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Autor: Albrecht, Clemens.

Titel: Wörter lügen manchmal, Bilder immer. Wissenschaft nach der Wende zum Bild.

Quelle: In: Liebert, Wolf-Andreas/ Metten, Thomas (Hg.): Mit Bildern lügen. Köln 2007, S.

S. 29 – 49.

Verlag: Herbert von Halem Verlag.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Clemens Albrecht

Wörter lügen manchmal, Bilder immer.

Wissenschaft nach der Wende zum Bild

Bilder lügen immerDie Wanderausstellung Bilder, die lügen des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik

Deutschland demonstriert eine beeindruckende Reihe bewusst gefälschter Bilder. Sind

solche Fälschungen im politischen Kontext totalitärer Systeme bekannt, etwa der

wegretuschierte Trotzky auf dem berühmten Bild der Lenin-Rede von 1920, so verblüfft

doch immer wieder die Chuzpe der freien Presse: Als eines der Boulevardblätter mit den

austauschbaren Titeln ein Versöhnungsfoto von Steffi Graf und Andre Agassi

präsentieren wollte, aber keine passende Vorlage hatte, montierten die findigen

Redakteure die Köpfe der beiden auf die Körper von Stefanie Hertel und Stefan Mross,

zwei Star-Figuren der deutschen Volksmusik.

Die Beispiele für mehr oder weniger bewusst veränderte Bilder, die die Ausstellung in

Malerei, Fotografie und Film zeigt, sind Legion und reichen durch alle Lebensgebiete.

Nicht zufällig ist der Ausstellungskatalog alphabetisch gegliedert und reicht von A wie

Aktuelles über B wie Michael Born, G wie Golfkrieg bis zu Z wie Zukunft. Dieses

Gliederungsprinzip deutet zu Recht eine enzyklopädische Fülle an Beispielen an, die die

Titelthese bezeugen: Bilder lügen immer!

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Gleichwohl können dieser generalisierten Formulierung tausende von Bildern

entgegengehalten werden, die eindeutig nicht gefälscht wurden. Dazu zählen die Fotos

aus jedermanns Familienalbum, an denen kein Stalin Interesse zeigt. Auch die Millionen

Urlaubsfotos, die in Diakästen vor sich hinschlummern, sind vermutlich selten gefälscht

worden. Wenn sie allerdings neueren Datums und auf Festplatten oder CDs gespeichert

sind, müssen wir ihnen mit größerem Misstrauen begegnen. Denn am Wachstum der

digitalen Bildbearbeitung zeigt sich, dass das Problem der Fälschung von Bildern längst

den Rahmen der bewussten Manipulation überschritten hat, den uns die Ausstellung

präsentiert. Wo wir klare politische, ökonomische oder ideelle Interessen identifizieren

können, die zu Manipulationen an Bildern führen, ist der Fall vergleichsweise einfach.

Schwieriger wird es dort, wo uns die technischen Möglichkeiten die Veränderung von

Bildern geradezu aufdrängen: in der elektronischen Bildbearbeitung unserer Urlaubs- und

Familienfotos, im geschickten Schnitt der Videos. Und was ist eigentlich mit den Filtern,

die wir am Meer auf die Kamera schrauben, damit es noch blauer wird? Ist auch das

schon Lüge? Zukünftige Alltagshistoriker jedenfalls haben es nach der digitalen

Revolution der Privatfotografie sehr schwer, die Authentizität von Fotos zu beurteilen.

Wo auch immer hier die Grenzen der bewussten Manipulation zu ziehen sind, die These,

dass Bilder immer lügen, zielt auf etwas Grundsätzliches, eine Eigenschaft des Mediums

selbst: Bilder sind wirklichkeitsnah und wahrheitsfern. Denn Wirklichkeit, wie sie sich

unseren Sinnen zunächst darstellt, ist ein zwar verschiedenartiges, aber unstrukturiertes

Kontinuum, in das wir erst durch sprachliche Kategorisierung Ordnung hineinlegen: Dies

ist ein Baum, das eine Wiese, jenes der Himmel. Erst durch diese sprachliche

Strukturierung der Sinneseindrücke empfangen die Dinge aber ihre Bedeutung, indem sie

in praktische Beziehung zum Menschen gerückt werden: Aus dem Baum kann ich mein

Haus bauen, auf der Wiese kann ich meine Schafe weiden, im Himmel wohnen die

Götter. Die Wahrheit der Dinge erschließt sich uns also nicht in ihrer bloßen Wirklichkeit,

sondern in der Bestimmung dieser Wirklichkeit durch Bedeutungen, einerlei ob sie

pragmatischen oder auch metaphysischen Bedürfnissen oder Interessen folgen.

