R. L. Stine - Fear Street - Eifersucht

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R. L. Stine

Eifersucht Nur eine kann gewinnen

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Sabine Tandetzke

Loewe

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Stine, Robert L.:

Fear Street / R. L. Stine. – Bindlach : Loewe Eifersucht : Nur eine kann gewinnen /

aus dem Amerikan. übers, von Sabine Tandetzke . – l. Auflage 2001 ISBN 3-7855-4020-5

ISBN 3-7855-4020-5 - l. Auflage 2001 Titel der Originalausgabe: Killer’s Kiss

Englische Originalausgabe Copyright © 1995 Parachute Press, Inc.

Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweise!! Wiedergabe in jedweder Form.

Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York.

Fear Street ist ein Warenzeichen von Parachute Press. © für die deutsche Ausgabe 1998 Loewe Verlag GmbH, Bindlach

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke Umschlagillustration: Arifé Aksoy

Umschlaggestaltung: Pro Design, Klaus Kögler Satz: DTP im Verlag

Gesamtherstellung: Wiener Verlag Printed in Austria

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Kapitel 1 »Boah!«

Vincent Milano ließ sich mit einem tiefen Seufzer in die Sofakissen fallen. Auf seiner Wange konnte er immer noch die Berührung von Delia Eastons Lippen spüren.

Er sah ihr zu, wie sie ihren dunkelroten Lippenstift auftrug, der in einer silbernen Hülse steckte.

Zuerst fuhr sie sich damit über die volle Unterlippe. Dann verteilte sie ihn auf der Oberlippe. Sorgfältig zeichnete sie die Konturen ihres Mundes nach.

Delia schien auch ohne Spiegel genau zu wissen, dass es tadellos aussah. Nachdem sie die Lippen noch ein paar Mal kurz aufeinander gepresst hatte, tupfte sie sie mit einem Papiertuch ab, das sie auf den Couchtisch warf.

Ein perfekter Lippenabdruck verfärbte das weiße Tuch. Dunkelrote Lippen, die Vincent ebenso anzulächeln schienen wie Delia, die neben ihm auf der Couch saß.

Er fuhr sich mit der Hand durch sein welliges, dunkles Haar. Dann griff er an Delia vorbei, schnappte sich ein Papiertuch aus ihrer Tasche und wischte sich damit einen Lippenstiftfleck von der Wange.

»Worüber haben wir eben gesprochen?«, fragte er und strahlte Delia mit seinem unwiderstehlichen Vincent-Milano-Lächeln an.

»Wir wollten gerade deine Geburtstagsparty planen«, antwortete Delia. Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Aber ich schätze, das müssen wir verschieben. Es ist schon spät. Ich sollte mich langsam mal auf die Socken machen.«

Vincent robbte ein Stückchen näher. »So spät ist es doch noch gar nicht. Musst du wirklich schon gehen?« Er streichelte sie mit dem Finger zart unter dem linken Ohr.

Delia kicherte. Dann warf sie einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster. »Deine Eltern kommen wahrscheinlich bald nach Hause«, meinte sie.

»Aber noch sind sie nicht da.« Vincent drehte sich zum Fenster.

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Sehr viel sehen konnte er nicht - nur Delias kleinen, roten Jetta, der in der Auffahrt geparkt war. Die Straße vor dem Haus lag verlassen da. »Sie werden noch eine Weile wegbleiben.« Genau genommen würden Vincents Eltern sogar erst in einigen Stunden zurückkommen. Aber er erwartete um neun noch jemanden.

Jemanden, den Delia auf keinen Fall sehen sollte. Er warf einen schnellen Blick zur Uhr auf dem Kaminsims. Erst halb neun. Noch jede Menge Zeit, bevor Karina kam.

Während er auf sie wartete, konnte er sich ruhig noch ein bisschen amüsieren.

Vincent küsste Delia noch einmal. Sie würde nie im Leben auf die Idee kommen, dass sein strahlendes Lächeln etwas mit Karina Frye zu tun hatte.

»Mmmm.« Delia sah mit funkelnden, braunen Augen zu ihm auf. »Ich war heute unterwegs, um neue Klamotten zu kaufen«, sagte sie zu ihm. »Für deinen Geburtstag suche ich nämlich was ganz Besonderes.

