DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Feature ......CD: Valeri Scherstjanoi: will keine...

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DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Der Eremit im Zentrum Kunst und Leben bei Carlfriedrich Claus Von Joachim Büthe Sprecher 1: Sprecher 2: REGIE: Axel Pleuser Urheberrechtlicher Hinweis Urheberrechtlicher Hinweis Urheberrechtlicher Hinweis Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 8. April 2011, 20:10 - 21:00 Uhr

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  • DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Der Eremit im Zentrum Kunst und Leben bei Carlfriedrich Claus Von Joachim Büthe Sprecher 1: Sprecher 2:

    REGIE: Axel Pleuser

    Urheberrechtlicher HinweisUrheberrechtlicher HinweisUrheberrechtlicher HinweisUrheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

    ©

    - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 8. April 2011, 20:10 - 21:00 Uhr

  • CD (Claus-Archiv Inv.-Nr.25): Stimme von Claus, Regengeräusche,

    kurz stehen lassen, dann unter dem folgenden weiterlaufen lassen

    O-Ton (Scherstjanoi): Nichts da, kein Schild, nur links ist eine Klingel.

    Ich habe geguckt, die Wohnung ist so halb im Keller, die Fenster voller

    Staub. Man hat geheizt mit Briketts, Rekord hießen die, Gestank und

    natürlich alles dreckig. Die Fenster sahen so aus als ob man sie schon

    seit zig Jahren nicht aufgemacht hatte. Ich habe geklingelt. Es klingelt

    und dann geht die Tür auf, Schritte, Carlfriedrich Claus steht vor mit und

    guckt mich an, und diese Geste werde ich nie vergessen: Ja, kommen

    Sie! Kommen Sie!

    Der Eremit im Zentrum

    Kunst und Leben bei Carlfriedrich Claus

    Ein Feature von Joachim Büthe

    O-Ton (Milde): Da wo Carlfriedrich Claus war, da war ein Zentrum. Man

    kann schon sagen in frühen Ausstellungen, wo er vertreten war, da

    versammelte sich Publikum, da versammelte sich ein bestimmter

    Interessentenkreis. Er war nicht nur postalisch vernetzt, sondern er hatte

    eine Sogwirkung, die das zum Zentrum machte, wo er beziehungsweise

    sein Werk präsent war.

  • Spr.2: Künstlerische Ausbildung habe ich nicht, wollte ich nicht haben.

    Ich fasse mich auch nicht als "Künstler" auf, eher als Existenz-

    Experimentator, als black box, mit verschiedenen Ein- und Ausgängen,

    als Experiment aus Experimenten, Frage - Information -: eben:

    vorversuchende, experimentelle Existenz in experimenteller Arbeit.

    CD (Claus-Archiv Nr. 10) Anfang, dann im Hintergrund

    Spr.1: Diese schon fast tautologische Selbstbeschreibung, die keinen

    Unterschied macht zwischen Arbeit und Leben innerhalb des

    allumfassenden Experiments, findet sich in einem Brief an den Fluxus-

    Künstler Dick Higgins aus dem Jahr 1967. Carlfriedrich Claus, der Nicht-

    Künstler ist alles auf einmal: Literat, Bildender Künstler, Philosoph.

    Entsprechend breit gefächert ist seine Korrespondenz. Zu seinen

    Briefpartnern und -freunden gehören der Philosoph Ernst Bloch, die

    Künstler Bernard Schultze, Hans Arp und Raoul Hausmann, nicht zuletzt

    der Schriftsteller Franz Mon und viele andere. In seinem Nachlass

    fanden sich über 22 000 Briefe. 1960 gibt Franz Mon die bahnbrechende

    Anthologie movens heraus. Mit ihr, so der Literaturwissenschaftler

    Friedrich W. Block, meldet sich Mitteleuropa auf der Höhe des

    internationalen Kunstgeschehens zurück. Der DDR-Bürger Carlfriedrich

    Claus ist in ihr vertreten.

  • CD: Elisabeth Schimana & International Theremin Orchestra: 2. Stück

    (im Hintergrund)

    O-Ton (Block): Ich denke, dass bei Movens zweierlei angelegt ist und

    zwar spartenübergreifend auf alle Künste, die ja in dem Band von 1960

    auch vertreten sind. Und zwar einmal die Beweglichkeit des Materials,

    mit dem man versuchend experimentell umgeht. Das betrifft natürlich im

    wesentlichen das Sprachmaterial, das Zeichensystem, die

    Verknüpfungsmöglichkeiten, den Sprachgebrauch. Das ist eine Ebene,

    weg von allen Formen der Geschlossenheit, des Statischen hin zu

    Aspekten der Beweglichkeit im Sprachmaterial. Die zweite Ebene ist

    noch eine tiefer liegende oder tiefgründigere, nämlich die Performanz

    der Herstellungs- und Bearbeitungsprozesse selbst. Da steht jemand

    wie Carlfriedrich Claus wie kaum ein anderer dafür, nicht nur auf die

    Beweglichkeit von Letternfeldern, von Handschrift oder Artikulation zu

    setzen, sondern in der Beweglichkeit der Prozesse selbst beobachtend

    drin zu sein. Und diese Form von hochkonzentrierter und überaus

    differenzierter Selbstbeobachtung als künstlerisches Verfahren oder

    Vorhaben, das würde ich im Bereich von Prozess als Performanz

    ansiedeln.

  • O-Ton (Claus): Segmente, Themen, Gedanken, wechselnde Luft.

    Segmente, Themen, Gedanken, wechselnde Luffft...

    Spr.1: Der Beitrag der DDR zur internationalen Avantgarde war in der

    DDR nicht willkommen und zunächst im westlichen Ausland bekannter

    als daheim. Claus war politisch isoliert, aber seine Einsiedelei war auch

    selbstgewählt: ausschließliche Konzentration auf sein experimentelles

    Leben und Arbeiten. Erst ab Mitte der siebziger Jahre sind Ausschnitte

    seines Werks gelegentlich zu sehen, zum Beispiel in Chemnitz

    beziehungsweise Karl-Marx-Stadt. Für den Lautpoeten Valeri

    Scherstjanoi war es eine einschneidende Begegnung.

