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Wissenschaft, öffne dich! ............................................... 10Die Forscherin im Männergefängnis ... 30

Ukraine: Ein Staat auf Identitätssuche ..... 32

Eine Milliarde für den Quanten-Traum ..... 43

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Inspiration aus der PrivatwirtschaftDie Probleme der Wissenschaft sind bekannt: Das System ermutigt Forschende, möglichst rasch und viel zu veröffentlichen, nicht aber, die Erkenntnisse anderer zu verifizieren; Ideen und Methoden ge­heim zu halten, um als erste zu publizieren; unerwünschte Ergebnis­se nicht mitzuteilen; keine Fehler einzugestehen; kleine Abweichun­gen von der guten Praxis zu verbergen.

Open Science möchte diese Probleme lösen. Indem Publikationen und Daten, unbearbeitete Ergebnisse und Laborjournale, Protokolle und Instrumente frei zugänglich sind. Und indem alle zusammen­arbeiten, Forschende und Laien, Industrie und Aktivisten. Geeignete Werkzeuge stehen bereit, hauptsächlich über das Internet. Doch das entsprechende Verhalten stellt sich nur zögerlich ein: Die Wissen­schaft blieb bisher von den Umwälzungen durch das Internet weit­gehend verschont, im Gegensatz zu Arbeitsmarkt, Handel, Musik oder Reisen. Die Ironie: Ursprünglich wurde das Web am Cern entwickelt, um die von den Teilchenbeschleunigern produzierten Daten zu teilen. Ein Paradebeispiel von Open Data, das auch drei Jahrzehnte später die Ausnahme und nicht die Regel ist.

Trotz ihrer Freiheit entwickelt sich die Wissenschaft langsam. Weil sie dezentralisiert sei, meint der Ökonom Sascha Friesike, aber auch, weil es für ihre Produkte (die Erkenntnisse) keinen wirklichen Markt gebe: Ihr Wert wird intern festgelegt, durch etablierte Experten, die kein Interesse an Veränderungen haben. Im Gegensatz dazu ist ein Unternehmen gezwungen, sich den externen Anforderungen der Kunden anzupassen. Durch seine Unabhängigkeit kann es rasch re­agieren und in die notwendigen Technologien investieren.

In der Wissenschaft gibt die akademische Gemeinschaft, eine Art öffentlicher Dienst, den Ton an. Aber es waren Forschende des phar­mazeutischen Unternehmens Amgen, die 2014 die Debatte zur Repro­duzierbarkeit neu entfachten, nachdem es ihnen nicht gelang, bereits publizierte Ergebnisse zu bestätigen. Und es ist die private Stiftung Wellcome Trust, die ihre eigene Fachzeitschrift ins Leben gerufen hat, um unter ihrer Ägide gewonnene Ergebnisse frei zugänglich zu machen. Vielleicht mangelt es der Privatwirtschaft an Weitsicht. Doch sie verlangt zuverlässige Ergebnisse und reagiert umgehend, wenn es ihr notwendig scheint. Die Wissenschaft sollte sich davon inspirieren lassen.

Daniel Saraga, Chefredaktor

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horizonteHorizonte – Das Schweizer Forschungsmagazin Nr. 110, September 2016

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Inhalt

Schwerpunkt Open Science

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12 Der Aufruf

Transparenz soll die Probleme der Wissenschaft lösen.

13Die Zutaten

Die Zugänge zur neuen Wissenschaftskultur.

14Die Macher

Vier Forschende zeigen, wie es geht.

17 Die Herausforderung

Eine neue Arbeitskultur etablieren.

21 Der Weg

Die Forschenden werden die Vorteile erkennen, sagt  Martin  Vetterli.

10 Öffnung: eine Bedienungsanleitung

Alle reden über Open Science. Was das heisst, darüber sind sie sich nicht einig.

Wissen und Politik

24Leidenschaftlicher Jungphysiker

Chenkai Mao findet Physik einfach und schön. Der 19­Jährige hat die Physik­olympiade in Zürich gewonnen.

25Akademiker und Eltern

Kreativität und gute Nerven brauchen Schweizer Forschende, um Beruf und Familie zu koordinieren.

29Ungeliebte Rohstoffbranche

Wie die Rohstoffbranche gerechter werden könnte, skizziert Rechtsanwältin Elisabeth Bürgi Bonanomi im Interview.

4 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 110

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Vor Ort

30 Forscherin im Männergefängnis

Wie funktionierts?

49 Zellgewebe aus dem 3D­Drucker

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Im Bild

6Präzise Waldbetrachtung aus Distanz

kontrovers

8 Sind Volluniversitäten noch zeitgemäss?

Aus erster Hand

50 Vernetztes Wissen für alle

SNF und Akademien direkt

51 Die Akademien haben eine neue Direktorin

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Kultur und Gesellschaft

32Ukraine: Ein Land auf Identitätssuche

In der Ukraine gibt es trotz aller Spannungen gemeinsame Werte.

34Wann ist Schluss mit lustig?

Klagen gegen Satire sind in der Schweiz selten. Noch seltener sind sie in England, trotz des äusserst bissigen Humors.

35Mächtige GerichtsschreiberSchwieriger Alltag nach dem AlkoholentzugDas Chalet ist ein deutscher Importschlager

Biologie und Medizin

36Der Gesundheitsmissionar

Jakob Zinsstag impft Hunde gegen Tollwut, statt Bisse zu behandeln. Seine Mission: One Health.

38Pilze und Bakterien statt Dünger

Neue Erkenntnisse über das Mikrobiom des Bodens versprechen grössere Ernten.

40Bauch an Kopf: Ich bin satt

Das Wissen, wie Bauch und Kopf kommu­nizieren, könnte neue Therapien gegen Fettleibigkeit ermöglichen.

41Tollwut mit dem Computer bekämpfenSchneller neue Antibiotika bauenWarum extrem Frühgeborene anders sind

Umwelt und Technik

42Die ruckelige Geste

Prothesen sind grobe Geräte. Amputierte können nun auf neue Ansätze hoffen.

43Quanten für die Praxis

Wie Schweizer Universitäten in der Quanten technologie positioniert sind.

47Made in Afrika

Fliegenlarven revolutionieren die Abfall­entsorgung in Grossstädten des Südens.

48Zuckerspiegel ohne BlutentnahmeBarium als Fingerabdruck des UrzeitklimasWie ein warmer Boden Pflanzen beeinflusst

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Im Bild

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Was wirkt wie eine pointillistische Stilübung, zeigt den Wald auf der Lägern bei Baden, bestehend aus 44 000 Baumkronen. Das Bild illustriert die ziemlich grosse Vielfalt an biologischer Aktivität auf dem Gebiet im Juli 2015, wobei beispiels­weise Rosarot auf einen hohen Chlorophyll gehalt hindeutet. Mit zwei hochsensiblen Messgeräten untersucht das Team um den Geo­grafen Michael Schaepman von der Universität Zürich aus dem Flugzeug die Diversität der Vegetation.

Ein Laserscanner (Lidar) tastet die Oberfläche ab und bestimmt Höhe, Dichte und Form sämtlicher Bäume

auf dem 1,5 mal 3 Kilometer grossen Gebiet. Ein abbildendes Spektro­meter misst, wie eine Art Kamera, gleichzeitig auf 500 verschiedenen Kanälen sichtbare und unsichtbare Farben. So erfassen die Forschenden in jedem Bild element von zwei Meter Seitenlänge neben Chlorophyll den Gehalt von 15 weiteren Stoffen wie Zellulose, Wasser und Stickstoff.

Insgesamt sechs Leute arbeiteten fast drei Jahre daran, die Datensätze miteinander zu verbinden und mit den am Boden erhobenen Informa­tionen abzugleichen. Die Lägern ist eines der Testgebiete, auf denen für die Fernerkundung («remote

sensing») hochpräzise Methoden entwickelt werden. Diese sollen grossflächig ausgedehnt werden, um die Veränderung der Biodiversität systematisch zu überwachen. «Wir sind damit in der Lage, die Vielfalt der biologischen Funktionen mit hoher Genauigkeit zu messen», sagt Schaepman. Die Methode soll für Grasland, Regenwald und arktische Tundra erweitert werden: «Unser Fernziel ist, Satelliten mit Mess­geräten so auszustatten.» ff

Bild: UZH: Fabian Schneider, Reik Leiterer,

Felix Morsdorf, Michael Schaepman

Vielfalt wird aus der Ferne sichtbar

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kontrovers

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nur ihren  –  mehr oder weniger engen  – Wissenschaftsbereich pflegen, sondern die Sicht anderer Wissenschaften zur Kennt­nis nehmen und sich mit andern Ansätzen auseinandersetzen. So können die wirklich bedeutenden heutigen Herausforderun­gen  – Stichworte sind hier beispielsweise Migration, Digitalisierung und Klimawan­del  – nur unter Einbezug verschiedener Wissenschaften analysiert und, so die Hoff­nung, auch Lösungen zugeführt werden.

Die Aufgabe der Universität in diesem Zusammenhang ist die Pflege der interdis­ziplinären Bezüge  – bei den Studierenden soll zumindest das Bewusstseins dafür gefördert werden  – sowie die interdiszi­plinäre Zusammenarbeit im Bereich der Forschung. Die Volluniversität schafft die

besten Bedingungen für die Ausbildung von Nachwuchstalenten für Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft, die eben nicht nur Spezialisten sind, sondern mit einem fächerübergreifenden Blick an die sich stellenden Aufgaben herangehen. Dies schliesst im Übrigen nicht aus, an einer Universität gewisse Schwerpunkte zu setzen, die auch zu einer Komplemen­tarität der Aktivitäten der Universitäten führen können und sollten. Ganz abgese­hen davon gibt es keine empirische Evi­denz, dass «spezialisierte» universitäre Hochschulen grundsätzlich bessere «Leis­tungen»  erbringen.

Das Konzept der Volluniversität ist aktueller denn je. Unsere vornehmste Aufgabe sollte es sein, die Chancen mög­lichst zu nutzen, die sich im Rahmen der Volluniversität bieten, damit diese ihre Rolle im Dienste der Gesellschaft optimal spielen kann.

Astrid Epiney ist Direktorin der Universität Freiburg und Professorin für Europarecht und Völkerrecht.

Sind Voll­universitäten noch zeitgemäss?

«Das Konzept der Volluniversität ist aktueller denn je.»

Astrid Epiney

Die Volluniversität ist weder überholt noch unnütz oder ineffizient. Vielmehr trägt sie der ganz spezifischen Rolle der kantona­len Universitäten im tertiären Bildungs­system der Schweiz Rechnung. Sie leistet einerseits ihren Beitrag zur Bildung der künftigen Akademikerinnen und Akade­miker, andererseits trägt sie zur wissen­schaftlichen Durchdringung der bedeu­tenden gesellschaftlichen Fragen bei. So ermöglichen die Universitäten den Erwerb einer grossen Vielfalt von allgemeinem und spezialisiertem Wissen, dies in allen Wissensbereichen und unter Berücksichti­gung der jeweils geltenden Methoden, der wissenschaftlichen Vorgehensweise und der Einheit von Lehre und Forschung.

Sie fördern die Entwicklung des un­abhängigen und kritischen Denkens, das dazu befähigt, sich mit abstrakten Fragen vertieft auseinanderzusetzen und zur Er­neuerung von originärem Wissen sowie zur beruflichen respektive wis sen schaft­lichen Tätigkeit beizutragen. Dies impli­ziert auch ein fächerübergreifendes Zu­sammenarbeiten in Lehre und Forschung. Letztlich geht es darum, dass sowohl die Lehrenden als auch die Studierenden nicht

Die meisten Schweizer Unis mit Ausnahme der ETHs bieten das gesamte Spektrum der Wissenschaften an. Hat das Zukunft?

Ja

sagt die Unidirektorin Astrid Epiney.

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Im globalen Massstab ist die Schweiz ein kleines, wirtschaftlich sehr erfolgrei­ches Land. Diese Prosperität verdankt sie auch einem – gemessen an der Kleinheit des Landes – aussergewöhnlichen Wis­sens­ und Forschungsplatz. Einige unse­rer Hochschulen erbringen hervorragende Leistungen, die weltweit ausstrahlen. Der Werkplatz und die exportierende Industrie, aber auch der Finanzplatz und die Dienst­leistungswirtschaft sind auf die Befruch­tung durch den Wissensplatz und seine Ideen  an gewiesen.

Doch künftiger Erfolg ist nicht garan­tiert. Der globale Wettbewerb verschärft sich mit zunehmender Mobilität der be­gehrten Talente. Auf vielen Gebieten wird Spitzenforschung anspruchsvoller und

aufwändiger, die kritische Masse der Mittel steigt. Gleichzeitig steht der Bildungs­ und Forschungsfranken in Konkurrenz mit an­deren Staatsaufgaben. Will die Schweiz ihre Position halten oder ausbauen, muss sie ihre Kräfte auf dem Wissensplatz stärker bündeln als  bisher.

Der Kontrast zur Wirklichkeit der Schweizer Hochschulpolitik ist gross. Hier stehen nicht Effizienz oder Exzellenz im Zentrum, sondern allzu oft ein Geflecht regionalpolitischer Anliegen. Statt sich zu fragen, ob die Schweiz wirklich sieben Phil­I­Fakultäten braucht oder eine wei­tere Wirtschaftsfakultät, setzt man die Ener gien dafür ein, einen möglichst gros­sen Teil des öffentlichen Kuchens für die Bildung abzuschneiden und dann «freund­eidgenössisch» zu verteilen. Hochschulen werden als eine Art Service public verstan­den, die überall im Land ein möglichst komplettes Angebot gewährleisten sollen. Das Hochschulförderungs­ und ­koordi­nations gesetz ist Ausdruck dieser föderal­korporatistischen Grundhaltung, die Ver­teilung über Effizienz stellt.

Die Schweiz sollte sich aber als ein einziger nationaler Hochschulraum verste­

hen, der im globalen Konzert der Wissens­plätze mitspielt. Gefragt ist kein bürokra­tischer Masterplan, der den Hochschulen Rollen zuweist, sondern mehr Gestaltungs­freiheit für die einzelnen Institutionen. Dazu müssten sie möglichst aus der po­litischen Einflussnahme befreit werden. Ein möglicher Weg, die Debatte zu entpo­litisieren, wäre der Übergang von der heu­tigen Anbieter­ zur Nutzerfinanzierung: beispielsweise über ein staatlich finanzier­tes Bildungskonto, aus dem Studierende ihr Studium bezahlen. Im so entstehenden Wettbewerb müssten sich die Hochschu­len überlegen, welche Studiengänge sie selbst anbieten und wo sie Kooperationen eingehen wollen. Es käme zu einer Speziali­sierung und damit zur nötigen Konzentra­tion der Kräfte. Vielleicht gäbe es weiterhin Volluniversitäten, denn die Breite der Dis­ziplinen hat durchaus einen Wert. Wenn nicht, wäre das für die Studierenden kein Unglück, denn in der Schweiz liegen die Universitätsstädte in Pendlerdistanz.

Patrik Schellenbauer ist Stellvertretender Direktor und Chefökonom von Avenir Suisse.

«Die Schweiz sollte sich als ein einziger nationaler Hochschulraum verstehen.»

Patrik Schellenbauer

Nein sagt Patrik Schellenbauer von Avenir Suisse.

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Transparenter und kollaborativer: Die Forschung muss sich neu erfinden. Aber wie?

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Schwerpunkt Open Science

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Die Online­Wandtafel

Mathematiker wie Emmanuel Kowalski von der ETH Zürich legen Probleme vor, diskutieren sie und lösen sie gemeinsam. Das Projekt Polymath funktioniert wie ein Blog: Es ist offen für alle und nährt sich von der Diskussion in Form von Kommentaren. Statt ihre For­schungsprojekte geheim zu halten, bündeln die Forscher spontan ihre Kräfte. Bild: Valérie Chételat

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Die Barrieren niederreissen

Z urückgezogene Artikel, nicht repro­duzierbare Ergebnisse, nicht stan­dardisierte Methoden und Publika­tionen hinter Bezahlschranken: Die

Wissenschaft hat viele Probleme selbst ge­schaffen (siehe «Fixing Science», Horizonte September 2015). Sie sucht aber auch selbst aktiv nach Lösungen.

Für viele Beobachter verspricht ein neu­es Paradigma Linderung: Open Science. Die Idee ist, die Barrieren niederzureissen, die die wissenschaftliche Produktions­kette behindern – von der Formulierung von Hypothesen bis zur Veröffentlichung der Ergebnisse (siehe «Die Elemente der Open Science», S. 13). Die Schlüsselbegriffe: Teilen und Einbeziehen, Zusammenarbeit und Dezentralisierung, Transparenz. Die Forschungsarbeit soll ganz offengelegt und für alle zugänglich gemacht werden – für Wissenschaftler ebenso wie für Mitglieder der Zivilgesellschaft sowie der Industrie, sogar auch für Informatikprogramme, die aus alten Ergebnissen neue Schlussfolge­rungen ziehen können.

Wissen für alleDie erste Säule, der Open Access, stellt den Gratis­Zugang zu allen wissenschaftlichen Publikationen sicher. «Selbst wenn die Leu­te etwas ungeduldig sind, befinden wir uns klar auf dem richtigen Weg», kommen­tiert Daniël Lakens, Forscher im Bereich Psychologie an der Eindhoven University of Technology und Open­Access­Aktivist. Gemäss einer europäischen Studie von 2014 sind mehr als die Hälfte der seit 2007 veröffentlichten Artikel frei zugänglich. Ungelöst ist nach wie vor die Kostenfrage: Die Lektüre eines Open­Access­Journals mag gratis sein, einen Artikel darin zu ver­öffentlichen kostet aber durchschnittlich 3000 Euro. Im Gegensatz dazu stellen Pre­print­Plattformen wie Arxiv oder SSRN an Fachzeitschriften eingereichte Manuskrip­te kostenlos zur Verfügung. Die wissen­schaftlichen Verlage, die wegen der stän­

dig steigenden Preise in der Kritik stehen, müssen reagieren, weil sie sich mit dem Vorwurf der Piraterie konfrontiert sehen: Auf Internetplattformen werden Kopien von Millionen von Artikeln zur Verfügung gestellt – illegal zwar, aber nach Ansicht mancher legitim.

Open Research Data, der zweite Pfei­ler der Bewegung, will die Haltung der Wissenschaftsgemeinde gegenüber den Rohdaten ihrer Forschung grundlegend ändern. «Die meisten Forschenden halten die Daten für ihr Eigentum», bemerkt La­kens. Sie konzentrieren sich auf deren In­terpretation, um eine klare und prägnante Schlussfolgerung präsentieren zu können. Aber die Primärdaten legen sie nicht im gleichen Zug vor. Somit ist es unmöglich, ihre Interpretationen zu prüfen und die gewählte statistische Analysemethode zu hinterfragen. «Normalerweise werden nur positive Ergebnisse veröffentlicht. Diese Verzerrung durch die Publikation halte ich für das grösste Problem der heutigen Wis­senschaft. Abhilfe würde die freie Verfüg­barkeit aller Daten schaffen – gerade auch jener Daten, die nicht in der Publikation erscheinen.»

Anreize schaffenDie Mehrheit der Forschenden sieht kei­nen direkten und individuellen Nutzen da­rin, die eigenen Daten zu teilen. Es braucht Zeit und Ressourcen, und teilweise müssen sie sich die Informatikkompetenzen aneig­nen. So bleibt Open Research Data oft eine

persönliche Initiative oder eine von oben diktierte Bedingung. «Es ist wichtig, Anrei­ze zu schaffen, weil im Moment Open Data nur einen minimalen Einfluss auf das An­sehen eines Forschers hat», meint Sascha Friesike vom Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin, der eine Dissertation über Manage­ment und Innovation an der Universität St. Gallen geschrieben hat. Inzwischen ist einiges ins Rollen gekommen, «insbeson­dere weil verschiedene öffentliche und pri­vate Forschungsförderungseinrichtungen die freie Zugänglichkeit der For schungs­daten fordern», erklärt Lakens.

Protokolle preisgebenDaten allein reichen aber nicht: Es müs­sen auch die Methoden erklärt und Labor­protokolle oder Modifikationen von Mess­instrumenten offengelegt werden. Erst dann können andere Forschungsgruppen die Ergebnisse überprüfen und diese repro­duzieren oder widerlegen.

Die Open­Science­Bewegung träumt davon, dass die Forschenden Probleme ge­meinsam lösen und Laborjournale für alle einsehbar im Internet veröffentlichen. «Die Zusammenarbeit wird immer wichti­ger, weil die Wissenschaft immer komple­xere Probleme lösen will», betont Friesike. «Statt nur die Anforderungen von manch­mal starren Forschungsprogrammen zu erfüllen, sollten die Forschenden ein Inte­resse daran haben, sich selbst zu organisie­ren und Aufrufe zur Zusammenarbeit zu lancieren. Das würde einen zusätzlichen Anreiz schaffen, Daten, Methoden und In­frastruktur zu teilen. Andernfalls sind die Forschungskollegen kaum motiviert, zum Projekt beizutragen.»

Daniel Saraga ist Chefredaktor von Horizonte.

B. Fecher and S. Friesike: Open Science: One Term, Five Schools of Thought. SSRN (2013)

Die Open­Science­Bewegung möchte mehr Forschende dazu bewegen, ihre Daten zu teilen. Das Ziel: Die Wissenschaft effizienter, nützlicher und zuverlässiger zu machen. Von Daniel Saraga

«Open Data hat im Moment nur einen minimalen Einfluss auf das Ansehen eines Forschers.»

Sascha Friesike

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Schwerpunkt Open Science

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Die Basisbewegung hat eine Vielfalt von Begriffen geschaffen. Eine Übersicht.

Die Elemente der Open Science

Archivierung ▸ Langzeitspeicherung der ForschungsresultateCitizen Science ▸ Von Nichtwissenschaft-lern durchgeführte Forschung Daten­Verwaltung ▸ Langfristiger Unter-halt von ForschungsdatenbankenGeteilte Literaturdaten ▸ Teilen der persönlichen Literaturlisten onlineKollaborative Wissenschaft ▸ Kollaborativ Probleme lösen, zum Beispiel auf einem BlogOpen Access ▸ Freier und kostenloser Zugang zu wissenschaftlichen ArtikelnOffene Kommentierung ▸ Forschungs-daten (Genomik, Editionen usw.) werden kommentiert und komplettiert

Open Data ▸ Rohdaten aus einer For-schung, die anderen Forschenden zur Verfügung stehenOpen Evaluation ▸ Öffentliche Online-Evaluation eines publizierten ArtikelsOpen Lab Books ▸ Laborhefte, die online gestellt und öffentlich diskutiert werdenOpen Peer Review ▸ Öffentliche, nicht anonyme Peer Review eines Artikels vor seiner Publikation oder im Rahmen einer EvaluationOpen Science ▸ Offene, transparente und kollaborative WissenschaftOpen Source ▸ Frei wiederverwendbare oder transformierbare Soft- und HardwarePre­Registration ▸ Vorzeitige Ankün-

digung eines Forschungsplans, um A-posteriori-Modifikationen auszuschliessenReplikation ▸ Reproduktion und Validierung früherer ForschungsresultateVorabdruck ▸ Vor der offiziellen Publikation veröffentlichte ManuskripteWissenschafts­Blogs ▸ Kritische Diskussion von Forschungsresultaten durch Wissenschaftler und JournalistenWeiterverwendung ▸ Neues Wissen aus bereits existierenden Forschungsdaten gewinnenWiderlegung ▸ Nicht erfolgreiche Reproduktion früherer Forschungsresultate

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PUBLIKATION

PEER REVIEW

DATENANALYSE

INTERPRETATION

HYPOTHESEN-GENERIERUNG

STUDIENDESIGN

DATENERHEBUNG

DURCHSICHT DER LITERATUR

Forschungskreislauf

Open Science

Wesentliche Vorteile

OPEN EVALUATION

OPEN LAB BOOKS

VORABDRUCK

REPLIKATION

WIDERLEGUNG

WEITERVERWENDUNG

ARCHIVIERUNG

Open­Science­Glossar

WISSENSCHAFTS-BLOGS

PRE-REGISTRATION

OPEN ACCESS

OPEN SOURCE

GETEILTE LITERATURDATEN

OPEN PEER REVIEW

Nützliche Werkzeuge

• Werkzeugliste: bit.ly/Ho_tools, bit.ly/Ho_tools2

• Arbeitsablauf der Forschung: osf.io• Laborhefte: labguru; openwetware• Kommentierung: t-pen.org (Manuskripte)

opencontext (Archäologie), hypothes.is (Webseiten)

• Forschungsdaten­Aufbewahrung: re3data (Liste), datadryad, openresearchdata.ch; ckan.org (Datenmanagement)

• Aufbewahrung anderer Daten: figshare (Daten, Grafiken u. Ä.), github (Software und Notizen), zenodo (Verschiedenes)

• Vorabdruck­Archive: arxiv, biorxiv, SSRN, PeerJ Preprints

• Open Evaluation: thinklab (Anträge), ACP Discussion (Artikel), F1000 (Empfehlungen), PubPeer (Kommentare)

CITIZEN SCIENCE

OPEN DATA

KOLLABORATIVE WISSENSCHAFT

OFFENE KOMMENTIERUNG

DATEN-VERWALTUNG

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Die transparenten WissenschaftlerIn den Laboren und im Feld entscheidet sich, wie künftig Wissenschaft betrieben wird. Vier Porträts stellen Forscher vor, die sich für eine offene Wissenschaft einsetzen – jeder auf seine Art. Von Roland Fischer. Illustrationen: Karoline Schreiber

Maximale Offenheit ist seine Ideologie

Malte Elson versteht unter Open Science die «maximale Transparenz beim wis sen schaft-lichen Arbeiten – und zwar in allen Belangen». Die Idee gebe es schon lang, meint der junge Psychologe mit Spezialgebiet Aggressivität und Computerspiele. Nun aber komme eine neue Generation, die «Zugänglichkeit zugänglich machen» möchte – und die sich um die Struk-turen kümmert, damit Open Science kein leeres Versprechen bleibt. Elson versteht sich als Teil dieser neuen «nicht nur ideologischen, son-dern technologischen» Bewegung. Er hat selbst zwei Webseiten lanciert: journalreviewer.org, eine Sammlung von Erfahrungsberichten über Reviewverfahren, und flexiblemeasures.com, wo auf akribische Weise Aggressionsmessun-gen von andern Forschenden unter die Lupe genommen werden – und die fehlende Standar-disierung angeprangert wird.

