Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

72
Das weiße ---Kaninchen Ich könnte ja Gänseblümchen pflücken und daraus eine Kette flechten, dachte Alice gerade schläfrig bei sich, als sie plötzlich ein Weißes Kaninchen mit rosarot funkelnden Augen über die Wiese nahe am Fluss kommen sah. Ihre Schwester Celia las weiter aus dem Buch vor, aber Alice hatte sich schon zuvor gelangweilt und nun konnte sie erst recht nicht mehr zuhören. Sie hatte nur noch Augen für das weiße Felltier. Das Kaninchen war trotz der Hitze an diesem Maitag mit einem karierten Jackett bekleidet und hoppelte nicht etwa - wie alle anderen Frühlingshasen - über die Wiese, sondern lief auf zwei Beinen eilig ganz nah an Alices Picknickdecke unter dem Baum vorbei, sah dabei auf seine Uhr und murmelte besorgt: "Oje, ojemine, ich komme zu spät!" Dann war es auch schon vorbeigestürzt und nahe der Hecke am hinteren Feldrand angekommen. Alice sprang

Transcript of Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Page 1: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Das weiße ---Kaninchen

Ich könnte ja Gänseblümchen pflücken und daraus eine Kette

flechten, dachte Alice gerade schläfrig bei sich, als sie plötzlich ein

Weißes Kaninchen mit rosarot funkelnden Augen über die Wiese

nahe am Fluss kommen sah. Ihre Schwester Celia las weiter aus

dem Buch vor, aber Alice hatte sich schon zuvor gelangweilt und

nun konnte sie erst recht nicht mehr zuhören. Sie hatte nur noch

Augen für das weiße Felltier.

Das Kaninchen war trotz der Hitze an diesem Maitag mit einem

karierten Jackett bekleidet und hoppelte nicht etwa - wie alle

anderen Frühlingshasen - über die Wiese, sondern lief auf zwei

Beinen eilig ganz nah an Alices Picknickdecke unter dem Baum

vorbei, sah dabei auf seine Uhr und murmelte besorgt: "Oje,

ojemine, ich komme zu spät!" Dann war es auch schon

vorbeigestürzt und nahe der Hecke am hinteren Feldrand

angekommen. Alice sprang auf und folgte dem Weißen Kaninchen.

Sie hatte noch nie zuvor ein sprechendes Kaninchen mit

Page 2: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Taschenuhr gesehen, müßt ihr wissen. Aber da war das weiße

Langohr bereits flugs in einem Erdloch unter der Hecke

verschwunden.

Das Wunderland im Kaninchenbau

Ohne lange zu überlegen war Alice dem Kaninchen hinterher in

den Bau geschlüpft und erst als sie drinnen war, staunte sie über

sich selbst. Sie war ja in einen dunklen Tunnel unter der Erde

gekrochen! Hier war es nicht etwa wie in einer gewöhnlichen

Kaninchenhöhle mit waagerecht ausgebuddeltem Kaninchengang,

sondern es ging nur kurz eben geradeaus und dann geradewegs in

einem Schacht nach unten in die Tiefe. Alice purzelte hinein und

begann zu fallen. Sie war plötzlich ganz leicht und fiel deshalb nur

sehr langsam, wie in Zeitlupe. Mit staunenden Augen schaute sie

um sich. "Es sieht hier sehr gemütlich aus", dachte sie. Links und

rechts waren Küchen- und Bücherregale angebracht. Ja, einige

Bücher und Landkarten kannte sie sogar aus der Schule. "Mmh,

und hier: eingemachte Apfelsinen", sagte sie mit lauter Stimme

und schmatzte vor Naschlust. Aber da war sie auch schon wieder

weiter und weiter nach unten gesegelt. Ihr Kleid war aufgebauscht

wie ein Fallschirm, so dass Alice schaukelte und schwebte wie ein

Blatt im Wind.

Sie hatte weit aufgerissene große Augen, schaute und schaute,

flog und flog, tiefer und immer tiefer. Dabei dachte sie: "Die Höhle

ist offenbar sehr tief. Denn ich fliege zwar langsam, aber schon

ganz schön lange." "Vielleicht komme ich ja bis zum Mittelpunkt

der Erde," überlegte sie dann laut und hörte dabei ihre Stimme in

der Leere hallen. Da sie nichts weiter zu tun hatte, begann sie leise

zu rechnen: "Das wären dann… wieviel Meter? Ungefähr 6500

Kilometer?" Bevor sie aber zu Ende gerechnet hatte, kam ihr eine

neue Idee: "Vielleicht falle ich ja ganz durch die Erde hindurch und

Page 3: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

komme auf der anderen Seite auf dem Kopf wieder heraus!"

Wieder hörte sie ihre eigene Stimme in der Stille. "Aber wo wäre

ich dann?" Jetzt war sie eine ganze Weile still und dachte: "Ich

sollte dann nach dem Namen des Landes fragen. Wahrscheinlich

bin ich dann in Neuseeland oder Australien. Oder wo?"

Sie fiel weiter, still und ohne etwas zu sagen, denn sie stellte sich

vor, wie sie es am besten anstellen sollte, wenn sie herauskäme.

Dann sagte sie mit heller Stimme und machte dabei einen Knicks:

"Guten Tag, können Sie mir sagen, wo ich bin?" Sie wollte

ausprobieren, was sie tun würde, käme sie am anderen Ende der

Weltkugel wieder zum Vorschein.

Doch jetzt fiel sie plötzlich ganz schnell, stürzte hinab in die Tiefe,

so dass sie mit dem Kopf zuerst fiel und einen Schreck bekam.

Aber bald drehte sie sich im Flug wieder um ihre eigene Mitte und

schwebte also wieder Kopf nach oben weiter langsam in die Tiefe.

Ihr fiel jetzt auf, dass sie im Flug einen Knicks gemacht hatte und

sie fand, das war ein ganz beachtliches Kunststück: "Mmh!" Da ihr

hier aber niemand antwortete und sie auch niemanden sah, wurde

sie schließlich vom langen Fallen schläfrig. Normalerweise schlief

ja ihre Katze bei ihr, deshalb rief sie nach ihrer Katze: "Dinah!

Miez! Miez! Miez! Ach, ich wünschte, du wärst hier!" Dann dachte

sie daran, dass Dinah etwas zu Fressen brauchte und murmelte:

"Du könntest hier in der Luft statt Mäuse, Fledermäuse oder

Spatzen fangen. Mäuse oder Spatzen?

Essen Katzen Spatzen mit den Tatzen?" Sie spielte im Traum eine

Weile mit den Wörtern, dachte sich Reime aus, zum Beispiel:

"Machen Katzen Fratzen?" und überlegte gerade noch einmal, ob

sie wohl jemals auf dem Boden ankommen würde, da landete sie

mit einem "Plumps" in einem Haufen raschelnder weicher Blätter.

Page 4: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Aber nein, Alice hatte sich nicht weh getan. Sie schaute gleich

neugierig um sich. Über ihr, von wo sie gekommen war, war es

stockdunkel, vor ihr aber war ein heller schmaler Gang mit

schönen Leuchtern an den Wänden. "Ah!" Dort sah sie gerade noch

den Stummelschwanz des Weißen Kaninchens, das um die Ecke

bog, wobei sie es wieder sagen hörte: "Oje ojemine, ojemine! Bei

meinen Löffeln und Schnurrbarthaaren. Ich komme zu spät!" Sie

sprang also geschwind auf und rief: "Warte auf mich!" Aber das

Kaninchen lief hastig weiter ohne auf Alice zu achten. Alice eilte

ihm hinterher, war ihm jetzt auch schon direkt auf den Fersen, ja

meinte sogar, seinen Stummelschwanz zu erhaschen. Aber so

schnell sie auch versuchte, es einzuholen, als sie um die Ecke bog

und in der angrenzenden grossen Halle stand, war das Kaninchen

bereits durch eine der vielen Türen ringsum entschlüpft!

Durch welche Tür war es bloß gegangen? Alice lief an den Wänden

entlang, versuchte jedoch vergeblich eine der Türen zu öffnen. Alle

waren zu! Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen!

Unter der Erde: Alices Tränenmeer

Alice sah sich ein zweites Mal in der Halle um, dabei entdeckte sie

auf einem kleinen Glastisch einen winzigen goldenen Schlüssel.

Nur er wollte in keines der vielen Türschlösser passen. Entweder

waren die Schlösser zu groß oder ihr Schlüssel zu klein. "Ich suche

ein kleines Weißes Kaninchen", sagte sie leise und drehte dabei

einen Türknauf. Aber auch diese Tür öffnete sich nicht und

niemand war da, der ihr hätte helfen können.

Page 5: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Nun betrachtete sie den Raum noch genauer, schob dann

vorsichtig einen kurzen roten Vorhang an der Wand beiseite, den

sie zuvor nicht beachtet hatte. Und siehe da! Dahinter verbarg sich

eine kleine, nur etwa 40 Zentimeter große Tür, mit einem winzigen

Schlüsselloch!

Ja, das war sicher das passende Schloss für den kleinen Schlüssel!

Die Tür sprang auf und Alice wollte natürlich hineinschauen,

musste dazu aber zuerst in die Knie und dann auf alle Viere gehen,

um endlich hineinschauen zu können.

"Oh!" Dahinter verbarg sich ein wunderschöner Blumengarten! Er

war wie ein Labyrinth angelegt mit ineinander verschlungenen

Wegen und hohen Hecken. "Wenn ich nur wüsste, wie ich da hinein

kommen kann", fragte sich Alice ungeduldig. "Ich möchte mich wie

ein Fächer zusammenfalten und dann wie ein Teleskop

ineinanderschieben können!" Nur, wie sollte sie das anstellen? Es

schien ihr ganz unnütz, länger bei der kleinen Tür zu warten, denn

in der unterirdischen Höhle hier waren bereits so viele

ungewöhnliche Dinge passiert, dass sie hoffte, in der Halle noch

einmal etwas Überraschendes zu entdecken. Also ging sie erneut

umher.

Page 6: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

"Siehst du, da auf dem Tisch steht ein Fläschchen", sagte sie zu

sich selbst. Tatsächlich fand sie also auch diesmal wieder etwas.

"Die kleine Flasche war vorher noch nicht da", stellte Alice mit

detektivischem Instinkt fest. Um den Flaschenhals herum war ein

Zettel gebunden, auf dem stand: "Trink mich!" "Nun ja, das werde

ich tun, aber ich sehe zuerst nach, ob ein Totenkopf darauf ist",

sagte Alice, denn sie wusste, das bedeutete, dass die Flasche Gift

enthielt. Als sie sich vergewissert hatte, dass das nicht der Fall

war, kostete sie. "Mmh!" Der Saft schmeckte nach Kirschkuchen

mit Schlagsahne, Ananas, Karamellbonbon und warmem, mit

Butter bestrichenem Toast. "Köstlich!" Nach und nach trank Alice

die Flasche ganz leer.

Aber, "was für ein eigenartig kribbeliges Gefühl!" dachte sie, als sie

merkte, dass plötzlich in ihrem Körper etwas Seltsames vor sich

ging. "Ich schrumpfe!", rief sie dann gespannt. Ihr Gesicht begann

zu strahlen bei dem Gedanken, dass sie nun die geeignete Größe

haben würde, um durch die kleine Türöffnung in den rätselhaften

Garten zu gelangen. Jetzt war sie tatsächlich gerade noch 25

Page 7: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Zentimeter groß und wollte also gleich hineingehen. Aber, arme

Alice! Als sie an die Tür kam, bemerkte sie, dass sie beim Trinken

aus der Flasche den goldenen Schlüssel auf den Tisch gelegt hatte

und die Tür mittlerweile wieder zugefallen war.

"Oh, wie ärgerlich, ich habe den goldenen Schlüssel auf dem Tisch

vergessen!", sagte sie. Sie ging zurück, den Schlüssel zu holen,

aber, sie konnte ihn in ihrem jetzigen Zustand unmöglich

erreichen. Zwar sah sie ihn von unten durch den gläsernen Tisch

hindurch oben liegen, als sie aber an einem der Tischbeine

hinaufklettern wollte, rutschte sie sofort wieder hinunter. Sie

versuchte es immer und immer wieder, und als sie sich schon ganz

müde geklettert hatte, setzte sich die kleine Alice hin und weinte.

"Still, Alice, hör sofort auf zu weinen!", sagte sie augenblicklich mit

strenger Stimme zu sich selbst. Ja, sie gab sich oft selbst

Anweisungen, müsst ihr wissen. Manchmal schimpfte sie sogar so

heftig mit sich selbst, dass sie weinen musste.

Alice war ein Mädchen, das sich gerne vorstellte, zwei Personen zu

sein und sich auch gerne eine Welt vorstellte, in der Dinge möglich

waren, die sonst nicht sein durften oder als unmöglich galten.

"Aber jetzt bringt es nichts, so zu tun als ob ich zwei verschiedene

Personen wäre. Es ist ja kaum genug von mir selbst übrig. Und das

Heulen bringt auch nichts, denn ich bin jetzt wirklich zu klein, um

dort hinaufzukommen!" dachte sie. Was also tun? Da fiel ihr Auge

auf ein kleine Schatulle, die unter dem Tisch lag. Sie öffnete

umständlich den fest verschlossenen Riegel. In der Schatulle lag

ein kleiner Keks, auf dem mit Korinthen geschrieben stand: "Iß

mich!" "Nun", dachte Alice bei sich: "werde ich größer, so kann ich

den Schlüssel oben greifen, werde ich aber kleiner, dann schlüpfe

ich eben durch den klitzekleinen Türschlitz am Boden in den

schönen Garten." Also aß sie einen Kekskrümel und sagte

neugierig zu sich selbst: "Wohin jetzt? Aufwärts oder abwärts?"

Dabei hielt sie die Hand prüfend auf ihren Kopf. Nach und nach

Page 8: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

verzehrte sie den Keks ganz und gar, denn es wollte sich keine

Reaktion einstellen.

Doch mit einem Mal -schwupp-, -schwupp-, -schwupp- wuchs und

wuchs sie in die Höhe und ihr Körper schoss nach allen Richtungen

auseinander. Sie bekam einen langen Hals, einen großen Bauch

und Kopf, ja, alles wurde so riesengroß, dass ihre Füße bald endlos

weit weg schienen. So füllte sie den ganzen Raum der Halle aus

und war jetzt zehnmal größer als vorher, ganze 2,70 Meter groß!

Zuerst fand sie es lustig, nicht einmal mehr ihre eigenen Füße zu

sehen und dachte sich eine Geschichte aus, wie sie wohl mit ihren

Füßen wieder einmal in Kontakt kommen könnte. Sie könnte ihnen

ja zu Weihnachten ein Päckchen schicken und dabei schöne Grüße

bestellen. Als sie aber mit einem Mal mit ihrem Kopf heftig an die

Decke prallte, erschrak Alice. Sie erschrak so sehr, dass sie wieder

zu weinen begann und diesmal vor Verzweiflung nicht mehr auf

sich selbst hörte, als sie sich sagte, dass sie aufhören solle. In den

Garten zu gehen war doch jetzt komplett unmöglich geworden!

Deshalb quollen aus ihren großen Augen dicke Tränen. Immer

mehr und mehr Tropfen strömten heraus, kullerten über ihre

Wangen hinab und platschten auf den Boden. Das Weinen wollte

gar nicht mehr aufhören. Alice weinte so lange, bis die literweise

verflossenen Tränen um sie herum eine etwa 10 Zentimeter tiefe

Pfütze bildeten.