    CD: Valeri Scherstjanoi: will keine worte (von seiner Homepage), kurz

    freistehend, dann im Hintergrund

    O-Ton (Scherstjanoi): Ich bin 1979 in die DDR gekommen und meine

    erste Lebensstation war das Erzgebirge. Meine Ehefrau stammte aus

    Aue, Sachsen. Wir mussten einige Zeit warten, bis sie in Berlin eine

    Arbeitsstelle bekommen hat. Ich hatte ein Lebensziel gehabt. Ich wusste

    zwar nicht, was macht ein in der Sowjetunion ausgebildeter

    Deutschlehrer hier beruflich, aber ich hatte keine Begabung, Pädagoge

    zu sein. Und dann noch diese pseudokommunistische Ideologie, sowohl

    in der Sowjetunion als auch in der DDR. Ich beschäftige mich seit

    meinem 18. Lebensjahr mit der Geschichte des russischen Futurismus,

  • mit der ganzen Geschichte der russischen Avantgarde bis zum

    Dadaismus und zum italienischen Futurismus usw. Den Dadaismus und

    den italienischen Futurismus konnte ich nur in der DDR, da waren wir

    schon näher am Westen, kennen lernen. 1980, ich musste mich

    polizeilich melden im sowjetischen Konsulat in Karl-Marx-Stadt, ich bin

    an der Galerie Oben vorbeigegangen, und das war die erste

    Ausstellung, die ich überhaupt hier gesehen habe. Das waren die

    Sprachblätter von Carlfriedrich Claus. Ich war darauf überhaupt nicht

    vorbereitet. Ich habe mich sehr gewundert, erstens dass die Bilder, was

    heißt die Bilder?, waren teilweise lesbar. Die Schriftzüge waren nicht nur

    auf Deutsch, es waren Hieroglyphen, hebräische Schrift zu lesen, ab

    und zu etwas auf Russisch. Es gab für mich den visuellen Eindruck, ja,

    das ist abstrakte Kunst und das in der DDR so etwas ausgestellt wird!

    Das war sensationell für mich. Ich war hochbegeistert und habe die

    Mitarbeiterin gefragt, von wem stammen die Bilder? Sie sagte nein, das

    sind Sprachblätter, und der Künstler heißt Carlfriedrich Claus und er

    wohnt in Annaberg-Buchholz.

    Spr.1: Sprachblätter, keine Zeichnungen, sondern aus der Handschrift

    sich entwickelnde Strukturen, die gleichwohl figurative Elemente

    enthalten können, häufig sind es Augen. Blätter, die aus der intensiven

    Beschäftigung mit einem Thema entstanden sind, jedoch, obwohl Claus

    auf ihrer Lesbarkeit bestanden hat, nicht im herkömmlichen Sinn zu

    entziffern sind. Selbst den besten Dechiffrierexperten der Stasi, die hier

    Nachrichten an den Klassenfeind witterte, ist es nicht gelungen. Auch

    der Schriftsteller Michael Lentz hat es versucht.

    CD: Claus-Archiv Nr.10, ab Min. 26, im Hintergrund

    O-Ton (Lentz): Also wenn die Sachen vergrößert, es gibt ja auch

    Vergrößerungen, wenn man das Paracelsus-Zitat sucht und dann

  • tatsächlich bei ihm findet oder andere Zitate, Ernst Bloch zum Beispiel,

    das lässt vermuten, dass man auch den Rest lesen kann. Es gibt

    allerdings bei ihm eine Schreibbewegung, die die Gestaltbildung der

    Lettern wiederum so entfaltet, dass es in die bloße Lineatur übergeht.

    Aber selbst die Lineatur bei Claus hat diesen Schriftzug komplementär

    drin. Das tendiert nicht zur Graphur oder zu geometrischen

    ornamentalen Figurationen, sondern es tendiert immer zur Schrift. Selbst

    das Unleserliche oder das bewusst unleserlich Machen ist ja ein Akt

    nicht der Entschriftlichung, sondern Schrift wieder in die Latenz

    zurückdrücken, auch das eine Bewusstseinstätigkeit im Schlaf.

    O-Ton (Claus): Was für mich immer wieder eine erregende und

    abenteuerliche Sache ist das Erfahren von elementaren Naturgewalten

    im Körper und in der Psyche, wenn man die natürliche Sprache verlässt

    und sich total auf die Bewegungen der Artikulationsorgane einlässt.

    Welten, die in jedem von uns aktiv sind, nur eben verdrängt von der

    Bewusstseinstätigkeit im Wachen.

    CD (Claus-Archiv nr.10): wie zuvor

    Spr.1: Bewusstseinstätigkeit im Schlaf ist eine von Carlfriedrich Claus'

    akustischen Arbeiten, ein Lautprozess. Sie sind in ihrer Radikalität

    einzigartig. Es sind vorsprachliche Artikulationen, die das Hören und

    Sprechen nicht mehr oder noch nicht an die verständliche Mitteilung

    binden und doch teilen sie etwas mit.

    Spr.2: Indem wir die Sprechklänge aus ihrer Vehikel-, aus ihrer Träger-

    Rolle für sprachliche Mitteilung herauslösen und zu neuen akustischen,

    nicht mehr-, beziehungsweise noch-nicht- "sprachlichen" Strukturen oder

    Systemen zusammenschließen, - das heißt, indem uns -

    informationstheoretisch gesprochen - an dem Gemisch aus Information

    und Rauschen, aus dem das Sprachsignal besteht, plötzlich das

    "Rauschen" und die darin eingebetteten anderen Informationen,

  • Informationsströme, interessieren, die beim Formieren und Wahrnehmen

    der sprachlichen Nutzsignale durch unsere Effektoren und Rezeptoren

    weitgehend unterdrückt werden, beziehungsweise nur sekundär und

    unterschwellig wirksam sind, -- indem wir dies tun, funktionieren wir den

    Begriff "Sprechen" ja bereits um. Diesem neuen "Sprechen" liegt nicht

    mehr eine bereits vorhandene "Sprache" zugrunde.