Elson nutzt vor allem das Open Science Framework, mit dem der Forschungsprozess vollständig dokumentiert werden kann, «von der ersten Idee bis zur Publikation». Das erhöhe die Transparenz des Vorgehens massiv, auch für den Forscher selbst: Er könne Jahre später noch genau nachvollziehen, was er gemacht habe: «Zudem schützt diese sehr reflektierte Art des Forschens auch davor, sich selbst zu täuschen.»

Das Laborjournal ist offen für alle

Beim Open-Source-Malaria-Projekt ist das Internet gewissermassen Leitmotiv: der Netzwerkcharakter, der offene Fluss der Informationen und die Neuverhandlung von öffentlich gegenüber privat. «Wer auch immer am meisten Arbeit in das Projekt hineinsteckt, wird zum Leader, egal, wo auf der Welt er ist», sagt die Biochemikerin Alice Williamson, die die Initiative zur Entwicklung eines neuen Malaria-Wirkstoffs mit lanciert hat. Sie arbeitet in Sydney, beteiligt sind aber Forscher aus der ganzen Welt, darunter auch ein Software-Spezialist der EPFL.

Alle Forschungsdaten werden unmittelbar offengelegt. Auch die Kommunikation zwischen den Forschern findet «möglichst wenig per E-Mail», sondern vorzugsweise auf Seiten wie Github oder über Twitter statt. So könne For-schung nicht nur transparenter, sondern auch effizienter werden, sagt Williamson. Es sei eine «furchtbare Vergeudung von Forschungs-mitteln», wenn verschiedene Labors an den-selben Substanzen forschten und alle in der gleichen Sackgasse landeten. Sie organisiert regelmässig Workshops zur Führung von offe-nen Laborjournalen und merkt da, dass es für den Nachwuchs ganz normal sei, Erfolge wie auch experimentelle Irrwege zu teilen – so wie sie es auch im Privatleben handhaben.

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Gegen Lizenzen kämpfen

Der Roboterforscher Francesco Mondada von der EPFL baut sein Laborequipment selber, und für die Bauteile benutzt er am Computer CAD-Software (Computer Aided Design). Er möchte seine Baupläne der Öffentlichkeit zur Ver-fügung stellen – das wäre selbstverständlich für ihn. Aber er bleibt im Kleingedruckten hän-gen: Für den Gebrauch von CAD-Software gibt es spezielle Lizenzen für Bildungs institutio nen, teure für die Industrie und verschiedene Datei-formate, je nach Lizenz. Und dazu ein Wirrwarr an Bestimmungen, denen man beim Kauf der Software zustimmt – und die kaum je die offene Verbreitung der Dateien vorsehen. Es ist ein wenig, als müsste ein Schriftsteller vor der Pu-blikation Microsoft um Erlaubnis fragen, wenn er seinen Text mit Word geschrieben hat.

Mondada glaubt nicht, dass die Robotik diesbezüglich ein exotisches Feld ist: «Auch Biologen beginnen, 3D-Drucker in ihren Labors zu nutzen, die spezialisierte Software verlan-gen.» Seit Jahren kämpft er auch für einfachere Regelungen. Es gebe einen «Clash zwischen zwei Vorstellungen der Universität». Das alte Modell beurteile den Transfer in die Industrie von Fall zu Fall; das neue, offenere Modell stehe für einen offenen und unbürokratischen Austausch, nicht nur zwischen Akademikern, sondern auch mit der Industrie.

Seminare finden online statt

Die Deep-Learning-Community erprobt, via Online-Foren Forschungsansätze und -ideen zu diskutieren. Zunächst werden die Inhal-te möglichst einfach zugänglich gemacht: «Die Tendenz geht dahin, alles auf dem Preprint- Server Arxiv zu veröffentlichen», sagt Oliver Dürr, Professor an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW). Der Programmiercode wird meist gleich mitveröffentlicht. Arxiv dient auch als Link quelle, um die sich allerlei weitere Diskussions foren scharen.

Sehr populär zum Beispiel ist laut Dürr Reddit, wo in spezialisierten Subforen Artikel verlinkt und kommentiert werden. Und im «Ask me anything»-Forum gibt es regel mässige Frage stunden, für die sich renommierte Kollegen zur Verfügung stellen: Peers reichen Fragen ein, die dann hoch- und runtergewertet werden können. Auch Blogs über Künstliche-Intelligenz-Forschung liest Dürr gern. Sein eigener diene mehr als Tagebuch, um seine Ideen festzuhalten. Manche, wie der von Andrej Karpathy, finden viel mehr Aufmerk-samkeit: Die langen Einträge sind mit Reviews vergleichbar, und die Kommentarspalte ist voll mit Nachfragen und Anregungen. So bilden sich laufend neue Diskussionskreise, zu denen prinzipiell jeder Zugang hat – mit oder ohne universitären Abschluss.

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Pergament 2.0

Historische Manuskripte digitali­sieren, damit Forschende aus aller Welt diese studieren können, ist gut. Noch besser ist es, sie aus Distanz gemeinsam zu kommentie­ren. An der Universität Bern erfasst die Historikerin Tara Andrews ihre Annotationen mit dem Instrument T­Pen und teilt sie online.Bild: Valérie Chételat

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Der lange Weg zu Open Science

W issenschaftler legen von Be­ginn an ihre Studien­ und Ver­suchspläne offen; sie berich­ten auf Blogs transparent und

tagesaktuell über ihre Fortschritte im La­bor; später publizieren sie in Open­Access­Zeitschriften, die per Open Peer Review be­gutachtet wurden. Die Resultate legen sie in für alle Welt einsehbare Datenbanken nieder. Soweit die Utopie der Open Science.

Kommt jetzt die gläserne Forschung? Ganz so einfach entwickeln sich die Din­ge wohl nicht. Denn manchmal fehlt das liebe Geld. Manchmal ist niemand in der Lage, eine erforderliche Datenbank an­zulegen. Oder Wissenschaftler zögern, ihre Daten offenzulegen, weil sie fürchten, die Konkurrenz könnte die Idee klauen und schneller publizieren.

Unterschätzter AufwandDie Erfolge mit der Offenlegung von For­schungsdaten, die Big Science vorzuwei­sen vermag – sei es am Kernforschungs­zentrum Cern, sei es in der Genforschung –, können täuschen. In vielen Bereichen ausserhalb von Grossprojekten bestehen noch starke Hemmnisse. Die Freigabe von Daten zu fordern ist leicht. Doch einzelne Forscher, die nicht die Mittel und Exper­tise haben, verzweifeln an der Aufgabe. Da Einzelforscher und kleine Gruppen Schwierigkeiten mit der Offenlegung ha­ben, können ihre Daten oft nicht oder nur schwer von anderen Wissenschaftlern ge­nutzt werden. «Vielen fehlt die Zeit und die Kenntnis, um die Daten ausreichend zu dokumentieren und bereitzustellen», sagt Benedikt Fecher. Der Doktorand am Deut­schen Institut für Wirtschaftsforschung

sowie am Alexander von Humboldt Insti­tut für Internet und Gesellschaft in Berlin hat die Einstellung der Forscher zu Open Science erkundet.

In den USA und in Europa haben sich die Organisationen zur Forschungsför­derung auf die Fahnen geschrieben, die Offenlegung von Daten voranzutreiben. Dazu genügt es aber nicht, Open­Science­Standards zu diktieren. Forscher benöti­gen auch organisatorische, finanzielle und personelle Unterstützung – wie sie zum Beispiel das Schweizer Kompetenzzent­rum Sozialwissenschaften (FORS) leistet. Die Institution hilft bei der Aufbereitung, Dokumentation und Speicherung sozial­wissenschaftlicher Forschungsdaten und stellt die nötige Infrastruktur zur Ver­fügung. Wissenschaftler können sich zum Beispiel in Workshops weiterbilden und für das Datenmanagement auf Online­Tools zugreifen.

In den Naturwissenschaften ist Open Data schon etabliert, doch Sozialwissen­schaftler fremdeln noch mit dem Kon­zept. Das liegt zwar auch daran, dass sie meistens mit personenbezogenen Daten arbeiten, die dem Datenschutz unter­liegen – aber nicht nur. Generell seien

Sozialwissenschaftler oft nicht daran gewöhnt, Daten standardisiert zu doku­mentieren, benennt Alexandra Stam, Lei­terin der FORS­Gruppe «Data Promotion», eines der Probleme: «Viele Forscher rea­lisieren nicht, dass ihre Daten nach der eigent lichen Arbeit weiterleben können.» Auf diese Weise gingen viele potenziell wertvolle Daten und wichtige Details un­nötiger weise verloren.

Die Ursachen für die Misere liegen un­ter anderem in der Ausbildung. Daten­manage ment werde im Studium nicht for­mal gelehrt, sagt die Expertin. Oft würden Forscher es verpassen, die Daten bereits während des Projekts zu dokumentieren. Stattdessen fingen sie erst damit an, wenn sich das Vorhaben dem Ende zuneige.

In manchen Ländern, etwa in den USA und im Vereinigten Königreich, muss ein Plan zum Datenmanagement oft schon mit dem Antrag zur Forschungsförderung erstellt werden. In der Schweiz ist das noch nicht der Fall. Stam hofft, dies werde bald kommen. Darüber hinaus hat es sich als essenziell erwiesen, einmal dokumen­tierte und offengelegte Daten in dauer­haften Datenbanken zu speichern. Sonst hängt deren Pflege nach Ablauf eines Pro­jekts in der Luft.

Prinzipiell ja, aber …Zu viel Optimismus ist bei Open Data bis­her unangebracht – trotz institutioneller Hilfestellung wie durch das FORS. Selbst wenn die Forscher nicht mit der Aufgabe allein gelassen werden, zögern nicht we­nige, ihre Daten offenzulegen. Fecher hat in seinen Befragungen in Forscherkrei­sen eine Diskrepanz festgestellt zwischen

«Viele realisieren nicht, dass ihre Daten nach der eigentlichen Arbeit weiterleben können»

Alexandra Stam

Viele Forscher finden die neue Wissenschaftskultur gut, zögern aber noch, sich auf offenen Erkenntnisaustausch einzulassen. Mangelnde Kenntnisse im Datenmanagement und die Angst vor Ideenklau sind nur zwei der vielen Gründe. Von Sven Titz

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einer allgemein positiven Einstellung zu Open Science und der persönlichen Zu­rückhaltung, eigene Daten freizugeben.

Oft hemmt die Angst vor Ideendiebstahl die Forscher. Das Risiko mag stark über­schätzt werden, doch dass solche Fälle ge­legentlich auftreten, ist nicht von der Hand zu weisen. Der Genforscher Titus Brown an der University of California in Davis hat einmal berichtet, Konkurrenten hätten sei­ne offengelegten Methoden für Fachartikel verwendet, die er selbst hätte schreiben können. Er ist trotzdem ein Verfechter der Offenlegung geblieben. Brown ist davon überzeugt, dass sie der Forschung nützt.

Natürlich gibt es noch weitere Ursachen für die Zurückhaltung. Der gepriesenen Transparenz kann zum Beispiel auch eine Art Gewohnheitsrecht im Weg stehen. In der empirischen Medizinforschung sei bis heute die «antiquierte» Haltung verbrei­tet, dass man als Urheber von Daten auch Koautor neuerer Studien werden müsse, wenn sich diese auf die eigenen Daten stützten, sagt Fecher.

Es fehlen AnreizeGenerell, das beklagen viele Beobachter, mangelt es noch an Anreizen, Daten offen­zulegen. Forscher werden heute an Qua­lität und Quantität ihrer Publikationen gemessen. Aber für Datensätze fehlt noch eine entsprechende akademische Anerken­nung. «Die Forscher fänden das gut», sagt Doktorand Fecher. Auch Stam betont die Bedeutung dieses Anreizes: «Es ist wichtig, dass die Leute den Nutzen guten Daten­manage ments für ihre eigene Forschung erkennen – jenseits des Datenteilens.»

Immerhin sind in den vergangenen Jah­ren viele so genannte Datenjournale ent­standen, die neue Datensätze ins Zentrum

der Artikelpublikation stellen. Das bekann­teste dürfte «Scientific Data» der Nature Publishing Group sein. Auch Archäologie, Geowissenschaften, Chemie und andere Wissenschaftszweige nutzen inzwischen fachspezifische Datenjournale. Diese spe­zialisierten Medien werden so lange eine Lücke füllen, bis Forschungs daten formal anerkannt werden.

Die frivole Offenheit der NotizbücherEin bisschen anders liegen die Dinge bei der Offenlegung des Forschungsprozesses selbst, zum Beispiel in offenen «Labor­No­tizbüchern». Der Ökosystemforscher Carl Boettiger von der University of California in Berkeley begann schon als Doktorand damit, seine Forschungsnotizen online zu stellen. Wie er heute sagt, hatte er einfach Glück: Er sei naiv an die Sache herangegan­gen; kein Vorgesetzter nahm Anstoss an seinem Notizbuch. Das ist aber nicht der Regelfall. Mit allzu ungestümer Offenheit irritieren manche Nachwuchsforscher ihre Kollegen. In manchen Situationen schaden sie sogar ihrer Karriere.

Boettiger nutzt das Notizbuch vor allem als Gedächtnisstütze und zum Austausch mit Kollegen, die er gezielt auf Einträge verweisen kann. Hin und wieder hätten ihn Koautoren von Fachartikeln gebeten, sensible Informationen zeit weise zurück­

zuhalten. Sonst aber schreibe er immer al­les sofort auf. Ideen wurden ihm aufgrund des offenen Notizbuchs noch nicht ge­klaut. Neben vielen diffusen Sorgen wegen Open Science besteht ein reales Problem darin, dass die offenen Labor­Notizbücher Zeitfresser sein können. Laut Boettiger muss man sich je nach Computerkennt­nissen in spezielle Programme einarbei­ten. Da es dem Ökosystemforscher gene­rell am Herzen liegt, Open Science in all ihren Facetten zu vereinfachen, hat er vor ein paar Jahren das Projekt «rOpen­Sci» mitbegründet – eine Plattform zur Bereitstellung von Software, mit der wis­senschaftliche Daten aufbereitet und of­fengelegt werden und die auch für Labor­Notiz bücher nützlich ist.

Wenn Firmen bei der Hardware zögernSelbstverständlich ist Open Science nicht auf Daten und Kommunikation beschränkt. In Open­Source­Projekten sind auch Hard­ware und Software transparent. Die Schalt­pläne und Baupläne werden zur Verfügung gestellt – analog zum Quellcode bei Open­Source­Software, erläutert Lorenz Meier, Doktorand am Institute for Visual Compu­ting der ETH Zürich. Meier hat in mehreren Projekten mit Firmen zusammengearbei­tet. Meistens konnte er durchsetzen, mit offener Hard­ und Software zu arbeiten. Das bedeutet bei Open­Source­Software, dass die Firmen oft bereit waren, auch die Verbesserungen weiterzugeben, die wäh­rend eines Projekts erarbeitet wurden.

Zusammen mit Kollegen hat Meier zum Beispiel die Autopilot­Software «PX4» ent­wickelt, mit der sich Drohnen und Minia­turflugzeuge steuern lassen. Die Software und Anleitungen zur Hardware werden zum freien Download angeboten. Alles

«Vielen fehlt die Zeit und die Kenntnis, um die Daten ausreichend zu dokumentieren und bereitzustellen.»

Benedikt Fecher

«Bei Drohnen sind Open­Source­Lösungen sogar militärischer Software überlegen.»

Lorenz Meier

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Schwerpunkt Open Science

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Vom Labortisch in die Welt

Versuche, Erfolge und Misser­folge: Ein Biologe hält all seine Beobachtung auf Papier oder mit dem Computer fest. Die Forscher des internationalen Open­Source­Malaria­Projekts gehen noch weiter und öffnen ihr Laborjour­nal online für alle – wie Volker Heussler von der Universität Bern. Dies ist der beste Weg, um den Fortschritt zu dokumentieren und andere Wissenschaftler davor zu bewahren, dieselben Fehlversuche zu machen. Bild: Valérie Chételat

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andere ergibt keinen Sinn, findet Meier. «Bei Drohnen sind Open­Source­Lösungen sogar militärischer Software überlegen.» Kein Unternehmen sei mehr in der Lage, eine Neuentwicklung besserer Software selbst zu stemmen.

Die Zusammenarbeit mit Firmen klappt gut, findet Meier, wenn auch nicht immer auf Anhieb. Nach seiner Erfahrung sper­ren sich Firmen besonders dann gegen eine Offenlegung, wenn sie sich Probleme einbilden – zum Beispiel wenn sie ihr Ge­schäftsmodell bedroht sehen. Um solche Widerstände zu entkräften, müsse geklärt werden, woran sich bei einem Projekt über­haupt Geld verdienen lasse, sagt Meier. Und das ist eben oft weder der Bauplan noch die Software, sondern eher das Angebot von Expertise und Service.

Modelle wie Linux, bei denen der Quell­code offen zugänglich ist und keinen Schutz geniesst, hätten sich auf dem Markt bewährt, bestätigt Oliver Gassmann vom Institut für Technologiemanagement der Universität St. Gallen. Firmen hätten so grosse Vorteile erkannt, dass sie manchmal sogar Patente an die Open­Source­Bewe­gung spendeten. «Dann setzen sich näm­lich neue Standards viel rascher durch als bei geschützten Lösungen», so Gassmann. In solchen Fällen besteht die Aufgabe der Unternehmen darin, die Wertschöpfung anderswo zu suchen.

Grundsätzlich beurteilt Gassmann die Zusammenarbeit von Forschungsinstitu­ten mit Privatunternehmen positiv: Die Unternehmen erhielten Zugang zu Grund­lagenwissen und die Forscher eine zusätz­liche Finanzierung. Open Science könne dabei Konflikte verursachen, wenn Veröf­

fentlichungen der Forscher so früh kom­men, dass sie mit dem Stand der Technik bei den Patentanmeldungen kollidieren. Das sei aber ein grundsätzliches Problem, das auch in klassischen Kooperationspro­jekten zwischen Hochschulen und Wirt­schaftspartnern auftrete, meint Gassmann. Bei Open Science werde das Problem bloss verschärft.

Das Problem PrivatsphäreAn ihre Grenzen gelangt die Forderung nach Transparenz der Forschung, wenn offengelegte Informationen genutzt wer­den, um den Ruf von Wissenschaftlern zu beschädigen. Klimaforscher – gerade im angelsächsischen Raum – können ein Lied von enervierenden Anfragen zur Freigabe von Daten singen, etwa gemäss dem «Free­dom of Information Act», einem Gesetz von 1967. Oft wurden die gesammelten Infor­mationen anschliessend dazu genutzt, um die Mainstream­Klimaforschung als frag­würdig hinzustellen. Michael Mann von der Pennsylvania State University dürfte das prominenteste Opfer solcher Aktivis­ten sein.

Wie weit Forscher mit der Offen legung ihrer Arbeit gehen sollen, lässt sich also nicht so einfach entscheiden. Ein zu gros­ser Transparenzdruck kann auch ein un­erwünsch tes Resultat haben: Innere Zen sur kann etwa zu konformistischem Verhalten führen. Das aber würde den Erfolgs aussichten von Open Science zuwi­derlaufen.

Zu einem besonders schwerwiegenden Problem wird die Privatsphäre, wenn es um die Rechte Dritter geht, zum Beispiel, wenn Patientendaten aus klinischen oder

genetischen Studien für andere Mediziner zugänglich gemacht werden sollen. Die Folgen können richtig ärgerlich sein: Ärzte mit Patienten, die an sehr seltenen Krank­heiten leiden, standen bis anhin oft vor dem Problem, konkrete Vergleichsfälle zu finden, um sich bei der Therapie daran zu orientieren. Der Datenschutz war im Weg.

Aber auch für so schwierige Fälle gibt es Lösungen. 2013 wurde zum Beispiel die «Global Alliance for Genetic Health» ge­gründet. Dieser weltweite Verbund von mehr als 380 Institutionen entwickelt raf­finierte Verfahren, damit Patientendaten auf freiwilliger Basis sicher und effektiv ge­teilt werden können. Dazu wurden ein fein abgestuftes Modell von Einwilligungen zur Datenfreigabe durch Patienten sowie Algo­rithmen für den Datenzugriff entwickelt. Am Ende soll der Austausch der Patienten­daten vor allem der Erforschung von selte­nen Krankheiten, Infektionskrankheiten und Krebs dienen.

Um den Kulturwandel hin zu Open Science trotz aller Hindernisse zu reali­sieren, ist also noch ein beträchtlicher Aufwand nötig.

Sven Titz ist Wissenschaftsjournalist in Berlin.

«Es ist wichtig, dass die Leute den Nutzen guten Datenmanagements für ihre eigene Forschung erkennen – jenseits des Datenteilens.»

Alexandra Stam

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Schwerpunkt Open Science

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Martin Vetterli weibelt seit Jahren für Open Science. «Befehlen kann ich es nicht», sagt der Präsident des Forschungsrates des Schweizerischen Nationalfonds. Als Forscher an der EPFL legt er sämtliche seiner Rohdaten offen. Von Atlant Bieri

«Ich bin frustriert»

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Was bedeutet «Open Science» für Sie als Forscher?

Wir haben bei uns an der Fakultät für Com­puter­ und Kommunikationswissenschaf­ten an der EPFL eine Tradition, dass alle veröffentlichten Papers online frei verfüg­bar sind. Dazu liefern wir auch alle Daten und alle Quellcodes. Auf diese Weise kön­nen alle unsere Resultate von anderen For­schergruppen reproduziert werden.

Schon heute versinken Forschende in Papers. Wie können Forschende den Überblick behalten, wenn nun alles offengelegt wird?

Mit Open Science wird genau das Gegenteil der Fall sein. Einen Artikel auf dieser Basis zu publizieren bedeutet, dass alle Daten sauber dokumentiert sind. Jeder Arbeits­schritt, der zu einem Resultat führte, ist beschrieben, damit er von anderen nach­vollzogen werden kann. Das führt dazu, dass generell weniger Papers publiziert werden und dass gleichzeitig deren Qua­lität steigt. Forschung wird damit auch übersichtlicher.