Was sollte sie bloß tun? Sie hatte zwar mit dem goldenen Schlüssel

die kleine Tür nun wieder öffnen können, war aber mittlerweile viel

zu groß, um durch die kleine Öffnung zu passen. "Vielleicht war in

dem Glasfläschchen von vorhin ja noch etwas Flüssigkeit?", dachte

sie dann. Alice wollte also gerade nachschauen und griff mit ihren

großen Händen danach, da hörte sie von weitem Hasenpfoten

trippeln. Sie lauschte unbeweglich und rollte dabei ihre Augen nach

allen Richtungen, um zu sehen, woher die Schritte kamen. Und

Page 9: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

siehe da, zu ihren Füßen lief schwitzend und hastend das Weiße

Kaninchen herbei. Wieder war es in Eile. Doch diesmal war es fein

bekleidet, trug weiße Glaceehandschuhe und hielt einen Fächer in

der Hand. Es murmelte atemlos vor sich hin: "Oje, ojemine,

ojemine! Die Herzogin! Die Herzogin; sie wird wütend, wenn ich zu

spät komme!"

Alice wollte das Kaninchen um Hilfe bitten, doch als sie ihre

Stimme erhob, da erschrak das Kaninchen so sehr, dass es

Handschuhe und Fächer fallen ließ und schnell davon jagte. Alice

war wieder allein. Stickig heiß war es hier, deshalb kam sie jetzt

auf den Gedanken, doch den Kaninchenfächer zu nehmen, um sich

ein wenig frische Luft zuzufächern während sie über ihre Lage

nachdenken wollte. Alice nahm den kleinen Fächer und dachte bei

sich: "Wurde ich denn heute Nacht ausgewechselt? Ich kenne mich

gar nicht mehr aus. Bin ich noch ich selbst oder bin ich eine andere

geworden? Und wenn ich nicht mehr dieselbe bin, wer in aller Welt

bin ich denn dann?" Da fiel ihr ein: "Vielleicht bin ich ja eine meiner

Freundinnen?"

Alice stellte sich ihre Schulkameradinnen vor: Nein, Ada war sie

ganz bestimmt nicht. Denn Ada hatte krauses Lockenhaar und

Page 10: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Alices Haare waren glatt. Oder war sie etwa Mabel? Nein, die

konnte sie schon gar nicht sein, das kam nicht in Frage, denn

Mabel war nicht so gut in der Schule wie sie. Alice wusste nämlich

über sehr viel mehr Dinge weit besser Bescheid als Mabel. Wer

aber war sie, wenn nicht eine der beiden? Jetzt kam Alice auf die

Idee, sich selbst zu testen, ob sie vielleicht doch sie selbst war und

ihr Wissen bei sich selbst abfragen konnte. "Beginnen wir mit

Mathematik!", forderte sie sich auf. "Vier mal fünf ist zwölf und vier

mal sechs ist dreizehn." Oh, weh, da stimmte etwas nicht! "Dann

wollen wir es mal mit Geografie versuchen", wies sie sich an und

fuhr fort: "London ist die Hauptstadt von Paris und Paris ist die

Hauptstadt von Rom und Rom ist… Oh nein, das ist ja alles ganz

falsch!", beurteilte sie sich selbst. "Dann werde ich es jetzt mal mit

einem Gedicht versuchen. Kann ich mich wenigstens noch an das

Gedicht >Gegen Müßiggang und Ungedeih< erinnern?" Doch ihr

wollten auch dafür nicht mehr die passenden Reime und Verse

einfallen.

Denn anstatt: "Wie emsig macht die kleine Bien", begann das

Gedicht jetzt so:

Wie eifrig putzt das Krokodil

Den glänzend' Schwanz sich glatt.

Es spült mit Wasser aus dem Nil

Die gold'nen Schuppen sich ab.

Wie freundlich scheint das Tier zu sein,

Wie schlau spitzts Klau' und Kralln!'

"Willkommen kleine Fischlein mein",

so lockt's, damit sie in den Kiefer falln!

Alice merkte, dass das ganze Gedicht vollkommen verkehrt

herausgekommen war! Anstatt: "Wie emsig macht die kleine Bien"

begann es mit "Wie eifrig putzt das Krokodil" und anstatt von

honigsammelnden Bienen, handelte es jetzt von hungrigen

Krokodilen. Nun war sie sich also ganz sicher: sie konnte unmöglich

Page 11: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Alice sein! Sie war mit ihren Resultaten ganz und gar nicht

zufrieden und gab schließlich die Schulfragen auf.

"Oh, ich wünschte so sehr, jemand würde hier bei mir sein!",

seufzte Alice traurig und fuhr fort, sich mit dem Kaninchenfächer

Luft zuzuwedeln. Von Alice zunächst unbemerkt zeigte der Fächer

jedoch - wie all die anderen Dinge hier in der Kaninchenhöhle -

bereits seine zauberhafte Wirkung. Alice sah, dass sie jetzt die

weißen Lederhandschuhe des Kaninchens trug und fragte sich, wie

das vonstatten gegangen sein konnte. Sie musste also mit jedem

Fächerschlag kleiner und immer kleiner geworden sein bis ihr die

Handschuhe des Kaninchens passten. "Oje, ojemine, so klein war

ich ja noch nie!", rief sie aus, als sie sich über ihren Wandel klar

wurde. "Hilfe!", kam dann plötzlich aus ihrem Mund; sie war auch

noch ausgerutscht und konnte nicht mehr auf die Beine kommen,

denn um sie herum war alles nass und glitschig. Ihr Kopf stieß auch

längst nicht mehr an der Decke an, stattdessen brauchte Alice nun

dringend beide Hände, um zu schwimmen, denn sie konnte schon

nicht mehr stehen, so hoch war das Wasser. Sie hatte den Fächer

schnell weggeworfen, denn nur so hatte sie gerade noch im letzten

Augenblick verhindern können, dass sie gänzlich verschwunden

war und in dem tiefen See unterging, in dem sie sich jetzt über

Wasser hielt.

Zuerst glaubte Alice, dass sie vielleicht plötzlich am Meer war und

dort Urlaub machte und sie sich doch immer gewünscht hatte, dass

das Wasser singen und die Pflanzen sprechen könnten. Aber dann

wusste sie: jetzt war sie in einem tiefen See unter der Erde! "Wenn

ich nur nicht so viel geweint hätte!", dachte sie dann, während sie

aus dem Wasser herauszupaddeln versuchte. Alices zuvor

vergossene Tränen waren für die nun winzige Alice zu einem

großen See, ja zu einem Meer aus Tränenwellen geworden. Wie sie

also so durch das Wasser schwamm, hörte sie ein Geräusch und

sah weiter hinten eine andere Gestalt im Wasser. "Dort schwimmt

Page 12: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

ja ein Flusspferd", dachte Alice; deshalb schlüpfte sie schnell in die

Glasflasche, die auf dem Wasser schwamm. In der schaukelte sie

dann wie in einer Flaschenpost auf ihren Tränenwellen. Aber nein.

Alice erinnerte sich, dass sie ja ganz klein geworden war und - so

kombinierte sie - musste das Tier wohl eher so groß wie eine Maus

sein. "Wahrscheinlich ist sie auch ins Wasser gefallen", dachte sie.

Alice und die Maus schwammen ohne einander etwas zu sagen

umher. Es war sehr still, nur das Wasser platschte leise.

Alice vermisste deshalb umso mehr ihre Katze: "Wo ist nur meine

Katze," murmelte sie laut und wandte sich dabei zur Maus, denn

sie wollte eine Unterhaltung beginnen: "Kennen Sie sich mit Katzen

aus?", fragte sie die Maus. Als ihr die Maus nicht antwortete, wollte

sie es in einer anderen Sprache versuchen, denn sie konnte ja

nicht sicher sein, wo sie sich jetzt befand und ob sie noch

verstanden würde. Da erinnerte sie sich an die erste Seite ihres

Französischbuches und versuchte es auf Französisch: "Où est mon

chat?", sagte sie also zu der Maus und sah, dass die Maus sofort

am ganzen Leib zu zittern begann. "Katze!" Die Maus war so

erschrocken, dass sie hastig antwortete: "Ich will ganz und gar

nicht über Katzen sprechen". "Nun gut", erwiderte Alice und fuhr

auf Deutsch fort, denn die Maus war offenbar zweisprachig: "Magst

Du Hunde? Ich kannte einmal einen Bauern, der erzählte mir, dass

sein Hund auch alle Katzen, Ratten und Mäu…, oh, entschuldige,

jetzt habe ich schon wieder Katze gesagt", stockte Alice in ihrer

Rede. Die Maus aber war unterdessen vor Angst schnell von Alice

weggeschwommen. "Bleib doch hier!", rief ihr Alice nach und

dachte bei sich: "Du bist aber sehr schnell eingeschnappt!"

"Komm, lass uns ans Ufer gehen und uns trocknen", rief die Maus

Alice von Weitem zu, womit Alice durchaus einverstanden war,

denn mittlerweile war der Teich voller kleiner und großer Tiere, die

auch ins Wasser gefallen waren und Vögeln, die auf

schwimmenden Holzstücken saßen. "Dann erzähle ich Dir, warum

Page 13: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

ich weder Katzen noch Hunde mag", sagte die arme Maus, die in

ihrer panischen Angst vor Katzen aus dem Teich flüchtete.

Das Abenteuer vom Wettrennen auf der Tierversammlung

"Wie nass es hier ist. Alles nur wegen dieses großen weinenden

Mädchens!", beschwerte sich gerade ein Vogel bei der Maus, als

Alice an Land kam. Alice sah, dass außer ihr und der Maus von

überall her Tiere aus dem Wasser ans Ufer geschwommen und an

Land gekommen waren. Sie gaben unbestreitbar eine sehr

merkwürdig anzusehende Versammlung ab, wie sie da am Ufer

hockten: Vögel mit verklebtem Gefieder, Pelztiere mit

angeklatschtem Fell; allesamt tropfend, verdrießlich und in einem

Zustand sichtlichen Unbehagens.

Wie konnten sie nur wieder trocken werden? Das war die große

Frage. Da ergriff Lori, der Papagei, das Wort. Er schlug eine Lösung

vor, wie alle wieder Fell und Gefieder trocknen sollten. Eifrig

mischten sich auch all die anderen Tiere, die Ente, der Marabu,

eine Elster, ein Kanarienvogel, ein Krebs, ein Biber, die Eule und

die Weihe ein, so dass durch Rede und Gegenrede ein rechtes

Tohuwabohu auf der Tierkonferenz entstand.

Page 14: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Welche Methode war denn nun wohl die Geeignetste? Auf welche

Lösung konnten sich alle Tiere einigen? Da erhob die Maus ihre

strenge Stimme und befahl: "Setzt euch!" Alle verstummten und

taten, was die Maus sagte, denn sie hatte offenbar hier das Sagen.

"Alle der Reihe nach!", ordnete sie jetzt die Redebeiträge. Als

Erstem erteilte sie Dodo, dem Nachtvogel, das Wort. Also

formulierte er seinen Vorschlag. Er sprach laut und deutlich und in

wichtigem Ton: "Ich schlage vor, dass wir ein Parteitagsrennen

veranstalten. Ich organisiere das Rennen!" Dabei begann er einen

Kreis auf der Erde zu markieren und sagte: "Dieser Kreis ist die

Rennbahn. Jeder stellt sich auf der Kreisumlauflinie auf, da, wo er

will und rennt los, wann er will. Fangt also alle am Anfang an und

wenn ihr fertig seid mit Rennen, dann hört ihr auf, ja!" Auf dieser

Tierversammlung startete das Rennen also nicht wie sonst bei

Wettläufen üblich mit "Achtung-Fertig-Los!" und endete auch nicht

mit einem Ziellauf, sondern hier liefen alle im Wettlauf um den

Kreis wie es jedem beliebte, so dass es nicht leicht herauszufinden

war, wann das Rennen eigentlich endete.

Nachdem die Tiere also etwa eine halbe Stunde gelaufen und alle

einigermaßen trocken waren, erhob Dodo wieder seine Stimme

und rief: "Stop! Ende des Rennens!" Keuchend versammelten sich

jetzt alle Tiere um ihn. Sie fragten: "Und? Wer hat gewonnen?"

"Alle haben gewonnen und alle bekommen einen Preis", antwortete

der Nachtvogel. "Ja! Und wer vergibt die Preise", wollten jetzt die

Tiere wissen. "Sie natürlich", sagte Dodo und zeigte auf Alice.

Sämtliche Tieraugen hefteten sich auf Alice und alle riefen im Chor:

"Ja, Preise! Preise!"

Aber woher sollte Alice denn Preise haben? Sie fasste also schnell

in ihre Kleidertasche und - tatsächlich -, sie fischte sogar ein Paar

nasse Bonbons heraus. "Ich habe nur diese Bonbons bei mir",

sagte sie kleinlaut. "Das ist wunderbar!", riefen all die Tiere. Also

verteilte Alice an jedes Tier ein Bonbon. "Alice soll aber auch einen

Page 15: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Preis bekommen!", baten jetzt die Tiere. "Natürlich!", sagte Dodo.

Doch Alice hatte kein Bonbon mehr, sondern brachte nur noch

einen alten Fingerhut aus ihrer Tasche zum Vorschein. "Ja, dann

verleihe ich dir diesen Fingerhut als Ehrenpreis", sagte Dodo

feierlich und überreichte ihr ihren Fingerhut. Nun, das war wirklich

ein sehr merkwürdiges Rennen gewesen und ein ungewöhnlicher

Preis.

Aber alle Tiere konnten sprechen, das gefiel Alice, und da das

Rennen also vorbei war, fiel ihr wieder ein, dass die Maus ihr doch

zuvor eine Geschichte erzählen wollte. "Du hast mir doch

versprochen, deine Geschichte zu erzählen. Komm, erzähle sie mir

jetzt, und warum du K… und H… nicht ausstehen kannst", sagte sie

zu der Maus. "Ja, ja!", riefen jetzt auch all die anderen Tiere, "bitte,

erzähl uns deine Geschichte!" "Bei mir ist das aber eine sehr

ausführliche Geschichte, so eine mit einem endlos langen

Rattenschwanz am Schluss", entgegnete die Maus. Während sich

Alice noch den Kopf darüber zerbrach, warum die Maus

"Rattenschwanz" gesagt hatte, hatte die Maus auch schon

angefangen zu erzählen. Die Maus hatte aber auch gleich bemerkt,

dass Alice noch in Gedanken versunken war und sagte beleidigt:

"Du hörst mir ja gar nicht zu." Und bevor Alice noch irgend etwas

dagegen sagen konnte, war die Maus auch schon aufgesprungen

und wieder auf und davongelaufen.

"Komm doch bitte zurück und erzähl uns deine Geschichte!" riefen

ihr Alice und die Tiere verständnislos nach. Aber die Maus hörte

nicht auf sie und als sie nicht mehr zu sehen war, seufzte der

Papagei: "Wie schade, dass sie nicht hier bleiben wollte." Und eine

Krabbenmutter sagte zu ihrer Tochter: "Lass dir das eine Lehre

sein. Es bringt nichts, die Beherrschung zu verlieren." Alice seufzte

laut, hatte wieder einmal Sehnsucht nach ihrer Katze und sagte:

"Ach, wenn doch nur Dinah hier wäre. Sie hätte die Maus im

Handumdrehen wieder zurückgeholt. Ihr könnt euch gar nicht

Page 16: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

vorstellen, wie geschickt sie im Mäuse- und Vögelfangen ist!"

Einige der Tiere wurden daraufhin sichtlich unruhig.