Bilder sind nun insofern wirklichkeitsnah, als sie dicht an der bloßen sinnlichen

Repräsentation von Phänomenen sind. Aus dieser Repräsentation lassen sich theoretisch

unendlich viele ganz unterschiedliche Bedeutungen ableiten. Ein römischer Priester, der

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das Vogelflug-Orakel befragt, sieht den Himmel sicherlich mit anderen Augen als ein Pilot

vor dem Start. Die Deutung von Wirklichkeit ist also kontingent. Erst dort, wo sich uns

eine- wie auch immer gesicherte- feste Deutung anbietet, wo die Phänomene in ihrer

Bedeutung weitgehend fixiert werden, kristallisiert sich ihre Wahrheit heraus. Aus dem An-

sich der Dinge wird ein Für-uns. Deshalb sind Bilder, auf der Netzhaut genau wie auf dem

Bildschirm, immer interpretationsbedürftig. Während Wörter und Sätze Bedeutungen

festlegen und nur eine relativ geringe Bedeutungsstreuung generieren (bezeichnend dann

am meisten, wenn mit Wörtern Bilder, Metaphern gezeichnet werden), sind Bilder immer

bedeutungsoffen. Bilder sind eben keine Texte, wie uns die ikonologische Tradition

weismachen möchte.

Bei diesen komprimierten Bemerkungen über den substanziellen Unterschied zwischen

Sprache und Bild möchte ich es vorerst belassen und meine Argumente nun nicht auf der

abstrakten Ebene von Hermeneutik und Zeichentheorie sammeln, sondern an konkreten

Beispielen erarbeiten. Ich möchte für das Folgende drei verschiedene Arten von Lügen

durch Bilder unterscheiden:

1. die bewusste Veränderung von Fotos, Filmen oder Gemälden (Materialfälschung);

2. die bewusste Manipulation oder unbewusste Verfälschung, bei der das Bild in einen

anderen zeitlichen, räumlichen oder semantischen Kontext gesetzt wird

(Kontextfälschung);

3. die - meist unbewusste - Verfälschung der Interpretation von Bildern, indem eine

Deutung anderen Deutungen gleichen Plausibilitätsranges vorgezogen wird

(Interpretationsfälschung).

Belege für die erste Ebene der Lüge, die Materialfälschung als meist bewusste

Manipulation, finden sich reichlich im Ausstellungskatalog Bilder, die lügen. Um die

Titelthese begründen zu können, sollen im Folgenden die beiden anderen Arten der Lüge,

die Kontext- und die Interpretationsfälschung, jeweils durch ein Beispiel erläutert werden.

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KontextfälschungBeispiele für einen verschobenen Kontext finden sich ebenfalls in der Ausstellung. Dort

wird etwa ein Film gezeigt, der im Zusammenhang mit der Debatte über die finanzielle

Entschädigung von Zwangsarbeitern im deutschen Fernsehen immer wieder zu sehen

war. Er zeigt eine Arbeiterin in der Rüstungsproduktion. Bei genauem Hinsehen entdeckte

allerdings ein Militärexperte, dass hier keine deutschen, sondern russische Sturmgewehre

hergestellt wurden. Abgebildet sind keine Zwangsarbeiter (warum sollte man sie auch

filmen?), sondern die russische Arbeiterklasse in ihrem heroischen Beitrag für den großen

vaterländischen Krieg.

Hier ist also keine Manipulation des Bildmaterials selbst zu finden, sondern eine

Verschiebung des Kontextes, die das Bild aber dann doch zur Lüge macht. Ich möchte

diese Kontextverschiebung nun an einem weiteren Beispiel demonstrieren, das uns aus

dem Zeitalter der ideologischen Weltbürgerkriege hinausführt in die reine Unschuld des

wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts.

Mit dem Begriff kopernikanische Revolution‹ ist die umstürzende Erkenntnis gemeint,

dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Zentrum des Planetensystems steht.

Zusammengefasst wird in dieser Formel ein Kapitel in der Geschichte der Astronomie,

das in den großen Erzählungen über die heroische Leistung der neuzeitlichen

Wissenschaft eine geradezu paradigmatische Stellung einnimmt. Hier nur die wichtigsten

Eckpunkte der Entwicklung:

In seinem Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium von 1543 revidierte Nikolaus

Kopernikus das ptolemäische Weltbild, das auf den großen Synthetiker aus dem 2. Jh. n.

Chr. zurückgeführt wird, den alexandrinischen Geographen und Astronomen Claudius

Ptolemäus. Kopernikus schlug vor, hypothetisch die Sonne ins Zentrum des

Planetensystems zu stellen, weil nur durch einen selbst bewegten Beobachtungsstandort

das Phänomen der rückläufigen Planetenbahnen erklärt werden könne. Kopernikus und

alle seine Nachfolger halten dabei an der zentralen Vorstellung einer gleichmäßigen,

harmonischen Ordnung des Kosmos fest, was etwa die Kreisförmigkeit der

Planetenbahnen zur Folge hat.

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Nach Kopernikus, so geht die große Erzählung weiter, kam dann Johannes Kepler, der die

Daten Tycho de Brahes in seinen Gesetzen der Planetenbahnen umformulierte. Hierauf

wiederum basiert der heroische Kampf von Galileo Galilei um die Anerkennung der neuen

Lehre mit Hilfe des empirischen Beweises durch die Fernrohrbeobachtung gegen den

hinhaltenden und zunächst nur scheinbar erfolgreichen Widerstand der katholischen

Kirche, die das heliozentrische Weltbild aus dogmatischen und machtpragmatischen

Gründen nicht zugunsten des überlegenen geozentrischen Weltbildes aufgeben wollte.

