer aktuell erscheint, lsst ander Vernderbarkeit der Szene oftmals zweifeln. Am 19. November

    2011 gingen mehrere tausend Menschen in Gedenken an einen von

    Neonazis ermordeten Hausbesetzer in Berlin auf die Strae. Das aus

    dem Lautsprecherwagen ein Lied der Punk-Band Heiter bis Wolkig

    ertnt, um die es seit Mitte der 1990er Jahre heftige

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    Auseinandersetzungen wegen Vergewaltigungsvorwrfen und

    sexistischem Auftreten gab oder aber ganze Reihen auf der Demo

    Polizist_innen, trotz aller berechtigter Kritik an diesen, als

    Hurenshne bezeichnen, zeigt auf, wie wichtig der Blick eben gerade

    auf innerlinke Debatten ist. Diesen zu strken ist eines der groenVerdienste des Buches.

    amantine 2011: Gender und Huserkampf. Genderspezische Aspekte

    und anti-patriarchale Kmpfe in den Huserbewegungen in der BRD

    und Westberlin. Unrast Verlag, Mnster.

    ISBN: 978-3-89771-508-0. 232 Seiten. 14.00 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 31 von 63

    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3216http://www.kritisch-lesen.de/?p=3216
  • 8/3/2019 Wem gehrt die Stadt? - #12

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    Der erschriebene ADer erschriebene Aufstandufstand

    Sascha Schierz

    Wri(o)teGraffiti, Cultural Criminology und Transgression in der Kontrollgesellschaft

    Von Jorane Anders

    Grati, Skateboarding, D(o)I(t)Y(ourself), Schwarzer Block und das

    widerstndige Potential urbaner Subkulturen einepoststrukturalistisch informierte Betrachtung des Wechselspiels von

    Kontrolle und Transgression im stdtischen Raum.

    Sascha Schierz legt mit Wri(o)te. Grati, Cultural Criminology und

    Transgression in der Kontrollgesellschaft seine Dissertation aus dem

    Fachbereich der Bildungs- und Sozialwissenschaften vor. Der nicht

    ganz eingngige Titel liefert gleichwohl einen guten berblick ber

    die Breite der Themen, die zur Sprache kommen: Es geht um Grati-

    Writing und sein Ineinandergreifen mit dem Aufstand (riot) unddamit um eine Verortung von Grati im sozialwissenschaftlichen

    Rahmen zwischen Kontrollgesellschaft und der Mglichkeit der

    Transgression, also (Grenz-)berschreitung.

    Der Kern der Arbeit wird gebildet durch eine Fallanalyse des Grati-

    Writing. Schierz liefert im Kapitel Vergngen: Writing als Gefhlswelt,

    Performanz und Kultur einen gelungenen historischen berblick ber

    Entstehungsbedingen und Entwicklungen des Writing und klrt

    zentrale Begriichkeiten und Motivationslagen, die einenumfassenden berblick ber das Phnomen geben. Dabei analysiert

    er eine Reihe von Filmen, die neben Spiellmen von Wild Style bis

    Whole Train und eher neutralen Dokumentationen auch Szenelme

    wie Dirty Handz oder Consequence III umfasst. Immer wieder wird

    dabei die Wechselwirkung mit der Stadt aufgegrien, die zunchst

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    http://www.kritisch-lesen.de/author/jorane-anders/http://www.kritisch-lesen.de/author/jorane-anders/
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    die wesentliche Leinwand wie auch das Publikum bereitstellt, durch

    die die zentralen Entstehungsbedingungen des Writings erst gestellt

    werden. Auf der anderen Seite: Grati verndern die Wahrnehmung

    und das Gefhl fr die Stadt. Die ganzen Tags und Bilder, man kennt

    sie und kriegt Vernderungen mit. (S. 240) Die Konstruktion derIllegalitt (die Rechtslage war lange Zeit unklar, da der Straftatbestand

    der Sachbeschdigung eine unwiederherstellbare

    Oberchenvernderung verlangte, die im Falle von Grati oftmals

    nicht gegeben ist) dient dabei der Sicherung bestehender

    Eigentumsverhltnisse und versucht das Privileg der Gestaltung des

    entlichen Raums einer zahlungsfhigen Kundschaft vorzubehalten.