    O-Ton (Claus): Im Unterschied zu vielem, was heute als

    schamanistische Ferienkurse usw. passiert, sehe ich den

    Schamanismus als aufklärerisches Element. Die schamanistischen,

    totemistischen Vermittlungsexperimente zwischen Mensch und

    Naturkräften, die ins vorgeschichtliche zurückreichen und vermutlich im

    urkommunistischen Dasein ihren Ursprung haben, begreife ich als einen

    antizipatorischen starting point der Aufklärung und Aktion im Dunkel des

    Zwischen.

    CD: Claus-Archiv Nr.16, als Hintergrund für Lentz

    O-Ton (Lentz): Man meint, wenn man ihn hört, nichts anderes zu hören

    als Claus. Als gäbe es da keine Vorgeschichte, als gäbe es auch keine

    Vorbehalte, die Claus gegenüber sich selbst gehabt hätte. Leichthin ist

    man ja geneigt, das für etwas Unverstelltes, Urwüchsiges, Originäres zu

    halten, bis man dann liest, dass er doch nach einem bestimmten

    Konzept gearbeitet hat, dass er sehr theorieaffiziert war respektive sich

    selbst die Theorie geschrieben hat. Das heißt dass dem ein

    interessantes Wechselspiel zugrunde liegt zwischen bestimmten

    theoretischen Überlegungen, einem gewissen experimentellen

    Verständnis und zwar eines solchen, das sich nicht nur auf das konkrete

    Experiment, dessen was man gerade tut beschränkt, sondern er hat das

    mit dem ganzen Lebensbegriff überformt. Dann ist es auch etwas, das

    sofort den Eindruck des Peinlichen auslöst. Man fragt sich ja oft, würde

    man das auch selber machen. Nein, das würde man nicht machen.

  • Warum nicht, weil es etwas Kindliches oder gar Kindisches ist, man

    denkt auch als der Stellvertreter der gesamten Zivilisation, was man für

    ungebärdig, für ungehörig hält. Und gleichzeitig ist da so ein gewisses

    Granulat der Stimme, wie es bei Roland Barthes so schön heißt, obwohl

    er ja keine verbalen Anteile benutzt, und trotzdem hört man die

    sächsische Formung der Stimme noch durch selbst in diesen

    Verlautbarungen. Das alles zusammen macht den Eindruck, dass sich

    da jemand artikuliert wie von einem anderen Stern. Mit der Zeit hört man

    der Sache zu als würde da jemand tatsächlich sprechen.

    O-Ton (Claus): Rinde der Bäume/erstarrt/ als äusserste schicht/ doch

    strömendes/fliessendes/spiegeln/ von verborgenen/ fluten und ufern/

    rinde der bäume:/ farbige kurlen/ blättern/ die träume/ raumgewordene

    zeit:/ kreisende/ roworko-sonnen/ und/ flechten und pilze/ die glimmen

    bei nacht/ auf durchfurchter borke/ spielen/ sylphen/ ihr/ lautloses lied/

    von/ stille und sturm/ von/ dunklem flattern/ vom unhold/ am

    mondwolkenturm/ rinde der bäume:/ runen/ und worte/ von gnomen

    gesäumt

    Spr.1: Mit solchen Gedichten hat es angefangen in den fünfziger

    Jahren. Schon bald beginnt sich der Textkörper der Gedichte aufzulösen

    beziehungsweise sich auszubreiten über das Blatt. Zugleich tritt der

    semantische Gehalt der Wörter zurück, verschwindet fast hinter ihrem

    Klang, der akustischen Anmutung. Diese Bewegung kann man bei Claus

    immer wieder beobachten: Je mehr er seine Mittel reduziert auf den

    Kern, auf den es ihm ankommt, desto raumgreifender und

    allumfassender wird er, als gelte es, seine Welt in einem Reiskorn zu

    fassen und sich in Beziehung zu setzen mit der umgebenden Natur.

    Brigitta Milde, heute Leiterin des Carlfriedrich-Claus-Archivs, in den

    achtziger Jahren in gleicher Funktion in der Galerie am Markt in

    Annaberg-Buchholz, kennt eine von Claus' Voraussetzungen.

  • CD: sensorium (hommage à carlfriedrich claus) nomized: waltz river,

    schon unter dem Text zuvor beginnen und vor O-Ton Claus enden

    lassen

    O-Ton (Milde): Carlfriedrich Claus hat ein ganz enges Verhältnis zur

    Natur gehabt. Er ist sehr viel spazieren gegangen. Er ist auch als

    Einsiedler und Eremit sehr viel spazieren gegangen, nur zu

    ungewöhnlichen Zeiten und Jahreszeiten. Natureindrücke sind für die

    Herausbildung seines Werkes unabdingbare Voraussetzungen. Es gibt

    tausend frühe Texte, die immer wieder diesen unmittelbaren Naturbezug

    deutlich machen, die aber natürlich dann auch nachvollziehen lassen,

    wie Carlfriedrich Claus diese Natureindrücke genommen hat, indem er

    sie zunächst aufgeschrieben hat, dann weiterbearbeitet hat

    dahingehend, dass nicht ein Natureindruck nacherzählt wird, sondern

    mit Material, nämlich mit Sprachmaterial neu erzeugt wird.

    O-Ton (Claus): Turmdohlen (Gedicht, übergehend in Vokalgekrächze)

    Spr.1: Natureindrücke sind ein Teil des Clausschen Kosmos, dessen

    subjektive Verknüpfungen so ungewöhnlich wie, wenn man ihm zuhört,

    einleuchtend sind. Auf jeden Fall haben sie früh begonnen. Die Bilder

    von Paul Klee lernt er im Alter von acht Jahren kennen.