Wie gehen Sie dabei konkret vor?Wir publizieren immer noch in den tradi­tionellen Journals. Doch bereits während wir das Paper einreichen, stellen wir alle Daten auf unseren Server. Sobald der Arti­kel akzeptiert wird, stellen wir auch dieses online frei zur Verfügung.

Sollte ein Forscher nicht das Recht haben, seine Laborrezepte für sich zu behalten?

In meinem Feld sicher nicht. Aber auch für andere Wissenschaftszweige als die Com­puterwissenschaften ist das fragwürdig. Vor 350 Jahren haben wir die Wende von der Alchemie zur Chemie vollzogen. Die Alchemisten behaupteten einfach, nach einer geheimen Methode Gold produziert zu haben. Es gab keine Möglichkeit, die Behauptung systematisch zu überprüfen. Man konnte es glauben oder auch nicht glauben. Doch mit der Chemie änderte sich das. Wir begannen unsere Methoden zu publizieren. Das war die Geburtsstunde der modernen Wissenschaften. Wenn wir es heute anders machen, bewegen wir uns wieder zurück zur Alchemie.

Nur 40 Prozent der Publikationen, die über Beiträge des Schweizerischen Nationalfonds entstanden sind, sind frei zugänglich. Sind Sie als Forschungsratspräsident zufrieden damit?

Nein. Ich bin frustriert. Wir sind viel zu langsam. Heute zahlt der Schweizer Steu­erzahler drei Mal. Das erste Mal für die Forschung, das zweite Mal für das Abon­

«Wenn wir auf Open Science umstellen, dann produzieren wir weniger Papers von besserer Qualität.»

nement der Fachzeitschrift und das drit­te Mal für die Open­Access­Gebühr. Dabei schöpft der Verlag zwei Mal einen Gewinn ab. Das ist sehr beschämend. Das können wir nicht tolerieren.

Was unternehmen Sie dagegen?Der SNF arbeitet zusammen mit Swissuni­versities an einer Strategie. Wir wollen erreichen, dass alle Papers Open Access erhältlich sind, und zwar ohne dass wir nochmals eine Gebühr dafür entrichten müssen. Wir hoffen, dass wir eine Verein­barung mit den Verlagen treffen können, damit Forscher in der Schweiz automatisch Open Access erhalten.

Wie wollen Sie das erreichen?Wenn der Forschungsplatz Schweiz ge­schlossen auftritt, dann könnten wir zu den Verlagen gehen und sagen: Entweder macht ihr mit uns jetzt einen Deal, oder die Schweizer Forschergemeinde wird euch boykottieren. Das ist natürlich schwierig. Aber die Niederlande haben das geschafft. Und sie waren erfolgreich damit.

Ist die Schweiz bereit für diesen Schritt?Die ganze Sache ist etwas kompliziert. Ver­schiedene Akteure auf dem Forschungs­platz Schweiz haben unterschiedliche In­teressen. Wir tun uns bei der Koordination dieser Interessen noch ein wenig schwer.

Könnte der SNF die Forschenden nicht einfach dazu zwingen, ihre Daten nur noch bei Open Access Journals zu publizieren?

Dies ist nicht so einfach, denn das wäre un­ter Umständen schlecht für ihre Karrie re. Ein Forscher muss möglichst in einer Zeit­schrift publizieren, die am besten zu sei­nen Resultaten passt. Unser Ziel ist es auch, die Karrieren der Forschenden zu fördern, und nicht, sie zu behindern.

Warum gründet die EPFL nicht ihr eigenes Fachmagazin?

Ein eigenes Fachmagazin ist eine sehr gute Idee. Aber das ist nicht etwas, das wir von oben herab befehlen können. Das muss von der Forschergemeinde selbst kommen. Wenn eine Gemeinschaft sich dafür ent­scheidet, den traditionellen Weg zu verlas­sen, dann wird es passieren. Aber ich bin nicht der, der das entscheidet. Für einen solchen Prozess braucht es einen kulturel­len Wandel bei den Forschenden.

«Die Konkurrenz unter den Forschenden ist heute etwas zu stark.»

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Sind Forscher anderswo schon diesen Weg gegangen?

Ja. Der berühmte Mathematiker Timothy Gowers von der Universität Cambridge hat zusammen mit anderen Forschenden das Journal «Discrete Analysis» gegründet. Das ist ein virtuelles Journal. Das Editorial Board kann sich ganz auf das Peer­Review konzentrieren, weil die Verwaltung der ein­gehenden Papers von einer externen Firma übernommen wird. Die Kosten belaufen sich auf rund zehn Franken pro Manu­skript. Es kostet also hundert bis tausend Mal weniger als die Publikation in einem traditionellen Journal.

Ein Artikel in Nature zeigte 2012, dass 47 von 53 wichtigen Krebsstudien nicht reproduzierbar waren. Wie ist so etwas möglich?

Fairerweise muss man sagen, dass in man­chen Gebieten die Forschung schwieriger ist als in anderen. Bei der Medizin beispiels­weise hat man nur wenige Daten, weil man hier mit Menschen arbeitet. Dort gibt es mit der Statistik häufig Probleme und da­mit auch mit der Reproduzierbarkeit.

Trotzdem, die Reproduzierbarkeitskrise betrifft auch andere Gebiete wie die Biologie. Dort kann man seine Datenmengen frei wählen.

Ich habe von bekannten Professoren das Argument gehört: «Die andere Gruppe konnte das nicht reproduzieren, weil die nicht so gut sind wie wir.» Es gibt Leu­te, die ein goldenes Händchen haben. Das heisst, sie können mit Organismen so gut um gehen, dass ihnen Experimente gelin­gen, die andere nicht nachmachen können. Trotzdem denke ich, dass das eine Schwä­che ist, weil das Ziel der Wissenschaft die lückenlose Reproduzierbarkeit ist.

Mogeln die Leute nicht einfach?Dies kann vorkommen, ist aber sicher nicht die Norm. Hier müssen wir auch an die Konkurrenz unter Forschenden den­ken. Die ist heute etwas zu stark. Der da­durch entstehende Druck führt dazu, dass die Forscher sich genötigt fühlen, auch in­adäquate Arbeiten zu publizieren.

Wettbewerb ist also schlecht für die Forschung?

Für eine bessere Wissenschaft

Am Kongress «We Scientists Shape Science» vom 26. bis 27. Januar 2017 legen Forschende zusammen mit Entscheidungsträgern erste Schritte hin zu einer kreativen, soliden und engagierten Wissenschaft fest. Der Kongress wird von der Akademie der Naturwissen­schaften und dem Schweizer Wissenschafts­ und Innovationsrat organisiert.www.naturalsciences.ch/wescientists

Von Präsident zu Präsident

Martin Vetterli ist einer der Vorreiter von Open Science. Er ist Professor an der Fakultät für Computer­ und Kommunikations­wissenschaften an der EPFL, noch bis Ende 2016 Präsident des Nationalen Forschungs­rates des SNF und ab Anfang 2017 neu EPFL­Präsident.

Nein, so plakativ würde ich das nicht sagen. In der Wissenschaft ging es schon immer darum, der Erste bei einer Entdeckung zu sein. So bringen wir die Forschung voran, indem wir schlauer und besser sind als die Anderen. Es gehört zur Natur der For­schung, sich im gegenseitigen Wettstreit zu messen.

Aber was ist dann das Problem?Heute ist es vor allem für junge Leute schwierig geworden, echte Forscher zu sein. Vor fünfzig Jahren hatte man noch die Musse, anders über die Welt zu den­ken und neue Ideen zu generieren. Heute ist Forschung zu einem Business gewor­den. Die Öffentlichkeit, die Politik und die Privatwirtschaft denken, dass man bei der Forschung an einem Ende Geld reinwer­fen kann, damit am anderen Ende wenig später verwendbare Resultate herauskom­men. Aber das ist natürlich nicht so. For­schung braucht Zeit und Raum für kreative Gedanken.

Aber an der EPFL haben es die Forscher doch gut, oder nicht?

Es geht nicht nur um die Schweiz. For­schung passiert global. Und hier gibt es einige beunruhigende Phänomene. In ge­wissen asiatischen Ländern etwa hängt der Lohn eines Forschers davon ab, in wel­chen Fachmagazinen er publiziert. Das ist fragwürdig, denn so wird unredliches Ver­halten direkt gefördert.

Und das hat auch Auswirkungen auf den Forschungsplatz Schweiz?

Ja. Junge Forschende spüren den Druck zu publizieren. Sie machen aus dem Material für ein Paper gleich drei. Das sieht auf der eigenen Publikationsliste besser aus. Das merken wir auch bei den Anfragen für Re­views. Die sind in den letzten Jahren ex­plodiert. Das ganze System wird komplett überschwemmt. Die Qualität bleibt da na­türlich auf der Strecke.

Wie kann Open Science das gegenwärtige System verbessern?

Wenn wir auf Open Science umstellen, dann produzieren wir weniger Papers von besserer Qualität. Die lassen sich erst noch schneller im Reviewprozess überprüfen, weil alles dokumentiert ist.

Sie werden Präsident der EPFL. Welche konkreten Massnahmen planen Sie, um Open Science zu fördern?

Ich will eine Kultur fördern, in der For­schungsfelder, die mit Open Science schon weit sind, andere Felder so beeinflussen, dass diese auch mitmachen. Dazu stellen wir ein Online­Tool zur Verfügung. Mit dem können Forschende ihre Daten ein­

fach hochladen und für andere bereitstel­len. Dritte können diese dann überprüfen. Das Tool soll aber auch die Kollaboration zwischen verschiedenen Gebieten fördern. In den Umweltwissenschaften beispiels­weise ist man den Umgang mit grossen Datenmengen nicht unbedingt gewohnt. Hier könnten die Mathematiker oder Com­puterwissenschaftler helfen.

Wie überzeugen Sie die Jungforscher von Open Science?

Ich sage ihnen: Das Wichtigste für deine Karriere ist, dass deine Arbeit eine grosse Wirkung hat. Wenn du deine Daten online stellst, wird deine Arbeit sichtbarer und die Leute vertrauen dir auch. Und das führt zu einer grösseren Wirkung. Befehlen kann ich es ihnen nicht. Die Erkenntnis muss von ihnen selbst kommen.

Atlant Bieri ist freier Wissenschaftsjournalist.

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INTERVIEW

«Physik kann einfach und schön sein»

NEWS

Chenkai Mao hat die Goldmedaille an der internationalen Physikolympiade gewonnen, die im Juli 2016 in Zürich statt­fand. Der 19­jährige Chinese, Sohn eines Doktors der traditionellen Medizin und einer Kranken schwester, erreichte unter den 400 Teilnehmenden aus 86 Ländern den ersten Rang.

Wie haben Sie sich auf die Olympiade vorbereitet?

Solche Wettbewerbe spielen in China eine wichtige Rolle, auch als Eintrittsprüfun­gen an die Universitäten. Ich begann vor drei Jahren an der Mittelschule mit Physik und absolvierte drei Wettkämpfe für meine nationale Auswahl. Ich habe mich ein paar Monate vorbereitet. Wir halfen einander im Team, aber am Ende ist jeder auf sich selbst gestellt!

IN KÜRZE

Weshalb haben Sie teilgenommen?Zuerst wegen meiner Leidenschaft für die Physik. In meinem Alter ist das die perfek­te Wahl, und es ist eine Ehre, mein Land zu vertreten.

Der schwierigste Teil der Prüfung?Um ehrlich zu sein, war der Theorieteil zwar eine Herausforderung, aber nicht so hart für das chinesische Team. Es war schwieriger, die rund fünf Stunden Zeit richtig einzuteilen, um alle Experimente durchzuführen. Es müssen Prioritäten gesetzt werden: Soll ich mir Zeit für präzisere Messungen nehmen oder weitermachen?

Was werden Sie ausser der Medaille nach Hause nehmen?

Es war eine sehr inspirierende Erfahrung, einfach unvergesslich! Es war grossartig, so viele Teilnehmende aus der ganzen Welt zu treffen.

Möchten Sie ein Forscher werden?Physik ist eine gute Grundlage für viele Fächer wie Mathematik oder Chemie. Es ist schwierig vorherzusehen, was in den nächsten zehn Jahren passieren wird. Aber mein Traum ist es, ein Universitäts­professor zu werden oder in einem For­schungsinstitut zu arbeiten.

Was bedeutet Physik für Sie?Sie hat mein Weltbild geprägt. Sie be­schreibt die Welt mit universellen und vor allem genauen Grundsätzen. Physik kann einfach und schön sein. In China denken die meisten Leute, dass diese Disziplin zu wenig nah an der Praxis und an der Gesell­schaft ist. Sie haben ihre eigenen Gründe und Erfahrungen für diese Ansicht. Aber ich glaube, es ist wichtig, die jüngere Generation zu inspirieren.

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DAS ZITAT

«Ab 2020 müssen alle wissenschaftlichen Artikel in Europa frei zugänglich sein.»Niederländische EU­Ratspräsidentschaft, 27. Mai 2016.

DIE ZAHL

1000neue Tenure­Track­Professuren sollen in Deutschland mit einem Zusatzbudget von 1 Mrd. Euro geschaffen werden. Geplant sind zwei Anstellungswellen 2017 und 2019.

DIE NOTE

«Gering» bis «sehr gering»ist die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit für einen Artikel von Bjørn Lomborg, der im Mai 2016 in «The Telegraph» erschien. Auf der Plattform Climate Feedback kommentieren und bewerten Forschende klimarelevante Artikel der Massenmedien.

DIE MASSNAHME

3 Millionen Euro für Replikationenstellt die Niederländische Organisation für wissenschaftliche Forschung (NWO) über drei Jahre für die Föderung von Projekten zur Verfügung, die Ergebnisse reproduzie­ren wollen.

DER AUFRUF

«Wissenschaftlicher und industrieller Selbstmord»Nach dem dramatischen Aufruf von sieben Nobelpreisträgern kürzte die französische Regierung die Forschungsgelder nur um die Hälfte der vorgesehenen 256 Mio. Euro.

DAS WERKZEUG

Turkprimeheisst eine Plattform für Online­Umfragen in Psychologie und Soziologie. Basierend auf der Crowdsourcing­Plattform Mecha­nical Turk von Amazon wurden seit der Lancierung im Januar 2015 über 160 Mil­lio nen Antworten registriert.

DIE LOBBYORGANISATION

The Guildof Research Intensive Universities um­fasst neun Hochschulen, die künftig ihre Interessen gemeinsam bei der EU ver­treten wollen. Sie stossen damit zu LERU (21 Universitäten), Coimbra Group (38), EUA (850) und Eurotech (5).

DIE INFRASTRUKTUR

ESFRI Roadmaphebt 21 Projekte und 29 existierende Forschungsinfrastrukturen heraus, die für Europa von strategischer Bedeutung sind. Neben der traditionellen Big Science wie Energie und Physik sind auch Gesund­heit, Ernährung und Digital Humanities berücksichtigt.

Willkommener Schub

Die private britische Biomedizin­Stiftung Wellcome Trust macht Ernst mit Open Access. Sie lässt zusätzliche 25 Millionen Pfund in die Open­Access­Fachzeitschrift eLife fliessen, an der auch die Max­Planck­Gesellschaft und das Howard Hughes Medical Institute beteiligt sind. Mit « Wellcome Open Research» lanciert sie zu­dem eine eigene Open­Access­Zeitschrift. Mit der Produktion wird die Plattform F1000 beauftragt, die pro Artikel zwischen 150 und 1000 Pfund verrechnet.

Was ist wissenschaftliche Integrität?

Von 27 Forschungsförderern haben 24 eigene Richtlinien zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten, ergab eine Untersuchung von Science Europe. Nur 18 davon verfügten über eine formale Definition der wissenschaftlichen Integri­tät, und lediglich 15 organisieren, unter­stützen oder empfehlen eine Schulung für ihre Mitarbeitenden oder von ihnen geförderte Forschende.

24 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 110

Wissen und Politik

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13:00 Labmeeting

07:34 Train

20:00 Home Office

14:15 Workshop

8:30 References

7:00 House Work

14:00 Lia Birthday!

Holiday plans?

Karrierepläne, Konferenzen und KindergeburtstageEs gibt viele Wege, eine wissenschaftliche Karriere mit dem Familienleben zu kombinieren. Wir stellen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ihre Familienmodelle vor, vom Doppelkarrierepaar bis zur Auslandpendlerin. Sie alle stehen vor derselben Aufgabe: Sitzungen, Kinderbetreuung und Steuererklärungen so koordinieren, dass es allen Beteiligten gut geht. Von Pascale Hofmeier. Illustrationen: Aurel Märki

DIVERSIT Y IN DER WISSENSCHAF T

SUNDAY 14

MONDAY 15 TUESDAY 16 WEDNESDAY 17

THURSDAY 18

25

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Prepare Workshop

Skype Meeting

Workshop

Group Meeting

Skype MeetingMeet Robert ?

Plane to London

Labmeeting

Lunch PH

Conference

Wie Professorinnen und Professoren in der Schweiz Familie und akademische Karriere vereinbaren

Vielfältige Familienmodelle in der Wissenschaft

26 J. 30 37 45

Teresa Montaruli

Strapazierte Balance

«Als alleinerziehende Mutter von dreijäh­rigen Zwillingen ist die Work­Life­Balance nur mit der Kinderkrippe möglich – seit die Kinder dort einen Platz haben, dank meiner Mutter und dank eines Lohnes, der fürs Babysitting ausreicht, wenn mich die Arbeit weit von Genf wegführt. Als ich nach nur zwei Jahren in Genf zu unterrichten beginnen musste, ohne Sprachkenntnisse auf Französisch, war es sehr ermüdend, alles unter einen Hut zu bringen. Ich habe damals zum Wohl der Kinder über einen unbezahlten Urlaub nachgedacht. Da die Auslagen für die Kinderbetreuung relativ hoch sind, habe ich es nicht getan. Ich denke, Gender­Fragen haben es im von Männern dominierten Physik­Umfeld besonders schwer. Es erleichtert mich zu sehen, dass die Familien meiner Postdocs viel ausgewogener sind als bei meinen gleichaltrigen Kollegen.»

Teresa Montaruli (48) ist seit 2011 ordentliche Professorin (100%) für Kern­ und Teilchenphysik an der Universität Genf, Leiterin eines Projekts zur Konstruktion von Gammastrahlen­Teles­kopen sowie des Gender­in­Physics Day. Sie wohnt in der Nähe von Genf.

1994 Diplom in Physik, Bologna1998 Doktorat, Bari1998 Postdoc und Assistenzprofessorin, Bari2005 Assistenz­, assozierte und ordentliche

Professorin in Physik, Wisconsin2013 Geburt Zwillinge 30 33 34 37 38

Alexander Bertrams

Die Schwägerin ist Ersatzpapa

«Ich will unbedingt für die Zwillinge und meine Frau da sein, aber auch gute Forschung und Lehre betreiben können. Letztes Semester habe ich deswegen bei der Forschung Abstriche in Kauf genom­men. Und natürlich kommt die Freizeit zu kurz. Ich sollte mal wieder Sport treiben. Meine Frau pausiert in ihrem Job als Erzieherin und kümmert sich um unsere zweijährigen Töchter. Bis im August pendelte ich zwischen meiner Familie in Augsburg und der Arbeit in Bern. Meine Schwägerin ersetzt mich als Papa, wenn ich in der Schweiz bin. Ohne soziale Un­terstützung würde es nicht gehen. Als die Kinder ganz klein waren und der Schlaf knapp, zweifelte ich manchmal, ob ich es psychisch und physisch schaffe, mich gleichzeitig als Professor zu etablieren.»

Alexander Bertrams (40) ist seit 2015 ordent­licher Professor (100%) für Pädagogische Psychologie am Institut für Erziehungswissen­schaft der Universität Bern und seit 2016 auch Institutsleiter. Er lebt seit August 2016 in Bern.

2006 Diplom in Psychologie, Erlangen2009 Doktorat, Universität Mannheim2010 Juniorprofessur Pädagogische

Psychologie, Universtität Mannheim2013 Habilitation (resp. vgl. Qualifikation)2014 Geburt Ida und Ilvy

Patricia Purtschert

Geteilte Lebenswelten

«Das Leben als Professorin und als Familienmitglied finde ich bereichernd, auch wenn es manchmal atemlos ist. Früher habe ich viele Wochenenden am Computer verbracht, heute suche ich im Garten mit den Kindern nach Schnecken. Diese Erfahrungen bereichern meine Ar­beit an der Uni, davon bin ich überzeugt. Meine Partnerin, sie ist ebenfalls in der Forschung tätig, und ich teilen uns die Familienarbeit. Das braucht viel Abspra­che, hat aber den Vorteil, dass wir unsere Lebenswelten teilen. Aufgrund meiner Erfahrungen beobachte ich die aktuelle Debatte um Exzellenz mit Sorge. Sie wird auf gradlinige, schnelle Karrieren ausgerichtet. Menschen mit Care­Pflich­ten, und das sind in erster Linie Frauen, drohen dabei durchs Raster zu fallen.»

Patricia Purtschert (43) ist seit 2016 Ausser­ordentliche Professorin (75%) für Geschlech­terforschung und Co­Leiterin des Interdiszip­linären Zentrums für Geschlechterforschung der Universität Bern. Sie lebt in der Nähe von Zürich.

2000 Lizenziat in Philosophie, Basel2002 Forschungsaufenthalt, University of

California, Berkeley2005 Doktorat, Basel2009 Geburt Kind2010 SNF Ambizione, ETH Zürich2013 Geburt Kind2014 Postdoc ETH Zürich

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Wissen und Politik

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Train

Interview

Call Teacher

Dinner HF

Time for us

Dentist

Home Office

WorkshopHome Office

References

Conference

Vielfältige Familienmodelle in der Wissenschaft

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Isabelle Wildhaber

Mit Teilzeitarbeit zur Professur

«Im Wettbewerb um eine Professur kann es schwierig sein, wenn man wie ich immer nur Teilzeit arbeitet. Und ich bin wegen der Kinder nicht so viel zu inter­nationalen Konferenzen gereist. Derzeit arbeite ich während des Semesters zwei Tage pro Woche in St. Gallen, der Lebens­mittelpunkt der Familie ist Berlin. Mein Mann ist stellvertretender Chefarzt in der Kardiologie an einem akademischen Lehrkrankenhaus. Um unserer Familie und mir entgegenzukommen, hat er auf mehrere Chefarztstellen verzichtet, seine Stelle seit 2012 zeitlich reduziert und eine Medizintechnikfirma gegründet.»

Isabelle Wildhaber (43) ist seit 2015 ordentliche Professorin (75%) für Privat­ und Wirtschafts­recht unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitsrechts und seit 2016 Präsidentin der Gleich stellungskommission der Universität St. Gallen. Sie lebt in Berlin.

1996 Lizenziat Rechtswissenschaften, Basel1999 Doktorat, Basel2001 Anwältin in New York und Frankfurt2003 Geburt Aron2005 Geburt Sophia2008 Geburt Dan2010 Habilitation, Zürich2010 Assistenzprofessorin für Arbeits­ und

Haftpflichtrecht, Universität St. Gallen

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Claude Hauser

Auswählen gehört dazu

«Wir haben uns von Anfang an für das Jobsharing­Modell entschieden. Meine Frau arbeitet zu 50 Prozent als Logopä­din, ich teile die Professur für Zeit­geschichte in Freiburg mit Alain Clavien. Es ist eine Herausforderung der Teilzeit­arbeit, Aufgaben zu wählen respektive abzulehnen. Ich habe auf einen längeren Forschungsaufenthalt in Québec verzich­tet, weil die Organisation zu kompliziert geworden wäre und meine Frau wahr­scheinlich keine Stelle gefunden hätte. Unsere Kinder sind schon grösser. Es geht häufig darum, präsent zu sein, wenn man gebraucht wird, zuzuhören und zu diskutieren, Agenden zu managen. Und das, ohne die Beziehung zu vernachläs­sigen. Das Wichtigste ist, die Paarbezie­hung zu pflegen. Wenn diese gut geölt ist, gibt es weniger Reibung.»