    Doch gerade durch die Illegalitt schreibt sich die Kritik der

    Verhltnisse ins Writing ein:

    Die Flchen stdtischer Wnde werden zu entlichen

    Rumen, die wiederum diskurs- und kritikfhig sind. Die

    private Gestaltungshoheit ber die Wand bzw. das Privileg,

    den stdtischen Raum in einer als legitim geltenden Weise

    zu formen, werden performativ kritisiert. (S. 331)

    Vor allem an den Dokumentarlmen zeigt Schierz auch Reaktionen

    seitens Medien, Politik und Polizei auf, die Mglichkeiten von

    Gegenmanahmen und Kontrolle thematisieren. Inwiefern von dieser

    Seite ein arg reduziertes Verstndnis des Phnomens an den Tag gelegt

    wird, wird durch die Gegenstimmen und ihre Kontextualisierung in den

    Filmen schnell oenbar. Spter wird noch nher auf fortschreitende

    Entwicklungen des Stadtmanagements Bezug genommen. Whrend

    hier versucht wird, dem Ideal der weien Wand einen Bonus an

    Sicherheit und Sauberkeit abzugewinnen und aus der postindustriellen

    Stadt einen streng geordneten Erlebnisraum fr ein brgerliches

    Durchgangspublikum zu schaen, steht Writing dem als Einbrucheines kriminellen Anderen gegenber. Es ist die kurzfristige

    Realisation von Autonomie und Eigensinn in einem urbanen Alltag, der

    durch Kontroll- und Ordnungsimperative geprgt erlebt wird. (S. 474)

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    Doch auch kritische Perspektiven auf die Grati-Subkultur kommen

    bei Schierz nicht zu kurz. So widmet sich ein eigenes Unterkapitel

    der Frage Der Krieg der Stile als reine Mnnersache? Gender und

    Writing, um sich mit der ungleich kleineren Beteiligung nicht-

    mnnlicher Akteur_innen in der Writingszene auseinander zu setzen.Ebenso wird auf die steigende Vermarktungsfhigkeit von Grati

    eingegangen, das mittlerweile nicht nur Farb- und Zubehrherstellern

    ein beschauliches Auskommen ermglicht, sondern auch Einzug in

    diverse Werbespots gefunden hat oder gar auf im

    Gentrizierungsprozess bendliche Kieze zwischenzeitlich eher als

    Auf- denn als Abwertung wirken kann.

    Den Hintergrund der Ausfhrungen stellt eine umfassende

    theoretische Diskussion der Frage nach den Vernderungen derFormen sozialer Kontrolle in der postindustriellen Gesellschaft. Dazu

    wird eine umfangreiche Darstellung gngiger wie auch weniger

    bekannter sozialwissenschaftlicher Anstze geliefert, die sich mit den

    Phnomenen Macht und Kontrolle beschftigen. Whrend souverne,

    repressive Machtverstndnisse sich noch an der Allmacht des

    absolutistischen Monarchen orientieren, spricht Schierz zunchst dem

    von Michel Foucault ausgearbeiteten Konzept der Disziplinarmacht das

    Verdienst zu, den Blick strker auf die Mechanismen von berwachenund Strafen zu lenken. Das tragende Modell von Macht fr die Arbeit

    liefert schlielich die Deleuzesche Vorstellung einer fast ohne

    Repressionsapparat auskommenden (jedoch deswegen nicht minder

    problematischen) Kontrollgesellschaft. Die Eingrie der

    Kontrollgesellschaft vollziehen sich zwar fr die Einzelnen fast

    unmerklich, dadurch jedoch erweitern sie zunchst ihren

    Einussbereich und machen sich gleichzeitig weniger angreifbar;

    Disziplinierung oder Normalisierung treten hinter die Kultivierung

    und das Management von Dierenzen zurck. (S. 84) Die in Fragestehenden Dierenzen verbleiben eng umrissen, gleichwohl bietet

    damit jede berschreitung der vorgegebenen Bahnen bereits einen

    Ansatzpunkt fr so etwas wie Alltagsdissidenz, quasi eine auf

    alltglicher Ebene und im Kleinen operierende Widerstandsform:

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    Whrend das aktuelle Sicherheitsdispositiv sich dadurch

    auszeichnet, Strme von Menschen und Gtern durch

    Kontrollen zu regulieren, bzw. sein Subjekt situativ

    kontextualisiert zu fassen, beruhen diese subalternen

    Praxen auf einer Performanz und Dekontextualisierungvon bestimmten Orten [...]. (S. 97)

    Eine solche Praxis stellt Schierz als Element verschiedener

    subkultureller und/oder kriminalisierter Bewegungen heraus, die von

    Skateboardfahren ber entliche Punkertreen,

    Drogenkonsument_innen bis hin zur DIY-Szene und autonomen

    Demonstrationen reichen. In der ausfhrlichen Fallanalyse wird hier

    auch das Writing eingeordnet, das eine performative Kritik an

    wohlstandsabhngiger Gestaltungshoheit leistet und auf eineUmwidmung architektonischer Oberchen zur Leinwand und Galerie

    abzielt. Und nicht zuletzt: Grati stellen auch eine bunte Art dar,

    der Gesellschaft seinen Mittelnger zu zeigen und ihr, wenn auch nur

    partiell, die Gefolgschaft zu versagen. (S. 236)

    **

    Die Dissertation kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

    Sascha Schierz 2009: Wri(o)te. Grati, Cultural Criminology und

    Transgression in der Kontrollgesellschaft. Vechtaer Verlag fr

    Studium, Wissenschaft und Forschung.

    ISBN: 978-3-937870-10-5. 493 Seiten.

    [Link zum Artikel]

    Seite 35 von 63

    http://www.uni-vechta.de/fileadmin/user_upload/documents/Soziale_Arbeit/Schierz_Wri_o_te_Graffiti.pdfhttp://www.kritisch-lesen.de/?p=3223http://www.kritisch-lesen.de/?p=3223http://www.uni-vechta.de/fileadmin/user_upload/documents/Soziale_Arbeit/Schierz_Wri_o_te_Graffiti.pdf
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    Es ist deuEs ist deutsch in Kaltlandtsch in Kaltland

    Karsten Krampitz / Markus Liske / Manja Prkels (Hg.)

    KaltlandEine Sammlung

    Von Tompa Lska

    Ein Lesebuch, dass es so noch nicht gab, erzhlt die unbequemenKapitel der letzten 20 Jahre deutscher Geschichte. Es handelt vom

    ganz normalen Wahnsinn und den blinden Flecken im nicht mehr ganz

    so neuen und vereinigten Deutschland.

    Im deutschen Gedenkmarathon der letzten drei Jahre bei dem der

    sogenannten friedlichen Revolution gedacht wurde, gingen einige

    Facetten der Ereignisse vor 20 Jahren unter. Auch in den

    Wenderomanen und lmen kamen die Ereignisse in Hoyerswerda,

    Eberswalde, Rostock-Lichtenhagen und vielen anderen Orten nicht

    mal am Rande vor. Es ist ein sehr deutsches Gedenken. Bestimmte

    Opfergruppen werden konsequent ausgeklammert, weil sich sonst

    Fragen gestellt werden mssten, die auch die Rolle der Politik und der

    sogenannten brgerlichen Mitte in dieser Zeit eher kritisch beleuchten

    wrden. Denn so friedlich wie man in den Medien gerne feststellt,

    waren diese Revolution und ihre Folgen nmlich nicht. Brennende

    Asylbewerberheime, zu Tode geprgelte und in den Tod getriebene als

    nicht deutsch Wahrgenommene und Politiker_innen groer Parteien,die von Asylantenut und das Boot ist voll redeten, stellen eine

    andere Realitt dar. Der nun erschienene Sammelband Kaltland setzt

    sich zum Ziel, all diesen Wohlfhlwende- und nachwendegeschichten

    ein Gegengewicht entgegen zu setzen.