Ich hab einen engen lilafarbenen Rock anprobiert, aber ich war mir nicht ganz sicher…«

»Na, toll!«, dachte Vincent. »Karina und Delia glauben beide, dass sie mit mir zusammen Geburtstag feiern werden.«

Er lachte. »In Lila siehst du bestimmt echt scharf aus!« Delia wurde rot. »Stimmt doch auch«, sagte sich Vincent im Stillen. Und außerdem

wollte sie genau das hören. Also – was war falsch daran? Delia war keine Schönheit – so wie Karina. Aber sie fiel überall

auf. »Du hast tolle Haare«, flüsterte Vincent und fuhr mit der Hand

durch Delias lange, dunkle Locken. »Und dein knallroter Lippenstift macht mich total an«, fügte er hinzu.

Bingo! Da hatte er genau das Richtige gesagt. Delia drückte ihm einen heißen Kuss auf den Mund. Während er sie küsste, versuchte er, nicht an Karina zu denken.

Er würde sich nie zwischen den beiden entscheiden können. Dazu waren sie einfach viel zu verschieden. Man konnte sie überhaupt nicht miteinander vergleichen.

Karina hatte superglattes, blondes Haar und hellblaue Augen. Sie

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war hübscher als jedes andere Mädchen, das er je gesehen hatte. Irgendwie erinnerte sie ihn an Michelle Pfeiffer.

Delia war kontaktfreudig und ein ziemlich auffälliger Typ. Karina war lieb und ziemlich schlau. Er mochte sie beide – sehr sogar.

Wenn ihm das Glück treu blieb, konnte er sich weiterhin mit beiden treffen.

Delia seufzte. »Ich war ganz schön blöd zu denken, du würdest auf Karina stehen. Du bist deswegen doch nicht sauer, oder?«

Vincent ignorierte das unbehagliche Gefühl, das ihm durch den Magen schoss. Musste sie das Thema ausgerechnet jetzt ansprechen?

Delia hatte keinen blassen Schimmer, dass er sich mit Karina traf. Und Karina wusste nichts von Delia. Sonst würde sie ja wohl kaum zu ihm kommen.

»Ich bin nicht sauer.« Vincent bemühte sich, seine Stimme ganz ruhig klingen zu lassen. »Du und Karina, ihr streitet doch um alles. Also ist es nur logisch, dass ihr auch auf denselben Jungen steht.«

»Stimmt, es wundert mich überhaupt nicht, dass Karina hinter meinem Freund her ist.« Delia rückte ein Stück von Vincent ab und setzte sich aufrecht hin. »Seit wir klein waren, ist sie neidisch auf mich. Auf meine Klamotten, meine Noten, meine Freunde.« Delia seufzte. »Karina tut immer so, als wäre sie das brave Mädchen von nebenan. Aber kaum hatte sie mitgekriegt, dass wir zusammen sind, war sie auch schon hinter dir her.«

Vincent verdrehte die Augen. Er hatte niemals ein schlechtes Gewissen - und er würde jetzt bestimmt nicht damit anfangen. Aber es machte ihn höllisch nervös zuzuhören, wie Delia über Karina herzog.

Wieder warf er einen Blick auf die Uhr. Halb neun. Moment! Es konnte doch nicht immer noch halb neun sein! Vincent blieb vor Schreck die Luft weg. Hastig sprang er von der

Couch auf. »Vincent? Was ist denn los?«, rief Delia erstaunt. »Äh… nichts.« Er versuchte, ganz cool auszusehen, als er zum

Kamin hinüberschlenderte und sich unauffällig zur Uhr hinunterbeugte.

Kein Ticken. Sie war stehen geblieben.

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Und er hatte keine Ahnung, wann. Es konnte inzwischen längst neun Uhr sein!

Vincents Herz hämmerte gegen seine Rippen. Er drehte sich zu Delia um, die gerade angefangen hatte, eine neue Schicht ihres tiefroten Lippenstifts aufzutragen.