    CD: Elisabeth Schimana wie zuvor, erstes Stück

  • Spr.2: Zwischen 1938 und 1945 hatten - neben anderen - Bilder Paul

    Klees eine ganz besondere Bedeutung für mich. Ich lernte, dank meiner

    Eltern, Reproduktionen seiner Arbeiten etwa 1938 kennen, also mitten in

    der Nazitriumphzeit und unter dem Druck der "deutschen

    Volksgemeinschaft". Ich befasste mich damals mit Werken, die als

    "Entartete Kunst" als "Kulturbolschewismus" verfolgt wurden, wie mit

    Geheimlehren, das heißt ich sah sie als Exerzitientafeln, Chiffren und

    Chiffrenverknotungen, die auf verbotene Wirklichkeiten nicht nur

    hinwiesen, sondern in die Kräfte dieser Wirklichkeiten selbst verknüpft

    sind. Mit der Vehemenz, die Phantasie in der Kindheit hat, versuchte ich,

    in die Bilder einzudringen, mich in sie zu verwandeln, und so die Knoten

    zu lösen. Was durch diese Selbstexperimente, Selbstaktivierung

    immerhin geschah, war eine Veränderung der subjektiven Verfassung.

    Die Bilder, so benutzt, halfen, psychische Gefasstheit, Resistenz zu

    erlangen, so dass Unsicherheit und Angst zumindest zeitweilig

    vergingen. Die psychische Wirklichkeit, in die mich die Reproduktionen

    seiner Bilder versetzten, war von Verbindungen, Winken erfüllt; ich

    glaubte, durch sie hindurch mich in eine Welt verborgener Kontakte

    zwischen Menschen, toten und lebenden, Tieren, Steinen, Pflanzen,

    Gestirnen, Elementen zu befinden. Immer wurde dabei auch eine

    abenteuerliche Ader in mir stimuliert. Und Bewegung. Geistige und

  • körperliche. Klees Bilder schufen manchmal eine Stimmung, die mich

    aus dem Zimmer hinaus, in die Dämmerung, den Abend, durch die

    verdunkelten Straßen trieb; dabei meinte ich, Kontakt mit Menschen, die

    ich verehrte, und mit Unbekannten zu haben.

    Spr.1: Dieser Text aus dem Jahr 1984 enthält so viele Elemente des

    Clausschen Lebensprogramms, dass man nicht weiß, wo man anfangen

    soll. Das Selbstexperiment selbstverständlich, die Geheimlehren, die es

    zu entschlüsseln gilt und die zugleich schützen vor Anpassung an eine

    nicht akzeptable Umwelt, wenn man in ihnen nicht esoterisch versinkt

    und ihre subversive Kraft erfasst. Die Exerzitien und Chiffren, die man im

    Werk von Carlfriedrich Claus wiederfindet, die Suche nach dem

    Unbekannten und die pantheistischen Elemente seiner Weltsicht. Und

    Bewegung.

    CD: wie zuvor, wechseln zur Nr.5

    O-Ton (Block): Ich würde es wagen, ihn als einen poetischen Mystiker

    zu bezeichnen. Claus hat sich Zeit seines Lebens, seit den fünfziger

    Jahren, sehr umfangreich mit mystischen Schriften beschäftigt, mit der

    Kabbala über buddhistische Schriften bis hin zur christlichen Mystik, er

    hat sich enorm davon inspirieren lassen. Es ist ganz offensichtlich, dass

  • er zentrale Praktiken seiner künstlerischen Arbeit mit mystischem

    Vokabular belegt. Also Sprechexerzitien, Schärfung der Achtsamkeit,

    das ist mystischer O-Ton, wenn man so will, aber auch andere

    poetologische Begrifflichkeiten. Dann käme noch mal der Begriff der

    Selbstbeobachtung ins Spiel, also das, was Mystik immer getan hat,

    methodisch, nämlich in einer sehr tiefgründigen Weise kognitive

    Selbstbeobachtung zu betreiben, das hat er künstlerisch sehr fein

    ausgearbeitet. Und das ist von Lebenspraxis nicht mehr zu trennen. Man

    macht es ja und damit ist es Lebenspraxis. Das finde ich ungeheuer

    spannend.

    O-Ton (Claus): Die Corroborri der Australier, die ekstatischen Gesänge

    und Tänze, die primär Lautdichtungen sind und gerade deshalb wie

    Feuer von Stamm zu Stamm laufen können, das alle, die es berührt,

    sprech-, sing-, schreigestikulierend hochlodern lässt. Da sind

    Sprachgrenzen keine Grenzen. Dann die unartikulierten Schreie, durch

    die Ekstase anspringt, bei den Schamanen Sibiriens, der Mongolei, die

    sinnlosen Lautaneinanderreihungen, Meditationsmurmelformeln in der

    lamaistischen, besonders Rotmützenwelt.

    CD: C.C.: Basale Sprech-Operationsräume, Take 7, etwas länger frei

    stehen lassen

  • O-Ton (Claus): Also die Erfahrung, die ich interessanterweise besonders

    mit der Bewusstseinstätigkeit im Schlaf gemacht habe, also mit diesen

    Lautprozessen war, nach diesen Aufführungen, da herrschte totales

    Schweigen danach. Und in Radebeul, da gab es eine außerordentlich

    heftige Diskussion. Die Hälfte ungefähr verließ den Raum unter Protest.

    Und dann, ich hatte versucht, den Standpunkt zu verstehen. Sie

    sprachen eben von einem durch den Marxismus vermittelten

    humanistischen Menschenbild, also der klassische Gedanke von Lukacs

    her, diese Ideen herrschten bei den Diskutanten vor. Also es war

    interessant wie die Interpretation des Stückes innerhalb von kürzester

    Zeit umschlug. Zunächst dachte die Bildhauerin, die die Diskussion

    leitete, dass es eine Aufzeichnung elektrischer Hirnströme wäre. Und als

    ich sagte, das ist meine Stimme, da wurde die Frage gestellt: Was gibt

    das dem Menschen? Ich habe gesagt, mein Bestreben, wenn es das

    gibt, sei, ihn bewusster zu machen.

    Spr.1: Der von Ernst Bloch geprägte Marxismus des Carlfriedrich Claus

    fand, wie hätte es anders sein können, in der DDR keinen Widerhall.