Die Wahrheit aber bricht sich unaufhaltbar ihre Bahn: Die Ablösung des geozentrischen

durch das heliozentrische Weltbild zählt für uns heute zum zentralen Durchbruch, bei dem

das mittelalterliche Weltbild durch eine neuzeitliche Wissenschaft überwunden wurde, die

nicht mehr auf der Autorität von überlieferten Texten, sondern auf empirischer

Beobachtung der Wirklichkeit fußt. »Erst in Galilei trat der Mensch auf den Plan, der dem

Denken die Sinnesbeobachtung vorausgehen läßt. An die Stelle der Offenbarung durch

die heiligen Schriften und die Lehre der Kirchenväter tritt für diesen neuen Menschentypus

als Objekt der Erkenntnis die offenbare Natur, soweit sie der menschlichen

Sinnesorganisation und ihren Hilfsmitteln, wie dem Fernrohr, zugänglich ist« (HEMLEBEN

1994:12f.). Soweit diese bekannte Geschichte. Begleitet wird die Erzählung vom

wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt häufig durch einen Holzschnitt.

Abb. 1: Holzschnitt Camille Flammarion, L' Athmosphère: Meteorologie populaire, Paris 1888.

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Es gibt wohl keine Astronomiegeschichte, die auf dieses Bild verzichtet. Es ist längst Teil

der Ikonologie der Moderne: »Das Bild könnte als Emblem der Moderne genommen

werden. Der Mensch wird als Entdecker der Mechanik des Universums gezeigt: Der Pilger

auf dem anonymen Holzschnitt scheint am Anfang eines Weges zu stehen, der einst

wirklich zu den Sternen führen wird. So hat sich selbst die amerikanische

Weltraumbehörde NASA des Holzschnitts bedient« (ROECK 2004: 80).

Der Holzschnitt ist allerdings eine Fälschung, zunächst auf der Ebene des Materials, denn

er wird meist ohne seine barocke Bordüre gezeigt. Nun kann man zu Recht einwenden,

dass Bordüren für die Botschaft des Bildes keine Bedeutung haben. Hier jedoch entlarvt

der Rahmen das Bild als keine zeitgenössische Darstellung der ›kopernikanischen

Wende‹. Der Holzschnitt stammt aus dem Buch von Camille Flammarion, L'Athmosphère:

Météorologie populaire, Paris 1888. Bernd Roeck summiert: »Wofür ist das Bild eigentlich

Quelle? Was Flammarions Bild betrifft, lässt es Vorstellungen erkennen, die das späte 19.

Jahrhundert vom Weltbild des 16. Jahrhunderts hatte und propagierte. Es unterlegt der

Zeit des Kopernikus ein Weltbild, von dem sich das eigene Wissen positiv abhob«

(ROECK 2004: 80).1

Abb. 2: Holzschnitt Camille Flammarion, L'Athmosphère: Meteorologie populaire, Paris 1888.

1 Den Hinweis auf diese Fundstelle verdanke ich Marcel Baumgartner (Gießen).

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Das Bild, so kann man zusammenfassen, lügt also insofern, als es noch heute

tausendfach in einen falschen Kontext gestellt wird. Es dient nicht zur Illustration oder gar

zum Beweis eines zeitgenössischen Bewusstseins der ›kopernikanischen Wende‹,

sondern als Beweis für die moderne wissenschaftshistorische Sicht auf die Entwicklung

der Astronomie. Schaut man dagegen in die schriftlichen Quellen hinein, ergibt sich ein

wesentlich differenzierteres Bild, das allerdings nur in Wörtern und Sätzen, nicht in einem

Holzschnitt oder Foto zusammengefasst werden kann: Kopernikus etwa hielt eisern am

Vorbild der Antike fest, an der Vorstellung von der harmonischen Ordnung des Kosmos,

von der kreisförmigen Umlaufbahn (Kreis und Kugel sind die vollkommenen Formen).

Gegen Ende seines Lebens schrieb er: »Es geziemt sich, den Methoden der Alten genau

zu folgen und sich an ihre Beobachtungen zu halten, die uns wie ein Testament überliefert

sind. Und dem, der denkt, dass sie in dieser Beziehung nicht völlig glaubwürdig seien,

sind die Pforten unserer Wissenschaft gewisslich verschlossen« (zit. n. CHARON

1970:73ff.).

Auch Johannes Kepler, der erst rund 30 Jahre nach Kopernikus' Tod geboren wurde,

glaubte an die antike Harmonielehre (Harmonia Mundi 1619). Um dieses Weltbild mit der

immer exakteren Beobachtung der Himmelserscheinungen in Einklang zu bringen, entwarf

er ein zweites Modell, das er nur mathematisch formulierte. Kepler selbst hielt dieses

zweite Modell für weniger bedeutsam. Aber nur das mathematische Modell überlebte ihn,

während er sich in den 20 Jahren nach der Entdeckung und Formulierung der

Planetengesetze ausschließlich den Harmonievorstellungen pythagoreischer Herkunft

widmete.

