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Pascal Bruckner

Der SchuldkomplexVom Nutzen und Nachteil derGeschichte für Europa

Aus dem Französischenvon Michael Bayer

Pantheon

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Munken Premiumliefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

Erste AuflageJanuar 2008

Copyright © 2006 Éditions Grasset & Fasquelle, ParisCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by Pantheon Verlag,München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, MünchenLektorat: Matthias Weichelt, BerlinSatz: Ditta Ahmadi, BerlinDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany 2008

ISBN: 978-3-570-55045-8

www.pantheon-verlag.de

SGS-COC-1940

Die französische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »La tyrannie de la pénitence« bei Éditions Grasset & Fasquelle, Paris.

Für Laurent Aublin,

meinen ältesten und treuesten Freund,

in Erinnerung an den Schlafsaal des Lycée Henri-IV

und den Dôme des Écrins

Inhalt

Einleitung 13

I Die Kolporteure der Schande 17

Die Verzagtheit und das Unabänderliche 19

Die stotternde Ideologie 22

Die Flagellanten der westlichen Welt 26

Das Verlangen nach Strafe 35

DER LINKSISLAMISMUS

ODER WECHSELSEITIGER BETRUG 37

II Die Verzagtheit und das Unabänderliche 39

Pathologien der Schuld 41

Den Feind in die Arme schließen 41

Die Eitelkeit des Selbsthasses 46

Reue als Einbahnstraße 52

Der verlogene Streit um die Islamophobie 59

SIE HABEN UNS GEWARNT! 64

III Die wiedergefundene Quelle der Unschuld 67

Wie nah ist der Nahe Osten? 70

»Der Zionismus, die kriminelle DNS der Menschheit« 73

Die Demaskierung des Usurpators 77

VOM RECHTEN GEBRAUCH DER BARBAREI 81

Ein heikles Richteramt 83

Der verfluchte Abkömmling 88

BOUNTY, CAPPUCCINO, ONKEL TOM 92

IV Der Fanatismus der Bescheidenheit 95

Eine späte Bekehrung zur Tugend 97

Das Reich der Leere 99

Die Befriedung der Vergangenheit 102

Der eingebildete Schuldige 106

Seine Selbstachtung wiedergewinnen 109

Die doppelte Lehre 114

WAS IST EIN BÜSSERSTAAT? 116

V Das zweite Golgatha 119

Widersprüchlichkeiten zu Auschwitz 122

Die Hitlerisierung der Geschichte 126

Die doppelte Kolonialnostalgie 134

EIN FEIND IST UNS GEBOREN! 141

VI Hört mein Leiden 145

Vom Opferstatus als Karrierechance 148

Die Minderheiten schützen oder den Einzelnen

emanzipieren? 154

FRAGEN ZUR SKLAVEREI 161

Pflicht zur Erinnerung? 163

PORTRÄT DER VERDAMMTEN DIESER ERDE

ALS REBELLISCHE KONSUMENTEN 169

VII Depression im Paradies

Frankreich, Symptom und Karikatur Europas 173

Ein universelles Opfer? 176

Das Chagrin-Leder 183

Wer sind die Reaktionäre? 187

Der Triumph der Angst 191

Wandel oder Niedergang? 193

EUROPA OHNE GRENZEN 195

VIII Zweifel und Glaube

Europa und die Vereinigten Staaten 199

Sein oder Haben 201

Antreiber und Unruhestifter der Geschichte 206

Der antiquierte Soldat 209

Der prahlende Riese 213

DIE VERSÖHNUNG 218

Schlussbetrachtung

Ein vergiftetes Geschenk 221

Anmerkungen 229

»Ich habe zu viel vom schwarzen Blut der Toten getrunken.«

Michelet

»Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen, getrieben von

mittelmäßigen und unbarmherzigen Ideologien, daran

gewöhnt sind, sich für alles zu schämen. Sie schämen sich

für sich selber, sie schämen sich, glücklich zu sein, zu lieben

und zu glauben … Man muss sich also schuldig fühlen.