    CD: wie zuvor, wechseln zu Take 6, etwa 3.30 Min. nach Beginn, unter

    dem O-Ton langsam verschwinden lassen

  • O-Ton (Block): Sein Kommunismus ist ja von einem SED-Kommunismus

    galaxienweit entfernt. Nicht umsonst ist er mit der kommunistischen

    Partei der DDR furchtbar aneinander geraten und mit dem ganzen

    System. Die konnten mit ihm überhaupt nichts anfangen. Für ihn war

    sein Kommunismus höchst subversiv. Er hat sich immer als Kommunist

    verstanden und zwar insbesondere, weil er einen sehr umfassenden

    Begriff von Kommunismus hatte, der zum Beispiel auch an

    Kommunikation festgemacht wurde. Natürlich war das auch politisch,

    weil er antikapitalistisch gedacht hat, aber es ging ihm sehr stark um

    kommunikative Prozesse zwischen unterschiedlichsten Bereichen,

    zwischen Mensch und Natur, zwischen Gesellschaft und Individuum bis

    hin zu den psychosomatischen Zusammenhängen. Und das wiederum in

    einem holistischen Sinn, in einer communio. Er hat sich auch sehr

    interessiert für kommunistische Bewegungen, aber wenn man dann

    guckt, wie beobachtet er zum Beispiel vietnamesische Freiheitskämpfer?

    An denen macht er fest, weil sie asketisch gelebt haben, sich dem

    revolutionären Kampf gewidmet haben, an denen macht er dann fest die

    Sublimierung von Sexualenergie. Das macht er an vietnamesischen

    Freiheitskämpfern fest!

  • Spr.1: Der Einsiedler und asketische Utopist hielt auch die vollständige

    Verwandlung von sexueller in geistige Energie für machbar und

    wünschenswert. Auch das war ein Grund, Mauerfall und Wende mit

    gelassener Skepsis zu betrachten.

    O-Ton (Scherstjanoi): Ich war so euphorisch, aber er war ganz ruhig und

    gelassen und sagte, ich habe Angst, dass ich jetzt aus meiner Wohnung

    rausgeschmissen werde. Er hatte Angst vor der Diktatur des Sexes.

    Was machen sie dann mit dem Kino Gloria? Machen sie da einen

    Sexshop? Das ist nicht passiert.

    Spr.1: Als utopischer Kommunist in einer pseudosozialistischen

    Gesellschaft zu leben, zudem noch in regem Kontakt mit der

    westeuropäischen künstlerischen Avantgarde, diese einmalige

    Konstellation ist nicht leicht auszuhalten. Fast könnte man denken,

    Claus sei der DDR-Kunst überhaupt nicht zuzurechnen.

    O-Ton (Claus): Hallo ... Geist der Mauer, Gedanken der Mauer, Zeichen

    der Mauer, Signale der Mauer, wir hören euch. Wir sind auf Empfang.

    CD: wie zuvor (wieder aufnehmen)

  • O-Ton (Lentz): Das, was er gemacht hat, das klingt jetzt komisch,

    müsste man differenzieren, ist ein Teil der DDR-Kunst. Ohne dieses

    Gefängnis ist es nicht zu denken. Das glaube ich schon, weil er hat auf

    der einen Seite immer an einem utopischen Begriff von Kommunismus

    festgehalten, den er abgeglichen hat mit dem praktizierten der DDR. Auf

    der anderen Seite hat er dem empfundenen Defizit, sowohl seines

    utopischen Entwurfs von Kommunismus als auch des real existierenden,

    aber auch lebenspragmatischen Defiziten, dieses Defizit hat er gekontert

    mit einer noch größeren Beschränkung. Die sowohl im Formalen als

    auch im Inhaltlichen bei ihm zu finden ist. Weil er Entscheidungen

    getroffen hat, was er nicht macht. Abgesehen von seinen frühen, fast

    naturhaften Gedichten und Wortgebilden arbeitet er nicht mit verbalen

    Anteilen. Er arbeitet nur mit seiner Stimme. Das sind alles

    Entscheidungen, die etwas anderes komplett ausschließen. ... Ob nun

    Kunst oder Leben, es handelt sich um ein Myzel. Die Pilzköpfe, die über

    der Erde herausragen, das ist der Roman, das ist das Ausformulierte,

    das Eingeführte, das Wiedererkennbare. Ich will das Pilzgeflecht, das,

    was darunter ist, was nicht zu sehen ist.

    Spr.1: Seine Entscheidung, etwas nicht zu machen, sei sie den

    Verhältnissen geschuldet oder nicht, radikal nur seinem Ansatz zu

  • folgen, war auch beispielhaft innerhalb der DDR. Und in diesem Sinn

    rückt der Eremit dann doch wieder ins Zentrum der DDR-Kunst.

    CD: ... aus randlosem in randloses ... (hommage à C.C.) Remix Basale

    Sprech-Operationsräume (im Hintergrund)

    O-Ton (Milde): Carlfriedrich Claus war immens wichtig und

    paradoxerweise wage ich zu behaupten nicht nur für die inoffizielle,

    sondern in gewissem Sinne auch für die offizielle. Aber erst mal zur

    inoffiziellen: Er hat vorgelebt, dass man ohne jeden Kompromiss sein

    Werk entwickeln kann zu einem Rang und einer Geltung führen kann,

    die quasi auch alle Skeptiker und alle diejenigen, die der Sache kritisch

    und ablehnend gegenüberstehen doch zu einer gewissen Anerkennung

    nötigen. Das hatte natürlich einen immensen Einfluss und eine immense

    Ermutigung auch für all die vielen, die im Untergrund gewirkt haben und

    die im halben Untergrund halboffiziell tätig waren, auch wenn nicht jeder

    das Format von Carlfriedrich Claus haben konnte, aber das Vorbild war

    nicht hoch genug einzuschätzen. Erstaunlich war aber, dass

    Carlfriedrich Claus eben gerade deswegen, weil er so gänzlich

    unbeeinflussbar war, auch die offiziellen zu einem gewissen Respekt

    genötigt hat. Und letztendlich war er ja dann spätestens seit den

    achtziger Jahren auch in offiziellen Ausstellungen, manchmal sogar im

  • Ausland durch die DDR vertreten. Das zeigt, dass sie vielleicht wider

    Willen, genötigt, aber immerhin nicht umhin kamen, seine Position

    anzuerkennen, ihm auch eine gewisse Öffentlichkeit zuzugestehen.