"Darf ich fragen, wer Dinah ist", erkundigte sich Lori, der Papagei.

Natürlich erzählte Alice sofort bereitwillig von ihrem Lieblingstier:

"Wenn ihr sie sehen könntet, wie flink sie im Mäusefangen ist und

erst wenn sie Vögel fängt! Sie hat die Vögel bereits im Maul, bevor

sie sie überhaupt belauert hat!" Alices Erzählung löste jetzt noch

viel größere Aufregung aus. Plötzlich hatten es alle Vogel- und

Kleintierarten ausnehmend eilig, nach Hause zu kommen. "Ach,

hätte ich doch bloß Dinah nicht erwähnt", bemerkte Alice traurig,

als schließlich alle Tiere auf und davon waren. "Dabei ist sie die

beste Katze der Welt! Schade, jetzt sind alle weg und ich bin

wieder allein." Alice brach wieder in Tränen aus. Sie fühlte sich

einsam und vollkommen niedergeschlagen. Da wurde sie wieder

von trippelnden Schritten abgelenkt. "Wer mag das sein?", fragte

sie sich und wollte zuerst glauben, die Maus sei vielleicht wieder

zurückgekehrt, erkannte dann aber bald die Kaninchenstimme.

Alice gefangen im Kaninchenhaus

Das Weiße Kaninchen kam eilig suchend und vor sich hin

murmelnd dahergesprungen. "Bei meinen Pfoten, meinem Fell und

meinen Schnurrhaaren! Die Herzogin, die Herzogin, sie wird mich

zum Tode verurteilen, wenn ich zu spät komme! Wo habe ich bloß

meine Handschuhe und meinen Fächer verloren?", sagte es. Alice

hatte aber gleich gewusst, was es suchte. Es hielt sicherlich nach

den Glaceehandschuhen und dem Fächer Ausschau, die sie selbst

aufgehoben hatte, bevor sie in ihren eigenen Tränenteich gefallen

war.

Page 17: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Sie schaute also ebenfalls um sich, da sie dem Kaninchen seine

Sachen zurückgeben wollte, doch um sie herum war seit dem

Tränenmeer alles ganz anders geworden: die Halle mit dem

Glastisch und der kleinen Tür war fort. Da rief das Weiße

Kaninchen ihr zu: "Annemarie, was suchst du hier draußen? Hopp,

hopp, lauf sofort nach Hause und bring mir ein Paar Handschuhe

und meinen Fächer!"

Alice lief sogleich los, doch wunderte sie sich unterwegs doch: "Es

ist schon recht seltsam, wenn man bedenkt, dass mich ein

Kaninchen für sein Dienstmädchen hält", sagte sie bei sich.

"Botengänge für ein Kaninchen! Na, das Kaninchen wird sich

wundern, wenn es herausfindet, wer ich wirklich bin." Da Alice aber

gerne wissen wollte, wo das Kaninchen wohnte, lief sie also schnell

weiter bis zum Kaninchenhaus, ging hinein, rannte die Treppen

hinauf, bis sie in das kleine, ordentlich aufgeräume Schlafzimmer

des Kaninchens gelangte. Dort auf dem Spiegelschrank fand sie im

Nu Kaninchenfächer und Glaceehandschuhe. Gerade wollte Alice

die Wohnung schon wieder verlassen, da fiel ihr Blick auf ein

kleines Fläschchen, direkt neben der Hasenbrille auf der Ablage vor

dem Spiegel. Diesmal enthielt es keine Aufschrift "Trink mich!",

aber die neugierige Alice wollte wissen, was passierte, kostete sie

auch von dieser Flüssigkeit. "Denn irgendetwas geschieht ja

immer, wenn ich hier etwas esse oder trinke", dachte sie bei sich

Page 18: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

und sie wollte sowieso wieder etwas größer werden. Also nahm sie

einen Schluck, dann noch einen.

Aber, ach! Sie hatte die Flasche gleich ganz leer getrunken und

nun war es zu spät. Der Flascheninhalt machte sie tatsächlich

größer, aber viel rascher, als sie sich hätte träumen lassen. Sie

wuchs und wuchs, so dass sie in dem kleinen Zimmer bald keinen

Platz mehr hatte, ja, ihr Kopf schon an die Decke stieß und ihr Hals

bereits zu brechen drohte. Weil sie immer größer wurde, musste

sie auf den Boden knien und sich gleich darauf sogar auf den

Boden legen und dort zusammenkauern. Die Wirkung des

Wunderfläschchens ließ erst nach, als ihr Arm bereits aus dem

Fenster ragte, ihr Bein aus dem Schornstein guckte und die

Zimmerwände schon knarrten und ächzten. Jetzt hatte die kleine

Zauberflasche zwar ihre volle Wirkung entfaltet, Alice wuchs also

glücklicherweise nicht mehr weiter, aber sie befand sich doch in

einer ganz unangenehmen Lage.

Sie fühlte sich, als hätte sie sich in ein kleines Puppenhaus

hineingequetscht. "Zuhause hätte sie genügend Platz und würde

nicht von allen möglichen Tieren herumkommandiert", dachte sie

jetzt traurig bei sich und fragte sich, was denn jetzt bloß mit ihr

geschehen solle. Als sie einige Minuten später draußen wieder die

Kaninchenstimme vernahm, horchte sie auf. Es rief ungeduldig:

"Anne! Annemarie! Meine Handschuhe! Wo bleiben meine

Handschuhe?" Alice aber antwortete nicht, denn sie wusste sich

selbst nicht zu helfen. Also wollte das Kaninchen in das Haus

hereinkommen. Vergeblich versuchte es schon die Tür zu öffnen.

Aber es war natürlich nicht möglich, weil Alice das gesamte Haus

ausfüllte. Alice bemerke, dass das Kaninchen nun offenbar

beschlossen hatte, außen herumzugehen und durch das Fenster

einzusteigen. Sie hörte, wie es mit einer Leiter hantierte und

begann sich plötzlich vor dem Kaninchen zu fürchten.

Page 19: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Alice wußte zwar, dass das völlig unbegründet war, denn sie war ja

um ein Vielfaches größer als das Hoppeltier, aber dennoch begann

sie vor Angst zu zittern, so dass mit ihr das ganze Haus wackelte.

Draußen drehte sie jetzt ihre Handgelenke hin und her, um das

Einsteigen des Kaninchens zu verhindern und von dort hörte sie

das besorgte Kaninchen schimpfen. Mittlerweile waren offenbar

noch andere Personen zum Kaninchenhaus gekommen, denn Alice

hörte, wie sich das Kaninchen mit einem Bauern, der Klaps hieß,

beriet. "Wer kann das sein in meinem Haus, Klaps, und was ist das,

was da aus dem Fenster ragt?", fragte ihn das Kaninchen. "Ein

Arm, Euer Gnaden!" antwortete Klaps und eine andere männliche

Stimme flüsterte: "Die Sache ist mir unheimlich!" "Jetzt hat sich die

Hand bewegt", sagte Klaps dann aufgeregt. Alice hörte immer

mehr und mehr Stimmen, die alle beratschlagten, was für ein

Wesen wohl in dem Haus sei und ob es ein Monster wäre. "Das

Kaninchen hat sich also Verstärkung geholt und draußen, vor dem

Haus, ist eine ganze Versammlung entstanden", stellte Alice jetzt

bei sich fest.

Einer der Helfer, eine Eidechse, die Zettel hieß, sollte nun offenbar

in den Schornstein krabbeln, um von oben in das Kaninchenhaus

einzudringen und das seltsame Wesen aus dem Haus zu jagen. Da

Page 20: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

wusste sich Alice allerdings zu helfen! Sie zog ihr Bein ein wenig

an, so dass sie es nach oben stoßen konnte, und als das Tierchen

in den Schornstein geklettert war, katapultierte sie es in hohem

Bogen aus dem Schornstein hinaus.

Die arme Eidechse war ziemlich verstört irgendwo im Garten

gelandet und draußen herrschte nun zunächst einmal Stille. Einige

halfen offenbar Zettel, der Eidechse, wieder auf die Beine zu

kommen und andere Helfer berieten sich mit dem Kaninchen. "Wir

müssen das Haus in Brand stecken!" beratschlagten sie. Aber da

kam jemand auf eine andere Idee. Nach ein, zwei Minuten hörte

Alice ein Rumoren. Dann kam plötzlich ein Hagel winziger

Kieselsteine durch das Fenster geprasselt. "Lasst das bloß sein",

rief Alice jetzt, doch dann bemerkte sie, dass die Kieselsteine zu

winzigen kleinen Kuchen wurden, sobald sie auf den Fußboden

fielen. Ihre Aufmerksamkeit fiel jetzt ganz auf das Gebäck und ihr

kam eine Idee: "Ich bin sicher, wenn ich etwas von diesen

Kuchenstückchen esse, werde ich wieder meine Größe verändern."

Sie wollte es gleich ausprobieren, nahm also einen kleinen

Kuchenkrümel vom Boden und aß ihn. Glücklicherweise zeigte er

die gewünschte Wirkung, Alice begann zu schrumpfen!

"Zuerst will ich wieder zu meiner richtigen Größe gelangen und als

Zweites will ich endlich in den schönen Garten gehen", sagte sie

dabei zu sich. Sobald sie endlich wieder die richtige Größe hatte,

um sich im Kaninchenhaus zu bewegen und die Treppe wieder

hinabsteigen zu können, sprang sie auch schon aus dem Haus,

rannte, so schnell sie konnte, an dem Weißen Kaninchen, an Zettel,

der Eidechse und Klaps, dem Bauern, den Meerschweinchen und

all den anderen Tieren vorbei, die vor dem Haus versammelt

waren, und sie aufhalten wollten. Sie durchquerte Hals über Kopf

die Wiese, lief dort im Schatten von Wildrosen, Glockenblumen,

Schafgarben, Veilchen und Gräsern, machte einen momentlang

Page 21: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

unter einer Butterblume Rast und suchte schließlich unter einer

Distel Schutz.

Kaum hatte Alice aber etwas verschnauft, da hörte sie ein sehr

lautes Bellen. "Schon wieder ein Tier in meiner Nähe", dachte sie.

Diesmal war es ein Hund, nicht weit von ihr auf der Wiese. "Er ist ja

mindestens so groß wie ein Pferd", stellte Alice erstaunt fest, denn

der Hund war mindestens zehnmal größer als sie. Deshalb

fürchtete sie, er könnte ihr gefährlich werden. Also nahm sie einen

Stock und warf ihn, so weit sie nur konnte in hohem Bogen in seine

Richtung. Der Hund rannte nach dem Stock und Alice flugs in die

andere Richtung. Sie lief weiter in Richtung des nahegelegenen

Waldes, wo sie endlich einen Pilz fand, unter dessen Dach sie

ausruhen wollte. "Gerettet!" Sie wusste, dass sie hier im Wald

wieder unbedingt etwas zu essen oder zu trinken finden musste,

um wieder größer zu werden. Mittlerweile war sie sich aber auch

sicher, dass sie in dieser Welt unter der Erde, immer irgendwo

etwas finden würde. Doch sie musste sich vorsehen, denn sogar

die Blumen waren größer als sie gewesen und auch der Pilz war in

etwa genauso hoch wie Alice selbst. Nachdem sie etwas

verschnauft hatte, begann sie den Pilz, der ihr Obdach bot, von

unten und bald auch von allen Seiten genau zu betrachten. Dann

schaute sie auch nach oben, auf die Kappe des Pilzes, und dort

sank ihr Blick in die Augen einer großen blauen Raupe, die auf dem

Pilz saß und gemächlich eine Wasserpfeife rauchte.

Alice folgt dem Rat einer Raupe

Sie schauten sich eine Weile schweigend an, derweil die Raupe an

ihrer Wasserpfeife zog. Schließlich nahm die Raupe ihre Pfeife aus

dem Mund und fragte: "Mmh, wer bist denn du?" "Nun ja,"

antwortete Alice zögernd, denn das war nicht gerade ein

angenehmer Gesprächsbeginn für sie, "das weiß ich in diesem

Page 22: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Moment selbst nicht so genau, Sir. Heute morgen war ich mir noch

ganz sicher, und hätte ihnen antworten können. Aber jetzt? Wissen

Sie, ich habe mich heute früh schon mehrmals verändert. Ich bin

immerzu größer und kleiner geworden." "Was soll denn das heißen,

hä? Erkläre dich!", fragte die Raupe streng.

"Nun ja, das kann ich ja gerade nicht erklären, fürchte ich, Sir!"

antwortete Alice schüchtern, "weil ich nicht ich selbst bin, sehen

sie". "Ich sehe gar nichts!", erwiderte die Raupe. "Es ist sehr

verwirrend. Sie können sich das sicherlich vorstellen weil sie ja

selbst ein Meister der Verwandlungskunst sind…", fuhr Alice fort.

"Kann ich nicht", kam die barsche Antwort der Raupe. "…Und sich

von ihrem jetzigen Zustand einer Raupe in einen Kokon einspinnen

und so zur Puppe werden, und wenn sie erwachsen sind sich

schließlich wieder entpuppen zum flatternden Schmetterling. Das

ist doch sonderbar, nicht wahr." "Ist es ganz und gar nicht", sagte

die Raupe. "Also ich weiß, das wäre für mich sonderbar!" "Ja, für

dich!", sagte die Raupe. "Wer bist denn du?" "Oh, nein!", rief Alice

aus, denn damit waren sie just wieder am Beginn ihrer

Unterhaltung angelangt. "Na, das kann ich ja gerade nicht

beantworten!", und dann entgegnete sie: "Ich finde, sie sollten mir

zuerst einmal sagen, wer sie sind".

Page 23: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Als sich die Raupe wieder, anstatt zu antworten, in Schweigen

hüllte, wollte Alice nicht weiter betreten dastehen, sondern drehte

sich einfach weg, ließ die blaue Raupe stehen und wollte gerade

davongehen. "Früher, als ich Märchen las, dachte ich immer, dass

diese Dinge nur in Geschichten vorkommen. Aber jetzt bin ich

selber in solch einem Märchen drin", dachte Alice bei sich. Da

vernahm sie wieder die rauchige Stimme der Raupe. "Komm

wieder zurück!", rief die Raupe, "Ich muss dir etwas Wichtiges

sagen." Alice drehte also doch wieder um und wartete darauf, was

die Raupe ihr sagen wollte.

"Du meinst also, du wärst jemand anderes?", fragte die Raupe.

Dann folgte ein erneutes minutenlanges Schweigen. Alice

erwiderte ganz verstört: "Ich fürchte ja! Sieh mal, ich wollte zum

Beispiel das Gedicht >Gegen Müßiggang und Ungedeih< aufsagen.

Es handelt von Bienen, aber statt den eigentlichen Gedichtversen

kam etwas anderes, nämlich ein Gedicht von einem Krokodil, das

Fische verschlingt, heraus, alles ganz anders und ganz verdreht!"

"Dann sag jetzt >Du bist alt, Vater Wilhelm< auf!", sagte die

Raupe und wieder folgte minutenlanges Schweigen. Alice

versuchte, das Gedicht jetzt aufzusagen. Sie sagte nämlich gerne

Gedichte auf, deshalb fiel es ihr gewöhnlich nicht schwer; aber

auch diesmal merkte sie, dass ihr auch für dieses Gedicht nicht

mehr die passenden Reime und Verse einfielen. Nach ihrem

Vortrag herrschte wieder langes Schweigen und wieder unterbrach

die Raupe die Stille und fragte: "Wie groß möchtest du sein?" "Nun

ja, die genaue Größe ist gar nicht so wichtig, nur der ständige

Wechsel ist unangenehm, doch ein wenig größer würde ich schon

gerne sein. 7 1/2 Zentimeter ist doch eine erbärmliche Größe",

sagte Alice. "Sag das nicht", erwiderte die Raupe zornig und

richtete sich der Länge nach vollkommen auf. "Ganz im Gegenteil!