Und so schleppt man uns nun zum weltlichen Beichtstuhl,

dem schlimmsten von allen.«

Albert Camus, Actuelles,

Écrits politiques, 1948

Einleitung

Mitten im Winter wird eine nordeuropäische Großstadt von

einer ungewöhnlichen Hitzewelle erfasst. Ein riesiger Asteroid

nähert sich der Erde. Die Einwohner strömen nachts im Schlaf-

anzug auf die Straße, wischen sich den Schweiß von der Stirn,

suchen den Himmel ab und starren voller Entsetzen auf den

zusehends größer werdenden Meteoriten. Alle haben Angst,

dass diese ungeheure Masse geschmolzener Materie mit unse-

rem Planeten zusammenstoßen könnte. Selbst die Ratten flüch-

ten panisch aus der Kanalisation, die Reifen der Autos platzen

durch die »irre Hitze«, und sogar der Straßenasphalt weicht

auf. In diesem Augenblick taucht eine seltsame, langbärtige und

in ein weißes Tuch gehüllte Gestalt auf und wendet sich an die

Menge. Sie schlägt einen Gong und ruft laut: »Das Strafgericht

kommt über uns! Tuet Buße! Das Ende aller Zeiten ist da.«

Wir müssen schmunzeln über diesen seltsamen Propheten,

der seine Mitmenschen mit Unheilsankündigungen überfällt,

zumal es sich um eine Szene aus Hergés Tim- und Struppi-

Comic Der geheimnisvolle Stern handelt.1 Aber aus diesem wir-

ren Wortschwall tönt doch ein Schrei, der eine tiefe Wahrheit

unserer Zeit enthält: »Tuet Buße!« Dies ist die Botschaft gegen

den allseits proklamierten Hedonismus, die uns die westliche

Philosophie seit einem halben Jahrhundert einzuhämmern ver-

sucht, wobei sie gleichzeitig Sprachrohr der Emanzipation und

schlechtes Gewissen ihrer Zeit sein möchte. Sie impft uns, wenn

auch in atheistischer Form, den alten Begriff der Erbsünde ein,

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das Gift der Verdammnis. Im jüdisch und christlich geprägten

Teil der Welt gibt es keine stärkere Triebkraft als das Gefühl der

Verfehlung, und je heftiger sich unsere Philosophen und Sozio-

logen als Agnostiker, Atheisten oder Freidenker ausgeben, desto

sicherer führen sie uns zu diesem alten Glauben zurück, den sie

angeblich ablehnen. Schon Nietzsche erkannte, dass die welt-

lichen Ideologien sich im Namen der »Humanität« christlicher

als das Christentum gebärden und sogar noch über dessen Bot-

schaft hinausgehen.

Das gesamte moderne Denken, vom Existentialismus bis

zum Dekonstruktivismus, ist eine einzige mechanisch wieder-

holte Anprangerung des Westens, seiner Heuchelei, Gewalt-

tätigkeit und Schändlichkeit. Die hellsten Köpfe haben einen

Gutteil ihres Geistes dabei verloren. Nur wenige konnten sich

der geistigen Routine entziehen, religiösen Revolutionen oder

Unterdrückerregimen zu applaudieren, sich an der Schönheit

terroristischer Akte zu berauschen oder irgendeine Guerilla-

bewegung zu unterstützen, weil diese unser imperiales Sys-

tem bekämpft. Fremden Diktaturen gilt ihre ganze Nachsicht,

unseren Demokratien stehen sie dagegen unversöhnlich und

kompromisslos gegenüber. Es kommt zu einem unaufhörlichen

Kreislauf: Ein zunächst subversives kritisches Denken wendet

sich gegen sich selbst und wird dabei konformistisch, glori-

fiziert diesen Konformismus aber in Erinnerung an die frühere

Rebellion. Die einstige Kühnheit wird zur bloßen Denk-

schablone. Schuld- und Reuegefühle lösen sich von den kon-

kreten geschichtlichen Ereignissen und werden dogmatisch,

eine Art spiritueller Ware, ja beinahe eine Tauschwährung. Zur

Aufrechterhaltung dieses regelrechten geistigen Handels kön-

nen sogar Funktionäre nach Art der alten Feuerwächter und

Marktbüttel berufen werden, die Denk- und Sprechgebote auf-

stellen. Bei der geringsten Abweichung erheben diese Vorturner

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der Zerknirschung ihre Stimme, betätigen sich als Sprach-

polizisten und erteilen oder verweigern ihr Imprimatur. In

dieser großen Geistesfabrik sind sie es, die Türen öffnen oder

schließen. Dieses wiederholte Ansetzen des Skalpells an sich

selbst wollen wir von nun an als Bußpflicht bezeichnen. Wie

jede Ideologie erscheint auch dieser Diskurs von Anfang an evi-

dent. Kein weiterer Beweis, keine weitere Demonstration ist

nötig, die ganze Angelegenheit ist klar: Man muss sie nur noch

wiederholen und bestätigen. Die Bußpflicht ist eine Kampf-

maschine mit mehreren Funktionen, sie rügt, sie verbietet, sie

ermuntert und sie unterscheidet.