    O-Ton (Claus): Meine Arbeiten waren total entgegengesetzt der SED-

    Kulturpolitik. Ich stand in der interessanten Situation, dass Leute, die

    meine Arbeiten nicht ganz ohne Interesse sahen, dass sie mich von ihrer

    westlichen Orientiertheit her als Antikommunisten betrachteten. Da war

    Übereinstimmung. Sie sagten von vorn herein, ich bin mit Ihnen

    solidarisch, die Antikommunisten hier in der DDR. Und die Kommunisten

    sahen mich als Feind, die eigentlich meine Freunde hätten sein können.

    Aber sie waren es eben da nicht.

    Spr.1: Es gibt viele Paradoxa im Leben und Schaffen von Carlfriedrich

    Claus. Kommunist und Mystiker, Einsiedler, in dessen Arbeit

    kommunikative Prozesse eine zentrale Rolle spielen, Sprachblätter, die

    rational nicht erfassbare Denklandschaften sind, Lautprozesse, die sich

    zurücksehnen in eine Zeit, als die Emotionen noch nicht von den

    Fertigbauteilen einer Sprache überformt waren. Er ist unterwegs in

    einem Zwischenreich, hoch reflektiert und zugleich wissend, dass dies

    eine abenteuerliche terra incognita ist. Wie das Leben und auch die

    Poesie.

  • CD: Elisabeth Schimana, Wiederaufnahme 1. Stück

    O-Ton (Block): Ich habe das immer so verstanden, gerade das

    Poetische, ist etwas, das ganz im ursprünglichen Wortsinn etwas mit

    Genesis zu tun hat. Es gibt ja diesen wunderbaren Text bei Platon, das

    Gastmahl, wo man dem Liebesgott huldigt und in diesem

    Zusammenhang dem auf die Spur kommt, was grundständig an der

    Liebe ist. Und das sind eben die poetischen Prozesse, die

    Schaffensprozesse. Die Kräfte, die dafür zuständig sind, dass etwas

    vom Nicht-Sein in das Sein übertritt und umgekehrt. Das sind genau die

    Kräfte, an denen Claus m. E. interessiert ist und auf die er sich sehr

    feinsinnig einstellt, und zwar sowohl im mikrologischen als auch im

    makrologischen Bereich. Er ist ja immer daran interessiert in diesen

    Experimenten, die er im Selbstversuch durchführt, von der molekularen

    Ebene den Bogen zu kriegen ins Kosmische. Das finde ich absolut

    faszinierend.

    O-Ton (Lentz): Innerhalb dieses Hallraumes, in dem Moment wo er

    diesen Hallraum zum Stillstand bringt, sei es nun skriptural oder

    artikulierend, in dem Moment ist es ja dem Imaginären oder auch

    vorgestellt Naturhaften entrissen. Das ist so aus dem Dunklen

  • herausgefischt. Es ist so ein Zwischenreich wie beim Negativ einer

    Fotografie, wo das Weiße plötzlich zum Schwarzen wird. Es bildet einen

    Zwischenweltenbereich und Zwischenwelt ist ja auch ein Begriff, mit dem

    Claus operiert hat. Und deswegen nur konnte er weitermachen, weil, er

    ist dann wieder hinabgetaucht und hat was anderes herausgefischt. Das

    Ganze konnte er nicht herausnehmen. Aber das ist ja auch die

    Hoffnung. Wenn man das Ganze herausnehmen könnte, dann hätte sich

    die Sache mit einem Schlag erledigt.

    Spr.1: Aber weil sich die Sache nicht erledigt hat, das Experiment Kunst

    und das Experiment Leben immer weitergeht, sich aus dem Ergebnis

    des einen Experiments das nächste schon ergibt, darum hat

    Carlfriedrich Claus alles aufgehoben in seiner kleinen Klause. Das

    Ergebnis ist der Ausgangspunkt.

    O-Ton (Scherstjanoi): Überall Bücher, Bücherhalden, Bücher und

    Papiere, so ein Haufen von Briefmarken. Oh, dachte ich, er ist

    Korrespondent! Überall Bücherhalden, Bücher und Papiere, seine

    Graphiken, mit Wäscheklammern hat er seine Graphiken gehängt

    überall. Da bist du wie in einem Röntgenzimmer, da hängen diese Filme.

    Man sah, er hat sich auf seinen Gast vorbereitet. In der Mitte war ein

    runder Tisch mit einem Heft und Bleistift. Es gab noch zwei freie Stühle,

    sonst gab es keinen Platz. Überall Papiere, Manuskripte, Bücher und

  • Bilder. Und dann haben wir uns unterhalten, stundenlang. Es war

    Wahnsinn.

    CD: ... die randlose ... Wiederaufnahme Remix

    O-Ton (Milde): Das Thema von Carlfriedrich Claus Kunst war

    nachzuvollziehen, wie intellektuelle, geistige, emotionale Einflüsse im

    Menschen nicht nur intellektuell und rational, sondern auch mental und

    emotional im Affekthaushalt weiterwirken und, wie er es nannte,

    herauszuprozessieren, wie sie den Menschen möglicherweise verändert

    haben. Es geht in seiner Kunst zunächst um Bewusstseinsprozesse und

    um Kommunikation, um Kommunikation verstanden mit sich selbst, mit

    seinen eigenen biologischen, körperlichen, psychischen Gegebenheiten,

    aber auch um Kommunikation mit den Mitmenschen und mit der

    gegebenen Natur außerhalb seiner selbst. Und um diese

    Kommunikation, diese Veränderung in den Phasen des

    Bewusstwerdens, des Aufarbeitens, des Abwägens nachvollziehen zu

    können, war natürlich all das, was während der Arbeit entstanden war

    und die Arbeit protokollierte, wiederum Grundlage für neue Reflektionen

    und neue Arbeit. Insofern ist es ganz schlüssig, dass alles aufgehoben

    wurde, was für eine spätere Konzeption wieder von großer Bedeutung

    sein konnte als Ausgangsmaterial.

  • Spr.1: Die alte avantgardistische Forderung, Kunst und Leben

    miteinander zu verknüpfen, die häufig darauf zielte, das Kunstghetto zu

    verlassen und sich eine andere Form der Öffentlichkeit zu suchen, bei

    Claus ist sie realisiert, doch in einer anderen Form, in der höchst

    subjektiven Form der eigenen Person.