»Du… du hattest Recht mit meinen Eltern«, stotterte Vincent. Er lief durch den Raum, nahm Delia am Arm und zog sie von der Couch hoch. »Sie werden bestimmt bald zu Hause sein. Du gehst jetzt besser.«

»Was? Aber vor einer Minute hast du doch noch gesagt…« »Ich weiß, aber ich hab gar nicht gemerkt, wie spät es schon ist.«

Vincent drehte sich zum Fenster. Von Karina war noch nichts zu sehen. Aber sie würde bestimmt jeden Moment auftauchen.

»Meine Mum glaubt, dass ich für den Mathetest pauke«, erklärte er atemlos. »Das hab ich ihr jedenfalls gesagt.« Vincent drückte Delia ihre grün-rote Jacke in die Hand und schob sie zur Haustür. »Sie bringt mich um, wenn sie rausfindet, dass du hier gewesen bist.«

Er schaltete die Außenbeleuchtung ein und warf einen Blick nach draußen.

Keine Karina. Erleichtert riss er die Tür weit auf. »Wir sehen uns morgen in der

Schule«, stieß er hastig hervor. »Okay?« »Okay«, antwortete Delia und überprüfte noch einmal ihren

Lippenstift in dem großen Spiegel, der im Flur hing. Dann drückte sie Vincent einen schnellen Kuss auf die Wange. »Bis morgen«, sagte sie und trat aus der Tür.

Kaum war sie gegangen, raste Vincent ins Wohnzimmer und schüttelte die Sofakissen auf. Dann schnappte er sich das Papiertuch, das Delia benutzt hatte, um ihre Lippen abzutupfen, und stopfte es in seine Hosentasche.

Als er hörte, wie Delias Wagen ansprang, stürzte er gerade noch rechtzeitig zum Fenster, um ihr zum Abschied zuzuwinken. Kaum waren die roten Rücklichter ihres Jetta um die Ecke verschwunden, kamen auch schon die Scheinwerfer eines anderen Autos in Sicht.

Karina! Wieder begann Vincents Herz zu hämmern – aber diesmal vor

Aufregung. Er wartete am Fenster und beobachtete, wie Karina ihren

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silbernen Ellipse parkte und ausstieg. Im Mondlicht wirkte ihr langes, blondes Haar genauso silbern wie

ihr Auto. Sie hatte es zu einem seidig glänzenden Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihre Schultern streifte, als sie auf die Haustür zuging.

Vincent grinste in sich hinein, als Karina auf die beleuchtete Veranda trat. Sie trug einen kurzen, schwarzen Rock und eine dunkle Strumpfhose, die ihre langen Beine betonte. Obwohl es Februar war, hatte sie keinen Mantel an. Ihr Pulli passte perfekt zu ihren blauen Augen.

Vincent öffnete die Tür, bevor Karina klingelte. Er trat auf die Veranda hinaus und blickte die verlassene Straße hinunter.

»Puh, das war verdammt knapp!«, dachte er. »Karina!« Er lächelte. Sein unwiderstehliches Vincent-Milano-

Lächeln. »Wurde aber auch Zeit, dass du kommst. Ich hab mich den ganzen Abend tödlich gelangweilt.«

»Tut mir Leid, dass ich so spät dran bin«, antwortete Karina. »Aber weißt du was? Während ich herfuhr, habe ich über das Motto für deine Geburtstagsparty nachgedacht!«

»Lass uns später darüber reden.« Vincent legte die Arme um Karina und zog sie näher zu sich heran. Dann gab er ihr einen langen, sanften Kuss.

»Komm doch rein«, flüsterte er und zog sie durch die Tür. Aber kaum hatten sie den hell erleuchteten Flur betreten, wich alle

Farbe aus Karinas Gesicht, und ihr klappte der Unterkiefer herunter. »Oh, nein!«, keuchte sie. »Ich glaub’s einfach nicht!«

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Kapitel 2

»Hey? Was ist los?«

Vincent fuhr herum und warf einen Blick in den Flur hinter ihm. Nichts zu sehen.