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    http://www.kritisch-lesen.de/author/tompa-laska/http://www.kritisch-lesen.de/author/tompa-laska/
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    Der Bezug des Titels auf den Text der Neuwieder Punk-Band

    Toxoplasma ist hier mehr als naheliegend, spiegelt sich doch die

    Stimmung des 1994 auf dem Album Leben Verboten erschienenen

    Songs Deutsch in Kaltland fast eins zu eins in dem Buch wider.

    Der Text des Liedes htte durchaus auch in die Sammlung gepasst.Im Refrain heit es: Es ist Deutsch in Kaltland / in dem Land der

    sauberen Brgersteige / Wo die Ordnung mehr als alles andere zhlt /

    Es ist Deutsch in Kaltland in dem Land der glnzenden Fassaden / Wo

    man die wahre Reinheit / Fr die reine Wahrheit hlt.

    In der Form sind die Beitrge sehr unterschiedlich. Es werden

    Interviews gefhrt, Reisen durch den Osten Deutschlands

    dokumentiert, aber auch Ausschnitte aus Theaterstcken und Gedichte

    beschftigen sich mit dem bergeordneten Thema. So breit wie dieTexte angelegt sind, so vielschichtig gestaltet sich auch die

    Autor_innenschaft. Punkrocker (Schorsch Kamerun, Key Pankonin)

    kommen ebenso zu Wort, wie Schriftsteller_innen, Filmemacher_innen,

    Theaterleute und in die Politik gegangene ehemalige Hausbesetzer

    (Freke Over). Sie alle eint die Darstellungen der Nachwendezeit aus

    ihrer eigenen, persnlichen Sicht. Um eine wissenschaftliche Analyse

    der Ereignisse kann es hier allerdings nicht gehen. Es treten

    Sichtweisen zutage, die in der entlichen Wahrnehmung selten eineRolle spielen. Die Herausgeber_innen, Karsten Krampitz, Markus Liske

    und Manja Prkels, versuchen in chronologischer Vorgehensweise ein

    Bild zu zeichnen, das als unbequeme Ergnzung bzw. Richtigstellung

    zu Teilen des oziellen Geschichtsbildes der Ereignisse der letzten 20

    Jahre in Deutschland zu sehen ist.

    DeuDeutsche Ztsche Zustndeustnde

    Zwei besonders bewegende und entsetzende Texte sind die Beitrge von Jochen Schmidt (1992 mit einem Kamera-Team im

    Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen) und die Auszge aus

    dem Stck Der Kick von Andres Veiel und Gesine Schmidt. In

    Ersterem wird die beklemmende und scheinbar ausweglose Situation

    der vietnamesischen Vertragsarbeiter whrend des Angris auf das

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    Sonnenblumenhaus beschrieben. Auch die unter Lebensgefahr

    erfolgte Rettung war mehr eine Frage von Glck, als Resultat der

    polizeilichen Hilfe oder anderer zustndigen Stellen. Jochen Schmidt

    war selbst mit im Haus und konnte somit auch im Nachhinein als

    Journalist falschen Darstellungen von ozieller Seite entgegenwirken.Im zweiten Text geht es um den menschenverachtenden Mord an

    dem Jugendlichen Marinus S. im uckermrkischen Potzlow im Jahre

    2002. Die hier abgedruckten Auszge unterscheiden sich sehr von

    dem vorangegangenen Text. Denn hier ist die Perspektive eine vllig

    andere. Die Tter bleiben keine Mitglieder eines anonymen Kollektivs,

    dass von der johlenden Menge in ihren Taten bekrftigt wird, sondern

    sie kommen auch selbst zu Wort. Daraus geht ziemlich klar das fast

    emotionslose Vorgehen und die totale Missachtung menschlichen

    Lebens durch die Tter hervor. Aber auch die Reexe, die so oft nach

    hnlichen Taten, wie aus einem vorgefertigten Baukasten,

    hervorgeholt werden, nehmen Gestalt an, wenn der Brgermeister

    sagt:

    Potzlow ist ein ganz normales Dorf. Wir haben hier einen

    Taubenzchterverein und eine Freiwillige Feuerwehr. Vor

    ein paar Jahren sind wir zum schnsten Dorf Deutschlands

    gewhlt worden. Vor der Wende gab es fnfhundertEinwohner, inzwischen sind es sechshundert. Das ist doch

    auch was. (S. 171)