Zuallererst verbietet sie dem in alle Ewigkeit schuldigen

westlichen Block, über andere Regierungsformen, Staaten und

Religionen zu richten und diese zu bekämpfen. Nach unseren

früheren Verbrechen haben wir den Mund zu halten. Unser ein-

ziges Recht ist Schweigen. Es bietet den Bußfertigen allerdings

auch angenehme Rückzugsmöglichkeiten. Zurückhaltung und

Neutralität erlösen uns von unseren Sünden. Wir engagieren

uns nicht mehr und nehmen keinen Anteil an den Angelegen-

heiten unserer Zeit, außer durch Unterstützung derjenigen, die

wir einst unterdrückt haben. Auf diese Weise entstehen zwei

Versionen des Westens: der gute Westen, das alte Europa, das

sich verkriecht und schweigt, und der böse Westen, die Ver-

einigten Staaten, die intervenieren und sich in alles einmischen.

Allerdings richtet man nicht ungestraft ganze Generatio-

nen dazu ab, sich selbst zu kasteien. Die negativen Auswirkun-

gen haben allerdings einen gewissen Nebeneffekt. Eine Bewe-

gung, über die ich bereits 1983 berichtet habe,2 breitet sich aus

und gewinnt an Bedeutung. Aber wir befinden uns nicht mehr

in der Zeit des »schluchzenden weißen Mannes«, diesem kurz-

zeitigen Fußfall des einstigen Herrn vor seinen ehemaligen Die-

nern, als Kalter Krieg und Hoffnung auf Weltrevolution einen

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Kontinent elektrisierten, dessen östliche Hälfte noch von der

UdSSR kolonisiert war. Die Alte Welt wurde inzwischen zum

Opfer ihres Sieges über den Kommunismus und verfiel nach

dem Mauerfall in eine fast vollständige Bewegungslosigkeit.

Der Siegeseuphorie folgte die Verzichtsatmosphäre. Die ganze

Welt – ob Afrika, Asien oder der Nahe Osten – klopft an die Tür

Europas und möchte hier in einem Augenblick Fuß fassen, da

dieser Kontinent sich im Selbsthass suhlt. Dieses Buches will

das Paradoxon verstehen, unseren moralischen Niedergang

umreißen und theoretische Möglichkeiten entwickeln, mit de-

nen dieser aufgehalten werden kann.

IDie Kolporteure der Schande

»Jeder ist verantwortlich für alle anderen,

jeder ist schuldig und ich mehr als alle anderen.«

Fjodor M. Dostojewski,

Die Brüder Karamasow

Die Verzagtheit und das Unabänderliche

Die ganze Welt hasst uns, und wir haben es verdient: Dies ist die

feste Überzeugung der meisten Europäer, zumindest im Wes-

ten. Tatsächlich wird unser Kontinent seit 1945 von regelrech-

ten Reuequalen heimgesucht. Wieder und wieder grübelt er

über seine Schandtaten, die Kriege, die religiösen Verfolgungen,

die Sklaverei, den Imperialismus, den Faschismus und den

Kommunismus, seine lange Geschichte erscheint ihm als eine

ununterbrochene Abfolge von Mord und Totschlag, mit den

beiden Weltkriegen, also dem begeisterten kollektiven Selbst-

mord, als Höhepunkt und Abschluss. Unsere Bilanz besteht aus

einzigartigen Schrecken, der Industrialisierung des Todes in

den nationalsozialistischen und sowjetischen Lagern, den bluti-

gen Gauklern, diesen Idolen der Massen, und der Erfahrung des

zu bürokratischer Routine gewordenen absoluten Bösen. Selbst

die größten Tugenden, Arbeit, Ordnung, Disziplin, wurden

schlimmsten Zwecken unterworfen, die Wissenschaften ent-

ehrt, die Kultur in all ihrer Anmaßung lächerlich gemacht und

jeder Idealismus pervertiert und verunstaltet. Gleich einem an-

geschlagenen Boxer, der sich die Schläge selbst versetzt hat,

fühlt sich Europa von seinen Missetaten überwältigt, die es

nicht mehr ertragen zu können glaubt. Keine Nation im Westen

oder Osten dieser kleinen Landzunge Asiens, die keine Gewis-

sensprüfung nötig hätte, deren Geschichte nicht voller Leichen,

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Wachtürme, Folterungen und Machtmissbräuche wäre. All

