Forum Versorgung: Keynote "Pathologisierung sozialer Prozesse" von Prof. Dr. Dr. Wolfgang Schneider...

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Pathologisierung sozialer Probleme? Forum Versorgung: Neue Wege für psychisch Kranke Techniker Krankenkasse Berlin 4.9.2013 Prof. Dr. Dr. Wolfgang Schneider Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin Zentrum für Nervenheilkunde Universität Rostock

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Die Techniker Krankenkasse (TK) und verschiedene Fachexperten aus dem Bereich der Psychotherapieforschung sind am 4. September 2013 auf dem Forum Versorgung zum Thema „Neue Wege für psychisch Kranke“ in einen gemeinsamen Dialog zu Möglichkeiten und Chancen der Internet-Therapie getreten. Dieses Dokument zeigt die Präsentation des Referenten und Keynote Sprechers Prof. Dr. Dr. Wolfgang Schneider und kann für redaktionelle Zwecke und mit dem Hinweis "Quelle: Techniker Krankenkasse" honorarfrei verwendet werden. Eine Nutzung zu Werbezwecken ist ausgeschlossen.

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Pathologisierung sozialer Probleme? Forum Versorgung: Neue Wege für

psychisch Kranke Techniker Krankenkasse

Berlin 4.9.2013

Prof. Dr. Dr. Wolfgang Schneider Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und

Psychotherapeutische Medizin Zentrum für Nervenheilkunde

Universität Rostock

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Medikalisierung

Schaffung neuer Krankheiten

Risikofaktoren

Intensivmedizin

Schönheitschirurgie

Lifestylemedizin

Wellness

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Zunahme psychischer Erkrankungen??? Epidemiologie Versorgungsdaten: AU-Zeiten, Pharmakaverschreibungen Berentungen

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Moderne Psychiatrische Diagnostik (DSM-V und ICD-10

• Ausweitung des Krankheitsbegriffs • Zunahme von Diagnosen (DSM 1 bis DSM-IV) von

106 auf ca.390) • Absenkung der diagnostischen Schwellen

(Erhöhung der Sensitivität zuungunsten der Spezifität)

• Diagnostik fokussiert Symptome, Schwergrade und den Verlauf von„Störungen“/ Beurteilbarkeit?

• Formulierung von Risikosyndromen (psychosis risik- syndrom)

• Krankheitsursachen werden primär in biologischen Faktoren gesucht

• Biologisierung = Pharmakologisierung • Beispiele • Bipolare Störung des Kinder– und Jugendalter,

affektive Dysregulationsstörung • Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsyndrom

(ADHS) • Leichte neurokognitive Störung • Trauer mit depressiven Symptomatik soll als

„major depression“ klassifiziert werden

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Diagnosen als soziales „Machtinstrument“ (Labeling approach) Potenzielle Folgen der Diagnosenstellung für die Betroffenen (Stigmatisierung, Bedrohung der psychischen Integrität, Einleitung und Fixierung von Krankheitsprozesse, Verlust von Selbstwirksamkeit, Abhängigkeit aber auch sekundärer Krankheitsgewinn) Der subjektive Sinn von Symptomen oder psychischen „Störungen“ geht beim aktuellen Verständnis von Diagnosen verloren! „Symptombildung als Ausdruck von Widerstands- potenzial“

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Mediz. und paramedizinisches Versorgungssystem

Gesellschaft

Individuum

Medikaliserung/ Pathologisierung als Interaktion zwischen unterschiedlichen Ebenen

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Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Vielfalt

Komplexität Dynamik

Widersprüchlichkeit, wenig gesellschaft.