Das ist eine schöne Größe! Ich bin genau 71/2 Zentimeter groß."

Alice bemerkte jetzt, dass sie die Raupe beleidigt hatte und wollte

Page 24: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

ihr noch einmal erklären, dass es eben für sie sehr verwirrend war,

unentwegt größer und kleiner zu werden. Doch die Raupe nahm

schweigend noch ein paar Züge aus der Wasserpfeife, glitt dann

von dem Pilz herab, krabbelte ins Gras und kroch davon.

Alice fühlte sich an ihr vorheriges Treffen mit der Maus erinnert

und dachte: "Wenn hier bloß nicht alle so empfindlich wären!" Im

Fortgehen sagte die Raupe noch geheimnisvoll: "Eine Seite wird

dich größer machen, die andere kleiner." "Die eine Seite von

was?", fragte sich Alice gerade, da antwortete die Raupe, als könne

sie Gedanken lesen: "Vom Pilz". Hellhörig geworden schaute sich

Alice daraufhin den Pilz genau von allen Seiten an. Wo sollte sie

denn bloß beginnen? Wo waren denn bei einer runden Pilzkappe

rechts und links? Alice rief der Raupe noch schnell, bevor sie

davongekrochen war, zu: "Welche Seite ist denn rechts und welche

links?" "Die Seite vom Pilz!", erwiderte die Raupe. Oh, nun wusste

Alice wirklich nicht mehr als zuvor.

Aber irgendwo musste sie doch beginnen. "Besser hier oder

schlechter da, oben oder unten, rechts oder links?" Da sie keine

Lösung fand, umfasste sie den Pilzhut mit beiden Armen und brach

mit beiden Händen einfach jeweils an den Stellen ein Stück ab, wo

die Hände angelangt waren. Um zu sehen wie die Wirkung war,

biss sie gleich in das der beiden Stücke hinein, das sie in der

rechten Hand hielt. "Uuuii!", rief sie beängstigt aus. Schneller als

sie denken konnte hatte sich ihr Körper in die Tiefe bewegt. Sie

war nun so geschrumpft, dass zwischen ihrem Fuß und ihrem Kinn

nur noch ein winzig kleiner Schlitz frei war, um gerade noch von

dem Pilzstück in ihrer anderen Hand auch einen Krümel

hineinschieben zu können, und als sie ihren Mund wieder richtig

öffnen konnte, knabberte sie noch einmal in das Pilzstück in ihrer

linken Hand hinein. Nun schoss sie aber dermaßen in die Höhe, so

sehr, dass ihr ganz schwindelig wurde und sie eine Weile brauchte,

um festzustellen, was denn nun wieder mit ihrem Körper passiert

Page 25: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

war. Sie sah ihre Hände und Füße überhaupt nicht mehr.

Stattdessen blickte sie auf ein grünes, sich im Wind wiegendes

Blättermeer.

Sie war über die Bäume im Wald hoch hinausgewachsen, unter

denen sie zuvor umher gelaufen war, und schaute jetzt über alle

Baumkronen hinweg. Sie betrachtete sich und stellte fest, dass sie

einen meterlangen dünnen Hals bekommen hatte, der wie bei

einer Giraffe sehr biegsam war, nur um ein Vielfaches länger und

dünner als bei Giraffen. Dort oben in der Luft kam jetzt auch schon

eine böse gurrende Taube auf sie zugeflogen. "Schlangen haben

hier nichts zu suchen!", kreischte diese und flog aufdringlich

flügelschlagend um Alices Kopf herum. Die Taube hatte sie also mit

einer Schlange verwechselt! Alice protestierte zwar, konnte aber

die Taube nicht davon überzeugen, dass sie keine Schlange,

sondern ein kleines Mädchen war. Denn tatsächlich sah sie nicht

danach aus. "Wenn du keine Schlange bist, was bist du denn dann,

hä?", äffte die Taube und fuhr fort: "Du suchst meine Eier, gib es

doch zu! Wenn nicht, dann mach, dass Du wegkommst!"

Tatsächlich pfiff die Taube in sehr unverschämtem Ton. Alice aber

hatte nichts anderes im Sinn als wie sie an ihre rechte Hand mit

dem Pilzstück kommen könnte, um wieder davon abzubeißen und

ihre Größe zu regulieren.

Sie versuchte, ihren Kopf unter die Baumkronen zu beugen,

musste es aber viele Male probieren, weil sich ihr Hals immer und

immer wieder um die Äste und Zweige der Bäume schlang. Sie

schaffte es mühevoll, sich aus den Ästen zu winden und es gelang

ihr, wieder ein Pilzstückchen abzuknabbern und gleich merkte sie

erleichtert, wie sie nach und nach wieder zu ihrer regulären Größe

kam. "Wenigstens bin ich wieder auf meine richtige Größe

gekommen!" sagte sie tröstend zu sich selbst, denn endlich konnte

sie sich wieder bewegen, wie sie wollte, und ihrem gefassten Plan

Page 26: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

folgen. "Als nächstes will ich endlich in den bezaubernden Garten

gehen", beschloss sie bei sich.

Und während sie über all das Größerwerden, Kleinerwerden und

wie sie in den Garten gelangen könnte nachdachte, war sie

unversehens auf eine Lichtung geraten, auf der ein kleines Haus

stand. Das Haus war gerade mal so hoch wie ein Tisch, also dachte

Alice, musste sie ihre Größe noch stärker verändern, um den

Hausinsassen nicht als Riesin zu begegnen. Schnell nahm sie noch

einen kleinen Bissen von dem restlichen Pilzstück, das sie in der

rechten Hand hielt - es war ja das, welches sie kleiner machte -

und zuletzt leckte sie noch ein wenig daran. So kam sie genau auf

die Größe, die sie wollte. Ja, sie war bereits geübt im Größer- und

Kleinerwerden und kannte sich damit jetzt schon besser aus! In

ihrer jetzigen Gestalt wagte sie es schließlich, sich dem Häuschen

zu nähern. Es war etwas über einen Meter hoch und Alice maß in

etwa 22 cm, so dass sie gerade die geeignete Größe dafür hatte,

sich dort zu bewegen.

Die Geschichte vom Schweinebaby

Alice stand noch eine Weile am Waldesrand und überlegte, was sie

dort bei dem Häuschen anfangen sollte; dabei beobachtete sie aus

der Ferne, wie ein Lakai in einem Livreeanzug und mit einem

Fischgesicht auf das Haus zulief und dort einen Briefumschlag

überbrachte, der so groß war wie er selbst.

Page 27: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

"Das ist doch ein Fisch in Uniform!", wunderte sich Alice und

beobachtete, wie er den Brief umständlich abstellte und an die Tür

klopfte, wo ihm ein anderer Lakai öffnete, der ebenfalls eine Livree

trug. Allerdings hatte dieser ein Froschgesicht. Beide Figuren

waren ungewöhnlich herausgeputzt, hatten weiß gepudertes Haar,

das in Locken um ihren Kopf lag und an den Seiten in

Schillerlocken herabhing. Alice hörte, wie der Fischlakai zum

Froschlakai sagte: "Eine Einladung von ihrer Majestät, der Königin,

zum Krocketspiel."

"Es musste sich also um ein herrschaftliches Haus handeln, wenn

hier Diener in Uniform und gepuderten Perücken arbeiteten",

dachte Alice bei sich und wieder fand sie, dass sie solche Bilder

bisher nur aus Märchen kannte. Als der Fischlakai wieder weg war,

kam sie neugierig näher, ging langsam auf die Tür des Hauses zu

und klopfte an. Von innen drang ohrenbetäubender Lärm nach

draußen. Plötzlich öffnete sich die Tür mit Karacho von selbst und

herausgeflogen kam in hohem Bogen ein großer Teller, der im Flug

sogar die Nase des Froschlakais streifte, der inzwischen im Garten

saß, dann weiter flog und an einem nahegelegenen Baum

zerschellte. Der Froschlakai aber blieb davon ganz unbeeindruckt

Page 28: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

und meinte zu Alice, dass sie nicht anzuklopfen brauche und auch

nicht hineingehen müsse, weil sie bereits drinnen sei.

Alice stutzte. "Drehte sich nun die Welt ganz und gar, wie ein

Karrussell", fragte sie sich. "Nicht genug, dass sie bisher alle

Viertelstunde größer und kleiner geworden war und nicht mehr

genau gewusst hatte, wo oben und unten war. Jetzt sollte sie auch

noch drinnen und draußen, hier und da, vorne und hinten nicht

mehr kennen? Das war ja zum Auswachsen!" Alice ließ den

Froschlakai einfach links liegen und ging geradewegs in das Haus

hinein. "Hatschiiii", nieste sie beim Eintreten laut, anstatt sich

vorzustellen. Jetzt stand sie in einer total mit Feuerqualm

verrauchten Küche, in der eine mürrisch dreinblickende Köchin in

einem großen dampfenden Suppentopf rührend am Herd stand,

auf dem gleichzeitig eine Teekanne tutete und pfiff. Sie pfefferte

die Suppe immer wieder aus einer großen, reich verzierten

Pfefferdose.

Neben dem Herd hockte eine still und breit vor sich hin grinsende

große Katze. Auf einem Hocker mitten im Raum saß die Herzogin

und wiegte ein heulendes und ununterbrochen niesendes Baby im

Arm. Alice beobachtete, wie die Köchin unentwegt die Suppe

pfefferte und dann mit einem Messer eine Tasse durchschnitt, um

aus der halben Tasse Tee zu trinken. Im Nu war die Tasse leer und

sie schenkte sich wieder nach. Auch die Herzogin trank - wie die

Köchin - eine Tasse Tee nach der anderen, während die Tassen und

das Geschirr auf dem Regal schepperten und klirrten. Die Köchin

nahm die Suppe vom Herd und begann plötzlich, Töpfe und allerlei

Geschirr nach der Herzogin zu werfen. Die aber reagierte nicht

einmal, als das Porzellan sie traf und in Scherben zu Boden fiel.

Einer der Teller segelte sogar so nah an dem Baby vorbei, dass es

dessen Nase streifte, aber niemand machte sich etwas daraus,

außer, dass das Wickelkind noch lauter weinte als es sowieso

schon heulte. Alice schaute sich das gesamte Spektakel an und

Page 29: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

überlegte, wie sie eine Persönlichkeit wie die Herzogin wohl

ansprechen sollte.

"Mit Verlaub, warum grinst Ihre Katze so?", fragte sie schließlich

etwas schüchtern. "Weil es eine Grinsekatze ist", antwortete diese,

dabei unaufhörlich das weinende Baby heftig im Arm auf und

abschaukelnd. Dann rief die Herzogin, plötzlich in Eile: "Fast hätte

ich es vergessen, ich muss mich fertig machen für das Krocketspiel

bei der Königin." Flink wandte sie sich Alice zu: "Hier! Du kannst

das Baby auch mal schaukeln. Fang es auf!", dabei warf sie das

Neugeborene Alice bereits durch die Luft entgegen. Alice konnte

das Baby gerade noch rechtzeitig auffangen, da war die Herzogin

auch schon auf und davon. Alice schaute sich das Baby nun aus

der Nähe an. Es war ein merkwürdig unförmiges Geschöpf. Alice

hatte Schwierigkeiten, es im Arm zu behalten, so zappelte die

kleine Kreatur. Ja, und es weinte zwar, aber aus seinen Augen

quollen überhaupt keine Tränen. Außerdem glich sein Aussehen

mehr einem Schweinchen als einem Menschenbaby, ja, es grunzte

sogar.

Page 30: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Alice dachte: "Aber wenn ich es nicht mitnehme, haben sie es hier

binnen weniger Tage umgebracht." Also behielt sie es auf dem

Arm. Wieder grunzte das kleine Ding! War es tatsächlich ein

Schweinebaby? Nun, die Nase glich tatsächlich einer Schnauze und

die Augen waren wirklich auffallend klein. "Wenn du ein Schwein

wirst, dann will ich dich nicht behalten", sage sie zu dem Baby in

ihrem Arm und ging mit ihm an die frische Luft. Sie betrachtete das

Tier im Freien draußen noch genauer und dachte darüber nach,

was sie wohl mit einem Schweinchen anfangen sollte, wenn sie

wieder zuhause war und kam zu dem Schluss, "ja, es ist - so finde

ich - zwar ein gutaussehendes Schweinebaby, aber ich will es nicht

behalten." Also setzte sie es ins Gras und war erleichert, als sie es

über die Wiese davonlaufen sah.

Wie sie noch so über das Ferkel nachdachte, bekam sie einen

Höllenschreck, denn sie bemerkte über sich im Baum plötzlich auf

einem Ast sitzend die schwarze, breit grinsende Katze aus dem

Haus der Herzogin. "Cheese, cheese, cheese… Miez, miez", lockte

Alice sie, denn sie beschloss, die Katze freundlich anzusprechen.

Sie hatte ziemlich lange Krallen und zeigte eine ganze Menge

großer, scharfer gebleckter Zähne. "Kannst du mir sagen, wie ich

von hier aus weitergehen soll?", fragte sie. "Das kommt ganz

darauf an, wohin du gehen möchtest", säuselte die Katze. "Das ist

egal. Ich möchte nur irgendwo ankommen", erwiderte Alice, die

jetzt schon wieder etwas mehr Mut gefasst hatte. "Dann mußt du

nur lange genug gehen, dann wirst du sicher irgendwo

ankommen", entgegnete daraufhin die Grinsekatze. "Welches aber

ist die genau richtige Richtung und wer wohnt dort?", wollte Alice

nun wissen. "In dieser Richtung wohnt ein Hutmacher und in dieser

Richtung ein Märzhase. Es ist egal, zu wem du gehst, alle beide

sind verrückt", war die Antwort der schwarzen Katze. "Aber ich

möchte nicht zu verrückten Personen gehen", sagte Alice. "Das

wird schwer möglich sein, denn wir sind hier alle verrückt. Ich bin

Page 31: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

verrückt, du bist verrückt", sagte die Katze zu Alice, als ob sie

Gedanken lesen könnte. "Woher willst Du wissen, dass ich verrückt

bin?", sagte Alice. "Du musst verrückt sein, sonst wärst Du nicht

hier", antwortete die Katze und gab ein langes, wohliges, aber

doch eher nach einem Hund klingendes "rrrr" von sich. "Sieh mal,

ich wedle mit dem Schwanz, wenn ich verärgert bin und ich knurre,

wenn ich mich wohl fühle", sagte die Katze. "Ich nenne das

schnurren, nicht knurren", verbesserte Alice. "Ach, nenn es, wie du

willst!", antwortete die Katze und fragte Alice dann:

"Spielst Du heute auch Krocket bei der Königin?" "Das würde ich

zwar gerne, aber ich bin leider nicht eingeladen", sagte Alice.

"Dann treffen wir uns dort!", bestimmte die Katze und löste sich in

Luft auf. Während Alice noch antworten wollte und ungläubig auf

die Stelle sah, wo die Katze soeben verschwunden war, erschien

das Katzengesicht plötzlich wieder aufs Neue und fragte:

"Übrigens, was ist aus dem Baby geworden?" Als Alice sagte, es

habe sich in ein Schweinchen verwandelt, verschwand die Katze

wieder und murmelte: "Das habe ich mir gedacht." Alice wartete

noch eine Weile, weil sie dachte, die Katze erschiene noch einmal,

ging aber, als das nicht geschah, ihrer Wege in die Richtung des

Hauses des Märzhasen.