    CD: Claus-Archiv Nr. 29 (im Hintergrund)

    O-Ton (Lentz): Ich glaube aber doch, dass da ein ganz bestimmtes

    hierarchisches Denken ist bei ihm, nämlich im Sinne einer integrativen

    Menge. Und da ist der Begriff des Lebens die höchst integrative Menge

    und ein Ferment nur ist der Begriff der Kunst. Das ist dann ein

    romantizistischer Kern. Das ist keine Wertung, nur eine Feststellung. Die

    Romantik hat ja bis heute nicht aufgehört. Das heißt sein Anspruch ist

    ein totaler, aber kein totalitärer.

    O-Ton (Block): Ich würde das bei noch nicht mal als Projekt bezeichnen,

    wie es die Avantgarde suggestiv formuliert hat, sondern das ist ständig

    passiert. Es ist kaum das eine vom anderen zu unterscheiden. Es ist ein

    selten deutlicher Fall wie Kunst und Leben zu Lebenskunst werden in

    dem klassisch philosophischen Sinn, dass man Sorge um sich trägt und

    versucht, die Frage nach dem warum und wie produktiv zu beantworten.

  • Das sehe ich bei Claus sehr deutlich und auch faszinierend realisiert. Er

    hat Lebensführung und künstlerische Praxis sehr eng ineinander

    verschlungen.

    Spr.2: Die beiden Weisen der Sprache konzentrieren sich: der Schrift-

    Text auf das Optische, der Klang-Text auf das Akustische. Der Autor

    kommt, vom Klangreich ins Schriftreich übergehend, in eine völlig

    andere Materie. Hat der da Töne um sich, so hier Bilder. In Zukunft wird

    man, glaube ich, den "Gedichtbänden" wohl - wie schon jetzt hie und da

    - Langspielplatten oder Bänder beigeben, das heißt falls sich der

    betreffende Autor mit Klangtexten befasst, doch der Leser hört - in

    extremen, aber dann vielleicht nicht mehr so ganz extremen Fällen - das

    Gelesene nicht noch einmal auf der Platte, wie jetzt, sondern etwas ganz

    anderes taucht in seinem Ohr auf. Er wird aus den Schriftbildern, den

    gedruckten "Gedichten", die ihn nicht an eine von vornherein

    festliegende Zeit-, Lese-Ordnung binden, KLANGTEXTE, die sich je

    nach seiner Disposition wandeln, selbst ermessend zusammenstellen.

    Spr.1: Dieser Text von Carlfriedrich Claus stammt aus dem Jahr 1959.

    Claus hat etwas voraus geahnt, sich etwas gewünscht, dass erst mit den

    heutigen technischen Mitteln realisierbar ist. Abgeschnitten von den

    neuesten technologischen Entwicklungen, von denen auch die

  • westlichen Kollegen noch wenig wussten, hatte er dennoch eine Vision.

    Und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu helfen gewusst.

    CD: C.C.: Lautaggregat, etwa ab Min. 10 (im Hintergrund)

    O-Ton (Lentz): Diese Art von Poesie liefert ja gleich ihre eigene

    Mediengeschichte mit. Er hat da mit dem Tonband gearbeitet, schon

    recht früh, hat sich das aus dem Westen in die DDR schicken lassen

    und arbeitete noch mit einem Tonband, das gewissermaßen technisch

    defizitär war. Das heißt er konnte nicht mit der Überlagerung

    verschiedener Schichten arbeiten. Das war ein Monogerät, und was

    macht er, arbeitet mit der sogenannten Tricktastenschaltung, das heißt

    der Löschkopf wird während der Neuaufnahme weggedrückt, so dass

    das alte Aufgenommene beim Neuaufnehmen nicht gelöscht wird, und

    so entsteht ja in unterschiedlichen akustischen Gradationen der

    Eindruck, als wäre da raumakustisch fast eine radiophone Situation

    entstanden. Das heißt er münzt ja bestimmte technische Defizite um und

    kommt zu Ergebnissen, die in dem medialen Aspekt nicht zu trennen

    sind von dem, was er mit der Stimme macht. Das hat auch etwas Raues,

    etwas scheinbar Unprofessionelles, etwas Unverarbeitetes, aber genau

    so muss es sein.

  • Spr.1: Genau in dieser Vorgehensweise, die Möglichkeiten der Technik

    nutzend, sich ihnen aber nicht überlassend, sondern sie einbettend in

    ein ästhetisches Konzept, das in der Anthologie movens schon in

    Ansätzen beschrieben ist, sieht Friedrich W. Block das Impulspotential,

    das Carlfriedrich Claus heute noch hat.

    O-Ton (Block): Ich glaube, dass man da immer mit komplementären

    Dingen zu tun hat. Und dass diese, wie ich sie in der Medienkunst und

    auch in der Medienpoesie nach wie vor sehe, diese starke Fixierung auf

    technische Möglichkeiten etwas abblendet, das Claus eben verfolgt und

    eingebracht hat und das ich für relevant halte. Eben die Bereiche, die

    eben speziell mit individuellen und kognitiven Prozessen zu tun haben.

    Das ist nichts Dualistisches, sondern das hängt unmittelbar miteinander

    zusammen. Und die Fixierung auf Grammatologisches oder auf

    Aufschreibsysteme, wie es bei Kittler heißt, hat als andere Seite der

    Medaille die Bereiche, die im Menschlichen siedeln. Damit meine ich

    solche Prozesse wie in der Selbstbeobachtung. Das ist etwas, das Claus

    in engem Kontakt mit Medientechnologie... Er war ja dann auch im

    Tonstudio mit Digitaltechnik und hat diese kleine Bandmaschine, die er

    Ende der fünfziger Jahre hatte, dann wesentlich erweitert mit

    zeitgenössischer Technologie. Da findet das praktisch schon statt, was

    ich meine.

  • Spr.1: Carlfriedrich Claus ist nicht ruhig gestellt im Archiv der gut

    abgehangenen Avantgarde. Das belegt nicht nur die aktuelle

    Ausstellung in der Akademie der Künste, sondern auch die sich

    häufenden Ausleihwünsche von Museen aus dem In- und Ausland und

    die Vielzahl der Publikationen über ihn in den letzten Jahren. Dass ein

    solcher Solitär und Einzelgänger nicht schulbildend hat wirken können,

    versteht sich von selbst.