    Die Tat und das Umfeld in der sie geschehen ist, rckt in den

    Hintergrund. Es zhlt nur die Abwendung vom bel, als welches die

    weltweite Berichterstattung ber diese abscheulichen Geschehnisse

    angesehen wird. Was beiden Ereignissen gemein ist: Es gab in beiden

    Fllen keine konsequente Aufarbeitung der Taten! Oft kommt dazu

    noch eine Tter-Opfer-Umkehr wie wir es auch in vielen geschichts-politischen Diskursen erleben.

    Das vorliegende Buch will die blinden Flecken in der jngsten

    Vergangenheit sichtbar machen und eine breitere gesellschaftliche

    Diskussion anregen. Ein Gegenpol zu massenwirksamen

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    Verentlichungen wie Sonnenallee zu sein, ist die wichtige und

    richtige Intention dieses Buches. Werden viele gerade diese

    Geschichten in Zeiten der Krise - wenn es um Verteilungskmpfe

    geht, zhlen nicht die Nachbarn oder die denen es schlechter ergeht,

    sondern nur das eigene Vorankommen - wohl eher wenigerinteressieren, scheint die Auseinandersetzung mit den Inhalten des

    Buches umso wichtiger. Es ist eben sehr deutsch in Kaltland!

    Karsten Krampitz / Markus Liske / Manja Prkels (Hg.) 2011: Kaltland.

    Eine Sammlung. Rotbuch, Berlin.

    ISBN: 978-3-86789-144-8. 288 Seiten. 14.95 Euro.

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    Die KmpfDie Kmpfe um ein bessere um ein besseres Leben Ein Bes Leben Ein Blicklickzurckzurck

    Ralf HoffroggeSozialismus und Arbeiterbewegung in DeutschlandVon den Anfngen bis 1914

    Von Ismail Kpeli

    Der Kampf gegen die Prekarisierung der Lebensverhltnisse und die

    Fragen danach, wie sich soziale Unzufriedenheit und Opposition

    organisieren lassen und inwieweit ein gutes Leben hier und heute

    mglich ist, sind nicht erst heute zu beobachten. Es gibt eine

    Geschichte der Kmpfe und Organisierungsversuche, auf die sich die

    heutige Linke (als Bewegung) beziehen kann und sollte.

    Allerdings scheint die frhe Geschichte der Arbeiterbewegungzunehmend nur noch fr HistorikerInnen relevant zu sein.

    Gegenwrtige linke und klassenkmpferische AkteurInnen beziehen

    sich (wenn berhaupt) eher symbolisch auf die damaligen Kmpfe und

    Auseinandersetzungen. Mit dem Anspruch, hier Abhilfe zu schaen,

    damit nicht Erfahrungen der Vergangenheit in den politischen

    Auseinandersetzungen vergessen (S. 202) werden, erschien das Buch

    Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Es soll keine

    bloe Einfhrungslektre fr GeschichtsstudentInnen sein, sondern

    bereits gemachte Erfahrungen fr die gegenwrtigen sozialen Kmpfe

    nutzbar machen.

    Der positive Bezug auf die Erfahrungen der frhen Arbeiterbewegung

    wird in Deutschland allerdings erschwert. Zum einen entstand durch

    die Zerschlagung der Organisationen und Strukturen der

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    Arbeiterbewegung 1933 eine Lcke und erst nach 1945 wurden diese

    mhsam wiederaufgebaut. Zum anderen ist aber eine mehrfache

    politische Niederlage der Arbeiterbewegung und der sozialistischen

    Parteien festzustellen nicht zuletzt bei der Kriegsfrage 1914, bei der

    Zerschlagung der Arbeiteraufstnde und Rteregierungen 1919 undauch beim letztlich erfolglosen Kampf gegen den Nationalsozialismus.

    Dies macht aber eine Aufarbeitung nicht berssig. Ganz im

    Gegenteil: Bei einer knftigen Phase von zunehmenden sozialen

    Konikten wre es fatal, wenn hnliche Fehler wiederholt wrden.