diese erhabenen Werke, diese hohe Metaphysik und fein zise-

lierte Philosophie führten zu nichts anderem als zu Bürgerkrie-

gen, Massengräbern, Gaskammern, Konzentrationslagern und

zum Gulag. Europa verknüpfte auf einzigartige Weise die Re-

chenfähigkeit mit dem Massenmord und entwickelte höchst

methodisch und systematisch einen Entmenschlichungsappa-

rat, der seinen Höhepunkt im 20. Jahrhundert fand. In unserer

Zivilisation ist eine Art böser Zauber verborgen, der ihren Sinn

verdreht und ihre Erhabenheit und Größe ins Lächerliche zieht.

Die Gipfel des Denkens, der Musik und der Kunst, all dieser

unnütze und tragische Luxus, führten nur in die Abgründe der

Verworfenheit.

Bereits 1955 stellt Claude Lévi-Strauss in seinen Traurigen

Tropen angesichts des Schicksals der brasilianischen Indianer

bestürzt fest, dass diese »von jener ungeheuerlichen und unbe-

greiflichen Katastrophe zu Boden geschmettert worden« seien,

»welche die Entwicklung der westlichen Kultur für einen

ebenso großen wie unschuldigen Teil der Menschheit bedeu-

tete«.1 Dieses Gefühl der Abscheu erleben heute noch unzählige

Reisende und Theoretiker. Vierzig Jahre nach Lévi-Strauss ge-

langt der Philosoph Jean-Marc Ferry zu einer ähnlichen Fest-

stellung: »Wir alle zusammen haben vieles, für das wir um

Verzeihung bitten müssten … Wir müssen uns immer wieder

kritisch vergegenwärtigen, dass wir ganzen Völkern auf allen

Kontinenten Gewalt angetan haben, um unserer eigenen Sicht

von Humanität und Zivilisation zum Sieg zu verhelfen.«2 Voller

Bedauern schreibt ein Historiker, der sich auf die Geschichte

Algeriens spezialisiert hat: »Die Franzosen haben ihre Schuld

niemals als konstitutiven Teil ihrer Geschichte anerkannt.«3 Ed-

gar Morin hielt 2005 eine Reihe von Vorträgen, in denen er im

befriedeten Europa – und in ihm allein – ein barbarisches Fer-

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ment zu erkennen meinte: »Man muss die europäische Barbarei

ganz begreifen, um sie zu überwinden, denn immer noch ist das

Allerschlimmste möglich. Inmitten der drohenden Wüste der

Barbarei genießen wir im Augenblick den relativen Schutz einer

Oase. Aber wir wissen doch auch, dass wir uns in historisch-

politisch-gesellschaftlichen Umständen befinden, die, vor allem

in krisenhaften Momenten, das Schlimmste denkbar erschei-

nen lassen.«4

Jeder Bewohner dieses Kontinents muss sich also darüber

im Klaren sein, dass Europa der kranke Mann des Planeten ist

und diesen mit seiner Pestilenz ansteckt. Auf die Frage nach der

Schuld in der metaphysischen Bedeutung des Wortes wird die

herrschende Meinung Europas spontan antworten: Wir selbst

tragen sie. Der Westen, diese unselige Verbindung von Alter

und Neuer Welt, ist »eine unpersönliche, seelenlose und führer-

los gewordene Maschine«, die »die Menschheit in ihren Dienst

gestellt hat«. Sie trachtet nach »Revanche für die Kreuzzüge«

und möchte ihre »entfesselten Leidenschaften« überallhin

exportieren.5 Es gibt keine Ungeheuerlichkeit in Afrika, Asien

oder dem Nahen Osten, für die dieser Westen nicht verantwort-

lich wäre:

Die Dritte Welt ist das Ventil für die durch den regellosen Mecha-

nismus der ungezügelten Konkurrenz entfesselten Leidenschaften.