Er drehte sich wieder zu Karina um. »Was hast du denn?« »Was ich habe?« Langsam kehrte die Farbe in Karinas Gesicht

zurück. Auf ihren Wangenknochen breiteten sich rote Flecken aus. »Was ich habe?«, wiederholte sie wütend. Sie befreite ihren Arm

aus seinem Griff und marschierte ins Bad. »Was ist nur mit ihr los?«, fragte sich Vincent. Karina kam mit einem Papiertuch zurück und wischte ihm damit

unsanft über die Wange. »Das habe ich«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen

hervor und hielt vorwurfsvoll das Tuch hoch. »Oh!« Vincent starrte betreten auf den dunkelroten Fleck. »Diese Farbe würde ich überall wiedererkennen!« Karina knüllte

das Papiertuch zu einem Ball zusammen und feuerte es auf den Boden.

»Karina – hey!«, begann Vincent. »Hör mal, ich…« »Delia! Sie war hier, nicht wahr? Sie weiß genau, dass wir

zusammen sind – und deswegen ist sie vorbeigekommen, um dich mir auszuspannen. Und du! Du hast sie geküsst!«

Vincent hatte Karina noch nie so aufgeregt erlebt. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Du kriegst das in den Griff, redete er sich gut zu. »Karina wird sich gleich wieder beruhigen.«

Aber nur, wenn er sich eine gute Ausrede einfallen ließ… Vincent bemühte sich, mit sanfter Stimme zu sprechen und ruhig

und unschuldig zu klingen. »Es ist nicht, wie du denkst«, versicherte er Karina.

»Ach, was du nicht sagst.« Sie verdrehte genervt die Augen. »Delia ist einfach hier bei mir aufgetaucht. Sie brauchte Hilfe bei

ihren Hausaufgaben in amerikanischer Geschichte. Das hat sie jedenfalls behauptet.«

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Karina warf ihm einen kalten Blick aus ihren blauen Augen zu. »Das erklärt aber nicht den Kuss.«

»Du weiß doch, wie Delia ist.« Vincent steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans. »Sie macht immer, was sie will – gnadenlos. Als sie ging, hat sie mich auf die Wange geküsst. Keine große Sache. Echt nicht.«

Karina seufzte und ging hinüber zum Fenster. »Sie wird langsam weich«, dachte Vincent erleichtert. »Zum Glück kann sie mir nie lange böse sein.«

Er folgte ihr. »Ich hab sie nicht zurückgeküsst oder so. Es war nur ein kleiner KUSS auf die Wange. Ehrlich.«

»Jetzt müsste sie eigentlich reif für eine Umarmung sein«, dachte er. »Und bereit, mir zu vergeben.« Zärtlich legte er ihr die Arme um die Schultern.

Mit einem ärgerlichen Knurren riss Karina sich los. »Delia ist nur scharf auf dich, weil sie weiß, dass du

mir gehörst. Sie will alles, was ich habe. Meine Noten. Meine Klamotten. Meine Freunde. Und jetzt ist sie sogar hinter dir her.«

Überrascht bemerkte Vincent, dass Tränen in ihren Augen glitzerten. Wieder griff er nach ihr. Aber sie schob ihn weg.

»Delia macht mich ganz krank!«, schrie Karina. »Ich hasse sie! Aber diesmal hat sie keine Chance!« Sie riss die Haustür auf und stürmte nach draußen.

Vincents Mund wurde ganz trocken. Fassungslos starrte er Karinas Rücken an, als sie zu ihrem Auto rannte.

Die Wagentür wurde zugeknallt. Die Scheinwerfer flammten auf. Der Motor sprang dröhnend an.

»Hey, Karina!«, rief Vincent schließlich. »Warte doch!« Er begann zu rennen und fuchtelte dabei mit beiden Händen wild

über dem Kopf herum. Der Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit rückwärts aus der

Einfahrt. Die Reifen quietschten auf dem Pflaster. Vincent sprintete durch den Vorgarten. »Karina! Halt an!«, rief er. Aber der Wagen wurde nicht langsamer. Vincent erhaschte gerade

noch einen kurzen Blick auf Karinas wütendes Gesicht, während sie davonraste.

Als sie um die Ecke preschte, quietschten die Reifen wieder auf. Er

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konnte nicht aufhören, an Karinas Gesicht zu denken. Wutverzerrt. Total außer Kontrolle. Was hatte sie vor?