Claude Hauser (51) ist seit 2014 Professor (50% im Jobsharing) für Zeitgeschichte Universität Freiburg i. Ue. und Dekan der Fernuniversität für Geschichte (20%). Er lebt in Freiburg.

1992 Lizenziat in Geschichte, Freiburg1997 Doktorat, Freiburg1997 Geburt Gilles1999 Geburt Félicien2001 Geburt Zacharie2003 Assoziierter Professor für Moderne

Geschichte, Freiburg2003 Geburt Perrine2009 Habilitation, Freiburg2009 Professor für Zeitgeschichte, Freiburg

Anna Oevermann

Flexibilität ist entscheidend

«Familie und wissenschaftliche Kar­rie re geben sich gegenseitig wertvolle Impulse. Meine Kinder erfahren viel von meiner Arbeit, bei Organisatorischem profitiere ich von den Erfahrungen aus meinem Familienleben. Um beides zu vereinbaren, braucht es Enthusiasmus für die eigene Arbeit, Koordinationsfähigkeit und Flexibilität – vom Arbeitgeber und von uns. Mein Mann, ursprünglich aus Turin, ist seit Januar 2016 Professor für Umweltingenieurswesen an der Universi­tät Edinburgh. Unser Lebensmittelpunkt ist seit 2003 Bern, nach vielen Jahren Distanzbeziehung. Die Kinderbetreuung ist bei uns ein komplexer Aufbau aus Kita und Betreuung zu Hause durch die Nanny und durch uns. Nur wenn man die Kinder in guten Händen weiss, kann man sich vollends auf seine professionelle Tätigkeit konzentrieren.»

Anna Oevermann (42) ist seit 2015 ausser­ordentliche Professorin (100%) für Veterinär­Neuropathologie an der Vetsuisse­Fakultät der Universität Bern. Sie lebt in Bern.

1999 Diplom Veterinärmedizin, Giessen2001 Doktorat, Zürich2006 Europäische Spezialisierung in

Veterinärpathologie2008 Geburt Kind2012 Geburt Kind2012 Habilitation Vetsuisse­Fakultät, Bern2013 Assistenzprofessorin

Veterinärpathologie, Bern

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• Ausführliche Antworten zur Vereinbarkeit von Familie und akademischer Karriere finden Sie auf  bit.ly/Ho_diversity.

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Was hat sich in 15 Jahren Gleichstellungsarbeit in der Wissenschaft verändert? Die Zahlen zeigen: Etwas, aber noch zu wenig.

Die Kultur wandelt sich nur langsam

W issenschaftlichen Talenten ist spätestens nach der Disserta­tion klar: Eine akademische Karriere ist selten ohne Nacht­

schichten, Wochenendarbeit, längere For­schungsaufenthalte im Ausland, befristete Stellen oder tiefe Einstiegslöhne zu haben. Der hohe Einsatz bei unklaren Erfolgsaus­sichten hält viele ab, es überhaupt zu ver­suchen – insbesondere Frauen, die eine Fa­milie gründen möchten. Denn noch immer stehen Wissenschaftlerinnen «häufig un­ter einem grösseren Druck, Beruf, Partner­schaft und Familie zu vereinbaren, als ihre männlichen Kollegen – und dies beeinflusst auch ihre Chancen auf eine akademische Karriere», bringt es der Bericht «Doppel­karrierepaare an Schweizer Universitäten von 2012» auf den Punkt. Der Bericht evalu­iert die dritte Phase des Bundesprogramms Chancengleichheit von Mann und Frau an den Schweizer Universitäten. Das Pro­gramm läuft seit dem Jahr 2000, nun unter der Leitung von Swissuniversities, und er­hält jährlich mehrere Millionen Franken.

Romandie hat VorsprungSeither wurden an den Universitäten Struk­turen wie Gleichstellungsbüros aufgebaut und Aktionspläne zur Chancengleichheit erarbeitet. Die Krippenplätze an den Uni­versitäten wurden ausgebaut, zum Teil gar verdoppelt. Men toring programme sowie spezifische Postdoc­Förder programme  für Frauen wurden aufgebaut. Auch der Schweizerische Nationalfonds engagiert sich seit 2001 für eine chancengleiche Pro­jekt­ und Karriereförderung, zum Beispiel mit Gleichstellungsbeiträgen und seit 2013 auch mit Entlastungsbeiträgen für Frauen und Männer mit Betreuungs aufgaben. Un­zählige Evaluationen und Berichte rappor­tieren die Anstrengungen der vergangenen 15 Jahre.

Der Effekt der vielen parallelen Mass­nahmen: Seit dem Jahr 2002 hat sich der

Anteil der Professorinnen fast 10 Prozent auf knapp 20 Prozent im Jahr 2013 verdop­pelt. Im europäischen Vergleich liegt die Schweiz damit im unteren Mittelfeld. 2015 waren an den Schweizer Unis fast 37 Pro­zent der Neuangestellten Professorinnen.

Fest steht damit: Die Schweiz hat ihr Ziel von 25 Prozent Professorinnen bis 2016 verfehlt. «Es war für die Schweiz nicht ganz realistisch», sagt Martina Weiss, General­sekretärin von Swissuniversities. Das Bun­desamt für Statistik prognostiziert, dass dieses Ziel frühestens 2023 erreicht wird. Weiss warnt davor, nur diese eine Zahl als Messlatte zu nehmen. Aussagekräfti­ger sei, die Hochschulen mit sich selber zu ver gleichen und nach Fachbereich zu differenzieren. Zum Beispiel habe die Uni­versität St. Gallen seit 2000 den Anteil der Frauen verdreifacht – er liegt heute bei knapp 13 Prozent. Zudem liege auf der Stu­fe Assistenzprofessur das Ziel von 40 Pro­zent in Reichweite. Die Fortschritte seien insbesondere in den Fächern mit einem hohen Frauenanteil sichtbar, also bei den Geistes­ und Sozialwissenschaften. «Dort liegt der Anteil Professorinnen zum Teil bei 50 Prozent», sagt Weiss. Auch habe die Romandie gegenüber der Deutschschweiz etwas Vorsprung. Die Frauen arbeiten dort oft 80 Prozent. Ein weiterer Grund für den höheren Anteil Professorinnen in der Westschweiz: An der Universität Genf wur­de eine Zielvorgabe von 30 Prozent Frauen auf den Shortlists in den Berufungsverfah­ren eingeführt. Wird diese nicht erreicht, muss sich eine Fakultät vor der Unileitung rechtfertigen. Die Universität Lausanne plant dies ab 2017.

Ohne eisernen Willen kein WegInsgesamt haben sich die Erfolgschan­cen von Frauen in der Wissenschaft in den letzten gut 15 Jahren also ein wenig verbessert  – und gleichzeitig auch die Be­dingungen, um Familie und akademische

Karriere zu vereinbaren. Dennoch dringt der Kultur­ und Organisationswandel nur langsam auf Institutsebene durch: «Hier braucht es noch Geduld», sagt Weiss. Eine Universitätsleitung könne zwar signali­sieren, dass sie zum Beispiel Teilzeitarbeit und Job sharing fördert. Umsetzen aber können dies nur die Vorgesetzten in den Fakultäten und Instituten.

Genau dort besteht mehr Hand lungs­bedarf: «Die jungen Forscherinnen fordern ihr Recht nach Förderung und Teilzeit­arbeit oft nicht ein, weil die Vorgesetz­ten auch ihre Forschungspartner sind», sagt Patricia Felber. Die Sozialgeografin ist Koordinatorin mehrerer Mentoring­programme und Autorin des Berichts «Einschätzung der Karrieresituation von Nach wuchs wissen schaft lerin nen in der Schweiz» der Akademien der Wissenschaf­ten Schweiz. Hinzu komme die Diskrepanz zwischen dem Pensum auf dem Papier und dem Einsatz, der informell gefordert werde – eine Hürde für junge Familien und mit ein Grund, warum die Koordination von Karriere und Familie noch immer sehr viel Willen und Kreativität erfordert.

«Es wäre an der Zeit, die akademische Karriere zu entmystifizieren», sagt Felber und meint damit die Kultur, die bei vielen zu einem schlechten Gewissen führt, wenn sie um 17 Uhr in den Feierabend gehen. Sie spricht aus, was sich viele Wissenschaft­lerinnen und Wissenschaftler nicht zu denken wagen: «An der Uni zu arbeiten ist auch nur ein Job.»

Pascale Hofmeier ist Wissenschaftsredaktorin des SNF.

«Auf Institutsebene braucht es noch Geduld.»

Martina Weiss

«Es wäre an der Zeit, die akademische Karriere zu entmystifizieren.»

Patricia Felber

28 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 110

Wissen und Politik

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Die Rohstoffbranche in der Schweiz ist rasant gewachsen. «Viel weiss man nicht über sie», sagt Rechtsanwältin Elisabeth Bürgi Bonanomi. Von Marcel Hänggi

«Wenn man etwas nicht wissen will, erhebt man keine Daten»

Frau Bürgi, die Rohstoffbranche wird in der Schweizer Politik heiss disku-tiert. Was wissen wir wirklich über diesen Sektor?

Die Schweiz ist der grösste Handelsplatz für Rohstoffe. Es ist seit langem bekannt, dass Rohstoffreichtum den Entwicklungs­ländern oft schadet: Die Wirtschaft ist sehr einseitig ausgerichtet, es fehlt eine verarbeitende Industrie, und postkolonia­le Abhängigkeiten dauern fort. Diese Län­der können ihre Situation nur verbessern, wenn auch die Staaten ihre Verantwor­tung wahrnehmen, in denen die Roh stoff­konzer ne ihren Sitz haben. Es sind die Sitz­staaten, die Geldabflüsse ermöglichen oder mit Subventionen und Zöllen die Märkte zu ihren Gunsten verzerren. Wenn man hier genauer hinblickt, merkt man, dass ge sicher tes Wissen fehlt: Die Finanzflüsse verlaufen versteckt, keine offizielle Statis­tik erfasst die Handelsdaten umfassend, und keine weist aus, wie viele Steuern der Sektor in der Schweiz zahlt.

Warum ist die Datenlage so schlecht?Wenn man etwas nicht unbedingt wissen will, erhebt man keine Daten …

Fehlt also eher der politische Wille als wissenschaftliches Wissen?

Es fehlt an beidem. Natürlich braucht es politischen Willen, um etwas zu verändern.

Aber die Forschung, wie wir sie verstehen, kann einen wichtigen Beitrag leisten. Wir nehmen bewusst eine Nachhaltigkeits­ und Entwicklungsperspektive ein. In den letzten Jahren ist klar geworden, dass es nicht genügt, in den Entwicklungsländern zu forschen. Gerade die Frage der Steuer­vermeidung ist absolut zentral. Da stehen wir erst am Anfang.

Wie sähe ein guter Rohstoffsektor aus?In den Extraktionsländern könnten die Betroffenen mitbestimmen: Was wird abgebaut, was geschieht mit den Einnah­men und so weiter. Es gäbe eine verarbei­tende Industrie vor Ort. Menschenrechte

Die Politik bewegt sich

In den letzten Jahren stieg die Aufmerksam­keit für die negativen Folgen des Rohstoff­geschäfts. Namentlich das Buch «Rohstoff. Das gefährlichste Geschäft der Schweiz» (Zürich 2011) der Erklärung von Bern hat das Bewusst­sein geweckt. Der Bundesrat hat 2013 einen «Grundlagenbericht Rohstoffe» vor gelegt. Die anstehende Aktiengesetzrevision soll

Die Wirtschaftsethikerin

Die Rechtsanwältin Elisabeth Bürgi Bonanomi forscht am Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern. Sie koordinierte eine Literaturstudie zum Rohstoffhandel des CDE, des World Trade Institute der Universität Bern und des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.

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und Umweltverantwortung würden ernst genommen. Die Unternehmen zahlten ihre Steuern dort, wo die Wertschöpfung stattfindet, und alle Beteiligten hätten Zu­gang zu einem funktionierenden Gerichts­system. Verlierer gibt es immer, aber es dürfen nicht die Verletzlichsten sein.

Marcel Hänggi ist freier Wissenschaftsjournalist.

Die Schweiz und der Rohstoffhandel. Swiss  Academies Factsheets (2016)Den Rohstoffsektor in Entwicklungs ländern nachhaltig gestalten. Swiss Academies Factsheets (2016)

strengere Transparenzregeln bringen. Schliess­lich macht die im April 2016 eingereichte Konzernverantwortungs initiative politisch Druck. Die Schweizerischen Akademien der Wissenschaften organisieren am 20. Septem­ber in Bern eine Tagung zur Transparenz im Rohstoffhandel.

Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 110 29

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Vor Ort

In der Schweiz werden rund 150 Straftäter verwahrt – viele davon lebenslänglich. Die Ethnologin Irene Marti untersucht, wie es ihnen geht. Dafür nahm die Doktorandin der Universität Neuenburg am Alltag der Gefangenen teil und spielte auch Pingpong mit ihnen.

« Das Gefängnis ist ein sehr prak­tischer Ort, um zu forschen. Die Menschen sind da, sie haben Zeit und Interesse an Gesprächen. Im

Gefängnis herrscht eine Art künstliche Normalität: Man ist höflich zueinander, der Tagesablauf ist verordnet, meist läuft es reibungslos. Da ist eine Forscherin eine willkommene Abwechslung. Ich habe jeweils vier Wochen lang die Justizvoll­zugsanstalten Lenzburg und Pöschwies besucht. Ich will herausfinden, wie sich die Verwahrung auf die Gefangenen aus­wirkt und wie die Betroffenen mit die­ser Lebenssituation umgehen. Ich fälle kein Urteil über diese Massnahme, ich möchte das Erleben der Inhaftierten sichtbar  machen.

Am Anfang ging es darum, Vertrauen aufzubauen. Deswegen habe ich die Wo­chentage mit den Gefangenen verbracht. Ich bin um 7 Uhr gekommen, ging mit zur Arbeit in die Malerei oder die Druckerei.

Am Abend spielte ich mit den Gefange­nen Pingpong oder Badminton, sie brach­ten mir Jassen bei. Dass ich eine Frau bin, spielte sicher auch eine Rolle. Ein Gefan­gener sagte mir, wie gut es ihm tue, wie­der einmal mit einer Frau zu reden.

Mörder und MenschMeine Weiblichkeit beschäftigte mich während dieser Zeit sehr – als Frau im Männer gefängnis. Ich überlegte mir mor­gens genau, was ich anziehe. Besonders beim Sport achtete ich darauf, dass meine Kleidung nicht zu körperbetont ist. Ich wollte mich aber auch nicht verstellen, sondern mich in meiner Rolle als For­scherin wohlfühlen. Angst hatte ich nie. Vielerorts sind Kameras, es war meist Auf­sichtspersonal in der Nähe, und wenn ich mit einem Gefangenen allein in einem Raum war, hatte ich ein Alarmgerät bei mir. Bei manchem Insassen sagten mir die Aufseher, dass ich vorsichtig sein soll.

Die Forscherin im Männergefängnis

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»

Ich las im voraus keine Akten. Ich wollte den Insassen unvoreingenom­men begegnen. Das änderte sich nach einer Woche, und ich las alles. Gerade die Jüngeren kommen sympathisch und freundlich rüber. Doch hinter ihrer net­ten Erscheinung steht eine Tat, auch eine brutale Tat. Das konnte ich nur schwer zusammenbringen. Ich merkte bald, ich muss Delikt und Gegenüber trennen. Das ist die Chance für eine echte Begegnung. Ein Mörder ist nicht nur ein Mörder, son­dern auch ein Mensch. Ich habe mit ih­nen nicht über Schuld geredet. Die Tat ist trotzdem die ganze Zeit präsent. Deswe­gen ist dieser Mensch im Gefängnis, und ich kann am Abend rausgehen.

Während meines Aufenthalts versuchte ich, die Beziehungen mit den Gefangenen ‹normal› zu gestalten. Ich denke, das ist mir auch gelungen. Sonst hätte ich in den ausführlichen Interviews keine so persön­lichen Fragen stellen können. Sie haben

mir die Offenheit entgegengebracht, wie sie in diesem Rahmen möglich war. Ins­gesamt habe ich 18 Gefangene  interviewt.

Kostbare FreiheitFür die erst kurz Inhaftierten ist die Situa­tion noch nicht fassbar, dass es jetzt wo­möglich so bleiben wird bis zum Lebens­ende. Manche kämpfen dagegen an. Für sie ist das eine Art Motor, ihr Mittel, am Leben zu bleiben. Andere haben sich auf­gegeben und wollen am liebsten nur noch fern sehen und essen. Mir scheint, sie zerbrechen an der Perspektivenlosigkeit. Aber es gibt auch solche, bei denen würde man nicht denken, dass sie seit vielen Jah­ren eingesperrt sind. Sie sind voller Kraft und Motivation, machen Weiterbildungen oder lernen Fremdsprachen. Sie haben an sich gearbeitet, sich verändert. Sie wollen der Welt draussen zeigen, welcher Mensch sie geworden sind. Einer sagte mir, er ma­che sich über die Zukunft keine Gedanken,

Eine willkommene Abwechslung: Irene Marti im Gespräch mit einem Gefangenen der Justizvollzuganstalt Lenzburg (links). Im Vollzugsalltag, die kleinen Bilder zeigen die JVA Pöschwies, wurde der Forscherin der Wert der Freiheit sehr bewusst.Bilder: Andreas Moser (JVA Lenzburg, grosses

Bild) und Amt für Justizvollzug des Kantons

Zürich (kleine Bilder)

denn er habe keine. Zukunft, das sei draus­sen, und raus komme er nicht mehr. Es werden tatsächlich nur sehr wenige aus der Verwahrung entlassen.

Am Abend ging ich in mein gemietetes Zimmer. Dort habe ich meine Notizen ab­getippt, ich war voller Eindrücke. Ich bin in diese Welt ziemlich abgetaucht. Manche Lebensgeschichten waren happig, das hat mich belastet. Ich habe in dieser Zeit sehr oft von Schlüsseln geträumt. Das ist ein starkes Symbol für das Gefängnis. Wieder aufgetaucht bin ich an den Wochenenden, wenn ich mit Freunden und Familie zu­sammen war. Ich habe es genossen, meine Tage wieder selbst zu gestalten. Ich bin über eine Wiese gelaufen, und die Sonne schien. Da spürte ich, wie kostbar die Freiheit ist.

Aufgezeichnet von Anne­Careen Stoltze.

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Der Archipel der IdentitätenGeprägt von den Machtkämpfen ihrer Nachbarn, fühlt sich die Ukraine weder Europa noch Russland richtig zugehörig. Forschungsarbeiten kommen jedoch zum Schluss: Das ukrainische Selbstverständnis gewinnt an Boden – selbst im Osten. Von Benjamin Keller

L a Suisse n’existe pas», verkündete 1992 der Künstler Benjamin Vautier. Und die Ukraine? Seit ihren Anfän­gen bis zum Krieg, der das Land

heute entzweit, fühlte sich die seit dem 24. August 1991 unabhängige ehemalige Sowjetrepublik stets hin­ und hergerissen zwischen vielfältigen Einflüssen, Ansprü­chen und Identitäten. Weil der Staat so unvermittelt und spät auf dem internatio­nalen Parkett in Erscheinung trat, wird er erst seit Kurzem als eigenständige Einheit wahrgenommen.

Der gegenwärtige Konflikt veranschau­licht das komplexe und facettenreiche Wesen der Ukraine. Die Kämpfe brachen 2014 nach Bürgerprotesten aus, die als Euro maidan in die Geschichte eingingen und zur Absetzung von Präsident Wiktor Janukowitsch führten. Der hatte es zuvor ab gelehnt, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union (EU) zu un­terzeichnen. Inzwischen präsentiert sich die Situation umgekehrt: Der vom Westen unterstützte Präsident Petro Poroschen­ko sieht sich mit einer prorussischen Re bel lion im Südosten konfrontiert, die von Russland Hilfe erhält. Die Ukraine ist Schauplatz eines Kräftemessens zwischen den Mächten im Westen und im Osten – und dies nicht zum ersten Mal.

Kleinrussland im Zarenreich«Die unterschiedlichen Interpretationen der Geschichte sind ein Nährboden für Feindseligkeiten», erklärt Korine Amacher von der Universität Genf. Die Professo­rin für die Geschichte Russlands und der UdSSR zeichnet die Berührungspunkte in der Geschichte der Ukraine, Russlands und Polens in einem Forschungsprojekt nach. Die Ukraine (deutsch «Grenzgebiet») teilt mit ihren Nachbarn eine zugleich ähnliche und doch gegensätzliche Vergangenheit.

Am Ende der Mongolenzeit im 14. Jahr­hundert herrschten im heutigen Nord­westen der Ukraine vor allem westliche Kräfte (Polen, Litauen, Preussen, Öster­reich­Ungarn). Dies, während der Südos­ten von den Tataren und Osmanen verein­nahmt und ab dem 17. Jahrhundert vom Russischen Kaiserreich dominiert wurde. Die ukrainischen Gebiete im Zarenreich

des 19.  Jahrhunderts wurden deshalb als «Kleinrussland» bezeichnet. Nach der bol­schewistischen Revolution von 1917 war die Ukraine vorübergehend unabhängig, bevor die Rote Armee einfiel und sie der UdSSR einverleibte. Stalin nahm sich bei der Gebiets aufteilung mit Nazi­Deutsch­land 1939 noch die Regionen, die noch zu Polen gehörten. «Deshalb ist oft zu hören, Stalin habe die Grenzen der heutigen Ukra­ine gesetzt», erklärt Amacher.

Gegensätzliche VisionenAls die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangte, entstand damit ein Land aus his­torisch uneinheitlichen Teilen. «Galizien im Westen orientiert sich in erster Linie an Österreich und danach an Polen, also eher westwärts, während der Donbass (Anm. d. Red.: der derzeitige Kriegsschauplatz) seit dem 18. Jahrhundert russisch ist.» Hinzu kommen weitere Einflüsse, beispielsweise von Rumänien und Ungarn. «In Russland gibt es noch heute die Ansicht, die Ukrai­ne sollte nicht als eigener Staat existieren», ergänzt Amacher. «Manchmal wird sogar behauptet, sowohl im Gespräch mit Rus­sen auf der Strasse als auch von Politikern, dass alle Probleme gelöst wären, wenn alle früheren Mächte wieder ihren ehemaligen Teil der Ukraine übernehmen würden.»

Das Team von Daniel Weiss, emeritier­ter Professor an der Universität Zürich, durchforstet Interviews, Regierungserklä­rungen, parlamentarische Debatten und TV­Sendungen zum Ukraine­Konflikt. Die Forschenden wollen in Erfahrung bringen, welche Begriffe am häufigsten verwen­det werden. «Russland sieht sich als das Land, das sich seit jeher gegen Angriffe des Westens wehren muss», sagt der Forscher. «Demgegenüber versteht sich die ukrai­nische Seite wie Polen als letzte Festung

des zivilisierten Europa gegenüber der Barbarei. Russland verkörpert Militärstie­fel, etwas Brutales. Die Ukrainer wurden von einer zentralen Episode geprägt: Im 17. Jahrhundert war das Zentrum der Ukraine mehr oder weniger unabhängig. Das war die Kosakenrepublik. Der Kreml anerkann­te diese nie und löste den Staat auf.»

Die Argumentation der prorussischen Separatisten «schürt nun wieder die Angst vor einer wirtschaftlichen Katastro­phe im Fall eines Beitritts zur EU, da der Osten der Ukraine sehr enge wirtschaft­liche Beziehungen zu Russland pflegt», fährt Weiss fort. Wie die Nationalisten und Populisten zahlreicher europäischer Länder kritisiert die Unabhängig keits­bewegung zudem, dass ein EU­Beitritt einen Souveränitätsverlust mit sich brin­gen würde. Ein weiterer Streitpunkt: Das ukrainische Parlament hat 2014 ein Ge­setz aufgehoben, das der russischen Spra­che eine besondere Stellung einräumte. Die Regierung hat die Änderung jedoch nie geneh migt.

Lenin ist ein gemeinsamer WertGemäss Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Univer­sität St. Gallen, entstanden durch die turbu­lente Entstehungsgeschichte der Ukraine

«Häufig ist zu hören, Stalin habe die Grenzen der heutigen Ukraine gesetzt.»