Damit zum dritten der Heroen, Galileo Galilei. Auch er hatte seine Wunderlichkeiten: nicht

nur seine Suggestion, das Fernrohr erfunden zu haben, sondern auch seine Eitelkeit,

seine Wichtig- und Geheimnistuerei (er schrieb seinen Kollegen häufig verschlüsselte

Briefe, weil er stets befürchtete, seine Ideen könnten gestohlen werden) und sein

unnachahmlicher Hang zur Polemik. Seine Gegner (und auch Freunde, wie Kepler)

beschrieb er als geistige Zwerge, stupide Idioten, sie verdienten kaum, als menschliche

Wesen bezeichnet zu werden, etc. Auch war Galilei der Überzeugung, einen zwingenden

Beweis für seine Theorie aus den Gezeiten ableiten zu können: Flut und Ebbe, so

behauptete er wiederholt gegen alle Argumente, beruhten auf der kombinierten Bewegung

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der Erde um ihre Achse und um die Sonne. Auch auf den Einwand, dass sich aus der

Erde-Sonne-Beziehung nur eine Gezeitenbewegung pro Tag ableiten lasse, während man

doch schon in Venedig zwei beobachten könne, ging er nicht ein (vgl. HEMLEBEN

1994:95). Soviel zum Entdecker des empirischen Beweises in der modernen

Naturwissenschaft.

Kurz: Ein Blick in die Quellen jenseits der wissenschaftshistorischen und literarischen

Legendenbildung (Brecht) ergibt ein wesentlich differenzierteres Bild (vgl.

BRANDMÜLLER 1994). Die ganze Ambivalenz dieser wissenschaftsgeschichtlichen

Entwicklung jedenfalls kann auch in den fortschrittsorientierten Wissenschaftsgeschichten

kaum übergangen werden, wenn etwa der Fall Galilei folgendermaßen resümiert wird:

»Wie zu erwarten, hatte der Prozess der Inquisition gegen Galilei durchaus nicht die

erwünschte Wirkung. Die Kirche erreichte mit ihm nur, daß Galilei zu einem Symbol der

Verfolgung des Wissens durch die Macht der Ignoranten wurde, und damit, daß die

These, die Erde bewege sich, noch überzeugender wirkte, weil sich nun zu den rationalen

Argumenten die irrationalen Kräfte der Sympathie mit dem Autor gesellten. Die drei

Keplerschen Gesetze von den elliptischen Laufbahnen der Planeten und ihren

wechselnden Umlaufgeschwindigkeiten waren in den Kreisen der Gelehrten jener Epoche

immer noch wenig verbreitet oder wurden (wie z. B. von Galilei) mit Schweigen

übergangen. Eigentümlicherweise bestand diese Abneigung gegenüber Keplers

Ergebnissen bei den Konservativen und bei den Modernen in gleichem Maße. Die

ersteren lehnten Kepler ab, weil sie am platonischen Dogma von der Kreisbewegung bei

gleichförmiger Geschwindigkeit mit aller Kraft festhielten; die Modernen hingegen - zu

denen auch Descartes gehörte - erblickten in Keplers Ideen eine Rückkehr zu Aristoteles,

weil Kepler eine mysteriöse ›Kraft‹ postuliere. Die Modernen erblickten in dieser ›Kraft‹

einen okkulten Faktor - und gerade solchen okkulten Faktoren galt ihr Kampf« (CHARON

1970:121f.).

Damit zurück zur bildlichen Darstellung der Entdeckung des modernen Weltbildes in

Flammarions Holzstich: Wo ist eigentlich bei den Zeitgenossen die ›kopernikanische

Revolution‹, wenn selbst Descartes, Mersenne und Pascal aus dem gallikanisch vor der

Macht der Inquisition geschützten Frankreich überzeugende Beweise für das

geozentrische System vermissten? Die Antwort kann nur lauten: Es gab keine

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›kopernikanische Wende‹. Sie ist eine Erfindung der Wissenschaftsgeschichte, wie sie die

französischen Aufklärer zur Legitimation ihrer eigenen Ideen erfanden, zuerst etwa

Fontenelle in seiner astronomischen Popularisierungsschrift (DE FONTENELLE 1686).

Deshalb ist es auch kein Wunder, dass unser Holzschnitt aus diesem Kontext stammt:

den späten Popularisierungsschriften, in diesem Fall sogar: einer sehr späten. Bilder

lügen eben immer, wenn man sie aus ihrem Kontext reißt, und ohne Sprache, ohne Worte

und Sätze kann man die Lüge nicht entlarven. Der Holzschnitt an sich ist sehr variabel

deutbar. Wenn aber darunter steht: »Camille Flammarion, Météorologie populaire, Paris

1888« beginnt sich aus der Wirklichkeit die Wahrheit herauszukristallisieren.