Auf ihrem Weg schaute sie zufällig hinauf in einen Baum und wollte

zuerst ihren Augen nicht trauen: dort saß schon wieder die Katze

auf einem Ast. "Sag mal, hast Du Schwein oder Reim gesagt?",

Page 32: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

fragte die Katze diesmal. "Schwein!", fiel Alice stotternd zu sagen

ein. Ihr müsst wissen, Alice war mittlerweile schon ganz

schwindelig vom ständigen Erscheinen und Verschwinden der

Katze. "Nun gut, diesmal will ich ganz langsam verschwinden",

sagte dann die Katze, die Gedanken lesen konnte, und verschwand

diesmal nach und nach. Zuerst der Schwanz, dann ihr Körper, und

zuletzt blieb der Kopf noch grinsend in der Luft stehen. Dann war

nur noch ihr Grinsen da und schließlich löste sich auch das ganz

langsam in Luft auf. Alice schaute auf die Stelle, wo die

Grinsekatze eben verschwunden war und war stumm vor

Verwunderung. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

Sie wusste zwar, dass sie schon Katzen ohne Grinsen gesehen

hatte, aber noch nie Grinsen ohne Katze. Als Alice über all das

nachdachte, fand sie, dass es die verwunderlichste Sache war, die

sie je gesehen hatte. Derweil war sie weiter gegangen und näherte

sich einem Haus, von dem sie annahm, dass es das

Märzhasenhaus war, denn das Dach war mit Fell bedeckt und der

Schornstein hatte die Form von Hasenohren. Alice biss schnell

noch ein wenig von dem Pilzrest ab, den sie die ganze Zeit in der

linken Hand hielt, um wieder etwas größer zu werden und war nun

etwa 60 cm groß. Sie sah von weitem den Hutmacher, den

Märzhasen sowie eine kugelig eingerollt schlafende Haselmaus an

einem großen Gartentisch unter einem Baum sitzen.

Alices Abenteuer auf der verrückten Nicht-Geburtstagsparty

Sobald der Hutmacher und der junge Märzhase Alice sahen, riefen

sie ihr einstimmig zu: "Kein Platz, alles besetzt!" Alice aber kam

trotz des unfreundlichen Empfangs näher, denn sie sah, dass der

lange Tisch für eine große Gesellschaft gedeckt, aber niemand

außer ihr weit und breit zu sehen war. Also setzte sie sich dennoch

Page 33: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

in einen Lehnstuhl am Kopfende der Tafel. "Möchtest du Wein?",

fragte sie sogleich der übermütige Märzhase. "Aber es gibt doch

gar keinen Wein. Ich sehe nur Tee", erwiderte Alice und fügte

hinzu, es sei sehr unhöflich, dass sie sich nicht setzen sollte, wo

doch so viele unbesetzte Stühle um den Tisch standen.

"Warum ist der Rabe kein Schreibtisch?", gab ihr der Märzhase zur

Antwort. "Aha! Jetzt hatte er ihr also ein Rätsel aufgegeben, anstatt

mit einem erklärenden Satz zu antworten." Das gefiel Alice, obwohl

sie natürlich gleich merkte, dass sie erneut in eine wunderliche

Gesellschaft geraten war. Doch Rätselraten war eine ihrer

Lieblingsbeschäftigungen. "Na, wirst du das Rätsel lösen?", fragte

der Hase. "Aber natürlich!", antwortete Alice rasch. "Dann solltest

du sagen, was du meinst", sagte der Märzhase. "Das werde ich!",

trumpfte Alice auf. "Wenigstens…, wenigstens meine ich, was ich

sage." "Das ist keineswegs dasselbe. Denn dann könntest du

genauso gut sagen: Ich esse, was ich sehe ist das Gleiche wie ich

sehe, was ich esse!", mischte sich der Hutmacher ein. "Ja, oder: Ich

mag was ich bekomme ist dasselbe wie ich bekomme was ich

mag!", setzte der Märzhase hinzu. "Ja, genauso gut könntest du

sagen…", schloss sich nun auch die Haselmaus an, die dabei war,

ihren Winterschlaf zu beenden und deshalb immer wieder

abwechselnd einschlief und aufwachte, "…Ich atme, wenn ich

schlafe ist dasselbe wie ich schlafe wenn ich atme." "Na, bei dir ist

das tatsächlich der Fall!", sagte der verrückte Hutmacher zur

Page 34: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Haselmaus. Er trug einen riesigen Hut, der halb so groß war wie

der ganze Hutmacher selbst, müsst ihr wissen. Nun waren so viele

Vergleiche, die wirklich nicht dasselbe darstellten,

aneinandergereiht, dass im Garten Stille eingekehrt war und jeder

über das Rätsel mit dem Raben und dem Schreibtisch nachdachte.

Dann holte der Hutmacher seine Taschenuhr aus der Hosentasche,

schüttelte sie heftig und fragte: "Welchen Tag haben wir heute?"

"Es ist der Vierte", antwortete Alice. "Ah! Dann geht meine Uhr

zwei Tage nach", schimpfte der Hutmacher und beschwerte sich

beim Märzhasen darüber, dass in seiner Uhr Brotkrümel waren und

der Hase das Uhrwerk also mit schlechter Butter geölt habe. Der

Märzhase nahm die Uhr, tunkte sie ein paar Mal hintereinander in

die Teetasse. "Vielleicht hilft ein kleines Teebad!", sagte er dabei

und schaute dann auf die Uhrzeiger, ob sie nun wieder besser

liefen. "Was für eine lustige Uhr", sagte Alice unterdessen, "die

anstatt der Uhrzeit die Tage anzeigt." "Warum nicht? Zeigt deine

Uhr denn das Kalenderjahr an?", murrte der Hutmacher. "Aber

natürlich nicht!", rief Alice. "Das Jahr dauert doch viel zu lange,

deshalb zeigt die Uhr die Stunden an." "Nun, dann ist deine Uhr ja

wie meine", sagte daraufhin der Hutmacher.

Was der Hutmacher da sagte, erschien Alice nun wirklich

vollkommen verwirrend und sie fragte sich, ob nun sie selbst oder

die Uhr total verrückt geworden war. Des Hutmachers Worte

brachten sie total durcheinander, dennoch waren sie aber in einen

verständlichen Satz gekleidet und auf Deutsch formuliert. Nur was

der Hutmacher sagen wollte, konnte niemand verstehen. "Ich

verstehe dich nicht recht", sagte Alice höflich, währenddessen der

Hutmacher Tee über die Nase der Schlafmaus kippte und sich

daraufhin wieder Alice zuwandte und fragte: "Hast du das Rätsel

mit dem Raben und dem Schreibtisch schon gelöst?" "Na, hast du

die Antwort?", fragte auch der Hase. "Nein", antwortete Alice

erschöpft, "ich gebe zu, ich habe nicht die leiseste Ahnung. Was ist

Page 35: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

also die Lösung?" "Ich habe nicht die geringste Ahnung",

antwortete der Hutmacher. "Ich auch nicht," tönte der Märzhase.

Die Schlafmaus blieb still, denn sie machte gerade wieder ein

Nickerchen. "Nun, ich finde, ihr solltet eure Zeit nicht mit Rätseln

vergeuden, die ihr selbst nicht lösen könnt," sagte Alice jetzt

bestimmt.

"Die Zeit? Weißt du…", seufzte nun der Hutmacher und begann zu

erzählen, dass er sich mit der Zeit im Frühling des vergangenen

Jahres zerstritten habe und es deshalb bei ihm immer fünf Uhr

bliebe. Vor jenem Frühling sei er mit der Zeit gut befreundet

gewesen und habe mit ihr allerlei lustigen Schabernack getrieben.

"Stell dir vor, es wäre acht Uhr morgens und du könntest mit der

Zeit sprechen, so dass es im Nu 13 Uhr mittags und Zeit zum

Mittagessen wäre." "Oh, das wäre wunderbar! Nur hätte ich dann

noch keinen Hunger!", rief Alice fröhlich, denn das war eine sehr

angenehme Vorstellung, selbst bestimmen zu können, ob und

wann sie zur Schule gehen würde. "Du könntest es dann so lange

ein Uhr sein lassen, wie du wolltest", erwiderte der Hutmacher, "bis

du Hunger hast." "So macht ihr es hier, nicht wahr?", erkundigte

sich Alice nach kurzem Nachdenken. "Nein, bei uns ist das anders.

Das habe ich nicht selbst veranlasst", antwortete der Hutmacher

plötzlich wieder ernst und erzählte die Geschichte, wie es dazu

gekommen war, dass die Uhrzeit stehen geblieben war: "Es war auf

dem großen Konzert der Herzkönigin. Da habe ich ein Lied

vorgetragen. Du kennst es sicherlich. Es begann so:

Rabimmel rabammel ra bum bumm bumm

Dann kam die erste Liedstrophe:

Ich geh und schau in die Ferne

Und die Ferne schaut zu mir.

Page 36: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Dort oben leuchten die Sterne,

Hier unten flunkern wir.

Mein Stern heißt Laus,

Auf dem Tablett sitzt die Maus,

Rabimmel rabammel ra bum bumm bumm.

"Ja, es kommt mir bekannt vor," sagte Alice während die

Haselmaus immer weiter "rabimmel, rabammel ra bum bumm

bumm" sang und sich dabei schüttelte. Der Hutmacher kniff die

Haselmaus in ihren schönen weichen Pelz, damit sie endlich

aufhörte und fuhr fort: "Aber die Königin sprang auf, unterbrach

meinen Gesang und brüllte völlig außer sich: 'Das Versmaß stimmt

nicht und das Wortspiel ist nicht richtig! Du hast den Takt und die

ganze Zeit kaputt gemacht!' Dann befahl sie ihren Soldaten: 'Köpft

ihn. Er hat die Zeit tot geschlagen.' Nun, seit jenem Tag ist die Uhr

stehen geblieben. Sie geht nicht mehr weiter und es bleibt immer

fünf Uhr. Bei uns ist es deshalb immer Teatime und wir haben nie

Zeit, das Geschirr abzuwaschen", seufzte der Hutmacher und

schaute dabei auf seine Uhr.

"Es ist fünf Uhr, wir wollen alle einen Platz weiterrücken", sagte er

dann in die Runde und rutschte einen Stuhl weiter. Die Haselmaus

folgte ihm, indem sie behende auf den nächsten Stuhl hüpfte, und

Page 37: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

der Märzhase rückte auf den Platz der Haselmaus vor. Alice nahm

dann den Platz des Märzhasen ein, goss sich selbst etwas Tee in

die Tasse und nahm sich eine Butterbrotschnitte.

Dann lauschte sie einer neuen Geschichte, die die Haselmaus zu

erzählen begonnen hatte. Sie handelte von drei kleinen

Schwestern, die auf dem Rand eines Sirupglases wohnten. "So

etwas gibt es nicht!", protestierte Alice. Aber der Hutmacher und

der Märzhase legten den Finger auf den Mund und machten "Pst!"

So fuhr die Haselmaus fort: "Die drei Schwestern lernten mit

Himbeersirup zu malen. Sie malten alle Dinge, die mit M begannen,

zum Beispiel den Mond, Mausefallen, Malen. Hast du schon einmal

gesehen wie jemand das Malen malt?", fragte sie Alice. "Jetzt, wo

du mich fragst", sagte Alice und versuchte sich zu erinnern. "Dann

sei still, wenn du es nicht weißt!", unterbrach sie der Hutmacher.

Das war zuviel! Alice wollte die Unfreundlichkeit des Hutmachers

jetzt wirklich nicht mehr weiter hinnehmen und nicht mehr hier

bleiben, sie stand also auf und ging davon. Die Haselmaus fiel

sofort wieder in tiefen Schlaf und als sich Alice beim Weggehen

noch einmal umdrehte, sah sie, wie der Märzhase und der

Hutmacher die schlafende eingekugelte Haselmaus in die

Teekanne stopften.

Sie sagte zu sich, während sie wieder durch den Wald ging: "Nie

wieder komme ich hierher zurück. Das war die verrückteste

Teeparty meines Lebens."

Aber sie wollte sich die Geschichte merken, denn man könnte die

Geschichte von der Zeit ja auf Geburtstage anwenden und also die

Uhr am Geburtstag anhalten, um dann 164 Tage im Jahr Geburstag

zu feiern. "Das Fest würde dann Nicht-Geburtstag heißen!"

Ganz in diesen - wie sie fand - sehr angenehmen Gedanken

versunken war sie wieder in den Wald gelaufen, wo sie an einem

Page 38: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Baum vorbei kam, der ein Türschild trug. "Ich will mal

nachschauen, was sich hinter dieser Tür verbirgt!", dachte sie

neugierig und ohne lange zu überlegen trat sie ein. Da stand sie

plötzlich wieder in der großen Halle mit dem Glastischchen, die sie

bereits kannte. "Ah!", diesmal, beschloss sie, wollte sie aber alles

in der richtigen Reihenfolge machen. Sie nahm also zuerst den

goldenen Schlüssel vom Tisch, schloss damit die kleine Tür hinter

dem roten Vorhang auf, holte dann ein Pilzstückchen aus ihrer

rechten Kleidertasche, biss davon ab und wurde kleiner, so klein,

dass sie mühelos durch die kleine Öffnung schlüpfen und durch

den Gang hinter der Tür kriechen konnte, der sie endlich in den

schönen Garten führte.

Alice beim königlichen Krocketspiel

Gleich hinter dem Gartentor traf sie auf drei Gärtner, die aussahen

wie Figuren aus einem Kartenspiel, nur mit Köpfen und Beinen

daran. Der Eine hatte sieben, der Andere fünf und der Dritte zwei

Zeichen auf dem Kartenkörper.

Page 39: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Alle drei waren gerade damit beschäftigt, ein weißes

Rosenbäumchen mit roter Farbe anzustreichen. Alice wunderte

sich über ihr Tun und fragte, warum sie das denn machten. Da

erzählte ihr Nummer zwei, dass sie aus Versehen ein weißes

Bäumchen gepflanzt hätten. "Sie müssen wissen, die Königin wird

uns köpfen, wenn sie das sieht. Deshalb malen wir die weißen

Rosen rot an." Kaum hatte er aber das Wort Königin

ausgesprochen, da ertönten aus der Ferne heller Fanfarenklang,

mächtig donnernde Schritte und heftige Paukenschläge. Die

Kartenfiguren räumten schnell alle Pinsel weg, dabei Nummer fünf

aufgeregt rief: "Die Königin, die Königin. Sie kommt!"

Alice schaute um sich, woher die näherkommenden Schritte,

Paukenschläge und Schellenklänge kamen, da sah sie eine ganze

Parade aus Spielkarten näher kommen: Herz, Karo, Pik und

Kreuzfiguren, ein ganzer Aufmarsch nach Farben und

Kartenzeichen aufgestellter Kartenfiguren, mit gedrechselten

Stäben und Keulen in der Hand, kam dahermarschiert. Alice wollte

sich wieder zu den Spielkartengärtnern umdrehen, doch die sah sie

Page 40: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

jetzt ganz flach unten auf der Erde liegen. Schon waren auch die

ersten Soldaten der königlichen Eskorte nah herbeigekommen.