Korine Amacher

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Kultur und Gesellschaft

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mannigfaltige Identitäten. Im Frühling 2013 und 2015 führte er in der Ukraine zwei Umfragen mit je 6000 Teilnehmenden durch, um die Wertehaltungen nach Re gion zu kartieren ( mapsukraine.ch). Die Fragen betrafen fünf Themen: Literatur, Sprache, Geschichte, Religion und Wirtschaft.

«Wir haben ein deutlich differenzierte­res Bild erhalten, als die Medien norma­lerweise zeichnen. Das Vorurteil besagt: Die östliche Ukraine ist rückständig, so­wjetisch und prorussisch, der westliche Teil dagegen modern und europafreund­lich. Wir haben festgestellt: Die Realität ist nuancierter, und alle Ukrainer teilen gewisse Werte.» Dazu gehört etwa die Bekämpfung der Korruption. Für ein Ge­meinschaftsgefühl sorgen auch Persön­lichkeiten wie der romantische Dichter Taras Schewtschenko oder Lenin. Das hin­derte die Nationalisten nicht daran, wäh­rend des Euromaidan eine Lenin­Statue zu stürzen und damit bei der Führung der Bewegung für Irritation zu sorgen. Diese war sich bewusst, wie Lenin im Osten und Süden des Landes geschätzt wird.

«Ein weiteres Thema, das häufig verein­facht wird, ist die Sprache», fährt Schmid fort. Bei der Analyse des Leseverhaltens in der Ukraine hat sich gezeigt, russisch ist über den Osten hinaus in allen Regionen

präsent. Zudem herrscht ein Konsens, wo­nach alle Ukrainisch beherrschen müssen. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung spricht denn auch beide Sprachen. Mit Surschyk gibt es ausserdem einen Dialekt, der eine Mischung aus Russisch und Uk­rainisch ist. «Interessanterweise sprechen manche Leute, die glauben russisch zu re­den, in Wirklichkeit surschyk.»

Die unentschlossene Mehrheit Noch überraschender war für Schmid die Erkenntnis, dass der Krieg die Regionen geeint hat: «Patriotismus ist selbst in Ge­bieten zu finden, in denen er traditionell gering war, wie in der Nordbukowina.» Allgemein breitet sich der «Konsens über das ukrainische Selbstverständnis» im­mer weiter nach Osten aus. In der jünge­ren Bevölkerung, die nach dem Zusam­menbruch der UdSSR geboren wurde, ist dieses Zugehörigkeitsgefühl zur Ukraine am stärksten.

Die Separatisten scheinen isoliert: «In den besetzten Gebieten zeigen andere Be­fragungen, die vor und nach dem Beginn der Feindseligkeiten durchgeführt wurden, dass die Identifikation sowohl mit der Uk­raine als auch mit Russland zurückgegan­gen ist. Die Unentschlossenen bilden nun die Mehrheit. Das lässt vermuten, dass dort weder Kiew noch Moskau populär sind. Die Leute haben das Gefühl, ihre Region sei irgend wie verloren.»

Wäre die Dezentralisierung der Ukrai­ne eine Lösung, wie dies regelmässig vor­geschlagen wird? «Das ist wünschenswert, aber nicht realistisch», antwortet Schmid. «Bei der letzten Diskussion im ukraini­schen Parlament darüber gab es wütende Demonstrationen mit drei Toten. Das Pro­blem ist: Die Dezentralisierung stellt eine Voraussetzung für das im Februar 2015 ge­schlossene Minsk­II­Abkommen dar. Für die Ukrainer ist aber klar, dies wurde ih­nen von den Russen aufgedrängt. Deshalb stösst diese Option auf wenig Sympathie. Es ist abzuwarten, ob das Abkommen re­vidiert wird. Ich erwarte jedoch, dass Russland auf einer weitergehenden Auto­nomie der besetzten Gebiete im Donbass beharren wird.»

Benjamin Keller ist freier Journalist in Tunis.

«In den besetzten Gebieten sind weder Kiew noch Moskau populär.»

Ulrich Schmid

Ob westlich oder nach Russland orientiert: Wladimir Lenin sorgt in der Ukraine für ein Gemeinschaftsgefühl. Das zeigte sich auch während der Euromaidan­Bewegung 2014: In der ost ukrainischen Stadt Kramatorsk wurde Lenin mit der ukrainischen Flagge geschmückt. Bild: Keystone/EPA/Roman Pilipey

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Wann ist Schluss mit lustig?Raphaela Cueni untersucht den grundrechtlichen Schutz der Satire. In der Schweiz ortet sie Zeichen für eine gesunde Streitkultur. Von Isabel Zürcher

Nicht immer hält sich Satire an die Regeln des guten Geschmacks. Und wenn politi­sche oder religiöse Differenzen der begriff­lichen Eindeutigkeit Widerstand leisten, steht nicht weniger auf dem Spiel als die freie Meinungsäusserung. In ihrer Promo­tion bearbeitet Raphaela Cueni dieses ver­fassungsrechtlich sensible Feld.

Frau Cueni, gibt es vom juristischen Standpunkt her überhaupt eine gültige Definition der satirischen Kommunikation?

Eine juristische, einfach anwendbare Defi­nition für Satire gibt es nicht. Gerichte in verschiedenen Rechtsordnungen haben jedoch mehr oder weniger zweckmässige Definitionen entwickelt, auch das Schwei­zerische Bundesgericht. Ein konstitutives Element der Satire ist Irritation, die in Wut oder Aggression umschlagen kann. Satire trifft sozial vereinbarte Normen und nutzt hierfür die ästhetischen Möglichkeiten des sprachlichen und gestischen Ausdrucks.

Grosse Fälle der Rechtsprechung sind im Land des Nebelspalters weitgehend ausgeblieben. Können Sie dies erklären?

Verschiedene Gerichte wie auch der Presse­rat haben auch in der Schweiz immer wie­der satirische Meinungsäusserungen zu beurteilen. Dass die Rechtsprechung zu Satire auf Bundesebene weit weniger aus­geprägt ist als etwa in Deutschland, könnte gerade ein Zeichen für gesunde Streitkul­tur sein. Denn zu ihr gehört auch die Ein­sicht, wann gerichtliche Verfahren nicht sinnvoll sind. Grossbritannien ist da bei­spielhaft: Obwohl die britische Satire un­umwunden aggressiv und gezielt boshaft ist, bleiben grössere Gerichtsverfahren aus. Kläger gegen satirische Äusserungen reali­sieren, dass der mit gerichtlichen Verfah­ren verbundene Wirbel unabhängig vom Verfahrensausgang in Fällen der Ehrverlet­zung absolut kontraproduktiv ist.

Der Sprengstoff der Satire wird im-mer wieder sichtbar: an den heftigen Reaktionen auf die Mohammed-Kari-katuren in Dänemark, beim Anschlag auf Charlie Hebdo in Paris oder bei der Kontroverse um Jörg Böhmermanns Schmähgedicht auf Erdogan.

Die stark mediatisierten Ereignisse unter­streichen Relevanz und Aktualität eines Nachdenkens über Satire und unsere Wahrnehmung der Meinungsfreiheit. Ge­rade die französische Situation ist inter­essant: Scheinbar ohne den Widerspruch zu bemerken, betont der Staatspräsident die bedingungslose Meinungsfreiheit und spricht sich in Bezug auf die anti­semitischen Äusserungen des Komikers Dieudonné gleichzeitig für deren Ein­schränkung aus.

Es ist aber zu limitiert, nur die öffent­lichkeitswirksamen Fälle zu betrachten. Die rechtlich umstrittensten Fragen in Bezug auf Umfang und Grenzen des grund­rechtlichen Schutzes von Satire stellen sich oft in vergleichsweise unspektakulä­ren Fällen. Die Gegenüberstellung von SVP­Nationalrat Oskar Freysinger mit Adolf Hitler in der Walliser Zeitung Confédéré beispielsweise wirft Fragen auf, etwa be­züglich des Verhältnisses zwischen Satire und Wahrheit. Der Fall aus dem Jahr 2007 dürfte aber selbst in der Schweiz nur noch wenigen in Erinnerung sein. Im Übrigen sind rechtliche Grundlagen weder dazu geeignet, noch haben sie den Anspruch, moralische und ethische Fragen abschlies­send zu beantworten.

Allein in der Schweiz als sprachlich, konfessionell und religiös heterogenem Land trifft die Satire auf unterschied-liche Wahrnehmungen. Was bedeuten diese kulturellen Unterschiede juristisch gesehen?

Die Frage ist, welcher rechtliche Rahmen der Satire einen angemessenen Freiraum gewährt. Die Unterschiede in Ausprägung und Wahrnehmung von Satire, von Humor generell, sind dabei eng verknüpft mit der laufend zu verhandelnden Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht und Kultur. Recht ist ja nichts anderes als der Ausdruck einer bestimmten Kultur. Es kreiert aber gleichzeitig einen Rahmen, in dem sich eine Kultur entwickeln kann.

Die Doktorandin Raphaela Cueni ist Assistentin an der juristischen Fakultät der Universität Basel. Sie ist soeben von einem Forschungsaufenthalt an der Columbia Law School zurückgekehrt.

Isabel Zürcher arbeitet als Kunstwissenschaftlerin und Publizistin in Basel.

Ganz offensichtlich ist britische Satire besonders bissig und boshaft – auch wenn sie die Wände einer Kunstgalerie ziert. Grössere Verfahren bleiben auf der Insel jedoch aus. Bild: Keystone/Camera Press/James Veysey

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Eine grosse Anzahl Gerichtsschreiber pro Richter wirft rechtliche Fragen auf.

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Unterschätzte Gerichtsschreiber

D ie zunehmende Arbeitslast der Schweizer Gerichte führt dazu, dass immer mehr Gerichts­

schreiber angestellt werden. «Die Öffent­lichkeit ist sich der enormen Bedeutung der Gerichtsschreiber nicht bewusst», sagt Peter Bieri vom Institut für öffentliches Recht der Universität Bern. Der auf Justiz­management spezialisierte Jurist hat vor Kurzem seine Dissertation im Rahmen des Projekts Grundlagen guten Justiz­managements (www.justizforschung.ch) eingereicht.

Das grosse Aufgabenspektrum der Gerichtsschreiber, die stark in Instruk­tion und Entscheidfindung involviert sind, ist eine Schweizer Besonderheit. An vielen Gerichten arbeiten deutlich mehr Gerichtsschreiber als Richter. Die Auf­stockung der Arbeitskräfte sei zwar eine naheliegende Lösung. Eine allzu grosse Anzahl von Gerichtsschreibern pro Richter wirft laut Bieri jedoch verfassungsrecht­liche Fragen auf. So müsse geklärt wer­den, welche richterlichen Funktionen an Gerichts schreiber delegiert werden dürfen, damit das Recht auf einen gesetzlichen Richter gewahrt bleibe.

Die richterliche Unabhängigkeit sei bedroht, wenn ein Richter mit zu vielen Gerichts schreibern zusammenarbeite. «Ein seriöses Studium der einzelnen Fälle wird dadurch verunmöglicht und kann zu einer allzu starken Abhängigkeit der Rich­ter von den Gerichtsschreibern führen», sagt Bieri.

Daher sei es wichtig, dass Gerichte gleichzeitig nach anderen Wegen suchten, die Arbeitsmenge besser zu bewältigen. Als mögliche Ansätze schlägt Bieri beispiels­weise die Wahl von zusätzlichen Richtern, eine effizientere Bewirtschaftung der Fälle oder den vermehrten Einsatz von Informatik vor. Livia Willi

P. Bieri: Law Clerks In Switzerland – A Solution To Cope With The Caseload? International Journal for Court Administration (2016)

Schwieriger Alltag nach dem Alkoholentzug

A lkoholabhängige Frauen mit Kindern haben nach einer Thera­pie verglichen mit Vätern oft ein

höheres Rückfallrisiko. Dieser Diskrepanz sind Forschende der Zürcher Fachhoch­schule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Departement Soziale Arbeit nachgegangen. Sie wollten wissen, welche Herausforderungen sich diesen Müt­tern im Alltag stellen. «Nur nicht mehr trinken zu wollen und zu hoffen, dass alles automatisch besser wird, das reicht oftmals nicht», sagt Projektleiterin Silvia Gavez von der ZHAW. Sie und ihr Team haben 14 Frauen interviewt, die sich in der Forel­Klinik einer Entwöhnungstherapie unterzogen haben.

Die Forschenden fanden mehrere her­ausfordernde Bereiche. Die Rückkehr als Mutter ins soziale Umfeld gelingt dann, wenn die Frauen zum Beispiel mitteilen können, wo sie Unterstützung brauchen, und wenn sie sich mit ihrer Biografie und der Sucht auseinandersetzen. Die Kom­munikation mit dem Umfeld erleben die Befragten dabei als Gratwanderung zwi­schen Offenheit und Tabuisierung.

«Die Mütter wissen oft auch nicht, wie sie das Thema Sucht mit ihren Kindern ansprechen können», sagt Gavez. Die Kinder angemessen zu informieren führt eher zum Ziel, als ihren Fragen aus Scham auszuweichen. Frauen, die ihre eigene Rolle als Hausfrau und Mutter wertschät­zen, gelingt der Wiedereinstieg in den Alltag besser als Frauen, die ihr Leben langweilig oder banal finden. Diese Mütter können damit ihr Trinken rechtfertigen. Veränderungen wie eine Trennung oder eine neue Arbeitsstelle nach der Therapie können sich positiv auswirken. Die um­fassenden Resultate erscheinen im Herbst als Buch. Kathrin Zehnder

S. Gavez et al.: Zurück in den Alltag – Mütter nach Behandlung ihrer Alkoholabhängigkeit. Budrich (2016)

Der Mythos vom Chalet bröckelt

Von wegen typisch schweizerisch: Das Chalet, für viele der In begriff helvetischen Baustils, ist ein

deutscher Importschlager, genährt von der Alpenbegeisterung ausländischer Reisen­der und der Nationalstaatenbildung im 19. Jahrhundert. Zu diesem Schluss kommt Daniel Stockhammer in seiner Disserta­tion an der ETH Zürich.

Mit dem Mythos des urschweizerischen Holzhauses, nebst Kühen, Käse und Uhren das Symbol für Swissness schlechthin, räumt Stockhammer gründlich auf: «Das Chalet ist keine Schweizer Erfindung», erklärt er. Zwar gab und gibt es in der Schweiz bis heute durchaus eine Holzbau­tradition. Aber: «Entwürfe und Bauten im ‹Schweizerstil› sind Konstruktionen meist ausländischer Architekten; ein in Archi­tektur übersetztes Ideal von Ländlichkeit, Tradition und Handwerk für die europäi­schen Eliten des 18. und 19. Jahrhunderts. Den ‹Schweizerstil› gab es im Ausland also, bevor man in der Schweiz davon wusste», hält Stockhammer fest.

Erst der Fremdenverkehr brachte das Holzhaus wieder in die Schweiz zurück. Offenbar mit Erfolg: Chaletfabriken und einheimische Architekten begannen nach Vorlagewerken den Schweizer­stil zu reproduzieren. Bezeichnend ist, dass auch die Vorlagen für diese Bauten mehrheitlich von ausländischen Auto­ren stammten. Stockhammers Erklärung dafür: «Die  Auswahl und die Reduktion der Vielfalt an regionalen Holzbautraditionen konnten nur von aussen geschehen.»

Der Blick zurück zeigt: Das Bild einer traditionellen Architektur und damit auch die Identitätsbildung der Schweiz ist stärker von aussen, von anderen europäi­schen Ländern geprägt, als viele es heute wahrhaben wollen. Astrid Tomczak-Plekawa

D. Stockhammer: Schweizer Holzbautradition. Ernst Gladbachs Konstruktion eines ländlichen Nationalstils. Dissertation ETH Zürich (2015)

Skizze des «Grutlihaus» von Ernst Gladbach bei der Bauaufnahme 1860 in Seelisberg.

Manchmal erfolgt der Griff zum Glas aus Langeweile.

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Mission One HealthDer Epidemiologe Jakob Zinsstag forscht in den armen Ländern des globalen Südens und plädiert für «One Health»: Für eine bessere Gesundheitsversorgung sollen Human­ und Tiermedizin, aber auch Ernährung und Umwelt berücksichtigt werden. Von Irène Dietschi

S eit frühster Kindheit wusste Jakob Zinsstag genau, was er einmal wer­den wollte: Missionar oder Ent­wicklungshelfer. Dieser Wunsch

war so stark, dass er als Elfjähriger eine Missionarin in die Sonntagsschule nach Visp, in seinen Geburtsort, einlud und alles über das Wirken in armen Ländern wissen wollte. Später zog es ihn, zweitjüngstes von acht Kindern, regelmässig in den Jura, wo er auf den Bauernhöfen seiner mütter­lichen Verwandten auf den Feldern aushalf und die Kühe im Stall versorgte. Die Liebe zu den Tieren bewog ihn, Veterinärmedi­zin zu studieren. Mit 25 arbeitete Zinsstag als frischer Dr. med. vet. in einer Grosstier­praxis in Pruntrut, während seine Frau ihre erste Stelle als reformierte Pfarrerin antrat. Die Zukunft versprach ein Leben in geregelten Bahnen. Sorglos und einträg­lich. Doch Zinsstag langweilte sich.

Veränderung ist das GrössteHeute ist der 54­Jährige Titularprofessor für Epidemiologie am Schweizerischen Tropen­ und Public­Health­Institut (Swiss TPH) in Basel – und sein Leben könnte nicht aufregender sein. Soeben kommt er von einem zweitägigen Symposium des Collegium Helveticum zur Krebs forschung. Vorher war er in Äthiopien, wo er zusam­men mit lokalen Partnern und seinem Team die Gesundheitsversorgung der No­maden in Ogaden, dem somalischen Regio­nalstaat im Süden des Landes, erfassen und verbessern will. «Wir sind dort seit Beginn mit gemischten Teams unterwegs – Hu­man­ und Veterinärmedizinern, aber auch Spezialisten für Weidewirtschaft, Ethno­logen und anderen Humanwissenschaft­lern», erklärt er. «Herausfinden wollen wir: Wie ist der Ernährungszustand der Kinder? Haben schwangere Frauen Zugang zu Heb­ammen? Wie ist der Boden beschaffen, wie geht es den Tieren?» Aus den Ergebnissen

werden sie Ideen ableiten, wie man die Ge­sundheitsdienste vor Ort an die Bedürfnis­se der Menschen anpassen könnte.

«One Health» heisst dieser Ansatz, der Human­ und Tiermedizin, aber auch Lebens mittelproduktion und Umwelt­bedingungen berücksichtigt. Zinsstag ist einer der wichtigsten Vertreter dieser For­schungsrichtung, er hat unzählige Artikel darüber geschrieben, ein Buch heraus­gegeben und vor allem sehr viele Projekte in ganz unterschiedlichen Regionen der Welt initiiert, in Afrika, Asien, Zentral­amerika. Alle sind dem One­Health­Ansatz verpflichtet. Fast ein Drittel seiner Arbeits­zeit verbringt er auf Reisen. «Es sind viele Projekte, doch wir finden immer einen Weg», sagt er ernsthaft, während wir zum nahen Café marschieren. Sein breitbeini­ger Gang verrät noch immer den Bauern, der er auch hätte werden können. Neben One Health haben seine Projekte einen weiteren gemeinsamen Nenner: Sie sind transdisziplinär. Das heisst: Die Menschen vor Ort sind genauso in die Forschung ein­gebunden wie die Schweizer Wissenschaft­ler, die sie angestossen haben. «Für mich ist die akademische Welt Mittel zum Zweck: Nicht die Publikation ist das höchste der Gefühle, sondern die Veränderung, die ich bewirken kann», sagt er.

Von Afrika nach BaselDer Tierarztpraxis in Pruntrut kehrte Jakob Zinsstag damals den Rücken, um sich als Postdoc am Swiss TPH zu verpflich­ten. Danach lebten er und seine Frau mit vier kleinen Töchtern, die zwischen 1989 und 1996 zur Welt kamen, acht Jahre lang in Westafrika. Zinsstag war Projektleiter in einem internationalen Forschungs­zentrum für Schlafkrankheit in Gambia, anschliessend Direktor des Centre Suisse de Recherches Scientifiques in Abidjan, Elfenbeinküste.

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«Für mich ist die akademische Welt Mittel zum Zweck.»

Ein Arzt für alle

Neben One Health vertritt Jakob Zinsstag konsequent die Transdisziplinarität. Seine Projekte schliessen stets lokale Partner aus anderen Disziplinen ein. Schon am Centre Suisse in Abidjan bewirkte er so einen Paradigmen wechsel: Aus der Forschungs­destination für Schweizer schuf er eine Plattform, die lokale Forschende einbezog.

Es war Marcel Tanner, der Zinsstag zu­rück in die Schweiz holte. «Ich schlug ihm vor, aus der Sicht der Veterinärmedizin ein Forschungsprogramm für die nomadische Bevölkerung in Tschad aufzubauen. Weil diese so eng mit ihren Tieren zusammen­lebt und weil weltweit zoonotische Er­krankungen – Krankheiten, die in Mensch und Tier vorkommen – eine grosse globale Herausforderung darstellen», erzählt der langjährige Direktor des Swiss TPH, offen­kundig noch heute begeistert über seinen Schachzug im Jahr 1998. «Der Gedanke dahinter war, veterinär­ und humanmedi­zinische Dienste zu koppeln und das Kon­zept von One Health umzusetzen.»

Hunde impfen statt Bisse behandelnDie Idee verfing. Unterstützt vom Schwei­zerischen Nationalfonds stellten Zinsstag und sein Team bei ihren Feldstudien fest, dass die Kühe der nomadischen Gemein­schaften geimpft waren, die Kinder je­doch kaum. «Also lag es auf der Hand, ge­meinsame Impfdienste für Mensch und Tier auf die Beine zu stellen, indem man die Kühlkette und den Transport teilte.» Die Daten der Basler Forscher helfen auch mit, in Tschad die Tollwut zu bekämpfen. Die Krankheit bedroht in Afrika Millionen von Menschen und wird hauptsächlich von Hunden übertragen, was vor allem in den Städten ein Problem ist. «Wir haben ein mathematisches Modell entwickelt, aufgrund dessen wissen wir: Es ist wirk­samer und kostengünstiger, präventiv alle Hunde zu impfen, als einzelne Menschen nach Hundebissen zu behandeln», erzählt Zinsstag.

Mit seinem Team führte er 2012 und 2013 in N’Djamena eine Massenimpfaktion an 20 000 Hunden durch, was die Übertragung der Tollwut in der Hauptstadt zusammen­brechen liess. Der Beweis war erbracht: «Die Tollwut kann ausgerottet werden – ein

Ziel, das Afrika bis 2030 erreichen will.» Entscheidend, betont Zinsstag, sei dabei das Engagement des tschadischen Staats gewesen, der sich mit Personal und dem Bereitstellen der Logistik an der Aktion be­teiligt habe.

Parallel zu seinen Einsätzen auf dem Feld trieb Jakob Zinsstag seine akademi­sche Karriere voran. 2004 wurde er Privat­dozent der Universität Basel, 2008 erhielt er zwei verlockende Angebote: von der Uni­versität München als Professor für tropi­sche Veterinärmedizin und von der Univer­sität Zürich als Professor für Epidemiologie. Beide lehnte er ab. Aus Loyalität zum Swiss TPH. «Die Arbeitsbedingungen hier sind einmalig.» Zinsstag gerät ins Schwärmen und beschreibt mit leuchtenden Augen die Epiphanie, als ihm damals klar geworden sei, dass er als Tierarzt auf das Wissen von 20, 30 Disziplinen zugreifen und dieses ge­winnbringend in die Entwicklungsländer tragen könne.

Irgendwie ist aus ihm doch ein Missio­nar geworden.

Irène Dietschi ist freie Wissenschaftsjournalistin in Zürich.

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der Effekt von zwei beigegebenen krank­heitserregenden Pilzen untersucht. Wie erwartet fanden sie grosse Unterschiede zwischen den Böden. Es gab auch einen Zu­sammenhang mit der Präsenz der Pseudo­monaden, doch der war eher schwach.