    Ralf Horogge analysiert die historische Phase bis 1914, sodass die

    als globale Niederlage (S. 196) des Sozialismus verstandene

    Zustimmung der sozialistischen Parteien zum Krieg den Schlusspunkt

    bildet. Die Darstellung beginnt mit der Entstehung des Kapitalismusund dem damit verbundenen Auftauchen der ArbeiterInnen als eine

    neue soziale Klasse. Dabei werden die Kmpfe der frhen

    ArbeiterInnen als Kmpfe gegen die Arbeit gewrdigt und in die

    Geschichte der Klassenkmpfe integriert. So wird etwa die Bewegung

    der Maschinenstrmer, die in der traditionell-marxistischen

    Geschichtsschreibung als unorganisiert, irrational und reaktionr

    dargestellt wurde, neu bewertet. Es wird darauf verwiesen, dass die

    Maschinenstrmer sehr gut organisiert waren und die Zerstrung derMaschinen fr die damalige Zeit eine viel sinnvollere

    Arbeitskampfmethode war als etwa Streiks.

    Eine weitere Revision betrit die Rolle von Karl Marx und Friedrich

    Engels in den frhen Jahren der sozialistischen Bewegung. Entgegen

    einer weit verbreiteten Wahrnehmung, dass die beiden Figuren sehr

    frh eine zentrale Rolle gespielt htten, weist der Autor daraufhin,

    dass zuerst andere politisch wichtiger waren (so etwa in Deutschland

    Ferdinand Lasalle) und erst in den 1860er Jahren Marx und Engels einegewisse Bedeutung erhalten haben.

    Dieser Ansatz, die Debatten und Konikte der sozialistischen

    Arbeiterbewegung einer Neueinschtzung zu unterziehen, wird im

    Buch weiterverfolgt, wenn es etwa darum geht, das Verhltnis

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    zwischen den Parteien und Gewerkschaften einerseits und den

    einzelnen ArbeiterInnen andererseits neu zu bestimmen. Gegen die

    traditionelle Geschichtsschreibung, die sich vielfach auf groe

    Organisationen konzentriert und so die ArbeiterInnen als Subjekte

    wenig beachtet, hatte sich seit den 1970er Jahren eine neue Lesartder Arbeiterkmpfe etabliert, die eine selbstorganisierte andere

    Arbeiterbewegung jenseits der professionalistischen

    Arbeiterbewegung der Parteien und Gewerkschaften sieht.

    Horogges These ist, dass es sich hier weniger um zwei gegenstzliche

    Bewegungen handelt, sondern dass vielmehr die andere

    Arbeiterbewegung lediglich die unzufriedene Basis der organisierten

    Arbeiterbewegung ist und gibt Beispiele, in der spontane und oft

    illegale Arbeitskmpfe und die ozielle Partei- und

    Gewerkschaftspolitik zusammengewirkt haben.

    Die zahlreichen lesenswerten Kapitel, die sich auch mit Themen wie

    etwa Alkohol und Sozialismus beschftigen, sollen an dieser Stelle

    nicht nacherzhlt werden. Stattdessen folgen jetzt zwei Kritikpunkte

    und eine Gesamteinschtzung.

    Der erste Punkt betrit den Standpunkt und die Perspektive des

    Autors, der sowohl die andere Arbeiterbewegung als auch die

    anarchistischen und syndikalistischen Akteure aus der organisierten

    Arbeiterbewegung ableitet und so deren Eigenstndigkeit relativiert.

    Von den Gegenstzen zwischen AnarchistInnen und MarxistInnen

    abgesehen, gert so aus den Augen, dass in den Kmpfen

    ArbeiterInnen und ihre Gewerkschaften unterschiedliche Interessen

    und Ziele hatten. Die Gewerkschaften haben organisationseigene

    Interessen, die nicht immer deckungsgleich mit den Interessen der

    ArbeiterInnen sind. Allerdings betrit dieser Kritikpunkt den

    grundstzlichen und kontroversen Streit darber, ob fr eineklassenkmpferische Linke Parteien und Gewerkschaften als

    Organisationsformen tauglich sind oder nicht. Ebenso sollte darauf

    verwiesen werden, dass der Autor sich intensiver als in vergleichbarer

    Einfhrungsliteratur mit Anstzen jenseits der organisierten

    Arbeiterbewegung beschftigt.