Hinter ihnen folgte eine lange Prozession, allen voran kamen in

Zweierreihen zehn Keulenfiguren, über und über mit Diamanten

verziert. Danach hüpften, ebenfalls in Zweierreihen, die

königlichen Reiter und Reiterinnen heran, auch diese überall mit

Herzen dekoriert. Danach folgte eine Gästeschar aus Königinnen

und Königen, darunter entdeckte Alice das Weiße Kaninchen und

beobachtete, wie es liebenswürdig lächelnd mit dem übrigen

Hofstaat Konversation pflegte und sich nach hier- und dorthin

verneigte.

Nun kam der Herzbube, er trug die Königskrone auf einem

karminrot samtenen Kissen vor sich her, und als krönender

Abchluss der festlichen Prozession marschierten der Herzkönig und

ihre Majestät, die Herzkönigin, durch das Kartenfiguren-Spalier, das

der inzwischen zum Stand gekommene Zug gebildet hatte.

Alle Augen richeten sich aber nun auf Alice, denn die Königin fragte

streng: "Wer ist das?", und zu Alice gewandt: "Wie heißt du, mein

Kind?" "Mit Verlaub, ich heiße Alice, Eure Majestät!", antwortete

Alice in aller Höflichkeit und fuhr für sich selbst in Gedanken fort:

"Na ja, das sind ja nur ein paar Spielkarten. Vor denen habe ich

doch keine Angst!" "Und wer sind die da?", fragte die Königin

weiter, indem sie auf die drei am Boden liegenden

Spielkartengärtner zeigte. "Woher soll ich das denn wissen",

antwortete Alice und war selbst überrascht über ihre mutige

Entgegnung. Wütend wie eine Furie starrte die Königin Alice jetzt

an und schrie: "Weg mit ihrem Kopf, weg!" "Totaler Quatsch!",

setzte Alice ihr jedoch laut und deutlich entgegen. Augenblicklich

verstummte die Königin.

Absolute Ruhe war eingekehrt. Vorsichtig legte der König seine

Hand auf den Arm der Königin und sagte leise besänftigend zu ihr:

Page 41: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

"Meine Liebe, lass sie. Sie ist ja noch ein Kind." Da wandte sich die

Königin den Spielkartengärtnern zu während sie den Herzbuben

anwies, diese umzudrehen. "Steht auf!", schrie sie schrill, während

sie bereits den Rosenbaum untersuchte. "Was habt ihr hier

angestellt?" "Wir wollten", begann Nummer zwei, aber schon fuhr

die Königin wütend fort: "Ja, das sehe ich, weg mit ihren Köpfen!"

Schon setzte sich der ganze Königszug wieder in Bewegung. Alice

hatte aber - als sich der Menschenzug wieder zu ordnen begann -

den Augenblick des Durcheinanders genutzt, um die Gärtnerkarten

schnell in einen der Blumenkästen zu stecken.

"Ihr sollt nicht geköpft werden", sagte sie und sah aus dem

Augenwinkel, wie ein paar Soldaten noch nach den drei

verschwundenen Gärtnern umhersuchten, sich dann aber schnell

der königlichen Parade anschlossen und auf die Frage der Königin,

ob sie ihren Auftrag ausgeführt hätten, sagten: "Ja, die Köpfe sind

ab, Eure Hohheit." Da gellte schon wieder die Stimme der Königin

durch die Luft: "Kannst du Krocket spielen?" Das galt diesmal wohl

Alice, denn alle Soldaten und der ganze Hofstaat schauten stumm

auf sie. "Ja", schrie Alice zurück. "Dann komm mit!", brüllte die

Königin, woraufhin Alice sich auch in die Prozession einreihte und

gespannt war, was als nächstes passieren würde.

"Was für ein schöner Tag!", meldete sich da ein feines Stimmchen

gleich neben Alice und sie sah, dass jetzt zum ersten Mal das

Weiße Kaninchen neben ihr ging und freundlich mit ihr sprach.

"Tatsächlich, ein schöner Tag", erwiderte Alice höflich, "sagen Sie,

wo ist eigentlich die Herzogin?" "Leise!", raunte das Kaninchen nun

aufgeregt und flüsterte Alice ins Ohr: "Sie steht unter Todesstrafe!"

"Aber warum bloß?", fragte Alice entsetzt. "Sieh nur, sie hat die

Königin geohrfeigt…", begann das Kaninchen. Alice lachte laut

heraus. "Sei doch leise!", bat das Kaninchen jetzt flehentlich, "die

Königin hört dich doch! Sieh nur, es war so: die Herzogin kam zu

spät, da sagte die Königin…"

Page 42: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

"Auf die Plätze!", donnerte da die Stimme der Königin dazwischen,

und alle rannten durcheinander, suchten ihre Plätze, purzelten

übereinander her und saßen, erst als eine ganze Weile vergangen

war, schließlich alle auf ihren Plätzen. Alice hatte noch nie in ihrem

Leben eine solche Krocketspielfläche gesehen! Anstatt einer

ebenen Fläche war der Boden hügelig, so dass sich die Bälle auf

eine wahre Berg- und Talfahrt gefasst machen mussten. Alice

bemerkte auch bald, dass die Königin für das Krocketspiel alles so

arrangiert hatte, dass nur sie allein gewinnen konnte. Traf sie mit

ihrem Schläger nämlich einen Ball nicht, so rannten die Tierchen,

die die Bälle spielten, dahin, wo ihr Schläger war, und wenn die

Bälle nicht gezielt waren, dann liefen die Spielkarten, die die Tore

darstellten und sich dafür zu einem Bogen formten, dahin, woher

der Ball gerollt kam, damit er unter ihrem gebogenen Körper

hindurch rollte.

Die Schläger waren wie all die anderen Spielelemente ebenfalls

lebendig. Es waren lebende Flamingos! Alice, die an diese Art des

Spiels natürlich nicht gewöhnt war, musste lachen, wenn sie in die

Page 43: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

erstaunten Augen des Flamingos sah, als sie gerade zum Schlag

ausholen wollte und beobachtete, wie sich ihr Flamingo-Schläger

dann einrollte, so dass Alice die lebenden Igelbälle gar nicht treffen

konnte. Auch gab es keinerlei Spielregeln. Deshalb wartete keiner

der Spieler darauf, dass er an die Reihe kam, und die Spielkarten-

Tore und Igel-Bälle versuchten zwar alle sich so zu bewegen, dass

die Königin gewann, aber auch das wollte nicht recht gelingen.

Darüber geriet die Herzkönigin in fürchterliche Rage und rief mal

hier-, mal dorthin: "Kopf ab!", "Weg mit ihrem Schädel!", dabei

stampfte und tobte sie gewaltig. Alice wollte dieses Spektakel

keinesfalls gefallen, deshalb überlegte sie, wie sie das Spiel

beenden und hier herauskommen konnte. Bald spürte sie über sich

in der Luft eine seltsame Bewegung. Sie schaute deshalb

aufmerksam in die Höhe, wo sie freudig verwundert eine

Erscheinung wahrnahm, die im Laufe von etwa ein oder zwei

Minuten nach und nach Gestalt annahm und ihr irgendwoher

bereits bekannt vorkam.

"Das ist ja die Grinsekatze!", freute sich Alice, endlich bald eine

Komplizin in ihrer Nähe zu haben. "Jetzt habe ich endlich

jemanden, mit dem ich sprechen kann." "Kommst Du voran?",

fragte die Katze, sobald ihr Mund so weit erschienen war, dass sie

damit sprechen konnte. Alice wartete mit ihrer Antwort ungeduldig,

bis auch die Augen der Katze zum Vorschein gekommen waren und

nickte dann. "Aber es macht noch keinen Sinn, zu sprechen", sagte

sie sich, "bevor die Ohren oder wenigstens eines von beiden

aufgetaucht war." Dann aber war endlich der gesamte Katzenkopf

hervorgetreten und Alice erzählte ihr, dass ihr das Krocketspiel

nicht gefiel, weil es hier keinerlei Spielregeln gab. "Gefällt dir die

Königin", wollte die Katze jetzt mit leiser Stimme wissen. "Ganz

und gar nicht, sie ist so…", da wurde Alice vom König

unterbrochen, der zu ihr gekommen war, den Katzenkopf neugierig

Page 44: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

ansah und fragte: "Mit wem sprichst Du?" "Das ist meine Freundin -

eine Grinsekatze. Mit Verlaub, darf ich vorstellen."

"Mir gefällt es keineswegs, sie anzuschauen", antwortete der König

spitz, doch dann wandte er sich der Katze trotzdem zu: "Nun gut,

ihr dürft meine Hand küssen, wenn es euch beliebt." "Lieber nicht",

bemerkte die Katze wählerisch. "Sei nicht so unverschämt und

respektiere gefälligst die Standesregeln!", rief der König entrüstet

aus. "Standesregeln?", mischte sich jetzt Alice in die Konversation

ein, "darüber habe ich zwar einmal in Büchern gelesen, aber ich

erinnere mich nicht mehr, wo das war." "Sie muss beseitigt

werden!", befahl jetzt der König deutlich verärgert und rief der in

diesem Moment vorbeigehenden Königin zu: "Meine Liebe, bist du

so liebenswürdig und beseitigst diese Katze?" "Weg mit ihrem

Kopf!", schallte sogleich die Antwort der Königin herüber, die nicht

einmal hergeschaut hatte. "Den Scharfrichter wähle ich persönlich

aus", fügte der König eifrig hinzu und lief davon.

Alice meinte, nun ebenfalls wieder aufs Spielfeld gehen zu müssen,

doch dann sah sie, wie dort alle Spieler kreuz und quer

umherliefen, die Spielkarten durcheinandergebogen waren sowie

zwei Igel heftig miteinander kämpften und ihr Flamingo gerade im

hinteren Teil des Spielfeldes Anstalten machte, davonzulaufen.

Dafür übte er sich soeben in Flugversuchen, um sich auf einen der

Bäume zu flüchten. Alice fing ihren Flamingo schnell ein und

behielt ihn von nun an unter dem Arm, damit er ihr nicht wieder

davonlaufen konnte. Als sie zur Grinsekatze zurückkehrte staunte

sie nicht schlecht, denn um diese herum war mittlerweile eine

große Versammlung entstanden. Der größte Teil der Versammelten

war still und schaute betreten. Dagegen waren der König, die

Königin und der Scharfrichter in einen heftigen Streit verwickelt.

Sie stritten darüber, ob ein Katzenkopf geköpft werden könne, der

unabhängig von einem Katzenkörper exisitierte. Alice forderte die

Page 45: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

drei auf, ihre Argumente doch statt gleichzeitig und durcheinander

besser hintereinander und klar zu formulieren. "Außerdem gehört

die Katze der Herzogin. Sie sollten also besser sie fragen, was mit

ihr geschehen soll", setzte sie außerdem noch hinzu. "Sie sitzt im

Gefängnis, hol sie her!", befahl die Königin daraufhin dem

Scharfrichter, der sogleich wie ein Pfeil davonschoss. Schlau

begann der Katzenkopf in diesem Moment langsam zu

verschwinden, so dass er bei der Rückkehr des Henkers mit der

Herzogin bereits gänzlich verschwunden war. Wild rannten da jetzt

der König und der Scharfrichter auf der Suche nach der Katze das

Spielfeld auf und ab. Alle anderen aber wandten sich einstweilen

wieder dem Krocketspiel zu.

Die Geschichte von der Falschen Suppenschildkröte

"Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich

wiederzusehen", sagte die Herzogin zu Alice. Sie war jetzt sehr

freundlich zu Alice und auch nicht mehr so zornig wie sie zuvor, bei

sich zuhause, mit der Köchin und dem kleinen Ferkel gewesen war.

Die Herzogin hakte sich bei Alice ein und ging ganz nah an ihrer

Seite, so nah, dass sie ihr Kinn auf Alices Schulter ablegen konnte.

Page 46: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Alice gefiel das nicht besonders, weil sie die Herzogin hässlich und

ihr Kinn unangenehm scharfkantig fand, und weil sie außerdem auf

dem anderen Arm auch noch den Flamingo trug, der ihr ja zuvor

als Krocketschläger gedient hatte. Doch die Herzogin erzählte

einfach weiter.

Allerdings wurde ihre Stimme nach und nach immer leiser und

Alice erkannte, dass es wohl wegen der Königin sein musste, die

plötzlich wie aus dem Nichts kommend vor Ihnen stand. "Einen

wunderschönen guten Tag, gnädige Königin", sagte die Herzogin

mit leisem, zitternden Stimmchen. "Ich warne dich!", kreischte die

Königin und stampfte dabei mit dem Fuß auf den Boden, "such es

dir aus: entweder verschwindest du auf der Stelle oder dein Kopf

wird verschwinden!", da war die Herzogin ohne auch noch ein

Fünkchen Zeit zu verschwenden oder auch noch den geringsten

Laut von sich zu geben im Nu auf und davon.

Dann wandte sich die Königin Alice zu und sagte: "Hast du schon

die Falsche Suppenschildkröte gesehen?" "Nein, ich weiß nicht

einmal, was eine Falsche Suppenschildkröte ist", antwortete Alice.

"Nun, dann komm, sie soll dir ihre Geschichte erzählen",

Page 47: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

bestimmte die Königin. Also verließen Alice und sie das Krocketfeld

und kamen bald zu einem riesigen Vogel Greif, der schlafend in der

Sonne lag. "Steh auf, Faulpelz!", befahl die Königin "…und bringe

diese junge Dame zu der Falschen Suppenschildkröte, damit sie ihr

ihre Geschichte erzählt. Ich muss einige Hinrichtungen

beaufsichtigen, die ich beim Krocketspielen angeordnet habe."

Die Königin ging daraufhin wieder davon und ließ Alice mit dem

Greif allein. Zuerst war Alice etwas unsicher, was denn nun besser

war, hier allein bei dem Greif oder in Gesellschaft der wilden

Königin zu sein. Sie entschied abzuwarten. Der Greif reckte und

streckte sich, dabei kicherte er leise, und als Alice ihn fragte,

warum er denn kicherte, erklärte er ihr, dass in diesem Königreich

niemals jemand geköpft würde und sich die Königin das nur

einbildete. Und tatsächlich erinnerte sich Alice, dass sie beim

Weggehen vom Krocketfeld die leise Stimme des Königs

vernommen hatte, der die Soldaten anwies, alle Strafen zu

erlassen. "Komm mit!", sagte der Greif und Alice ging mit ihm ein

kleines Stück, bis sie zu einem Felsvorsprung kamen auf dem ganz

alleine und herzzerreissend schluchzend eine etwas merkwürdig

aussehende Schildkröte saß.

Sie hatte zwar einen Schildkrötenpanzer, aber auf dem

Schildkrötenkörper saß eine Art Schweinsgesicht. Auch hatte sie

Armflossen wie eine Schildkröte, aber Schweinehaxen anstatt

Fußflossen. "Hier ist ein junges Mädchen, das deine Geschichte

hören möchte", sagte der Greif zu der Falschen Suppenschildkröte.

"Gut, ich werde sie ihr erzählen", seufzte diese tief. "Aber setzt

euch und sagt kein Wort bis ich zu Ende erzählt habe, ja!?" Der

Greif und Alice setzten sich neben sie auf den Felsvorsprung und

warteten. Nach einigen Minuten Schweigen begann sie schließlich:

"Es war einmal vor langer Zeit, da war ich echt. Ja, ich war eine

echte Schildkröte.