Diversität ist nicht alles«So einfach ist die Sache offenbar nicht», folgert Maurhofer: «Ideal wäre, wenn wir Zeigerorganismen hätten, die uns sagen, ob ein Boden für den Weizenanbau geeig­net ist oder nicht.» Unter Bodenbiologen sind historische Tabakmonokulturen aus Morens bei Payerne (VD) bekannt, in denen erstaunlicherweise über Jahrzehnte keine Probleme mit pathogenen Pilzen auftauch­ten. Gerne wüsste man, was diese Böden so gesund machte. Eines ist für Maurhofer klar: «Es gilt nicht generell: Je diverser die Mikroflora, desto gesünder der Boden. Eine gewisse Diversität ist wichtig, aber wir ken­nen die relevanten Arten noch nicht.» Von einer molekularbiologischen Qualifizierung des Ackers sind wir also noch weit entfernt.

Dem pflichtet auch Bailey vom Earth Microbiome Project bei: «Die Manipulation des Mikrobioms unter Feldbedingungen ist experimentell schwer zu erreichen.» Die Rolle der gesamten Mikroflora ist schwie­rig zu bestimmen. Trotz aller Unklarheiten betont er: «Fruchtbare Ackerflächen wei­sen auch die höchste bakterielle Diversi­tät auf.» Eine höhere Vielfalt kann gleich­zeitig mehr schützende Organismen und auch eine grössere Zahl von Krankheits­erregern bringen.

Die Gesundheit der Böden kann durch­aus beeinflusst werden. Die mechanische Bearbeitung führt zu einer starken Ver­dichtung und damit zu einer schwäche­ren Belüftung. Die Böden werden durch die damit einhergehende Veränderung der Mikroflora für gewisse Pflanzen toxisch. Die pfluglose Bearbeitung wird daher

Mikroben: Die neuen Partner der BauernPilze und Bakterien machen Böden fruchtbar oder schaden den Pflanzen. Mit molekularbiologischen Methoden versuchen Forschende, Nützlinge und Schädlinge zu unterscheiden.Von Florian Fisch

D ie Menschheit steht vor erheb­lichen Herausforderungen, wenn sie mehr Nahrung für eine wach­sende Weltbevölkerung produzie­

ren muss und dabei die Umwelt nur mi­nimal beeinträchtigen darf.» Mark Bailey vom Centre for Ecology and Hydrology im englischen Wallingford betrachtet die gros­sen Zusammenhänge. Sein Studienobjekt hingegen ist zu klein für das blosse Auge: die Gemeinschaft der Bakterien, Pilze und anderer Mikroben im Boden.

Geht es um die Bodenmikroflora, ist in vielen Fachartikeln gar von einer Revolu­tion die Rede. Gern vergleicht man mit der Erfindung des Ackerbaus vor 10 000 Jahren oder der Entwicklung von Hochleistungs­sorten vor 50 Jahren. Ausgelöst wurde die gegenwärtige Aufbruchsstimmung durch neue molekularbiologische Methoden, die es erlauben, ganze mikrobielle Gemein­schaften aufs Mal zu analysieren (siehe «Mikroben identifizieren am Laufmeter»).

Die Bakterien eines anderen Lebens­raums, des Darms, sorgen zurzeit für Schlagzeilen. Dort helfen sie uns verdau­en, schützen uns vor Krankheiten und Allergien, stellen Vitamine her und be­einflussen möglicherweise sogar unseren Gemüts zustand. In den USA wurden be­reits mehrere Projekte zum Studium die­ser Gemeinschaften lanciert: Das Human Micro biome Project startete 2008. Der Bo­den rückte 2010 im Earth Microbiome Pro­ject, an dem auch Mark Bailey beteiligt ist, ins Zentrum. Und im Mai 2016 investierte die US­Regierung über 100 Millionen Dol­lar in eine themen übergreifende National Micro biome Initiative.

Mit Mist kommt VielfaltIn der Schweiz ist Franco Widmer von der Eidgenössischen Forschungsanstalt Agro­scope in Reckenholz einer der Experten für die mikrobielle Diversität im Boden.

«Es gilt nicht generell: Je diverser die Mikroflora, desto gesünder der Boden.»

Monika Maurhofer

Die zu bestimmen ist eine grosse Her­ausforderung: «In einem Gramm Boden befinden sich bis zehn Milliarden Mikro­organismen, die etwa 7000 verschiedenen Arten angehören.» Er und ein Team der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) und vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FIBL) haben die Mikro flora in Böden verglichen, die über Jahrzehnte mit biologischem oder konventionellem Land­bau bearbeitet wurden (siehe «Ackerbau im Langzeitvergleich»).

Dabei zeigte sich, dass vor allem die Art der Düngung einen grossen Einfluss auf die Mikroben hatte. Böden, auf denen Mist und Gülle ausgebracht wurde, hatten eine grössere Diversität als rein mineralisch ge­düngte. Wurde überhaupt nicht gedüngt, beheimateten sie wieder andere Bakterien­ und Pilzgemeinschaften.

Für eine neue, noch nicht publizierte Arbeit beobachteten die Forschenden um Widmer je zehn verschiedene Wald­, Acker­ und Wiesenböden in der Schweiz über fünf Jahre. Auch hier war das mikrobielle Arten­spektrum im Untergrund charakteristisch für den Typ Landschaftsnutzung darüber. «Wir können anhand der Mikroflora sagen, um welche Art von Boden es sich handelt«, sagt Widmer. Und die Zusammensetzung änderte sich kaum über die Zeit.

Bakterien schützen vor PilzenWelchen Einfluss umgekehrt Bakterien und Pilze auf die Gesundheit der Pflanzen haben, studiert Monika Maurhofer von der ETH Zürich im Labor. «Wir wissen, dass es krankheitsfördernde und ­unterdrücken­de Böden gibt», sagt Maurhofer. Die grosse Frage ist dabei allerdings, welche der vielen Kleinstlebewesen dafür wichtig sind.

Im Nationalen Forschungsprogramm «Ressource Boden» (NFP 68) untersuchten die Forschenden, ob für ihre Antipilzaktivi­tät bekannte Bodenbakterien, so genannte Pseudomonaden, die Pflanzen tatsächlich schützen können. Deshalb haben sie zehn Böden aus verschiedenen Weizenfeldern gesammelt und auf drei Pseudomonaden­Arten untersucht. Sie bestimmten, ob die für die Arten typischen Gene vorhanden waren. Anschliessend wurden die Böden im Labor wieder mit Weizen bepflanzt und

«In einem Gramm Boden befinden sich rund zehn Milliarden Mikroorganismen.»

Franco Widmer

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Auch die Rüebli im entwässerten Moorboden des Berner Seelands profitieren von einer vielfältigen Mikroflora.Bild: Agroscope (Gabriela Brändle,

Urs  Zihlmann) und LANAT (Andreas Chervet)

Mikroben identifizieren am Laufmeter

Mit modernen molekularbiologischen Methoden ist es möglich, in wenigen Tagen fast alle Bakterien und Pilze in verschiede­nen Lebensräumen zu bestimmen – sei es im menschlichen Darm oder im Boden. Dafür wird nach bestimmten Genen (beispiels­weise für die Ribosomen­RNA) gesucht, anhand derer die Mikroben verschiedenen Gruppen zugeordnet werden. Es entsteht ein Überblick über die gesamte mikro bielle Gemeinschaft – das Mikrobiom – und de­ren Diversität.

Ackerbau im Langzeitvergleich

Seit 1978 läuft in Therwil bei Basel ein einzig­artiger Langzeitvergleich fünf verschiedener Arten der Landwirtschaft: biodynamisch, bioorganisch, konventionell­integriert, kon­ventionell­mineralisch und völlig ungedüngt. Nach bald 40 Jahren Laufzeit des DOK­Versuchs zeigt sich, dass der Ertrag bei den biologischen Verfahren je nach Kultur bis zu 20 Prozent tiefer ist. Im Gegenzug muss dafür aber insgesamt auch bis zu 35 Prozent weniger Energie aufgewendet werden – die Herstellung von Dünger und Spritzmitteln mit eingerechnet. Der Versuch ist eine Zusam­menarbeit von Agroscope und dem FIBL.

angestrebt. Auch eine abwechslungsreiche Fruchtfolge verhindert die Anreicherung gewisser Krankheitserreger.

Sogar die Beigabe von gewissen Kleinst­lebewesen hat einen positiven Effekt auf die Pflanzengesundheit. Zum Beispiel kön­nen Schadinsekten erfolgreich mit Faden­würmern biologisch bekämpft werden. Gute Pilze werden gegen Maikäfer eingesetzt und Pseudomonaden gegen schlechte Pilze.

Symbiose-Pilze züchtenDie bekanntesten Nützlinge sind jedoch Mykorrhiza­Pilze, die mit den Wurzeln der Pflanzen eine Symbiose eingehen. Die Pilzsporen werden in der biologischen Landwirtschaft schon länger zusammen mit dem Saatgut ausgebracht. Ian Sanders

von der Universität Lausanne ging noch einen Schritt weiter und erfand eine Me­thode, wie diese Pilze gezielt gezüchtet werden können. Reiskulturen im Labor und erste Freilandversuche mit Maniok­kulturen zeigten beeindruckende Ertrags­steigerungen.

Sanders formulierte 2014 seinen Traum im Podcast Gastropod so: «Während Jahr­tausenden haben Menschen dank na­türlicher genetischer Variation Pflanzen gezüchtet und den Ertrag erhöht. Es gibt keinen Grund, warum wir dies mit My­korrhiza­Pilzen nicht auch tun könnten.» Auch diese Revolution wird jedoch noch viele Jahre dauern.

Florian Fisch ist Wissenschaftsredaktor des SNF.

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Wie’s der Bauch dem Kopf sagtDie Kommunikation zwischen Verdauungstrakt und Gehirn beeinflusst unser Essverhalten. Eine bessere Kenntnis der Signalwege könnte deshalb neue Therapien gegen Fettleibigkeit ermöglichen. Von Stéphane Praz

D er Mensch isst, weil er Hunger hat – und aus tausend anderen Gründen: zum Beispiel Lust, Frust oder Stress. Dass der Verdauungstrakt und das

Gehirn unser Essverhalten gemeinsam steuern, ist schon seit langem klar. Die Fra­ge, wie sie dies tun, gewinnt ebenso schnell an Relevanz, wie sich Übergewicht, Adi­positas und Diabetes Typ 2  verbreiten.

Allerdings konzentrieren sich die heute effizientesten Methoden zur Reduktion von massivem Übergewicht ausschliesslich auf chirurgische Eingriffe im Verdauungs trakt: Magen­Bypass und Reduktion des Magen­volumens (Schlauchmagen). «Überraschen­derweise haben diese anatomisch völlig un­terschiedlichen Veränderungen denselben Haupteffekt, nämlich eine totale und dauer­hafte Umstellung des Hormonhaushaltes», erklärt Ralph Peterli, Übergewichtschirurg und Forscher am Basler Clara spital. Seinem Team gelang es 2009 erstmals, dies beim Schlauchmagen zu zeigen.

«Und da kommt das Gehirn ins Spiel», sagt Peterli. «Dieses muss beteiligt sein, wenn Patienten nach der Operation plötz­lich keine Lust mehr auf Fettes haben, da­für beim Gemüse zugreifen.» Aktuell ana­lysieren die Forschenden am Clara spital mittels funktioneller Magnetresonanz­tomografie (fMRI), wie das Gehirn von Pro­banden auf die Einnahme verschiedener Nahrungsmittel reagiert.

Ratten fressen mehr, aber seltenerDoch wie gelangen die Signale überhaupt vom Bauch in den Kopf? Das will Wolfgang Langhans, Physiologe an der ETH Zürich, herausfinden. «Daraus könnten sich phar­makologische Strategien ergeben als Alter­native zu den chirurgischen Eingriffen. Denn diese sind mit Risiken verbunden», sagt Langhans. Er erforscht unter anderem die Rolle des Hormons «glucagon­like pep­tide 1» (GLP­1), das als Sättigungshormon bekannt ist. Es wird in grossen Mengen produziert, sobald sich der Darm mit Nah­

rung füllt. Wie alle Hormone gelangt GLP­1 vermutlich via Blutkreislauf ins Gehirn, wo es wirksam wird. Langhans und sein Team vermuten jedoch, dass GLP­1 auch Nerven­signale sendet, indem es an die GLP­1­Re­zeptoren des Vagusnervs dockt, der Darm und Gehirn verbindet.

Ihre Hypothese haben sie an Ratten un­tersucht, bei denen GLP­1 dieselbe Funk­tion hat wie beim Menschen. In den Vagus­nerv der Tiere spritzten die Forscher Viren mit künstlich verändertem Erbgut, so ge­nannte virale Vektoren. Diese hemmen die Herstellung von GLP­1­Rezeptoren in den Nervenzellen des Darms. Die Zahl der Re­zeptoren reduzierte sich in der Folge um etwa die Hälfte.

Tatsächlich bewirkte die so herunter­regulierte GLP­1­Nervenverbindung vom Darm zum Gehirn eine Veränderung des Essverhaltens: Die Ratten frassen länger und mehr pro Mahlzeit, und sie zeigten danach deutlich höhere Blutzuckerwerte. Aller dings änderte sich die gesamte pro Tag

eingenommene Nahrungsmenge nicht. Die Tiere assen zwar mehr aufs Mal, dafür weniger oft.

Die Chirurgie wirkt nachhaltiger«Das Resultat mag vielleicht etwas enttäu­schend erscheinen», sagt Langhans, «doch es ist physiologisch faszinierend. Es bestä­tigt eine Rolle von GLP­1 und Vagusnerv bei der Sättigung, zeigt aber auch, dass die Steuerung der Nahrungsaufnahme sehr ro­bust angelegt ist.»

Davon ist auch Peterli vom Claraspital überzeugt. Doch genau deshalb zweifelt er an einer pharmakologischen Alternative zur Operation: «Die Chirurgie wirkt nicht nur auf ein oder zwei Hormone, sie beein­flusst fünfzig oder hundert Mechanismen gleichzeitig. Die meisten davon kennen wir gar nicht.» Allerdings kann auch er sich vorstellen, dass Hormonpräparate oder Rezeptorblocker die Wirkung der Opera­tion unterstützen könnten. Die praktische Anwendung von Wirkstoffen zeichnet sich also ab. Von einer umfassenden Klärung der vielfältigen Zusammenhänge zwischen Darm und Gehirn dürfte die Wissenschaft noch weit entfernt sein.

Stéphane Praz ist freier Wissenschaftsjournalist.

J. P. Krieger et al.: Knockdown of GLP­1 Receptors in Vagal Afferents Affects Normal Food Intake and Glycemia. Diabetes (2016)

«Die Chirurgie beeinflusst fünfzig oder hundert Hormon­Mechanismen gleichzeitig.»

Ralph Peterli

Der Vagusnerv (grün) und die Hormone arbeiten eng zusammen, um das Gehirn über den Zustand der Eingeweide zu informieren. Bild: Bryan Christie Design

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Gehirne extrem Frühgeborener sind anders vernetzt

D ank medizinischer Fortschritte erleiden Kinder, die vor der 28. Schwangerschaftswoche und

damit viel zu früh zur Welt kommen, heute selten schwere Hirnschäden. Dennoch ha­ben sie in der Schule Probleme: Sie  lernen schlechter, sind weniger konzentrations­fähig und haben Mühe, die Emotionen ihrer Mitschüler richtig zu interpretieren. Das führt im späteren Leben zu erheb­lichen Belastungen für die Betroffenen und ihr Umfeld.

Auf der Suche nach der Ursache stellten Forscher das Konnektom – also sämtliche Verbindungen zwischen Nerven fasern im Gehirn – jugendlicher Betroffener mit Hilfe der Diffusions­Kernspintomo grafie dar. Dann beschrieben sie mit Methoden der Netzwerkanalyse, wie intensiv Nerven­fasern innerhalb definierter Module mitei­nander kommunizieren und wie stark die Module untereinander vernetzt sind.

Die Ergebnisse fasst die Studienleite­rin Petra Hüppi vom Universitätsspital Genf in einem Satz so zusammen: «Wir haben den Ursprung dieses Verhaltens hinter der Stirn lokalisiert.» Bestimmte Bereiche im Frontallappen, die bereits in den frühen Phasen der Entwicklung angelegt werden, sind bei extrem früh und sehr untergewichtig geborenen Kindern anders miteinander und mit dem limbi­schen System verknüpft als bei normal geborenen Kindern. Der Frontal lappen und das limbische System sind genau die Gehirn areale, die im späteren Leben für die Konzentration und das Interpretieren von Emotionen wichtig sind.

Basierend auf diesen Daten will Hüppi in den nächsten Jahren testen, ob ge­zielte Förderung durch Musik, Lern­ und Aufmerksamkeitstraining zwischen Geburt und dem dreizehnten Lebensjahr diese Hirnareale positiv beeinflussen und damit den betroffenen Kindern helfen kann.  Karin Hollricher

E. Fischi­Gomez et al.: Brain network characterization of high­risk preterm­born school­age children. Neuroimage: Clinical (2016)

Im Akkord neue Antibiotika bauen

Der Menschheit gehen die wirk­samen Antibiotika aus, weil Bak terien dagegen resistent

werden. Nun hat ein Forscherteam der Universität Harvard in den USA eine neue Technik entwickelt, mit der in kurzer Zeit Hunderte neue Wirkstoffe synthetisiert werden können.

Bisher liessen sich neue Verbindungen nur herstellen, indem man an geeigneten Stellen aussen an den Antibiotika weitere Atomgruppen anhängt, um so ein neues, aber sehr ähnliches Molekül zu erhalten. «Das ist eine sehr ineffiziente Methode, mit der in den letzten sechzig Jahren ge­rade mal sechs neue Antibiotika entdeckt wurden», sagt Prozess­Chemikerin Audrey Langlois, die als Postdoc beim Harvard­Projekt mit dabei war und heute bei Novartis arbeitet.

So ist man auch bei den so genannten Makrolid­Antibiotika vorgegangen – ring­förmige Moleküle, die ursprünglich aus Pilzen und Bakterien stammen. Bei ihrer neuen Vorgehensweise zerlegten die Forschenden die Makrolide erst in viele kleine Bestandteile. Daraufhin veränder­ten sie diese Bruchstücke und setzten sie zu neuen Makroliden zusammen. Diese waren jetzt in ihrer inneren Struktur ganz anders gebaut.

Auf diese Weise sind inzwischen 350 neue Moleküle entstanden. Rund achtzig Prozent von ihnen zeigten bei ersten Tests eine antibiotische Wirkung. Zwei davon konnten sogar multiresistente Bakterien abtöten. Die Technik könnte nun auch auf andere Antibiotika­Gruppen wie etwa die Penicilline angewendet werden. «Natür­lich dauert es immer noch Jahre, bis aus den neuen Verbindungen ein Wirkstoff entsteht. Aber mit dem Material kön­nen wir jetzt arbeiten», sagt Langlois. Atlant  Bieri

I. B. Seiple et al.: A platform for the discovery of new macrolide antibiotics. Nature (2016)

Computermodell gegen Tollwut

D ie Tollwut ist noch lange nicht besiegt: Jedes Jahr sterben in Afrika und Asien über 55 000

Menschen an der Seuche. Experten vermuten, das Virus schaffe früher oder später den Sprung von Indonesien in das bisher tollwutfreie Australien – vielleicht durch einen infizierten Hund auf einem Fischerboot.

Was dann passieren könnte, zeigt ein neues Computermodell, das von Salome Dürr von der Universität Bern zusammen mit australischen Kollegen entwickelt wurde: Es simuliert die Ausbreitung der Tollwut innerhalb einer Hundepopulation durch Bisse und soll den Behörden helfen, eine Bekämpfungsstrategie auszuarbeiten.

Das grösste Übertragungsrisiko geht demnach von den freilaufenden Hunden in nordaustralischen Aborigines­Sied­lungen aus. In einer Feldstudie hat Dürr die Bewegungsmuster von 69 Hunden in sechs Dörfern mit Hilfe von GPS­Hals­bändern analysiert. Einige Exemplare ent­fernten sich dabei so weit von den Dörfern, dass sie Wildhunde anstecken könnten. Eine Umfrage ergab einen weiteren Risiko­faktor: Gut die Hälfte der Hundebesitzer aus diesen Dörfern nimmt ihre Tiere öfter auf Jagdausflüge mit.

Dieser Grad an Mobilität reicht gemäss Computermodell aus, um eine Epidemie auszulösen. «Ohne geeignete Gegenmass­nahmen kann sich die Tollwut in Austra­lien wie ein Feuer ausbreiten», befürchtet Dürr. Ihre Simulation zeigt aber auch, dass eine rasche Impfaktion einen Ausbruch innerhalb weniger Monate stoppen könn­te. Andere Massnahmen – wie das Einsper­ren oder Anleinen der Hunde – wären un­zureichend und nur schwer durchsetzbar.

Demnächst soll das Modell auch in anderen Ländern zum Einsatz kommen – etwa im Tschad, in dessen Hauptstadt zurzeit die Hundetollwut bekämpft wird.Yvonne Vahlensieck

E. G. Hudson et al.: A Survey of Dog Owners in Remote Northern Australian Indigenous Communities to Inform Rabies Incursion Planning. PLOS Neglected Tropical Diseases (2016)

Multiresistene Bakterien (rechts) halten eine wachsende Zahl von Antibiotika in Schach.

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Der Zeitpunkt der Geburt bestimmt mit, wie gut sich ein Kind im Schulalter konzentrieren kann.

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Streunende Hunde verbreiten Viren übers Land.

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Biologie und Medizin

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Die passende GesteBionische Prothesen müssen noch präziser und zuverlässiger werden. Um dies zu erreichen, lernen Algorithmen nun von Datenbanken mit natürlichen Bewegungen. Von Geneviève Ruiz

Mit einer «fühlenden» Prothese, die dem Gehirn per Implantat eine Rück­meldung gibt, können Amputierte ihre Bewegungen besser kontrollieren. Bild: Lifehand2/Patrizia Tocci

D ie meisten Personen mit Amputa­tionen verwenden Prothesen aus rein kosmetischen Gründen. Es fällt ihnen schwer, bionische Glied­

massen zu akzeptieren, die kompliziert sind und unnatürlich wirkende Bewegun­gen ausführen. Die meisten auf dem Markt verfügbaren Modelle beherrschen nur we­nige einfache Gesten, wie das Öffnen und Schliessen der Hand, die ausserdem oft ruckartig ausgeführt werden. Zudem kön­nen die Anwender die Stärke der Bewegun­gen nicht immer gut kontrollieren, was zu Sicherheitsproblemen führen kann.

Wissenschaftler versuchen die Prothe­sen so zu verbessern, dass diese natürliche Extremitäten besser imitieren. Dabei grei­fen sie auf maschinelles Lernen zurück  – eine Technik, die insbesondere bei der künstlichen Intelligenz zur Anwendung kommt. Mit den Algorithmen lernt die Prothese aus der Beobachtung natürlicher Gesten, Bewegungen richtig auszuführen.

Hilfe von PhysiotherapeutenHenning Müller, Professor am Institut für Wirtschaftsinformatik der Fachhoch­schule Wallis in Siders, möchte für die Wissenschaft die grösste Datenbank von Hand bewegungen aufbauen. Gegenwärtig umfasst die Datenbank rund fünfzig Ges­ten, die bei 78 gesunden oder amputierten Teilnehmenden erfasst wurden. «Wir wur­den dabei von Physiotherapeuten unter­stützt, die im Alltag mit amputierten Per­sonen arbeiten», erklärt Müller. «Mit diesen Daten lassen sich Algo rithmen schreiben, die die Geschicklichkeit der Prothesen ver­bessern, wodurch sie von den Patienten besser akzeptiert werden.»

Ein weiterer Aspekt des Projekts besteht darin, die beteiligten neuropsychologi­schen Mechanismen besser zu verstehen. «Wir wissen nicht genau, wie sich Ampu­tationen auf das Gehirn auswirken», fährt der Forscher fort. «Dieser Aspekt ist jedoch essenziell für intelligente Prothesen, die die Patienten in ihren Körper zu integrie­ren bereit sind.» Der Spezialist will auch verstehen, weshalb bestimmte Personen besser mit dem Einsatz ihrer Prothese zu­rechtkommen. Seine Arbeiten zeigen, dass

die Präzision der Bewegungen steigt, je weiter die Amputation zurückliegt und je intensiver die Phantomschmerzen sind, die durch das Fehlen der Extremität ver­ursacht sind. Beides geht wahrscheinlich mit stärker vernetzten Nerven einher.