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    Ein zweiter Aspekt betrit eher formale und didaktische Aspekte. Der

    Autor verzichtet weitgehend, bis auf eine Zeittafel am Ende, auf andere

    Mglichkeiten der Darstellung jenseits von Flietext, wie etwa

    Tabellen, Graken und Bilder. Dabei gibt es einige Stellen, an denen

    Wahlergebnisse, Streikbeteiligung u.. sehr gut anders darstellbargewesen wren. Eventuell sollte in einer Neuauage und im

    angekndigten zweiten Band (1914-1933) mehr auf solche Mittel

    zurckgegrien werden.

    Trotz des inhaltlichen Dissens: Das Buch ist fr alle, die sich fr

    die Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland interessieren,

    sehr empfehlenswert. Die verwendete Sprache ist angemessen und

    verstndlich, ohne banal zu werden. Die Analyseschritte sind

    nachvollziehbar und gut belegt. Wer sich fr einzelne Aspekteinteressiert (wie etwa Homosexualitt und Sozialismus) ndet genug

    Hinweise, um sich tiefer einzulesen.

    Ralf Horogge 2011: Sozialismus und Arbeiterbewegung in

    Deutschland. Von den Anfngen bis 1914. Schmetterling Verlag,

    Stuttgart.

    ISBN: 3-89657-655-0. 216 Seiten. 10.00 Euro.

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    NNachachwuchsprwuchsprobobleme der Bleme der Bundeswundeswehr und dieehr und diemilimilitrtr-poli-politische Antische Antwtwoort: Milirt: Militarisierung destarisierung desZZiivilenvilen

    Michael Schulze von GlaerAn der Heimatfrontffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr

    Von Heinz-Jrgen Vo

    Der freiberuiche Journalist und Autor Michael Schulze von Glaer,

    der fr seine zahlreichen Beitrge in Tages- und Wochenzeitungen

    weithin bekannt ist, legt mit diesem Buch eine versierte Ausarbeitung

    zur Militarisierung des Zivilen vor.

    Der Afghanistan-Krieg, Berichte ber gettete deutsche Soldaten und

    ber gettete Zivilisten, tragen zu einer auch aktuellen Skepsis in

    der deutschen Bevlkerung gegenber dem Militrischen bei (diehistorischen kriegerischen Erfahrungen sttzen diese Perspektive).

    Diese Skepsis hlt sich dauerhaft, wie Schulze von Glaer anhand

    soziologischer Erhebungen externer wissenschaftlicher und solcher

    des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr

    herausarbeitet. Selbst dem Geheimdienst der USA, dem CIA, ist dies

    bewusst geworden, so dass in Geheimdokumenten des CIA die auf

    der Enthllungsplattform Wikileaks verentlicht wurden

    Mglichkeiten eruiert wurden, wie die Akzeptanz fr den Krieg in

    der Bevlkerung in Deutschland (und in Frankreich) gestrkt werdenknnte (S. 28). Unterdessen sind das keineswegs die einzigen

    Probleme, die das Erscheinungsbild der Bundeswehr in der

    Bevlkerung beeintrchtigen: Die Misshandlung von

    Grundwehrdienstleistenden durch hherrangige Soldaten,

    rechtsextremistische sowie frauenfeindliche bergrie sind nur einige

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    der Skandale, ber die fters in den Medien zu lesen ist (S. 28) und

    die die Stimmung in der Bevlkerung prgen.

    So ergab eine Umfrage aus dem Jahr 2007, dass sich lediglich 25

    Prozent der jungen Mnner vorstellen konnten, eine gewisse Zeit langals Soldat oder ziviler Mitarbeiter bei der Bundeswehr ttig zu sein,

    27 Prozent meinten vielleicht, die brigen 48 Prozent konnten sich

    dies berhaupt nicht vorstellen (S. 15). Besonders deutlich ist die

    Ablehnung bei den Abiturie