Page 48: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Als wir klein waren, gingen wir im Meer zur Schule. Unser Lehrer

war eine uralte Schildkröte mit einem schweren Panzer, wir sagten

immer Sprechpanzer zu ihm. Wir erhielten bei ihm den allerbesten

Unterricht. Wir gingen sogar jeden Tag zur Schule!" "Darauf

brauchst du dir aber nichts einzubilden, das machen wir auch",

sagte Alice. "Auch mit Extraunterricht in Waschen?", fragte die

Falsche Suppenschildkröte neugierig. "Das ist doch nichts

Besonderes", wandte Alice ein, "wir haben auch Extraunterricht,

nämlich in Französisch und Musik. Und Waschen hat dir sicherlich

nicht besonders gefallen, denn du warst ja schon im Meer." "Doch,

das hätte mir gefallen.

Aber leider durfte ich diesen Unterricht nicht besuchen",

antwortete die Falsche Suppenschildkröte, "weil ich mir das nicht

leisten konnte. Ich durfte nur zu den Pflichtfächern." "Welche

Fächer waren das?", fragte Alice. "Zu Anfang natürlich Lösen und

Schreiten und dann die verschiedenen Methoden der Arithmetik,

Add-Tieren, Suppen-Tieren, Multi-Plissieren und Divi-Tieren." "Von

Divi-Tieren habe ich noch nie etwas gehört", wagte Alice die

Erzählung zu unterbrechen. "Was?", rief da der Greif entrüstet aus

und schlug beide Vordertatzen über seinem Kopf zusammen. "Du

hast noch nie etwas von Divi-Tieren gehört? Ich nehme aber an, du

weißt doch bestimmt, was Harmo-Tieren ist!", sagte der Greif

entrüstet. "Ja", antwortete Alice zögernd. "Das ist doch, wenn man

alles aufeinander abstimmt und schöner gestaltet." "Na also! Wenn

du also noch nichts von Divi-Tieren gehört hast, bist du ein

ziemlicher Einfaltspinsel!", fuhr der Greif fort. Alice beschloss, jetzt

dem Greif nicht weiter zu folgen und erst einmal ruhig die Falsche

Suppenschildkröte weiter anzuhören. Deshalb fragte sie diese:

"Welche Fächer hattet ihr denn sonst noch?" Diese zählte jetzt mit

ihren Flossen alle weiteren Fächer auf: "Gerichte, alte und neue

Gerichte, dann Erdbeerkunde, Meerography, und einmal die Woche

hatten wir Unterricht im Malersaal - der Lehrer war ein Zitteraal -:

Page 49: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Er unterrichtete Teich-nen, Aalen und Dehnen in Öl." "Was habt ihr

da gemacht?", fragte Alice. "Das kann ich dir nicht zeigen, weil ich

zu steif bin, und der Greif hat das nicht gelernt", sagte die Falsche

Suppenschildkröte. "Ich hatte keine Zeit. Ich war bei dem alten

Meister, einer alten Krabbe. Der unterrichtete Latein und

Griechisch", sagte der Greif.

"Und wieviele Stunden Unterricht hattet ihr pro Tag?", fragte Alice.

"Zehn Stunden am ersten Tag", zählte die Falsche

Suppenschildkröte auf, "dann wurden es von Tag zu Tag weniger:

neun am zweiten und so weiter." "Deshalb nennt man es auch

Unter-richt, weil die Stunden immer unter dem Richtwert des

Vortags lagen", erklärte der Greif jetzt noch genauer. "Das ist ja

eine interessante Planung", erwiderte Alice, "dann hattet ihr ja am

elften Tag schon frei! Und was habt ihr dann am zwölften Tag

gemacht?" "Genug über Schule und Unterricht geredet",

unterbrach der Greif die Unterhaltung. Stattdessen solle die

Falsche Suppenschildkröte Alice lieber noch andere Dinge aus

ihrem Schulalltag erzählen: "Jetzt erzähl ihr etwas über unsere

Spiele!"

Vogel Greif und die Falsche Suppenschildkröte erzählen vom Hummertanz

Die Schildkröte hielt ihre Flosse über die Augen, schaute Alice

seufzend an und sagte: "Du kennst Dich sicherlich nicht im Meer

aus und weißt daher auch nicht über das Leben der Hummer

Bescheid. Deshalb kannst Du auch nicht wissen, wie wunderschön

ein Hummertanz ist." "Nein, tatsächlich kenne ich mich nicht damit

aus. Was ist das für ein Tanz?", wollte Alice wissen.

Page 50: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Der Greif, der gerade sein Gefieder geputzt hatte, begann jetzt

geschäftig zu erzählen: "Zuerst stellen sich alle Tänzer in einer

Reihe entlang einer Sandbank auf." "In zwei Reihen!", unterbrach

ihn die Schildkröte und fuhr fort: "Seehunde, Schildkröten, Lachse

und so weiter. Wenn dann alle Quallen aus dem Weg geräumt sind,

gehen die Tänzer zwei Schritte vor. Jeder hat einen Hummer als

Tanzpartner. Also, zwei Schritte vor, dann den Hummer-

Tanzpartner wechseln, und in gleicher Weise zurück. Dann, weißt

du, dann wirfst du…" "Den Hummer!", rief der Greif dazwischen.

"Ja, den Hummer", fuhr die Schildkröte fort, "…mit Schwung aus

dem Meer in die Luft, so hoch du nur kannst, du schwimmst dann

im Meer hinterher, machst einen Purzelbaum unter Wasser, fängst

anschließend den Hummer wieder auf und schwimmst mit ihm an

Land. Das ist die erste Tanzformation des Hummertanzes."

Bei der Beschreibung waren die Falsche Suppenschildkröte und der

Greif wild herumgesprungen. Jetzt hatten sie sich beide wieder

hingesetzt und schauten Alice erwartungsvoll an. "Möchtest du den

Page 51: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Tanz lernen?", fragte die Falsche Suppenschlidkröte. "Ja, sehr

gerne!", sagte Alice. "Dann lass uns die erste Figur jetzt genau

vormachen", forderte die Falsche Suppenschildkröte den Greif auf.

"Wir können sie ohne Hummer machen, nicht wahr? Und wer soll

singen?" "Sing du, ich habe den Text vergessen!", antwortete der

Greif. Dann machten beide Tiere den Tanz vor und tanzten um

Alice herum, und die Falsche Suppenschildkröte sang getragen und

mit tiefer Stimme:

"Kannst du ein wenig schneller schwimmen?",

fragt der Schellfisch schnell die Schneck,

"Kommt ein Tümmler, gleich dahinten, fängt meinen Schwanz, das

ist sein Zweck! 

Schau! Die Schildkröten und Hummer flugs vorausgegleitet sind,

Warten schon am Kieselufer - tanzt du mit mir wie der Wind?

Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der

Wind?

Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der

Wind?

Stell dir vor, mal dir das aus, wie entzückend es wird sein,

Wenn sie in die Luft uns werfen in das weite Meer hinein!"

Doch die Schnecke sagt: "Zu weit!", schaut den Schellfisch

skeptisch an,

"Danke gnädigst, nett gemeint, will nicht tanzen nach diesem

Plan."

Möcht nicht, kann nicht, möcht nicht, kann nicht, möcht nicht

tanzen nach diesem Plan.

Möcht nicht, kann nicht, möcht nicht, kann nicht, möcht nicht

tanzen nach diesem Plan."

"Was macht's schon aus wie weit wir fliegen?" antwortet ihr

shupp'ger Freund,

"Ist doch noch ein anderes Ufer auf der and'ren Seit.

Je weiter weg wir sind von hier, desto näher sind wir dort.

Page 52: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Drum mach nicht schlapp, geliebte Schneck, und tanze mit mir

fort!

Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der

Wind?

Willst du, magst du, willst du, magst du, willst du tanzen wie der

Wind?"

Schließlich waren beide ganz außer Atem, setzten sich wieder hin

und forderten Alice auf, auch von ihren Erlebnissen und

Abenteuern zu erzählen.

"Komm, jetzt erzähle du uns von deinen Abenteuern!", sagte der

Greif und Alice begann also damit, ihre Geschichte zu erzählen.

Doch sie musste zuerst sagen, sie könne nur die Geschichten von

heute erzählen und nicht die von gestern oder von davor, denn sie

sei ja seit dem heutigen Tag eine andere Person. "Was meinst Du

mit anderer Person? Erkläre uns das!", wollte die Schildkröte

wissen. "Nein, zuerst die Abenteuer!", rief der Greif. Alice begann

also von Anfang an alle Abenteuer zu erzählen, die sie erlebt hatte,

seit sie dem Weißen Kaninchen begegnet war, und als sie bei der

Geschichte mit der Raupe angekommen war, erzählte sie, dass ihr

die Worte beim Gedichtaufsagen alle falsch aus dem Mund

gekommen waren. Da unterbrach die Schildkröte ihre Erzählung

mit einem tiefen Atemzug. "Das ist interessant. Ich würde gerne

hören, wie sie etwas aufsagt. Sag ihr, sie soll etwas vortragen!",

sagte sie zu dem Greif.

"Steh auf und sag >Hier spricht die Schnecke< auf!", forderte der

Greif also Alice auf. "Wie einen hier die Tiere herumkommandieren

und Gedichte aufsagen lassen!", dachte Alice wieder einmal, "ich

komme mir vor wie in der Schule!" Doch sie stand trotzdem auf

und begann mit dem Gedichtvortrag. Ihr Kopf war voll mit dem

zuvor gehörten Hummertanzlied, so dass sie sich kaum

konzentrieren konnte und die Wörter wieder völlig verquer aus

ihrem Mund sprudelten:

Page 53: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

"Hier spricht der Hummer", hört' ich ihn sagen,

"Muss zuckern mein Haar. Du hast mich zu braun gebraten!"

Und wie eine Ente ihr Gefieder, putzt er mit der Nase

Sich Gürtel und Knöpfe und stellt die Schwanzzeh ins Grase.

"Kannst Du mir das erklären?", fragte die Falsche

Suppenschildkröte. "Nein, sie kann das nicht erklären!", antwortete

der Greif und wandte sich dann Alice zu: "Fahr fort mit der

nächsten Strophe! Sie beginnt mit >Ich ging durch seinen Garten

Alice fuhr also fort:

Ich ging durch seinen Garten, will gerade verweilen,

Da seh ich wie sich Eule und Panther einen Kuchen teilen.

Alice brach ihren Vortrag gleich wieder ab, seufzte tief und nach

einigen Sekunden Stille fragte der Greif: "Sollen wir dir noch die

zweite Figur vom Hummertanz zeigen, oder willst du lieber, dass

die Schildkröte dir ein Lied vorsingt?" "Oh ja, ein Lied! Bitte, wenn

die Schildkröte so freundlich wäre!", sagte Alice so eifrig, dass der

Greif in beleidigtem Ton antwortete: "Nun ja, gegen Geschmack ist

kein Kraut gewachsen", und er forderte die Schildkröte auf, sie

solle das Lied von der Schildkrötensuppe singen. Während die

Schildkröte ihr trauriges Lied sang, tönte eine laute Stimme zu

ihnen: "Der Gerichtsprozess beginnt!"

"Komm, wir gehen!", sagte der Greif jetzt eilig zu Alice und zog sie

an der Hand mit sich fort, ohne noch das Ende des Liedvortrags der

Schildkröte abzuwarten. "Was ist das für ein Gerichtsprozess?",

fragte Alice atemlos. "Los, komm!", antwortete der Greif kurz

angebunden und rannte noch schneller mit ihr fort, während der

Wind ihnen die traurigen Liedverse der Schildkröte hinterher

wehte.

Alices Abenteuer im königlichen Gerichtssaal oder ist Herzbube der Kuchendieb?

Page 54: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Als Alice und der Greif ankamen, saßen der König und die Königin

bereits auf ihrem Thron und im Gerichtssaal war eine große

Menschenmenge versammelt. Alle waren anwesend: verschiedene

Vogel- und Kleintierarten, darunter einige Meerschweinchen, sowie

das gesamte Kartenspiel. Direkt vor dem Richterstuhl und dem

Königspaar stand der in Ketten gelegte Herzbube, rechts und links

von ihm zwei Wachsoldaten. Auch das Weiße Kaninchen war da,

mit einer Trompete in der einen und einer Pergamentrolle in der

anderen Hand.

In der Mitte des Saales, direkt vor dem Richterstuhl, war ein langer

Tisch aufgebaut, auf dem ein Tablett mit kleinen Kuchen stand.

Das Gebäck sah so appetitlich aus, dass Alice hoffte, der Prozess

wäre schnell zu Ende und es würden bald die Erfrischungen

gereicht.

Aber das würde noch eine Weile dauern, also verbrachte sie ihre

Zeit damit, sich umzuschauen.

"Das ist bestimmt der Richter, ich erkenne ihn an seiner langen

weißen Richterperücke", sagte sie bei sich. Der Richter war im

Page 55: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Übrigen der König selbst, der sich auf die Perücke noch seine Krone

gesetzt hatte und damit ziemlich unbequem aussah. "Aha!, hier

auf der langen Bank an der Seite saßen also die Geschworenen",

stellte Alice weiter fest. Es waren alles kleine Tiere und

verschiedene Vogelarten. Alice wunderte sich, was die zwölf

Geschworenen schon schrieben, bevor der Prozess überhaupt

begonnen hatte. Deshalb fragte sie flüsternd den Greif: "Was tun

sie denn?" "Sie schreiben sich ihre Namen auf, weil sie Angst

haben, dass sie die bis zum Ende des Prozesses wieder vergessen

haben", antwortete der Greif leise. "Blödsinn", platzte da Alice

ganz laut heraus. Doch sie war sofort wieder still, denn schon

hatten sich alle nach ihr umgedreht, um zu sehen, wer es gewagt

hatte, im Gerichtssaal ohne Aufforderung zu sprechen, und das

Weiße Kaninchen rief streng: "Ruhe im Gerichtssaal!" "Verlies die

Anklage!", forderte der König jetzt das Weiße Kaninchen auf. Das

blies zuerst drei Mal in die Trompete und rollte anschließend

gewichtig die Pergamentrolle auf:

"Herzkönigin buk Törtchen

An einem Sommertag, 

Herzbube stahl sie alle,

Weil er sie so sehr mag!"

"Jetzt fällt das Urteil!", sagte der König zu den Geschworenen.

"Nein! Noch nicht, noch nicht! Zuerst kommen noch andere Dinge",

erinnerte ihn das Weiße Kaninchen. "Gut, ruf den ersten Zeugen!",

forderte ihn also der König stattdessen auf, und das Weiße

Kaninchen blies wieder drei Trompetenstöße. Danach rief es: "Der

erste Zeuge in den Zeugenstand!" Der erste Zeuge war der

Hutmacher.

Er kam mit seinem riesengroßen Zylinderhut auf dem Kopf, einer

Tasse Tee in der einen Hand und einem Butterbrot in der anderen

in den Gerichtssaal gestürzt. Hinter ihm folgten Arm in Arm die

zierliche Schlafmaus und der Märzhase. Die Schlafmaus hatte eine

Page 56: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

ganz spitze Schnauze und große Augen und Ohren. Der Hutmacher

erklärte seinen sonderbaren Auftritt damit, dass er noch beim

Teetrinken gewesen war, als er gerufen wurde. "Mach deine

Aussage!", forderte ihn der König kurz angebunden auf. "Und sei

nicht so nervös oder ich lasse dich auf der Stelle hinrichten!"

Tatsächlich konnte der Hutmacher vor Aufregung nicht still stehen,

zappelte von einem Bein auf das andere, ja biss sogar in seine

Teetasse anstatt in sein Butterbrot und linste stets zur Königin

hinüber. Noch schlimmer aber wurde seine Aufregung, als ihn die

Königin, nun aufmerksam geworden, genauer ins Visier nahm. Da

wurde er sogar blass vor Angst und begann, am ganzen Leib zu

zittern.