Aus Fehlern lernenMaschinelles Lernen steht auch im Mittel­punkt der Arbeiten von José Millán. Bereits 2010 entwickelte der Forscher der EPFL einen gedankengesteuerten Rollstuhl. Dabei misst eine Haube mit Elektroden die neuronalen Impulse des Gehirns. Vor Kurzem entwickelte Millán neue Schnitt­stellen zwischen Hirn und Maschine, die selbständig lernen, die Bewegungen eines Roboterarms korrekt zu steuern. «Das Hirn sendet einen spezifischen elektrischen Im­puls aus, wenn eine Geste misslingt», er­klärt Millán. Seine Vorrichtung dekodiert dieses Fehlersignal und leitet es an einen künstlichen Arm weiter, der so zwischen korrekten und falschen Bewegungen un­terscheidet und eine Datenbank mit Abläu­fen anlegt. «Mit diesem Ansatz lassen sich schneller Ergebnisse erzielen. Sonst müss­te der Patient völlig neue motorische Fä­higkeiten erwerben. Das braucht sehr viel Zeit, wie man bei Kindern sehen kann.»

Andere Forschende verwenden Implan­tate, um die Maschine direkt mit dem Ge­hirn oder peripheren Armnerven zu ver­binden. Zum Beispiel Silvestro Micera vom Zentrum für Neuroprothesen der EPFL. Seiner Gruppe gelang es 2014, einem am­putierten Patienten eine Art Tastsinn zu­rückzugeben. Die künstliche Hand wandelt sensorische Informationen in elektrische Reize um, diese wiederum werden durch im Arm implantierte Elektroden in Nerven­impulse übersetzt. Micera ist überzeugt, dass künftig sämtliche Prothesen über ein Implantat verbunden werden: «Damit ein Patient seine Prothese annimmt, muss ihm diese natürliche Empfindungen ver­mitteln. Das lässt sich am besten über Im­plantate erreichen.»

Doch die Grundfrage bleibt: Sind die von Amputationen betroffenen Personen be­reit, künstliche Gliedmassen so eng an ih­ren Körper zu binden?

Geneviève Ruiz aus Nyon ist Chefredaktorin der Zeitschrift Hémisphères.

M. Atzori et al.: Effect of clinical parameters on the control of myoelectric robotic prosthetic hands. Journal of Rehabilitation Research & Development (2016)

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Umwelt und Technik

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Ein Quantensprung für die Industrie

D ie Idee der Quanteninformatik ist verführerisch. Während her­kömmliche Computer Daten als digitale Bits verarbeiten, lassen

die ungewohnten Gesetze der mikrosko­pischen Welt Quantenbits (oder Qubits) zu. Dabei können die Zustände 0 und 1 gleichzeitig bestehen und auch miteinan­der «verschränkt» sein. Diese Eigenschaf­ten erlauben Quantencomputern, zumin­dest theoretisch, gleichzeitig mit allen durch einen Satz von Qubits festgelegten mög lichen Werten zu operieren. Dadurch wächst die Verarbeitungsgeschwindigkeit bei bestimmten Problemen gegenüber heutigen Rechnern exponentiell.

In der Grundlagenforschung für diese Computer  – sowie für quantenmechani­sche Anwendungen wie Kryptografie und Messtechnik  – gehört die Schweiz zu den führenden Ländern: Auf der aktuellsten Rangliste der Zitierungen in den Quan­tenwissenschaften lag sie gemäss Tech­nopolis 2011 zusammen mit Österreich an der Spitze. Seit fünf Jahren sind die For­schungsgruppen aus allen Landesteilen im Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS) «QSIT – Quantenwissenschaften und ­tech­nologie» vernetzt.

Die Quantenforschenden von nebenanFür den Leiter des Programms, Klaus Enss­lin von der ETH Zürich, liegt die Stärke des Landes in der Breite der Forschung. «Wenn

ich zehn Meter aus meinem Büro gehe, treffe ich Quantenforscher, die in ganz un­terschiedlichen physikalischen Systemen arbeiten. Andere europäische Zentren sind hingegen spezialisierter.»

Ensslin ist wie viele andere Forschen­de aber der Ansicht, dass die Schweizer Einrichtungen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu wenig gut in marktreife Produkte ummünzen. Daniel Loss von der Universität Basel weist darauf hin, dass die Forschung in anderen Ländern  – etwa in den Niederlanden, Dänemark, Japan und Australien – gezielt für die Entwick­lung eines Quantencomputers unterstützt wird. An dieser Finanzierung «fehlt es hier ein wenig».

Eine erste nationale Erfolgsgeschichte gibt es bereits: ID Quantique, ein Spin­off der Universität Genf, vertreibt kryptogra­fische Ausrüstung und Einzelphotonen­Detektoren. Mit den Detektoren können vertrauliche Nachrichten mit einem gehei­men «Schlüssel», bestehend aus den Quan­tenzuständen einer Reihe von Photonen, codiert und decodiert werden. Dank der Ge­setze der Quantenmechanik verrät sich je­der Lauschangriff durch eine Veränderung

des Schlüssels. Damit ist Informations­übermittlung praktisch abhörsicher. Das 2001 gegründete Unternehmen verkauft seine Technologie inzwischen weltweit ge­winnbringend an Banken, multinationale Unternehmen und Regierungen.

Bisher gibt es in der Schweiz keine Nachfolger. Einer der Gründer von ID Quantique, Nicolas Gisin von der Univer­sität Genf, weist darauf hin, dass Google, Microsoft, IBM und Toshiba intensiv in die Quantentechnologie investieren, Schwei­zer Unternehmen aber nicht. Gisin hofft, dass sich dies mit dem im April von der Europäischen Union angekündigten, mit einer Milliarde Euro dotierten Flaggschiff­Programm zur Entwicklung und Vermark­tung solcher Produkte ändern wird. «Die Quantentechnologie wird Informatik und Kommunikation in den nächsten zwei Jahrzehnten revolutionieren», ist er über­zeugt. «Wir können nicht zuwarten.» Die­ser Meinung ist auch Loss, der hofft, dass die Schweiz sowohl am Programm teil­nimmt als auch ein eigenes ins Leben ruft.

Auf die Grösse kommt es anIn ihren Anfängen vor drei Jahrzehnten war Forschung an Quantencomputern noch akademisch. In den letzten Jahren gelangen den Physikern aber entschei­dende Fortschritte bei der Quantenfehler­korrektur, mit der Störungen der empfind­lichen Quantenzustände durch äussere

Die EU fördert die Quantentechnologie mit einer Milliarde Euro durch ein neues Flaggschiff­Programm. Schweizer Forschende versuchen derweil die Quantenphysik vom Labor auf den Markt zu bringen. Von Edwin Cartlidge

Mit dem an der Universität Basel entwickelten Chip werden Atome eingefangen und auf –275 Grad gekühlt. Solche Geräte könnten einmal Quanteninformationen speichern. Bild: Stefan Willitsch

«Wir können nicht zuwarten.» Nicolas Gisin

(weiter auf Seite 46)

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uanten kommunikation

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Sichere ÜbermittlungQuantenverschlüsselung

funktioniert bereits bei Glas-faserverbindungen über Distanzen

von mehr als hundert Kilometern. Im August 2016 hat China einen

Satelliten ins Weltall geschickt, um satellitenbasierte Krypto-

grafie zu testen.

ZeitmessungUhren, die auf verschränkten Qubits beruhen, sind bereits

genauer als die Atomuhren, die in GPS-Satelliten oder zur offizi-ellen Definition einer Sekunde

verwendet werden.

Magnetfeld detektorBesondere Defekte in

Diamanten verhalten sich wie künstliche Atome, die auf ein

Magnetfeld reagieren. Dafür gibt es Anwendungen in der medizinischen

Bildgebung und der Ölförderung. So könnte die SQUID ersetzt wer-den, die nur mit supraleitenden

Materialien bei minus 170 Grad funktioniert.

MikroskopieEin bildgebendes Gerät, das mit

verschränkten Photonen arbeitet, könnte die Mikroskopie bei

schwachem Licht verbessern.

GravitationWegen der Wellen natur

der Materie kann ein Atom -interferometer winzige Verände-

rungen im Gravitationsfeld aufspü-ren. Es könnte als Kreisel instrument

für die Trägheits navigation eingesetzt werden – zum Beispiel

in U-Booten oder für geologi-sche Untersuchungen.

Das ungewöhnliche Verhalten mikroskopischer Objekte soll neue Technologien, revolutionäre Computer und eine absolut sichere Verschlüsselung hervorbringen.Journalist: Daniel Saraga Infografik: onlab, Thibaud Tissot

Die Versprechen der Quantentechnologie

Sichere Übermittlung

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Ein Zeitplan fürneue Technologien

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Quantensensoren

Der Wellencharakter von Quantenmaterie ist extrem empfindlich gegenüber der Umgebung. Die Messung der Zerfallsdauer (Dekohärenz) erlaubt schwächste Signale zu detektieren.

Quantenkommunikation

Verschränkte Photonen (Lichtteilchen) lassen sich für die Verschlüsselung einsetzen. Sender und Empfänger erzeugen eine zufällige Folge von Bits (011011101011 ...) und teilen sie unmittelbar. Sie dient als geheimer Schlüssel für die Kodie-rung einer Nachricht. Die Nachricht selbst wird auf herkömmlichem Weg versendet, aber nur der Empfänger hat den Schlüssel dazu.

Quantencomputer

Als Quantenbits gespeicherte Informationen sind sehr fragil. Durch ihre Verschränkung und den Parallelismus können bestimmte Probleme aber theoretisch unvergleichlich schneller als mit gewöhnlichen Computern gelöst werden.

Umwelt und Technik

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uanten kommunikationQuantencom

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Ungewöhnliche Eigenschaften

Welle und TeilchenSehr kleine Objekte wie Atome, Elektronen oder Photonen zeigen ein manipulierbares quanten-mechanisches Verhalten, solange sie extrem gut von ihrer Umgebung isoliert sind.

QuanteninformationDigitale Information lässt sich mit Quantenbits (Qubits) speichern. Sie sind zum Beispiel durch die Rotationsrichtung eines Elektrons oder das Energieniveau eines Atoms festgelegt.

SuperpositionEin Qubit kann gleichzeitig und mit beliebiger Gewichtung die Zustände 0 und 1 darstellen.

ParallelismusMehrere Qubits lassen sich gleichzeitig verarbeiten.

VerschränkungVerschränkte Qubits sind eng miteinander verbun-den: Die Messung eines Qubits hat einen unmittel-baren Einfluss auf das andere, und das unabhängig von ihrer Entfernung.

Erste SchritteDie besten Laborgeräte arbei-

ten mit nur rund einem Dutzend Qubits. Das Unternehmen D-Wave vermietet zwar Rechner mit 1152

Qubits, aber die angebliche quan-tenmechanische Beschleunigung

gegenüber herkömmlichen Computern wurde widerlegt.

Quanten simulatoren Ein einfacher Quanten-

computer wird in der Lage sein, für die Chemie oder die Material-

wissenchaften molekulare Systeme perfekt zu modellieren. So genannte

«Quantum Annealer» könnten Optimierungsprobleme lösen (schnellste Verbindungen und

optimale Fahrpläne).

UniversalmaschineEin richtiger Quantencompu-ter könnte zusätzlich algeb-

raische Probleme lösen wie die Faktorisierung von Zahlen für das

Knacken einer Verschlüsselung oder das Durchsuchen von Datenban-ken. Dazu wären Millionen von einzeln ansteuerbaren Qubits

erforderlich.

QuanteninternetMit der Übertragung von

Qubits über grosse Distanzen liesse sich ein sicheres Web

schaffen. Noch zu entwickelnde Quantenrepeater müssten den

Signalverlust verhindern. Um die Bandbreite zu verbessern, wären

auch bessere Einzelphotonen-quellen und -Detektoren

erforderlich.

Sichere Übermittlung

Rechnen mit Q

uanten

Längerfristig

Nächste Jahrzehnte

Gegenwärtig

Im Nationalen Forschungsschwer-punkt «QSIT – Quantenwissen-schaften und -technologie» stehen fünf Hochschulen und IBM Zürich 115 Millionen Franken zur Verfü-gung – von 2011 bis 2018.

Die Universität Genf und ihr Start-up ID Quantique sind in der Quanten kryptografie weltweit führend.

Pionier arbeit hat die Universität Basel geleistet, bei Quantencompu-tern auf Halbleiterbasis und bei der Messung im atomaren Bereich.

ETH-Forschende sind eine Autorität für D-Wave, entwickeln verschiedene Quantencomputer und schliessen Schlupf löcher in der Quanten kryptografie.

Eine Quanten­Schweiz

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Einwirkungen behoben werden können. Die Forschung befindet sich gegenwär­tig an der Schwelle zur Entwicklung von Logikgattern, die zuverlässig genug sind, dass sich die Fehler nicht unkontrollier­bar hochschaukeln. Damit öffnet sich die Möglichkeit, den heute noch winzi­gen Quanten computern von rund einem Dutzend Qubits mehr und mehr Kompo­nenten hinzuzufügen, bis sie mit Millio­nen rechnen können.

Die Physiker untersuchen gegenwär­tig eine Vielzahl verschiedener Arten von Qubits. Loss erforschte einen der vielver­sprechendsten Kandidaten, die so genann­ten Spin­Qubits. 1998 schlug er vor, Daten mit dem Spin von Elektronen (eine quan­tenmechanische Rotation eines Teilchens) zu kodieren, die in nanometergrossen Halb­leiter­Systemen  – so genannten Quanten­punkten  – eingebettet sind. Gemäss Loss eignen sich die Spin­Qubits für die Kon­struktion komplexer Quanten computer, da sie klein und schnell sind und aus­serdem von den bestehenden Halbleiter­Herstellungs verfahren profitieren können.

Mit einer weiteren Halbleiter­Techno­logie befassen sich Andreas Wallraff und seine Kollegen an der ETH Zürich. Die Qubits sind in diesem Fall elektrische Strö­me, die in supraleitenden Schaltkreisen wandern – entweder im Uhrzeigersinn, im Gegenuhrzeigersinn oder in beide Richtun­gen gleichzeitig.

Halbleiter­Qubits sind jedoch nicht die einzige Möglichkeit. Die Gruppe um Jonathan Home, ebenfalls an der ETH Zü­rich, fängt Ionen in elektrischen Feldern und bringt sie mit Laserstrahlen in Über­lagerungszustände. Diese Technologie hält den Rekord für die zuverlässigsten Logik­gatter und die höchste Zahl verschränkter Qubits. Home betont den Vorteil, dass die Ionen miteinander identisch sind, was die Skalierung vereinfacht und eine Fehler­korrektur auf Symmetriebasis ermöglicht.

Mehr als hundert Millionen QubitsUnabhängig davon, welche Technologie schliesslich das Rennen macht, wird die Kommerzialisierung eine riesige Heraus­forderung werden. Mit Quantencompu­

tern wäre es möglich, grosse Zahlen zu faktorisieren, wodurch die Sicherheit der herkömmlichen Verschlüsselungstech­nik kompromittiert würde. Dafür wären aber gemäss Schätzungen von John Mar­tinis von der University of California, San­ta Barbara, mehr als hundert Millionen Qubits erforderlich. Eine derartige Hoch­skalierung wäre laut Wallraff weniger eine physikalische denn eine technische Hürde. Es müssten genügend Laser bereitgestellt oder die Qubits effizient gekühlt werden können. «Um diese Systeme zu bauen, be­nötigen wir eher einen ingenieurwissen­schaftlichen Ansatz», sagt er.

«Wie schnell sich diese Herausforderun­gen bewältigen lassen, hängt davon ab, wie viel die Industrie zu investieren bereit ist», so Loss. «In einem kleinen Team mit einem oder zwei befristet angestellten Post­docs ist es natürlich viel schwieriger als mit einer grossen Gruppe fest angestelltem Personal.»

Die Vermarktung der Quantenkrypto­grafie war vergleichsweise einfach, weil dabei nur ein Photon nach dem anderen gesendet und empfangen werden muss und keine Verschränkung mehrerer Quan­tenteilchen nötig ist. Isolierte Systeme werden etwa in Rechenzentren eingesetzt, die mit dem Backupsystem eines Unter­nehmens verbunden sind. Gisin von der Universität Genf träumt davon, die Quan­tenverbindungen zwischen den gröss­ten Schweizer Städten einzurichten. Die Internet benutzer könnten dann zwischen einer billigen, aber relativ unsicheren Ver­bindung und einer quantenkryptografi­schen Verbindung auswählen.

Messung an der NachweisgrenzeEine ausgereiftere Entwicklung sind Quantensensoren. Ein Stickstoffatom im Kern eines Diamanten ergibt einen hoch­sensib len Magnetfelddetektor. Patrick Ma­letinsky und sein Forschungsteam an der Universität Basel setzen einzelne Elektro­nenspins auf die Spitze eines Rasterkraft­mikroskops (AFM), um selbst schwächste magnetische Felder abzutasten. Damit lässt sich eine sehr empfindliche quanti­tative Bildgebung mit einer Auflösung im Nanometerbereich realisieren.

Maletinsky sieht die Anwendung dieser Technik bei der Kartierung winziger räum­licher Variationen in den Streuungsfeldern dünner magnetischer Schichten, wie sie für die Datenspeicherung wichtig sind. Aus­serdem liessen sich damit Wirbel in Supra­leitern untersuchen, die bei Anwendungen wie MRI­Geräten zum Einsatz kommen.

In  der Biologie könnte mit diesem Ver­fahren die Struktur von Proteinen geklärt werden, da die Kerne der Atome einen Spin haben, der wiederum ein winziges Magnet­feld erzeugt. Maletinsky möchte mit seiner Gruppe bis Ende Jahr ein Start­up gründen und die AFM­Diamantspitzen «im nächs­ten oder übernächsten Jahr» vermarkten.

Der Heilige GralTatsächlich sind erste Quantencomputer bereits auf dem Markt. Das kanadische Unternehmen D­Wave enthüllte 2007 sei­nen «quantum annealer», auf dem Opti­mierungsprogramme laufen. Das letzte Gerät protzt mit eindrücklichen tausend supraleitenden Qubits. Das Unternehmen verlieh die Maschinen für je eine Mil­lion Dollar an die Nasa, Google und den Rüstungsriesen Lockheed Martin. Viele zweifeln, dass die Computer wirklich mit quantenmechanischen Effekten arbeiten. Matthias Troyer von der ETH Zürich und andere Forschende zeigten zum Beispiel 2014, dass kein Geschwindigkeitsvorteil gegenüber klassischen Computern besteht.

Mit dem ersten echten Quantencom­puter, der nützliche, mit klassischen Com­putern nicht durchführbare Aufgaben ausführt, könne in etwa zehn Jahren ge­rechnet werden, prophezeit Wallraff. Ein solcher Computer dürfte mit einigen hun­dert Qubits arbeiten und zur Simulation kleiner Moleküle oder anderer Quanten­systeme eingesetzt werden.

Für Loss dagegen ist der Heilige Gral der Quanteninformatik ein vollwertiger, «uni­verseller» Quantencomputer, der Berech­nungen wie die Faktorisierung grosser Zah­len ausführen kann. Da das Interesse der Industrie nun geweckt sei, werde sich die­ses Ziel endlich realisieren lassen. Er hofft, dass Schweizer und andere europäische Un­ternehmen bei der Jagd auf ihre amerikani­schen Konkurrenten aufschliessen.

Edwin Cartlidge lebt in Rom und schreibt für Science und Nature.

«Wir benötigen eher einen ingenieurwissenschaftlichen Ansatz.»

Andreas Wallraff

Die Kommerzialisierung von Quantencomputern wird eine riesige Herausforderung.

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Umwelt und Technik

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Für Hühner, Fische und andere Tiere sind die Maden der Waffenfliege ein nahrhafter Leckerbissen. Bild: FIBLD ie Schwarze Waffenfliege ist eine

wahre Fressmaschine – zumin­dest im Larvenstadium. Trotz ih­res martialischen Namens aller­

dings keine, die jemandem etwas zu Leide tun würde. Ihre Larven ernähren sich von verrottendem organischem Material wie Lebensmittelresten oder Dung. «Sie ver­kleinern in kurzer Zeit den Grossteil von praktisch jeglicher Art von organischen Abfällen», sagt Noah Adamtey vom For­schungsinstitut für biologischen Landbau (FIBL) in Frick.

Adamtey leitet den wissenschaftlichen Teil eines Projekts, das die Fresslust von Larven der Waffenfliege (Hermetia illucens)in Entwicklungsländern einsetzen will. Durchgeführt wird es im Grossraum von Ghanas Hauptstadt Accra. «Wie in andern Grossstädten in tropischen Gebieten ist die Kompostierung in Accra mangelhaft», sagt Adamtey. Das führt einerseits zu enor­men Hygieneproblemen, denn organische Abfälle machen in Entwicklungsländern mehr als die Hälfte des gesamten Mülls aus. Andererseits ist es eine Verschwen­dung natürlicher Ressourcen – zumal die rasch wachsende Bevölkerung auf eine produktive Landwirtschaft angewiesen wäre, die Böden aber ausgelaugt und wenig fruchtbar sind.

Futter für Fische und VögelDeshalb wollen FIBL­Forschende in Zu­sammenarbeit mit ghanaischen Kollegen in Accra das Kompostieren für die Ein­heimischen lohnend machen. Dazu wird organischer Müll mit winzigen Waffen­fliegenmaden versehen. Weil diese die Abfälle in Rekordzeit zerkauen und ver­kleinern, verkürzt sich die Kompostie­rungszeit laut Adamtey um rund einen Drittel auf weniger als 80 Tage. Den wert­

vollen Kompost können die Landwirte auf ihren Feldern ausbringen. Ein weiteres Ziel des Projekts ist es, die Maden der Waffen­fliege weiterzuverwenden – als Futter in Fischzuchten, die in Ghana Mühe haben, den Fischbedarf der Bevölkerung zu de­cken. «Die Larven sind, was ihren Protein­ und Fettgehalt und ihr Aminosäuren profil betrifft, eine extrem interessante Tier­nahrung», sagt Adamtey.

Dem stimmt Stefan Diener vom Wasser­forschungsinstitut Eawag in Dübendorf zu, der selbst Schwarze Waffenfliegen als Abfallverwerter studiert. Bei ugandischen Hühnerzüchtern zum Beispiel, die ihr Fut­ter traditionell selbst mischen, sehe er Po­tenzial für den Verkauf von getrockneten Larven. Ein geplantes Eawag­Projekt in In­donesien möchte die lebendigen Larven an heimische Singvogelhalter verkaufen.

Der wichtigste Punkt bei solchen Projekten sei aber, den organischen Abfäl­len in Entwicklungsländern einen Wert zu geben, sagt Diener. «Lassen sich die Abfälle nicht wirtschaftlich nutzen, bleiben riesi­ge Müllberge liegen und werden zu einem stinkenden Problem.» Es hänge von den lo­kalen Gegebenheiten ab, ob die Waffenfliege

Drei Fliegen auf einen Streich

die beste Lösung sei. «Ist der Energie bedarf in einer Region sehr gross, könnten zum Beispiel Biogasanlagen rentabler sein.» Die organischen Abfälle werden dabei haupt­sächlich in Methan  umgewandelt.

Wenn Larven auf Schrott beissenEs gelte, auch mögliche Fallstricke im Einzelfall genau abzuklären, sagt Diener. Denn für die Waffenfliegenkompostierung braucht es zum Beispiel vor Ort eine fort­laufende Produktion von Fliegeneiern oder ein rationelles Trennverfahren, um die rei­fen Maden vom Kompost zu trennen. «Und man muss sicher sein, dass die Abnehmer der Larven ein Tierfutter akzeptieren, das sich von Abfall ernährt hat.» Dann habe die Waffenfliege grosses Potenzial.