    CD: Wiederaufnahme Basale Sprech-Operationsräume wie zuvor, vor

    O-Ton Lentz aufhören lassen.

    O-Ton (Milde): Ich denke, es liegt an der Einmaligkeit und der hohen

    Subjektivität und hohen Intensität, die dieses Werk von Carlfriedrich

    Claus hat. Das Werk ist so subjektiv und so authentisch, dass eine

    einfache Nachfolge schier undenkbar ist. Eine Nachfolge könnte in der

    Methode bestehen, so radikal auf Selbsterfahrung und Selbsterkundung

    auszugehen und das Erkundete im Kunstwerk zum Ausdruck zu bringen.

    Aber das müsste nicht unbedingt in einer formal ähnlichen Art und

    Weise erfolgen.

    Ich denke das Werk von Carlfriedrich Claus ist noch immer so

    unentdeckt und birgt noch so viel Überraschendes, auch Provokatives,

    wie man mindestens im akustischen Sektor immer noch merkt an der

  • Resonanz des Publikums, auch so viel noch nicht Gedachtes oder noch

    nicht im weiten Radius Geäußertes, dass es noch weit davon entfernt

    ist, musealisiert zu sein. Ich glaube, dass die Ausstellung in der

    Akademie, gerade weil neue Aspekte einbezogen werden, frühe

    Fotoexperimente, die bislang wenig wahrgenommen worden sind,

    andere Aspekte von Carlfriedrich Claus deutlich werden lässt, zumal mit

    Verblüffung zu beobachten ist, dass selbst ganz frühe Experimente, die

    zunächst in keinem Zusammenhang zu stehen scheinen mit dem, was

    das spätere singuläre Werk ausmacht, Aspekte aufweisen, die in

    unmittelbarem Bezug zur Herausbildung dieses Werks stehen.

    Spr.1: Geschlossen ist es nicht, dieses Werk, sondern sich aus sich

    selbst entwickelnd. Geschlossen ist es schon deshalb nicht, weil es

    immer wieder Grenzen auslotet und überschreitet, das Mögliche

    erkundet und das Unmögliche versucht. Das macht diesen Fremdkörper,

    der quer zu den bestehenden Gattungen der Künste liegt, so

    faszinierend. Man kann den Kern, die Grundlage seines Schaffens

    erahnen, aber ihn hörend und sehend vollständig ergründen kann man

    ihn nicht. Kann man die Selbstbeobachtung beobachten? Das

    zurückgelassene Werk ist ihre Spur.

  • O-Ton (Lentz): Wie kann man Claus anwenden? Kann man gar nicht.

    Das meinte ich damit, dass der Subjektbegriff bei ihm sich

    möglicherweise in seinem Subjekt erschöpft. So radikal und existenziell

    das sein mag, so ist es trotzdem nur die Marke Carlfriedrich Claus. Der

    kann auch keine Schüler haben. Was wäre das für ein Ergebnis? Das

    wären Kopisten und kopierte Existenzen. Man kann dann wirklich nur

    hoffen, dass man das ganz Andere macht. Auch die Grenzauslotung, die

    er zumindest intentional für sich selbst so gespürt hat, da kann man

    auch nur darüber spekulieren. Wir haben nur das Elaborat auf Tonband

    oder auf der Leinwand, auf Folie oder auf dem Glas, sonst haben wir

    nichts. Wir haben den Stillstand nur und nicht die Bewegung dieser

    Auslotung. Das Machen, dieser Prozess, deswegen heißt es ja auch

    Lautprozess, ist für ihn unabdingbar dazugehörend, im Sinne der

    Performanz von etwas. Wie aber kann man das, was ja auch paradox

    wäre, konservieren? Filmen? Würde es beim Filmen die Autosuggestion

    nicht so weit gehen, dass man sich als gefilmtes Medium selbst bedient?

    Was ja auch schon eine Entfremdung darstellt. Ist das nicht nur im

    Unbeobachtbaren zu tun? Usw. Die Grenzauslotung, das bleibt eine

    Utopie. Möglicherweise ist aber Claus derjenige, der sich am weitesten

    aus dem Fenster des bürgerlichen Hauses in den Außenraum dieser

    Utopie hinausgelehnt hat.

  • CD: Claus Archiv Nr. 25, wie am Anfang

    Spr.1: Carlfriedrich Claus, geboren 1930 in Annaberg-Buchholz,

    gestorben 1998 in Chemnitz. Den größten Teil seines Lebens hat er in

    der Kellerwohnung unter dem Kino Gloria verbracht, die nach Ende der

    Vorstellung nicht mehr beheizt wurde. Am Ende seines Lebens haben

    ihn Ruhm und Ehre noch erreicht, Ausstellungen, das

    Bundesverdienstkreuz, die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt. Valeri

    Scherstjanoi ist davon überzeugt, dass es ein erfülltes und in gewisser

    Weise glückliches Leben war. Und dazu hätte es dieser Ehrungen nicht

    bedurft.

    O-Ton (Scherstjanoi): Er war ein großer Künstler und ein großer

    Träumer, wenn auch Tagesträumer, denn nachts hat er immer

    gearbeitet. Er war der radikalste Künstler, den ich kenne. Dahinter steckt

    auch viel Menschenliebe. Nicht nur Menschenliebe, sondern auch

    Pflanzen, ich denke, er hat sich mit den Pflanzen auch unterhalten,

    schamanistische Beschwörungen, Pflanzen und Mäuse und Spinnen

    kommen in seinen frühen Texten vor. Er war ein sehr bescheidener

    Mensch und sehr freundlich.

  • CD: evtl. Von der randlos CD Georg Jappe: Flugzeugfunk, müsste dann

    unter dem O-Ton beginnen

    Spr.1: Die Beschäftigung mit seinem Werk hält an und vielleicht hat er

    auch das schon geahnt.

    O-Ton (Claus): Meldet euch ... Meldet euch ... Meldet euch ... Ja, macht

    das. Wenn ihr es könnt.