Struktur, Hohe soziale Kontrolle für Menschen in

prekären Lebenssitua- tionen,

Wenig soziale Netze,

Unsichere Bedingungen

d. Identitätsbildung, Unsichere

Beziehungen Beziehungen

Autonomie Durchsetzungs-

vermögen Narzissmus

Kommunikations- und

Interaktionsfähig- keit

Flexibilität in Bezug auf

Identität und Beziehungen

Mobilität

Egozentrismus Überforderung narzist. Krisen „Burn-out“ Hilflosigkeit Abhängigkeit Depressivität Vereinsamung Ängste Somatisierung Aggression

geforderte individuelle Kompetenzen

Relevante psychische und psychosomatische Folgen

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Die modernen Krankheiten - zwischen Realität, Dramatisierung und Krankheitsgewinn - als Produkt der Medien, Politik, Medizin und den Individuen

Burn-Out

Mobbing

Posttraumatische Belastungsstörungen

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Diagnostik

Interventionen Therapie

AU-Schreibung

Krankheitser- leben und

Behandlungser-wartungen

Das medizinische Versorgungssystem

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Wieviel Störungen der Befindlichkeit sind „normal“? Leidensdruck, Krankheitskon- zept, Selbstkonzept, Leistungskonzept,

Das Individuum

Erleben von Befindlichkeitsstörungen, z.B. Erschöpfung, Schmerz, Schlafstörungen, depressiver Stimmung, Ängsten, Stress etc.

Kausal- und Kontrollattribuierungen, sekundärer Krankheitsgewinn, Veränderungskonzept? Behandlungsmotivation? Chronisches Krankheitsverhalten?

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Psychosoziale Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit

• Unzufriedenheit mit der

Lebenssituation • Selbstwertverlust, • Kontrollverlust • geringes Aktivitätsniveau • soziale Isolation/ Einsamkeit • Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit • Depressivität, Ängstlichkeit • Resignation bis Apathie • Jedwede psychischen

Erkrankungen • Morbidität deutlich höher als bei

Erwerbstätigen (Selektions- vs. Kausalitätshypothese)

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Akteure im Versorgungssystem: Hausarzt/Fachärzte, ärztliche und psychologische Psychotherapeuten,Krankenhaus, MDK, Rehabilitation, Ärzte der Agentur für Arbeit, Gutachter, Betriebsärzte, Krankenkassen, Rentenversicherer, Private Versicherungen, Gerichte, Rechtsanwälte, Sozialverbände

Individuum fühlt sich widersprüchlichen Intentionen hilflos ausgesetzt, erlebt oft Willkür!

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Chronisches Krankheitsverhalten

• Vertrauensverlust • in die Funktionsfähigkeit des eigenen Körpers (physische Bedrohung) • in die psychische Funktionsfähigkeit (Selbstwertbedrohung) • Zunehmende Passivität und Hilflosigkeit, die zu körperlichem,

psychischem und sozialen Schonverhalten führen • Zunehmende Inanspruchnahme diagnostischer und therapeutischer

Leistungen • Zunehmende Abhängigkeit vom medizinischen Versorgungssystem bzw.

vom Rehabilitationssystem • Berentung

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Motivationale Faktoren des Rentenwunsches

• Existenzsicherung • Identitätsstiftende Funktion • Individuelle und kollektive Entstigmatisierung • Wiedergutmachung • Reduktion von Depressivität und Hilflosigkeit • Erfüllung von passiven Versorgungswünschen • Sekundärer Krankheitsgewinn

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Auswertung von 100 sozialrechtlichen Gutachten zur Minderung der Erwerbsfähigkeit (2003-2007) der Klinik Für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin Universität Rostock Dauer der Arbeitslosigkeit: >1 Jahr: 5 <1 Jahr: 12 < 3 Jahre: 83 Geschlecht: 40 Frauen, 60 Männer Alter: MW = 48, 70, SD= 6,57, Min: 33, Max: 60

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Somatische Diagnosen und somatische Vorbehandlungen