So wie in Accra, wo laut Adamtey das FIBL­Projekt auf Kurs ist. Die grundlegen­den biologischen Untersuchungen seien mittlerweile abgeschlossen, nun werde ein Leitfaden zur Kompostierung mit Waffen­fliegen für die Bevölkerung erstellt. Ein Problem bleibt allerdings bestehen: Viel­fach werden in Ghana organische Abfälle nicht von anorganischen getrennt. Das er­schwert die Kompostierung. Denn an Plas­tik, Glas oder Elektronik beissen sich selbst die Larven der Schwarzen Waffenfliege ihre Mundwerkzeuge aus.

Simon Koechlin ist Wissenschaftsjournalist und Chefredaktor der «Tierwelt».

Mit Fliegenmaden können organische Abfälle in tropischen Ländern rascher kompostiert werden. Das verbessert die hygienischen Bedingungen und die Bodenfruchtbarkeit. Und die Maden enden erst noch als wertvolles Fischfutter. Von Simon Koechlin

«Ohne wirtschaftlichen Nutzen bleiben riesige Müllberge liegen.»

Stefan Diener

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Mit Barium urzeitliches Leben studieren

R und drei Viertel des globalen Sauer­stoffs wird in den obersten Me­tern der Ozeane produziert. Wenn

Forschende die biologische Produktivität der Oberflächenwasser vor Millionen von Jahren bestimmen wollen, analysieren sie, was sich am Meeresgrund abgelagert hat. Geowissenschaftler von der Univer­sität Bern und dem US Geological Survey ent wickeln deshalb seit 2010 eine neue Methode, um anhand von Barium mehr über das vergangene Leben zu erfahren.

Obwohl Barium für Lebewesen kein essenzielles Element ist, bauen es Orga­nismen in kleinsten Mengen anstelle von Kalzium in ihre Kalkschalen ein. Das Verhältnis von Barium und Kalzium im Kalk hat sich als Mass dafür bewährt, wie nährstoffreich das Wasser an der Meeres­oberfläche war – und lässt somit auf die Aktivität des Lebens rückschliessen.

Da Barium teilweise aus den Sedimen­ten wieder ausgewaschen wird, können die Resultate allerdings verfälscht sein. Die Forschenden untersuchen deshalb, wie unterschiedlich schwere Barium­Atome verteilt sind. Die schweren Isotope bleiben eher zurück als die leichten. «Wir wollen Barium als geochemischen Fingerabdruck etablieren», sagt der Berner Gruppenleiter Thomas Nägler.

«Um die Spuren des Lebens in den Ozeansedimenten richtig zu lesen, müssen wir begreifen, wie heute die Barium­Isotopen­Verhältnisse im Meer beeinflusst werden.» Mit einer Serie von Standard messungen haben die Forschen­den nun dafür gesorgt, dass die Messun­gen international vergleichbar werden. Für Nägler ist klar: «Ob unsere Methode wirklich einmal praktikabel wird, steht noch in den Sternen.»  Florian Fisch

K. van Zuilen et al.: Barium Isotopic Compositions of Geological Reference Materials. Geostandards and Geoanalytical Research (2016)

Auf 40 Quadratmetern in der Aufforstung am Davoser Stillberg wird der Boden geheizt.

Der Fitnessgurt warnt vor Unterzuckerung, ohne dass Blut entnommen werden muss.

Bäume kriegen mehr Stickstoff

Dass sich die Erde erwärmt, ist unter Forschenden weitgehend unbestritten. Wie genau sich der

Klimawandel auf die Ökosysteme aus­wirkt, ist jedoch noch kaum bekannt. Ökologen um Melissa Dawes von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft haben nun den Einfluss von erhöhten Temperaturen auf den Kreislauf von Stickstoff im Boden untersucht, der für das Pflanzenwachstum nötig ist.

Die Forschenden erwärmten dafür in einer sechs Jahre dauernden Langzeit­studie über 40 Quadratmeter Erdboden am Davoser Stillberg um knapp vier Grad Celsius und massen ständig den Stickstoff­gehalt. Dabei zeigte sich: der Nährstoff zirkulierte schneller zwischen Boden und Pflanzen.

Die Beschleunigung führt zu einem Mehrangebot an mineralischem Stickstoff im Erdreich. Im kalten, nährstoffarmen Boden der alpinen Baumgrenze ist dieser Effekt besonders ausgeprägt. Entspre­chend beobachteten die Forschenden dort, dass Bergkiefern und Heidelbeersträucher stärker wuchsen – zumindest anfäng­lich. Nach vier Jahren aber schwand das Stickstoff­Überangebot und kehrte zu den Ursprungswerten zurück. Eine Erklärung dafür sei, dass die Pflanzen auf das initiale Plus mit einer erhöhten Aufnahme des Nährstoffs reagierten und den Überschuss damit aufbrauchen, so Dawes.

Diese Kehrtwende sei nur durch die lange Dauer der Studie erkennbar, sagt Christian Körner von der Universität Basel: «Dass die Veränderungen im Stickstoff­Kreislauf nicht nur kurzfristig sind, ist die zentrale Botschaft.» Ausser­dem reagierten die Arten unterschiedlich, sagt Dawes. «Profitieren einzelne Pflanzen vom Klimawandel, ändert sich auch die Gemeinschaft, was wiederum das Öko­system mit seinen Pflanzen und Tieren beeinflusst.» Martin Angler

M. A. Dawes et al.: Soil warming opens the nitrogen cycle at the alpine treeline. Global Change Biology (2016)

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Mit dem Kolben werden Sedimentproben vom Meeresgrund entnommen.

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nBrustgurt überwacht Diabetiker

Wie lässt sich der Blutzucker­spiegel bei Diabetes patienten effizient messen? Bei der

üblichen Methode wird mit einer kleinen Nadel etwas Blut aus der Fingerkuppe entnommen und die Zuckerkonzentra­tion genau bestimmt. Das ist schmerz­haft und lässt keine kontinuierliche Beobachtung zu, was gefährlich werden kann: «Einige Diabetiker geraten in eine Unterzuckerung, ohne es zu bemerken», erklärt Jean­Eudes Ranvier vom Labor für Informations systeme der EPFL.

Gemeinsam mit Kollegen der Fach­hochschule Wallis entwickelt der Dokto­rand eine neue Art der kontinuierlichen Blutzuckerüberwachung, die solche Ereig­nisse rechtzeitig erkennt. Dabei wird der Wert beim Patienten geschätzt – anhand seiner Nahrungsaufnahme, die durch eine Mobiltelefon­Applikation erfasst wird, sowie seines Energieverbrauchs, der mit einem ständig getragenen Fitness­Brust­gurt ermittelt wird. Das Gerät registriert die Bewegungen und die Atemfrequenz des Patienten. Gleichzeitig zeichnet es ein Elektrokardiogramm auf, das sich bei einer Unterzuckerung in charakteristischer Weise verändert.

Die gesammelten Informationen werden via Smartphone alle fünf Minu­ten an einen entfernten Server gesendet. «Wir haben ein Modell entwickelt, das auf einem semantischen Ansatz beruht. Das heisst, es kann diesen Rohdaten den Sinn entnehmen und auf eine allfällige Hypo­gly kämie schliessen», führt Jean­Eudes Ranvier aus. Liegt eine Unterzuckerung vor, wird der Patient unverzüglich über eine Textnachricht auf sein Mobil telefon alarmiert. Um die Präzision des Modells zu erhöhen, muss es zuerst noch mit zahl­reichen Beispieldaten von freiwilligen Diabetikern gespeist werden. Die Daten­erfassung wird in den nächsten Monaten abgeschlossen. Fabien Goubet

J.­E­ Ranvier et al.: Detection of Hypoglycemic Events through Wearable Sensors, Proceedings SEMPER (2016)

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Umwelt und Technik

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Gerüste lenken die AusbreitungDas Wachstum der Zellen kann durch Gerüste oder mit Vertie­fungen in Hydrogelen in Form gebracht werden. Für Implantat­gewebe müssen die Gerüste aus abbaubaren Materialien bestehen oder wie bei Knorpeln von den Zellen selbst gebildet werden.

3D­DruckerEin 3D­Drucker baut die Struktur auf, indem er die Zellen Schicht für Schicht aufträgt, zusammen mit einem flüssigen Material, das die Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt.

Die richtige MischungDas Wachstum von aus Organen gewonnenen pluripotenten Zellen kann durch Hormone stimuliert werden. In einem zweiten Schritt lösen andere Hormone die Differenzierung der Stammzellen in verschiedene Gewebe aus, wo­durch ein rudimentäres «Miniaturorgan» oder Organoid entsteht. Rotation oder Schütteln hilft, die Zellen auszubreiten und in eine 3D­Struktur zu bringen.

Organe auf ChipsMikrokanäle verbinden die Zellkulturen verschiedener Miniaturorgane und ahmen den Austausch im Körper nach. So können Substanzen zuverläs­siger geprüft werden, die von einem Organ (wie Niere oder Leber) vor dem Weiterleiten an ein anderes verändert werden. Noch bietet kein Schweizer Start­up ein solches Produkt an.

Die HerausforderungenDie Qualitätskontrolle von 3D­Kulturen sei schwie­rig, meint die Spezialistin für Gewebezüchtung Stephanie Mathes von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. «Es ist nicht einfach, dynamische 3D­Strukturen nichtdestruktiv abzu­bilden und zu beschreiben. Die Methoden von 2D­Kulturen lassen sich nicht ohne weiteres über­tragen.» Zudem fehlen normalerweise Blutgefässe, wodurch das Wachstum durch Abfallprodukte sowie Sauerstoff­ und Nährstoffmangel innerhalb der Struktur begrenzt wird. Der Einbau künstlicher Blut­gefässe oder Mikrokanäle könnte Abhilfe schaffen.

Schweizer Start­ups

Neurix (GE, 2011): Miniatur­Gehirne

InSphero (ZH, 2009): Hängende Tropfen für Organoide

Elanix (VD, 2012): Bindegewebe zur Transplantation

Cellec Biotek (BS, 2011): Bioreaktoren

CellSpring (ZH, 2015): Stoffe für die Gerüstsynthese

Sun Bioscience (VD, 2016): Hydrogel­Gerüste

Qgel (VD, 2009): 3D­Tumor

Regenhu (FR, 2007): 3D­Bioprinter

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In 3D sind Zellkulturen realistischerVerschiedene Schweizer Start­ups entwickeln dreidimensionale Zellgewebe. Verglichen mit den üblichen einschichtigen Zellkulturen bieten sie realistischere Testbedingungen für Wirkstoffe, Materialien für Implantate und toxikologische Untersuchungen. Text: Daniel Saraga Infografik: ikonaut

Wie funktionierts?

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Aus erster Hand

Fortschritt – müssen gewährleistet sein, die Speicherung muss gesichert sein, die Datenqualität darf nicht leiden, und die Eigentumsrechte müssen geklärt sein.

Die Akademien der Wissenschaften Schweiz setzen sich ein, dass das The­ma Personal Health aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und mit wissen­schaftlicher Transparenz vorangetrieben wird. Seit 2014 hat sich das «Swiss Personal Health Network» formiert, in dem alle wichtigen Akteure vertreten sind. Das Netzwerk soll sicherstellen, dass die Fort­schritte in den molekularen Life Scien ces und in der Informationstechnologie für Forschung und Innovation an Hoch­schulen und für die Industrie zugänglich sind. Anstelle von Doppelspurigkeiten und regio na len Datenfriedhöfen entsteht so die Datengrundlage für die künftige Spitzenforschung und für eine bessere Gesundheitsversorgung in der Schweiz.

Institutionen und führende Forscherin­nen und Forscher haben die tragende Rolle der Schweizerischen Akademie der Medi­zinischen Wissenschaften SAMW erkannt: Die SAMW wird – in Partnerschaft mit dem Swiss Institute of Bioinformatics (SIB) – von 2017 bis 2020 die Gesamtkoordination sicherstellen. Im Rahmen dieser nationa­len Förderinitiative kann das Wissen aller Akademien und Kompetenzzentren ein­fliessen. Die Expertise dieses 100 000­köp­figen Netzwerks hat genau diese Verant­wortung: über bestehende Grenzen hinaus Vorhaben und Akteure zu vernetzen. Nicht zuletzt bei einem so persönlichen Thema wie der personalisierten Medizin müssen wir uns auf das gesamte kollektive Wissen stützen und verlassen können.

Maurice Campagna ist seit dem 1. Januar 2016 Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz.

Vernetzte Forschung für einen und alleVon Maurice Campagna

Die Entwicklungen in den Life Sciences betreffen jede einzelne und jeden ein­zelnen von uns – und das auf einer ganz intimen Ebene. Personalisierte Medizin verändert unseren Umgang und unser Ver­ständnis von Gesundheit und Krankheit von Grund auf. In Grundlagen forschungs­ und klinischen Forschungsprojekten an Schweizer ETHs, Universitäten und Spitälern entstehen riesige Mengen an

persön lichen Daten. Informationen auf genetischer Ebene fliessen mit klini­schen Daten und Informationen aus Biobanken zusam­men. Doch wie können wir diese Informationen sicher und sinnvoll aus­werten, damit jeder einzelne Patient und jede einzelne Patien­tin von verbesserten Vorbeugungsmass­nahmen, Medika­

menten und Therapien profitieren kann? Wie lassen sich die Daten so für die Gesellschaft bereitstellen, dass beispiels­weise seltene Krankheiten ohne unver­hältnismässigen Aufwand früher erkannt werden können? Die exzellente Forschung auf dem Wissensplatz Schweiz bringt mit beständiger Regelmässigkeit neue Resul­tate und Methoden hervor, die unser Land auch im internationalen Vergleich hervor­stechen lassen. Die Herausforderungen, vor denen Forscherinnen und Forscher an unseren ETHs, Universitäten und Uni­versitätsspitälern stehen, sind immens: Die Daten müssen sinnvoll ausgewertet werden können. Datenaustausch und ­in­teroperabilität – beides essenziell für den

14. September 2016

«Zusammenleben»

Fachleute diskutieren, wie Gemeinden von zivilgesellschaftlichen Initiativen zum demografischen Wandel profitieren können.Universität Freiburg

8. Oktober 2016

Wettrennen mit Exoskeletten

Weltpremiere: Am ersten Cybathlon messen sich körperlich Behinderte mit ihren technischen Hilfen in sechs anspruchsvollen Disziplinen.ETH Zürich

12. bis 14. Oktober 2016

Im Grenzbereich

Der jährliche Wissenschaftsdialog diskutiert Nutzen und Risiken von Grenzenlosigkeit in der Wissenschaft.Academia Engelberg

Bis Dezember 2016

Erfindungen des Mittelalters

Die Kinderausstellung lässt die unterbewertete Kreativität des Mittelalters begreifen.Espace des inventions, Lausanne

Bis Februar 2017

Wer rastet, der rostet

Muskeln, Sehnen und Faszien: Die Ausstellung nimmt den menschlichen Bewegungsapparat unter die Lupe.Anatomisches Museum Basel

Bis Mai 2017

Die Sinnfrage

Was bringt’s? Jeden Monat fragen die Cafés scientifiques «Bancs publics», weshalb man sich trotzdem aufraffen sollte.Musée d’histoire des sciences de Genève

Leserbriefe

Wissenschaftler sollen nicht glaubenIch finde die Fragestellung «Sollen wir an paral­lele Universen glauben?» (Horizonte Juni 2016, S. 8) für ein Wissenschaftsmagazin deplatziert. Wissenschaftler sollen nicht glauben. Sie unter­suchen, postulieren Hypothesen und Theorien und suchen nach Beweisen und experimentellen Bestätigungen dafür. Insofern sagen auch beide vorgestellten Wissenschaftler nichts anderes: «Wir sollten gegenüber der möglichen Existenz mehrerer Universen offen sein», so Rees. «Viel­leicht wird die Idee eines Multiversums eines Tages auch seriös prüfbar sein», so Rovelli. Keiner sagt: Es gibt sie, oder es gibt sie nicht. Wissen­schaftler sollen nicht glauben oder zum Glauben

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anhalten – und auch Wissenschaftsmagazine sollten das nicht tun.Rolf Kickuth, Gaiberg bei Heidelberg (D)

Sich der Verantwortung stellen Es freut mich, dass Horizonte an die Verantwor­tung der Forschenden für die Anwendung ihrer Entdeckungen erinnert (Editorial in Nr. 109, Juni 2016). Üblicherweise lautet die Antwort auf die Problematik: Man sei nicht dafür verantwortlich, was andere – die Industrie, die Staaten – mit den Resultaten anstellen. An sich vernünftig, erscheint dies heute zu kurz gegriffen, da die durch die Wissenschaft ermöglichten Veränderungen und «Störungen» exponentiell zunehmen. Entspre­chend sollten die ethischen Aspekte der Forschung (auch in Bezug auf die soziale Gerech­

tigkeit) nicht erst im Nachhinein, sondern bereits im Voraus berücksichtigt werden. Es ist deshalb wichtig, wie im Editorial getan, darauf hinzu­weisen: «Die Forschungsfreiheit hat Grenzen» – auch wenn die Aussage nicht immer populär ist.Jean Martin, ehemaliger Kantonsarzt und Mitglied der Nationalen Ethikkommission, Echandens (VD)

Korrigendum

Kaninchen sind keine HasenIm Lead des Artikels «Den Gehirn­Code knacken» in Horizonte 109 (Juni 2016, S. 47) ist uns ein Fehler unterlaufen. Die Forschenden haben nicht mit der Netzhaut von Hasen gearbeitet (Lepus europaeus), sondern von Kaninchen (Oryctolagus cuniculus), wie weiter unten im Artikel korrekt steht.

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HorizonteDas Schweizer Forschungsmagazin erscheint viermal jährlich auf Deutsch und Französisch.28. Jahrgang, Nr. 110, September 2016www.snf.ch/horizonte

Herausgeber Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) Wildhainweg 3PostfachCH­3001 Bern Tel. 031 308 22 22 [email protected]

Akademien der Wissenschaften Schweiz Haus der AkademienLaupenstrasse 7PostfachCH­3001 BernTel. 031 306 92 20info@akademien­schweiz.ch

Redaktion Daniel Saraga (dsa), LeitungFlorian Fisch (ff)Pascale Hofmeier (hpa)Marcel Falk (mf )This Rutishauser (tr)

Gestaltung und Bildredaktion 2. stock süd netthoevel & gaberthüel, Valérie ChételatIllustration Umschlagbild und Titelbild innen: Tina BerningIllustration Editorial: Gregory Gilbert­Lodge

ÜbersetzungWeber Übersetzungen

KorrektoratAnita Pfenninger

Druck und LithoStämpfli AG, Bern und Zürichklimaneutral gedruckt, myclimate.orgPapier: Refutura FSC, Recycling, mattTypografie: FF Meta, Greta Text Std

Auflage39 500 deutsch, 17 200 französisch

© alle Rechte vorbehalten. Nachdruck der Texte mit Genehmigung des Herausgebers erwünscht. ISSN 1663 2710

Das Abonnement ist kosten los. Die Papier version wird gewöhnlich nur in der Schweiz und an Organisationen im Ausland verschickt.

Die Artikel geben nicht die Meinung der beiden Herausgeber SNF und Akademien wieder. Die präsentierten Forschungs projekte werden in aller Regel vom SNF unterstützt.

Der SNFDer SNF fördert im Auftrag des Bundes die Grundlagenforschung und unterstützt jährlich mit rund 800 Millionen Franken über 3400 Projekte, an denen 14 000 Forschende beteiligt sind. Er ist damit die wichtigste Schweizer Institution zur Förderung der wissenschaft­lichen Forschung.

Die AkademienDie Akademien der Wissenschaften Schweiz setzen sich im Auftrag des Bundes für einen gleichberechtigten Dialog zwischen Wissen­schaft und Gesellschaft ein. Sie vertreten die Wissenschaften institutionen­ und fachübergreifend. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft verankert, haben sie Zugang zur Expertise von rund 100 000 Forschenden.

Networkerin führt Akademien

Claudia Appenzeller­Winterberger ist die neue Geschäftsfüh­rerin der Akademien der Wissenschaften Schweiz. In diesem Amt will sie das Netzwerk zwischen den vier Akademien und ihren beiden

Kompetenzzentren stärken sowie auf verschiedenste weitere Akteure aus Wis­senschaft und Gesellschaft erweitern und etablieren. Appenzeller war zuvor stell­vertretende Abteilungs leiterin für Start­up und Unternehmertum bei der Kom­mission für Technologie und Innovation (KTI) und Geschäftsführerin des Verbands Schweizer Wissenschafts olympiaden.

Biobanken vernetzen

Mit der Biolink­Initiative möchte der SNF die Sammlungen von biologischen Proben besser miteinander vernetzen. Forschende aus allen Disziplinen mit einer originellen und aktuellen wissenschaftlichen Frage, die nur durch die Verbindung von ver­schiedenen Biobanken beantwortet wer­den kann, können Beiträge für IT­Systeme beantragen. Nach erfolgter Vorankündi­gung im Juli können vollständige Gesuche bis 23. September 2016 eingereicht werden.

Erste «Investigator Initiated Clinical Trials» bewilligt

Der SNF hat die ersten neun von For­schenden initiierten klinischen Studien zu Themen bewilligt, die normalerweise nicht im Fokus der pharmazeutischen In­dustrie stehen. Er sprach dafür ins gesamt 12,6 Millionen Franken. Die Studien dau­ern mehrheitlich vier bis fünf Jahre und involvieren 100 bis 400 Patientinnen und Patienten. Mit 75 eingereichten Gesuchen stiess das Spezialprogramm auf grosses Interesse. Die zweite Ausschreibung er­folgte im August 2016.

Ausschreibung des NFP «Nachhaltige Wirtschaft»

Das Nationale Forschungsprogramm «Nachhaltige Wirtschaft: ressourcenscho­nend, zukunftsfähig, innovativ» (NFP 73) hat eine neue Website. Forschende können bis am 26. September 2016 ihre Projekt­skizzen einreichen.

Gottfried Schatz’ letzter Beitrag

Der 2015 verstorbene Biochemiker und ehemalige Präsident des Schweizerischen Wissenschafts­ und Innovationsrats Gottfried Schatz konnte seinen letzten Vortrag über das ungesunde Wachstum der Wissenschaft nicht mehr selbst halten. Im Manuskript, das in der Reihe «Swiss Academies Communications» publiziert wurde, plädiert er für eine stärkere Lehre von Wissenschaft anstelle des Paukens von Wissen von den Kindergärten bis zu den Universitäten.

Pflanzenzüchtung überholt Regulierung

Die Akademien der Wissenschaften Schweiz analysieren im Factsheet «Neue Pflanzenzüchtungstechniken für die Schweizer Landwirtschaft – grosses Poten­zial, offene Zukunft» die neuen, präzisen Techniken für Erbgutveränderungen im Lichte der Schweizer Gentechnik­Gesetzgebung. Die Autoren aus dem Forum Genforschung kommen zum Schluss, dass es keinen naturwissenschaftlichen Grund für eine strenge Regulierung so gezüchte­ter Pflanzen gibt – sofern deren Sicherheit gewährleistet ist.

Neuer stellvertretenderDirektor beim SNF

Der Ausschuss des Stiftungsrats des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) hat François Baum­gartner zum neuen stellvertretenden Direktor gewählt. Baumgartner hat in den letzten Jahren

im Bundesamt für Statistik als stellvertre­tender und interimistischer Direktor sowie als Chef der Abteilung Gesundheit und So­ziales gearbeitet. Am 1. September 2016 tritt er die Nachfolge von Angelika Kalt an, die seit April Direktorin des SNF ist. Baumgart­ner ist promovierter Geophysiker und hat einen Master in Öffentlicher Verwaltung.

SNF und Akademien direkt

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Schweizerischer Nationalfonds – Akademien­Schweiz: Horizonte Nr. 110 51

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51 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien­Schweiz: Horizonte Nr. 98

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«Für mich ist die akademische Welt Mittel zum Zweck.»Jakob Zinsstag Seite 36

«Physik kann einfach und schön sein.»

Chenkai Mao Seite 24

«Wer auch immer am meisten Arbeit in das

Projekt hineinsteckt, wird zum Leader, egal, wo auf

der Welt er ist.» Alice Williamson Seite 14