InterpretationsfälschungIm Beispiel der ›kopernikanischen Wende‹ war die Wissenschaft Gegenstand der

Darstellung von Bildern, sie war sozusagen das Opfer der Lüge. Sie kann aber auch

selbst zum Lügner werden. Hintergrund ist eine Entwicklung, die man heute aus

dramaturgischen Gründen (ganz ähnlich wie die Erfindung der kopernikanischen Wende

durch die französische Aufklärung) als »Wende zum Bild« (pictural turn, visual turn, iconic

turn) beschreibt. Denn eines haben wir Wissenschaftler inzwischen gründlich gelernt: Nur

dort, wo wir aus dem langsamen, oft widersprüchlichen und meist chaotischen Prozess

der Wissensgenerierung plötzliche Erkenntnissprünge herausdramatisieren, ist uns

gesteigerte Aufmerksamkeit gewiss. Nachdem der Wissenschaftshistoriker Thomas S.

Kuhn in den 1960er-Jahren die Revolutionierung von Wissenschaft mittels Paradigmen

entdeckt hatte, nahm der Paradigmenwechsel explosionsartig zu. Und nachdem in den

1970er-Jahren der ›linguistic turn‹ propagiert wurde, brauchen wir uns nicht zu wundern,

dass nun ein ›turn‹ auf den anderen folgt.

Ganz jenseits intellektueller Moden beruht die wachsende Bedeutung der Bilder jedoch

auch auf einer historischen Entwicklung. In der antiken Geschichtsschreibung (Herodot)

spielten Bilder manchmal eine entscheidende Rolle, um überlieferte Geschichte zu

bestätigen oder zu widerlegen. In dem Maße jedoch, in dem sich die

Geschichtsschreibung auf geschriebene Quellen, auf Chroniken, Reiseberichte, Urkunden

berufen konnte, wurde das Bild als Quelle in den Hintergrund gedrängt. In der

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Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts kann man allmählich einen

gegenläufigen Trend beobachten: Nicht nur wurde die Kunst in der Nachfolge Hegels zu

einem der zentralen Ausdrucksmittel des Zeitgeistes erklärt, sondern auch verlegerische

Interessen drängten jene Autoren, die auf ein populärwissenschaftliches Publikum zielten,

mehr und mehr Bilder aufzunehmen (Sittengeschichte). Allerdings: Diese Bilder hatten im

Text meist illustrierende Wirkung. Sie machten die Erkenntnisse plausibel und

anschaulich, die aus Textquellen gewonnen wurden. Auch die Kunstgeschichte lebt von

einem ständigen Abgleich zwischen den Informationen, die man aus schriftlichen Quellen

gewonnen hat, mit der Interpretation des Bildes, wobei der bildlichen Quellenkritik (die

berühmten drei Fragen: Wer? Wann? Wo?) eine zentrale Bedeutung zukommt. Denn die

Kunstgeschichte lebt gewissermaßen vom Misstrauen gegenüber dem Bild, weil die

Entdeckung von Fälschungen ihr vielleicht zentrales praktisches Erkenntnisinteresse

ausmacht.

Die untergeordnete Rolle des Bildes als Quelle zweiten Ranges änderte sich im breiten

Maßstab mit der Entwicklung der Ikonologie, einer Richtung innerhalb der

Kunstgeschichte, die im Gefolge von Aby Warburg Bilder zunehmend als eine

Primärquelle lesbar zu machen versuchte (vgl. HASKELL 1995). Warburgs Schüler Erwin

Panofsky beschrieb die ikonographische Methode in einem Dreischritt: Erstens gelte es,

die reinen Formen und Gegenstände auf einem Bild zu erfassen (primäres oder

natürliches Sujet), dann müssten diese Gegenstände auf ihre symbolische Bedeutung

untersucht werden (sekundäres oder konventionales Sujet), indem etwa feste Bilder,

Anekdoten oder Allegorien identifiziert werden, um schließlich auf einer dritten Stufe den

eigentlichen Bedeutungsgehalt des Bildes im historischen Kontext zu ermitteln (eigentliche

Bedeutung oder Gehalt), was meist auf einen wie auch immer begründeten

Zusammenhang mit dem ›Kollektivgeist‹ einer Zeit hinauslief. Erst bei diesem dritten

Schritt sei man in der ikonologischen Deutung, davor nur in der ikonographischen

(PANOFSKY 1994: 207-225).

Die wissenschaftshistorische Bedeutung der Warburg-Schule lag darin, dass sie das Bild

als Quelle gegenüber der Schrift rehabilitierte, indem sie behauptete, man könne es mit

demselben Genauigkeitsgrad ›lesen‹ wie einen Text. Und dies geschah parallel zum

Aufstieg des Bildes zum Leitmedium der Zeit (Fernsehen, Kino, Computer). Seitdem gibt

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es von der Ikonographie über die Cultural Studies bis zur Objektiven Hermeneutik

zahlreiche Versuche, Bilder systematisch als Primärquelle zu nutzen (vgl. ROECK 2003:

294-315). Die möglichen (nicht zwingenden) Folgen bei der interpretativen Verfälschung

sollen hier an einem Beispiel illustriert werden.