Den wahnsinnigen Blutbädern in der Dritten Welt, die Angst und

Schrecken in die Strohhütten tragen und uns in der Überzeugung

von der Barbarei des Anderen bestärken, liegen die durch den

Westen geschaffenen Frustrationen zugrunde. Die Beispiele sind

zahlreich: das friedliche Kambodscha, das nach der amerikani-

schen Intervention in einem beispiellosen Völkermord versinkt,

der Iran, der durch eine englisch-amerikanische Intervention um

seine bürgerliche Revolution unter Mossadegh gebracht wird, der

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blindwütige Terrorismus der Menschenentführungen, Flugzeug-

entführungen, Geiselnahmen, der durch die alptraumhafte Situa-

tion im Nahen Osten hervorgerufen wurde.6

Die Völkervernichtung ist ein »Herzstück europäischen Den-

kens« (Sven Lindqvist) und der Imperialismus Europas nach

eigener Einschätzung »ein biologisch notwendiger Prozess, der,

einem Naturgesetz folgend, zum unvermeidlichen Untergang

niederer Rassen führt«.7 »Dafür konnte der Westen wahr-

scheinlich nur deshalb Computer herstellen, weil die Menschen

irgendwo an Hunger und unerfüllten Wünschen starben.«8

Wenn dem so war, gab es nur eine Möglichkeit: Man musste

dieser »alles auflösenden Macht«9 mit allen Mitteln entgegen-

treten!

Die stotternde Ideologie10

Ein Europa, das sich gegen sich selbst richtet: Bekanntlich ist

antiwestliches Denken eine europäische Tradition, die von

Montaigne bis Sartre reicht und jedem guten Gewissen Relati-

vismus und Zweifel einpflanzt, das zuvor von seinem Recht

überzeugt war. Es gehörte noch eine gewisse Kühnheit dazu, zu

Las Casas’ Zeiten die Barbarei der Konquistadoren oder in der

Epoche des Imperialismus die Großmächte anzuprangern.

Heute zeugt ein Angriff auf Europa bloß von bravem Mitläufer-

tum. 1925, mitten im marokkanischen Rifkrieg, in dem aufstän-

dische Stämme gegen die französischen und spanischen Trup-

pen kämpften, konnte ein gerade 28-jähriger Louis Aragon in

Madrid vor Studenten eine großartige und verrückte Rede hal-

ten, die vor Wut nur so überschäumte:

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Pascal Bruckner

Der SchuldkomplexVom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Paperback, Klappenbroschur, 256 Seiten, 12,5 x 20,0 cmISBN: 978-3-570-55045-8

Pantheon

Erscheinungstermin: Januar 2008

Gegen die Tyrannei der Selbstgeißelung Mit seiner jüngsten Streitschrift hat der bekannte französische Philosoph und Publizist PascalBruckner eine lebhafte Debatte über unser Verhältnis zur eigenen Geschichte entfacht. Ganzgleich ob wegen Sklaverei, kolonialer Vergangenheit oder Faschismus – in Europa ist dasSprechen über Schuld und Scham seit dem Zweiten Weltkrieg das höchste politische undmoralische Gebot. Die permanente Büßerhaltung verstellt jedoch den Blick dafür, wie wirverantwortungsvoll mit der eigenen Geschichte umgehen und für die Zukunft aus ihr lernenkönnen. Die Welt hasst uns, und wir verdienen es, ja wir lieben es geradezu, gehasst zu werden – solautet jedenfalls die feste Überzeugung einer Mehrheit der Europäer. Seit 1945 sind wir esgewohnt, in einer übertriebenen, unreflektierten Büßerhaltung zu erstarren. Beinahe lustvoll, soscheint es, erinnern wir uns immer wieder an vergangene Kriege, religiöse Verfolgung, Diktaturoder Sklaverei. Oft genug handelt es sich dabei jedoch um bloße Lippenbekenntnisse.In seinem mitreißenden Essay prangert der Philosoph und Schriftsteller Pascal Brucknerdiesen »westlichen Masochismus« an und kritisiert die in Europa verbreitete Haltung,sich lieber jeder nur erdenklichen historischen Schuld zu bezichtigen, als hier und jetztVerantwortung zu übernehmen. Thesenfreudig und meinungsstark setzt er sich mit unseremGeschichtsverständnis auseinander, ohne einem neuen Revisionismus das Wort zu reden.Bruckner geht es nicht darum, begangene Verbrechen zu relativieren, im Gegenteil: Er fordertvielmehr eine Debatte heraus, die nicht zu Geschichtsvergessenheit führt, sondern uns zeigt,wie wir die Erinnerung an historisches Unrecht für das Gestalten der Zukunft nutzen können.