Alice schaute diesem eigenartigen Auftritt interessiert zu, dabei

hatte sie selbst zunehmend ein sehr komisches Gefühl. Sie merkte,

dass sie wieder zu wachsen begann. Die neben ihr sitzende

Haselmaus beschwerte sich schon, dass es ihr zu eng würde und

sie kaum mehr atmen könne, wechselte dann sogar ihren Sitzplatz,

Page 57: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

doch Alice wuchs und wuchs und konnte nichts dagegen

unternehmen. Die Königin hatte den Hutmacher unterdessen

pausenlos beobachtet. Gerade als die Haselmaus soeben den Platz

wechselte, sagte die Königin zu einem der Gerichtsdiener: "Bring

mir doch mal die Namensliste der Sänger vom letzten Hofkonzert!"

Da bebte und schüttelte es den Hutmacher dermaßen, dass seine

Füße sogar aus seinen Schuhen herausschlotterten und er nun

noch viel weniger imstande war, auf die erneute Frage des

königlichen Richters zu antworten. Dann begann er stotternd: "Ich

hatte gerade meinen Tee ausgetrunken", dabei warf er schnell

noch einen ängstlichen Blick auf die Königin, die mittlerweile

bereits die Namensliste der Sänger durchschaute. Dann warf er

sich auf die Knie und sagte: "Ich kann mich nicht mehr erinnern!".

Die Meerschweinchen grunzten Beifallsrufe und der gesamte

Gerichtssaal wurde unruhig. Sofort schritten die Gerichtsdiener ein,

steckten die Meerschweinchen in Säcke, banden sie über dem Maul

der Tiere mit Schnüren zusammen und setzten sich anschließend

darauf, so dass sofort wieder Ruhe einkehrte. "Du kannst gehen,

du bist ein sehr schlechter Redner", sagte der König zum

Hutmacher. Das ließ sich der Hutmacher natürlich nicht zweimal

sagen. Er lief sogleich aus dem Saal und war auch schon auf und

davon.

Nur seine Schuhe blieben da zurück, wo er im Gerichtssaal

gestanden hatte. "Haut ihm seinen Kopf ab!", rief die Königin ihren

draußen postierten Gerichtsdienern zu, doch der Hutmacher war

schon außerhalb der Sichweite auf und davon. "Rufe den nächsten

Zeugen!", forderte der König wieder das Kaninchen auf. Jetzt kam

die Köchin der Herzogin herein mit ihrer Pfefferdose in der Hand.

Sogleich begannen einige am Eingang sitzende Besucher laut zu

niesen. "Mach Deine Aussage!", befahl der König der Köchin. "Mag

nicht!", sagte die Köchin. Der König schaute ängstlich das Weiße

Page 58: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Kaninchen an, das ihm leise zuflüsterte: "Diese Zeugin müssen sie

ins Kreuzverhör nehmen." "Nun gut, was sein muss, muss sein",

sagte der König. Er verschränkte umständlich seine Arme auf der

Brust und schaute die Köchin dann lange und finster an. Schließlich

fragte er sie mit tiefernster Stimme: "Aus welchen Zutaten wird

Kuchen zubereitet?" "Hauptsächlich aus Pfeffer", antwortete die

Köchin. "Karamell", sagte die schläfrige Stimme der Maus hinter

ihr. "Packt die Haselmaus am Kragen!", kreischte die Königin, "und

werft sie aus dem Gerichtssaal! Stecht sie! Kopf ab! Weg mit ihren

Schurrbarthaaren, hinaus mit dem Störenfried!" Eine Weile lang

war jetzt der gesamte Gerichtssaal in heller Aufregung, um die

Schlafmaus aus dem Saal zu befördern. Als sich endlich alle wieder

beruhigt hatten, war mittlerweile die Köchin verschwunden. "Nun

gut, das macht nichts, ruf den nächsten Zeugen!", sagte der König

großzügig zum Kaninchen.

Alice beobachtete das Weiße Kaninchen, wie es mit seiner

Zeugenliste herumhantierte und war neugierig, wer als nächstes in

den Zeugenstand kommen würde, denn sie dachte bei sich, dass

das Gericht bisher ja mit der Aufklärung des Falles überhaupt nicht

weitergekommen war. Da vernahm sie das schrill klingende

Stimmchen des Weißen Kaninchens: "Alice, bitte in den

Zeugenstand!"

Alice deckt die Karten auf

"Hier bin ich!", rief Alice und war bereits aufgestanden. Sie hatte in

der Aufregung vergessen, wie groß sie in den letzten Minuten

gewachsen war. Leider hatte sie jetzt nämlich mit ihrem Rocksaum

die ganze Geschworenenbank umgeworfen, so dass alle Tiere auf

die Versammlung heruntergepurzelt waren und kreuz und quer am

Boden lagen.

Page 59: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Sie erinnerte sich an ihre Goldfische, die sie vergangene Woche

zuhause aus Versehen aus dem Goldfischglas geworfen hatte, als

es umgefallen war. "Oh, das tut mir leid!", entschuldigte sie sich

bestürzt und half allen, wieder aufzustehen. Sie hatte das Gefühl,

dass sie ihnen schnell helfen müsste, damit sie nicht starben.

"Die Verhandlung wird unterbrochen, bis alle, ich sagte, alle

Geschworenen, wieder auf ihren Plätzen sind", sagte der König in

strengem Ton und mit einem bösen Seitenblick auf Alice. Endlich

hatten alle ihre Plätze wieder eingenommen, ihre Täfelchen und

ihre Kreidestückchen wieder in der Hand, und der Prozess konnte

fortgesetzt werden. Die Geschworenen waren bereits eifrig damit

beschäftigt, den genauen Unfallhergang zu protokollieren, da

begann der König mit der Befragung: "Was weißt Du über diese

Sache mit dem Kuchen?", fragte der König Alice. "Nichts, gar

nichts", erwiderte Alice.

"Das ist sehr wichtig!", sagte da der König zu den Geschworenen.

Sie schrieben es eifrig auf ihre Täfelchen, da unterbrach das Weiße

Kaninchen respektvoll und sagte: "Unwichtig, meint Eure Majestät

natürlich!" "Ja, unwichtig!", berichtigte der König hastig und fuhr

Page 60: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

leise fort, vor sich hinzusagen: "Wichtig, unwichtig, wichtig,

unwichtig!?", als ob er ausprobieren wollte, welches Wort besser

klang. Jeder Geschworene notierte jetzt etwas anderes,

entsprechend dem, was er gerade hörte.

Dann rief der König: "Ruhe im Saal! Verordnung Nummer

zweiundvierzig: 'Jeder, der größer ist als einen Kilometer, muss den

Gerichtssaal verlassen'." Alle Augen richteten sich auf Alice. "Ich

bin doch keinen Kilometer groß", sagte Alice. "Doch!", sagte der

König. "Sogar mehr als zwei Kilometer!", fügte jetzt die Königin

hinzu.

"Nun, ich mag jedenfalls nicht weggehen", sagte Alice, "abgesehen

davon ist das keine gültige Vorschrift, denn sie wurde eben erst

erfunden." "Es ist im Gegenteil die älteste Verordnung im ganzen

Buch", verteidigte der König seine Forderung. "Na, dann müsste es

ja die Verordnung Nummer eins sein", bestand Alice auf ihrer

Meinung.

Der König wurde kreideblass und klappte eilig sein Notizbuch zu.

"Wie lautet euer Urteil?", fragte er dann die Geschworenen. Da

sprang das Weiße Kaninchen auf und bemerkte hastig: "Es wurde

neues Beweismaterial gefunden. Einer der Geschworenen hat

einen Brief bei sich, der das Geheimnis zu lüften verspricht!" "Nun

gut, was enthält er?" fragte die Königin. "Ich habe ihn noch nicht

geöffnet und es steht nichts auf dem Briefumschlag. Doch ist es

offenbar ein Brief, den der Angeklagte an jemanden geschrieben

hat." "An wen ist er denn adressiert?", wollte einer der

Geschworenen wissen. "Er ist an niemanden adressiert…",

antwortete das Kaninchen, während es den Brief bereits

auseinanderfaltete, "…und auch nicht in der Handschrift des

Angeklagten verfasst. Ach!", sagte es da, als es den Umschlag

geöffnet hatte: "Es ist auch nicht einmal ein Brief, sondern nur eine

Ansammlung von Versen." "Der Angeklagte wird die Handschrift

Page 61: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

eines anderen imitiert haben. Lies vor!", forderte der König. Das

Weiße Kaninchen setzte seine Brille auf und wollte vorlesen, da

meldete sich der Herzbube zu Wort: "Ihre Majestät, mit Verlaub!

Ich habe diesen Brief nicht verfasst und niemand kann beweisen,

dass ich es getan habe, weil er nicht unterschrieben ist!" "Du hast

den Brief nicht unterschrieben? Dann ist es umso schlimmer!",

sagte der König nur. "Hättest Du also keinen Unfug im Sinn gehabt,

hättest Du ihn unterschrieben, wie jeder andere ehrliche Mann!"

Alle Anwesenden im Gerichtsaal klatschten Beifall, denn das war

der erste lange Satz, den der König an diesem Tag gesagt hatte.

"Das beweist erst recht seine Schuld!", meldete sich die Königin

wieder zu Wort. "Nein, das stimmt nicht. So geht das nicht! Das

beweist überhaupt nichts. Ihr wisst ja noch nicht einmal was drin

steht!", protestierte Alice. "Lies ihn vor!", forderte jetzt der König

das weiße Kaninchen auf. Das schob seine Brille höher auf die Nase

und fragte den König: "Mit Verlaub, wo soll ich anfangen zu lesen,

Eure Majestät?" "Beginne am Anfang", antwortete der König ernst,

und lies bis zum Ende. Dort hörst Du auf."

Dies waren die Verse, die das Weiße Kaninchen verlas:

Sie sagten mir, du warst bei ihr

Und erwähntest Folgendes bei ihm:

Sie gab ein freundlich Wesen mir,

Doch ich kann nicht schwimmen.

Er gab sein Wort, ich sei nicht fort,

(Wir wissen, das trifft zu!)

Falls sie die Sache weitertreibt,

Was machst denn dann du?

Ich gab ihr ein, sie gaben ihm zwei Stück,

Du gabst uns drei und mehr;

Sie alle kamen zu dir zurück

Sind dein jetzt wieder.

Page 62: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Wenn ich, wenn sie, also verwickelt sei,

Verwickelt sei in die Affär',

Bittet er dich, lass sie frei

Wie uns, nichts weiter sonst, nichts mehr.

Mein Eindruck war, dass du damals,

(Als sie den Anfall hatte),

Ein Hindernis gebildet hast

Für ihn und uns und es.

Erzähl's ihm nicht, sie mocht sie sehr!

Deshalb auf ewig sei versprochen,

Ein Geheimnis bleibt's,

Zwischen Dir und mir, das nie gebrochen…

"Das ist das wichtigste Beweisstück, das uns bisher vorgelegen

hat. Das Gericht soll nun sein Urteil fällen", sagte der König

zufrieden, indem er sich die Hände rieb. "Wie lautet also euer

Urteil?", fragte er die Geschworenen. "Wenn irgendjemand der hier

Anwesenden erklären kann, was in diesen Versen steht, dann

heiße ich Egon", mischte sich jetzt Alice ein, die mittlerweile so

gross gewachsen war, das sie überhaupt kein bisschen Angst mehr

hatte, "es steckt kein Deut Sinn in dem Text, ja, es ist sogar

kompletter Unsinn!" Die Geschworenen fuhren unterdessen fort,

alles aufzuschreiben, was gesagt wurde, und keiner machte einen

weiteren Kommentar oder versuchte, den Text zu erklären.

"Also", sagte der König, während er die Verse studierte und

gleichzeitig vor sich hinmurmelte: ">Ich gab ihr eins, sie gaben

ihm zwei<, das ist es doch, was er mit den Törtchen gemacht hat,

jetzt weißt du es!" "Aber es geht noch weiter: >Sie kamen alle von

ihm zu dir zurück<", verteidigte Alice den Herzbuben weiterhin.

"Na, hier sind sie ja auch", triumphierte der König, indem er auf die

große Platte voller kleiner Kuchen zeigte. Er ließ nun seinen Blick

durch den ganzen Saal schweifen und lächelte milde. Dann sagte

er ungefähr zum zwanzigsten Mal am heutigen Tage: "Hiermit

Page 63: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

fordere ich die Geschworenen auf, ihr Urteil zu sprechen!" "Nein,

nein, zuerst die Strafe, dann das Urteil!", kreischte die Köngin

dazwischen.

"Jetzt aber Schluss mit dem Gefasel! Wo gibt es denn so etwas!

Zuerst muss natürlich das Urteil kommen!", unterbrach Alice jetzt

mit lauter, sicherer Stimme. "Halt die Klappe!", erwiderte die

Königin, die über und über purpurrot angelaufen war. "Das werde

ich nicht tun!", entgegnete ihr Alice fest. Außer sich vor Wut, schrie

da die Königin: "Ab mit ihrem Kopf!"

"Ach, wer schert sich denn schon um Euch. Ihr seid doch nur ein

Haufen Karten!", setzte ihr Alice diesmal noch entschlossener

entgegen, denn mittlerweile war sie zu ihrer vollen Grösse

emporgewachsen und hatte kein bisschen mehr Angst. "Raus,

hinweg mit ihr!", schrie die Königin mit sich überschlagender

Stimme. Aber niemand bewegte sich im Saal. Dann ging plötzlich

ein Luftzug durch den Raum und im gleichen Moment erhob sich

das gesamte Kartenheer, es flog in die Luft, sammelte sich dort

und stürzte sich dann auf Alice. Alice versuchte, die Karten

wegzuscheuchen, schlug nach ihnen, rannte aus dem Gerichtssal

auf und davon, purzelte, schwamm, flog und stieß dann einen

Schrei aus, halb aus Angst, halb aus Wut, weil sie die Karten nicht

los wurde und eine schon ihre Wange streifte.

Alice wieder auf der Wiese bei ihrer Schwester Celia

Page 64: Das weiße ---Kaninchen-ALICIA IN WONDERLAND

Alice spürte eine Hand in ihrem Gesicht. Es war die Hand ihrer

älteren Schwester, die sie weckte und ihr gerade ein paar vom

Baum gefallene Blätter aus dem Gesicht strich. "Wach auf!", sagte

sie zu Alice. "Wie lange du geschlafen hast!" Alice fand sich im

Schoß ihrer Schwester Celia auf der Wiese liegend wieder.

Sie hörte das Gras im Wind wiegen und sah, wie sich das Wasser

im Fluss kräuselte und das Schilfrohr am Ufer sich hin- und herbog.

In der Ferne hörte sie Schafschellen klingen und das Muhen von

Kühen, das von einem nahe gelegenen Bauernhof herüberdrang.

"Ich hatte einen sonderbaren Traum!", sagte Alice und erzählte

ihrer Schwester von ihren Abenteuern, die ihr eben gehört habt.

War das alles ein Traum gewesen? Oder hatte sie diese Abenteuer

wirklich erlebt? Alice grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Jedenfalls hat keiner bisher das Wunderland auf unserem Globus

entdeckt, und doch waren nach Alice noch viele Kinder und

Erwachsene dort und haben danach von zauberhaften Erlebnissen

berichtet.