Vor einigen Jahren erschien eine neue Hitler-Biographie, die im Gegensatz zu den

Standardwerken von Joachim Fest oder Ian Kershaw die Fotos von Hitler zum

Ausgangspunkt der Argumentation machte. Das Buch »kehrt die Verhältnisse der

Biographik um. Statt die Elemente der visuellen Anschauung als Illustration zu verwenden,

nimmt es diese als Ausgangspunkt. Es erzählt Hitlers Geschichte von seinem Einzug in

München bis zu seinem Ende in Berlin aus der Perspektive des Zeitgenossen, der Hitler

als lebendige Erscheinung erlebte, bevor er wirklich wusste, welche Geschichte sich hier

vor seinen Augen abspielte; es erzählt aus der Sicht der ›hörigen‹ Betrachter, die Hitler in

seinen fotografischen und filmischen, später auch malerischen Inszenierungen als

nationales Inbild verehrten« (SCHMÖLDERS 2000:9).

Abb. 3: Simplicissimus von 1924 (Schmölders, C.: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische

Biographie, München 2000:128)

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Dieses Vorhaben ist löblich, verspricht es doch einen klassischen Akt der Historisierung:

die Wahrnehmung Hitlers durch die Zeitgenossen rekonstruierend. Es hat nur einen

Haken: Die Autorin weiß im Gegensatz zu den Zeitgenossen von Anfang an, wie es mit

Hitler endete, und in diesem Lichte sind alle Bilder und Texte interpretiert. Auf dieses

methodische Problem kommt es hier jedoch nicht an, sondern auf ein handwerkliches: auf

die Art und Weise, wie Bilder interpretiert werden, wenn sie zur Primärquelle erhoben

werden. Dazu zwei Beispiele. Im ersten geht es um eine Karikatur aus dem

Simplicissimus von 1924 (Marsch auf die Feldherrnhalle, s. Abb. 3).

Die Autorin schreibt dazu: »Auf der Titelseite vom 1. April 1924 sah man Hitler zu Pferde

und fahnenschwingend durch das Brandenburger Tor reiten; einen schwarzen Ritter

neben sich, Reichspräsident Ebert in Ketten unter sich, im Vordergrund links ein

säbelschwingender Kämpfer über einem Mann am Boden, offenbar einem Juden«

(SCHMÖLDERS 2000:126). Bei genauer Betrachtung freilich schwingt weder Hitler eine

Fahne noch der Kämpfer einen Säbel, sondern ein römisches Kurzschwert. Sein Bart und

der Haarknoten weisen letzteren als alten Germanen aus, die Toga und die Sandalen

dagegen als Römer. Der Autorin scheint völlig entgangen zu sein, dass diese Figur auf

das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verweisen soll. Auch trägt der

fahnenschwingende Ritter das Kreuz des Deutschen Ordens. Der Witz der Karikatur

scheint darin bestanden zu haben, dass sich Hitler ein überdimensioniertes historisches

Erbe angemaßt hatte. Dieser Aspekt tritt jedoch im Buch völlig hinter einen Vergleich mit

der Vorlage zurück, Ferdinand Kellers Gemälde von 1888 über Kaiser Wilhelm als

Triumphator. Ein weiteres Beispiel findet sich in Abbildung 4.

Zu diesem Bild heißt es in der Unterschrift: »Hitler bei einer NS-Führungsschule, betont

als ›primus inter pares‹, erster unter Gleichen. Die bekannte und viel verspottete

Handhaltung scheint für diese Umgebung wie geschaffen: der rechte Arm immer bereit

zum Führergruß. Dass Hitler mit dieser Geste sich praktisch immer selber grüßte, gehört

zu den unfreiwillig komischen Aspekten der Inszenierung« (SCHMÖLDERS 2000:158).

Bei diesem im Text nicht weiter erläuterten Bildkommentar jedoch bleibt völlig offen, ob

die zeitgenössischen Betrachter des Fotos bereits die mündlich kolportierte Deutungen

der Handhaltung kannten: Die Linke muss die Rechte immer festhalten, damit sie nicht

zum Gruß hochschnellt. Mit gleicher Plausibilität könnte man dies Bild auch ganz anders

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interpretieren, etwa als Zeichen, dass Hitler in der frühen SA-Phase die Linke bereithielt

zum Arbeitergruß. Beide Beispiele zeigen jedenfalls, dass die Wahl des

Interpretationsmusters willkürlich wird, wenn Bilder als Primärquelle dienen. Die

Plausibilität des gewählten Zugangs muss damit anders gesteuert werden, etwa durch

selbstverständlich geteilte politische Vorannahmen.

Abb. 4: Hitler-Bild (Schmölders, C.: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München

2000: 158)

Konstruktivismus und iconic turnNun könnte man zu Recht einwenden, dass sich beide Beispiele auf handwerkliche Fehler

beim ikonographischen Lesen von Bildern auf den Stufen eins und zwei von Panofsky

zurückführen lassen. Es zeigt sich jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit solcher Fehler mit

der Erhebung von Bildern zu Primärquellen zusammenhängt. Methodisch getragen sind

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diese neueren Untersuchungen meist von einer wissenschaftstheoretischen

Überzeugung, die man als Mainstream Konstruktivismus charakterisieren kann. Dieser

gründet auf der ja nicht falschen Einsicht, dass der Mensch ein nicht festgelegtes Wesen

ist, das sich seine Welt durch Bedeutungsgebung der Dinge erst entwerfen muss.