14 21

48

17

0

10

20

30

40

50

60

0 musculoskeletaldisorders

>= 3musculoskeletal

disorders

4 bis 6musculoskeletal

disorders

< 6musculoskeletal

disorders

5 19

52

24

0

10

20

30

40

50

60

0 somaticdiagnosis

>= 5 somaticdiagnosis

6 bis 10somatic

diagnosis

< 10 somaticdiagnosis

freq

uenc

y

29

52

19

0

10

20

30

40

50

60

1 bis 3 somaticpretreatment

4-6 somaticpretreatment

< 6 somaticpretreatment

freq

uenc

y

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5,21 3,87

6,12 7,35

8,21

6,43

4,33 5,53

0,00

1,00

2,00

3,00

4,00

5,00

6,00

7,00

8,00

9,00

Mea

n +

SE

FPI examinedpersonspatients

life satisfaction (T180= 3,29,

p=.00**)

irritability (T187= -2,72,

p=.01**)

physical complaints (T189= 4,70,

p=.00**)

openness (T188= -2,92,

p=.00**)

Vergleich zwischen Gutachtenprobanden und stationären Psychotherapiepatienten (independent-sample-t-test)

somatization (T188= 7,51,

p=.00**)

phobic anxiety

(T183= 2,51, p=.01**)

global severity index

(T192 = 1,84, p=.07(*))

paranoid ideation

(T186= -2,33, p=.02*)

2,05

1,19 1,09 0,73 0,75

1,04 1,31

1,12

0,00

0,50

1,00

1,50

2,00

2,50

Mea

n +

SE

SCL-90-R examinedpersonspatients

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3,37 3,13

2,60

3,61

2,85

3,94

3,26 3,77

3,02

3,62 3,57

2,83

2,08

3,79

0,00

0,50

1,00

1,50

2,00

2,50

3,00

3,50

4,00

4,50

Mea

n +

SE

Ergebnisse des FMP examined persons

patients

Krankheitser-leben

(T175= 2,81, p=.01**)

Laienätiolo- gie

(T174= -8,50, p=.00**)

Behandlungs-erwartungen

(T176= -13,19, p=.00**)

Offenheit gg. Psychotherapie (T172= -7,41,

p=.00**)

Gesamtwert Psychotherapie (T171= -9,45,

p=.00**)

Leidensdruck (T175= 7,79,)

Krankheitsge- winn

(T177= -11,43, p=.00**)

Vergleich zwischen Gutachtenprobanden und stationären Psychotherapiepatienten (independent-sample-t-test)

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Partizi- pation Aktivität Funktions-

Störung

Psycho- Soziale

Entwicklung Längs- schnitt

Aktuelle psychoso-

ziale Belastun-

gen

Krankheits- Verarbeitung

Verände- rungsmoti-

vation, Vorbehand-

lungen

Interview, Testpsy- chologie,

Körperliche Untersu- chung,

Aktenlage, Assessment-

Center

Methoden

Problem: Validität; Aggravation, Simulations- oder Dissimulation

Diagnostische Ebenen der Leistungsbeurteilung

19

International Classification of functioning, disability andhealth

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Vorgutachter 1 (N= 98, missing = 4)

Vorgutachter 2 (N= 90, missing = 7)

9 21

70

1 11

7 4

24

3 8

52

8 8

67

7 7

80

0 20 40 60 80Häufigkeit

erwerbsfähig

Eingeschränkt erwerbsfähig

Vorgutachter 3 (N= 69, missing = 6)

Vorgutachter 4 (N= 41, missing = 6)

Vorgutachter 5 (N= 14, missing = 2)

Gutachter (N= 100, missing = 0)

Einschätzung der beruflichen Leistungsfähigkeit

nicht erwerbsfähig

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Was nun?

- Soziale Probleme auf der gesellschaftlichen Ebene lösen (Politik, Gewerkschaften, Medien, medizinisches Versorgungssystem) Risiken und etwaige Folgen differenziert betrachten und bewerten -Den Selbstlauf der ökonomischen Interessen der Akteure im Gesundheits- und Sozialsystem begrenzen -Strukturelle Probleme im medizinischen Versorgungssystem: Druck zur Diagnosenstellung und Indikation zur Behandlung (Psychopharmaka und Psychotherapie)

-Die Probleme von Individuen ernst nehmen aber nicht unnötig pathologisieren , Selbstverantwortung und –wirksamkeit stärken, Erwei- terung von qualifizierten Beratungsangeboten -Günstige psychosoziale Entwicklungsbedingungen fördern!