Insofern ist diese Welt (sei es das Geschlecht, das Kollektiv, die Dinge) immer

›konstruiert‹, immer kontingent und kann prinzipiell auch anders gedeutet werden.

Genauso verhält es sich natürlich auch mit der Wissenschaft. Auch sie kann Geschichte

nicht als Tatsachenwissen rekonstruieren, sondern nur unterschiedliche Lesarten dieser

vorgeblichen Tatsachen dekonstruieren.

Wo sich Konstruktivismus und visuelle Primärquellen zusammentun, wirkt das wie eine

Verbindung von Pest und Cholera: Die Wissenschaft erliegt an ihr, Verbindlichkeiten

werden nur noch durch politische Vorgaben, mit Max Weber: durch theoretische

Wertbeziehungen und intellektuelle Diskurslagen hergestellt. Denn das Bild erlaubt im

Gegensatz zum Wort eine größere Anzahl an Interpretationen, die Deutungskontingenz

erhöht sich exponenziell. Deshalb der Impressionismus der Materialien, deshalb die

Vagheit der Schlüsse, die Willkür der Wertungen. Und die schriftlichen Quellen, anhand

derer Bilder eindeutiger interpretiert werden könnten, sind ja nur die Ergebnisse historisch

kontingenter, jedenfalls konstruierter Bewusstseinsprozesse. Auch Texte werden vage,

wenn sie über oder gar wie Bilder gelesen werden. Das ist die fröhliche neue

Wissenschaft im post-warburg'schen Zeitalter, die nouvelle vague, in der man alles so,

aber vielleicht auch anders sehen kann. Dieses Verfahren begünstigt Fälschung durch

Interpretation. Konsens, methodologisch formuliert: intersubjektive Geltung der Schlüsse,

wird dann nur noch über intellektuelle Moden oder politische Vorverständnisse erzielt.

Wenn man die Rezensionen in wissenschaftlichen Zeitschriften verfolgt, fällt auf, dass

überall dort, wo Bilder als Primärquelle von bestimmten Thesen genannt sind, die

Rezensenten meist gegenteilige Ansichten äußern. 2005 etwa publizierte der

amerikanische Historiker David Hackett Fischer eine exzellente Monographie über die

Bedeutung der Freiheitsidee für das amerikanische Selbstverständnis. Auch er stützte

seine Argumentation wesentlich auf visuelle Quellen. Im amerikanischen Bürgerkrieg

etwa, so Fischer, bekämpften sich zwei unterschiedliche Freiheitsvorstellungen: Der

egalitaristischen freedom der Nordstaaten stand die der Südstaaten entgegen, die

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Freiheit der Sklaven der Freiheit der großen Grundbesitzer, die sich gegenüber dem Staat

nur durch Verfügung über menschliche Arbeitskraft behaupten konnten.

»Gleichwohl«, so resümiert ein Rezensent, »werden die Grenzen von Fischers

ikonografischem Ansatz dort deutlich, wo er zu Urteilen gelangt, die sich unter

Heranziehung schriftlichen Quellenmaterials durchaus bestreiten lassen. So schreibt er

etwa im Hinblick auf die vorgeblichen Defizite der konföderierten Nationalsymbolik: ›In the

end, the South was defeated not merely by material difficulties but by the moral weakness

of its cause.‹« »Jedoch«, so fährt der Rezensent fort, »beweist allein die Fülle von

erhaltenen Soldatenbriefen, in welchem Ausmaß die ›Idee von Freiheit als

Unabhängigkeit‹ den Süden über Klassengrenzen hinweg zu mobilisieren vermochte«

(LOETTEL 2005). Auch hier wird also die letztlich dominierende Interpretation durch die

politische Vorannahme selektiert, dass der Norden im amerikanischen Bürgerkrieg

moralisch Recht hatte.

Hier können viele Beispiele zusammengetragen werden. Eines hat selbst Geschichte

gemacht, zumindest Geschichte der Vergangenheitspolitik: die Wehrmachtsausstellung.

In seiner zentralen Kritik an der Ausstellungskonzeption, die mit einer bestimmten

vergangenheitspolitischen Zielvorgabe aus Popularisierungsgründen ganz auf das

Medium Bild abhob, schrieb Horst Möller: »Auch wenn die Fotos und Zeugenaussagen

von Kriegsverbrechen oder vom ›normalen‹ Alltag des Krieges für sich genommen richtig,

aussagekräftig, korrekt zugeordnet und erläutert sind, können sie die Realität der

Wehrmacht weder positiv noch negativ beweiskräftig abbilden. Und erschwerend kommt

hinzu: Die meisten Fotos haben weder eine Ortsangabe noch eine Zeitangabe, noch

präzise Angaben über Täter und Opfer. Der überwiegende Teil der Ausstellungsfotos zeigt

nicht einmal den Vorgang des Verbrechens, sondern die Folgen der Tat. Wenn ein Soldat,

einer der Wehrmacht oder der Roten Armee, vor einem Leichenberg steht, heißt das

keineswegs zwangsläufig, dass er einer der Täter war:', Dies ist sogar eher

unwahrscheinlich, denn bei Massenerschießungen bestand häufig Fotografierverbot. Die

Fehler, die nun Kollegen aus Polen und Ungarn nachgewiesen haben, weil es ihnen

möglich war, Fotos und erläuternde Angaben in osteuropäischen Archiven nachzuprüfen,

zeigen die Problematik von Fotos als historischer Quelle: Es bleibt hier nur die Alternative

Fälschung oder grobe Fahrlässigkeit« (MÖLLER 2000: 8). Auch hier dienten die Bilder

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Befürwortern und (einigen) Gegnern der Ausstellung nur dazu, die ›Richtigkeit‹ der

eigenen politischen Vorannahmen zu bestätigen.

Diese historische Methodenkritik verweist auf einen prinzipiellen Unterschied von

Quellenarten. Der Romanist Ernst Robert Curtius hatte 1928 den Begründer der

modernen Ikonologie, Aby Warburg, in Rom kennengelernt. Sein Verhältnis zu Bildern

allerdings wurde davon nicht wesentlich verändert. 1947 schrieb Curtius: »Das Buch ist

realer als das Bild. Hier liegt ein Seinsverhältnis vor und die reale Teilhabe an einem

geistigen Sein. Eine ontologische Philosophie würde das vertiefen können« (zit. n.

RAULFF 1995). Das Primat der Schrift und des Wortes vor dem Bild ist seitdem oft

angegriffen worden. Ich. möchte diese Debatte am Ende mit einem gänzlich anders

gelagerten Argument aufgreifen: Die Hochkultur begann mit dem Übergang vom Bild zur

Schrift. Heute scheinen wir in einem rückläufigen Pro zess zu stehen, den wir als

Fortschritt interpretieren: Bilder treten alg Welt-Repräsentation immer öfter an die Stelle

der Schrift. Die Folgen dieser Ablösung der Schrift als dem zentralen Medium der

Gesellschaft können wir noch nicht ermessen, wir können sie nur erahnen (Vgl.

TENBRUCK 1990:37-56).

Eines jedoch scheint festzustehen: Seit der Erfindung der Fotografie haben Bilder den

Charakter der Authentizität erhalten. »Die Idee der Kamera«, so schreibt Alan

Trachtenberg im Rückblick auf den Golfkrieg, »ist inzwischen derart tief in unsere

Vorstellung von der Vergangenheit verwurzelt, dass der Schnappschuss als Inbegriff des

Authentischen gilt, als vollwertiger Ersatz dafür, dass wir selbst dort gewesen wären.

Fotografien sind die populäre Historiographie unserer Zeit; sie vermitteln nichts

Geringeres als die Realität [...]; historisches Wissen erweist seinen wahren Wert in seiner

Fotografierbarkeit« (zit. n. HASKELL 1995:12). Wäre Abu Ghraib zum Skandal geworden

ohne die Fotos, die die Soldaten in ihrer Dummheit schossen? Wo Wissenschaft diese

Authentizitätslüge aufgreift und als primären Zugriff auf Wirklichkeit das Bild benutzt,

wenn Sprache doch die Wahrheit bedeutend effektiver aufschlüsseln kann, erliegt sie

jedenfalls dem Medium, aber nutzt es nicht.

Wie aber, um am Ende noch praktisch zu werden, können wir uns der Lüge durch Bilder -

auf allen drei Ebenen: der materialen, kontextuellen und interpretatorischen Verfälschung

- entziehen? Die Antwort lautet: Indem wir die Bilder auf ihren wahrheitsillustrierenden

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Charakter reduzieren. In großer Sympathie gegenüber den kirchenstürmenden

Reformatoren plädiere ich hier für eine neue Bilderfeindlichkeit, die dringend Not tut.

Glauben Sie in Zukunft keiner Ausstellung, die hauptsächlich mit Bildern argumentiert;

misstrauen Sie immer dem Kontext, in dem ein Bild gezeigt wird und fragen Sie nach dem

Wer? Wann? Wo? Und lachen Sie alle aus, die von der Wende zum Bild als einer

kopernikanischen Revolution schwadronieren.

Es hat schon seine eigene Ironie, dass die Ausstellung über lügende Bilder beim ZDF

gastierte2. Das geschieht natürlich unter selbstkritischer Lesart: Wir stellen uns den

lügenden Bildern, um nicht lügende zu produzieren. Ich dagegen habe versucht, einen

Gedankengang plausibel zu machen, der die Lüge an das Medium selbst koppelt. Und

deshalb möchte ich, einer guten deutschen Tradition folgend, meinen Vortrag mit einem

Wort des Altmeisters Goethe aus den Zahmen Xenien beenden:

Dummes Zeug kann man viel reden,Kann es auch schreiben,Wird weder Leib noch Seele töten.Es wird alles beim Alten bleiben.

Dummes aber vors Auge gestellt,Hat ein magisches Recht.Weil es die Sinne gefesselt hält,Bleibt der Geist ein Knecht.

LiteraturBRANDMÜLLER, W.: Galilei und die Kirche. Ein »Fall« und seine Lösung. Aachen 1994

CHARON, J.: Geschichte der Kosmologie. München 1970

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2 Vom 13.3.-3.7.2005

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