Kapitel 3

»Hier steht, dass der Gewinner des Conklin Stipendiums über ex… ex…«

Delia sah hinüber zu ihrer besten Freundin, Britty Myers. Britty kaute auf einer Strähne ihrer langen, honigfarbenen Haare herum, während sie versuchte herauszufinden, was der Ausdruck in der Broschüre bedeutete. »Also, der Gewinner muss über ex…«

»… exemplarischen Schulgeist verfügen«, las Gabe Denver über ihre Schulter hinweg laut vor. »Das heißt so viel wie vorbildliches Engagement in der Schule zeigen! Außerdem steht hier, dass der Gewinner in allen Fächern hervorragende Noten haben und außerdem künstlerisch begabt sein muss. Darüber hinaus wird erwartet, dass er auf der Bühne etwas vortragen kann.«

Er hob den Blick von der Broschüre und schaute Delia an. Seine Wangen verfärbten sich zartrot. »Klingt, als ob du es kriegen könntest«, sagte er.

»Na, klar«, murmelte Delia und verdrehte die Augen. Sie und ihre Freunde hockten in der obersten Reihe auf der Tribüne

der Sporthalle und sahen sich ein Basketballspiel zwischen zwei Collegemannschaften an. Es waren nicht besonders viele Zuschauer da.

Delia schenkte dem Spiel keine große Aufmerksamkeit. Sie war mit ihren Gedanken ganz bei Vincent. Sehnsüchtig erinnerte sie sich daran, wie er sie

geküsst hatte. Bei der Vorstellung, dass er zärtlich seine Arme um sie legte, durchfuhr sie eine solche Hitze, dass sie das Gefühl hatte dahinzuschmelzen.

»Ich würde nur gerne wissen, warum er mich gestern Abend so

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schnell wieder loswerden wollte«, dachte sie. »Erst bittet er mich zu bleiben, und im nächsten Moment schiebt er mich aus der Tür.«

Delia schüttelte den Kopf und warf ihre langen, dunklen Locken über die Schulter. Sie strich mit der Hand über den Rock des dunkelorangefarbenen Hemdblusenkleids im 70er-Jahre-Look, das sie im Secondhand-Shop aufgetrieben hatte. Rund um den Saum waren große, hellgelbe Blumen aufgestickt. Sie liebte dieses Kleid.

»Ich bin wahrscheinlich das einzige Mädchen an der ganzen Highschool, das sich traut, so was anzuziehen«, dachte sie.

Genau deswegen hatte sie es ja auch gekauft. Sie konnte es nämlich nicht ausstehen, in der Menge unterzugehen.

Delia merkte, dass Gabe sie bewundernd anstarrte. Er erinnerte sie irgendwie an einen Welpen, der auf einen Hundekuchen wartet. Sie unterdrückte den plötzlichen Drang, ihm den Kopf zu tätscheln.

Klar wusste sie, dass Gabe in sie verknallt war. Und sie wünschte sich, er würde sich wenigstens ab und zu mal mit jemand anderem treffen. Bestimmt gab es eine Menge Mädchen an der Shadyside High, die gerne mit ihm ausgehen würden.

Wie wär’s denn mit Britty? Delia sah zwischen ihren beiden Freunden hin und her. Die beiden würden ein klasse Pärchen abgeben.

»Ich glaube nicht, dass Gabe besonders scharf darauf ist, von mir verkuppelt zu werden«, dachte Delia. »Aber ich würde ihm gerne was Gutes tun. Er ist so ein netter Kerl.«

Wer sonst würde die Geduld aufbringen, ihr fast jeden Abend bei den Hausaufgaben zu helfen? Und wer sonst hätte den Nerv, ihr zuzuhören, wenn sie mal wieder stundenlang von Vincent schwärmte?

Delia fand das total süß von Gabe. Besonders seit sie wusste, dass er Vincent nicht ausstehen konnte. Man musste wirklich kein Genie sein, um den Grund dafür herauszufinden. Gabe war eifersüchtig auf ihn.

»Hey! Erde an Delia!« Britty hüpfte vor ihrer Freundin auf und ab und wedelte mit beiden Händen vor ihrem Gesicht herum.

Britty war klein und athletisch gebaut – und die beste Turnerin der ganzen Highschool. Sie konnte nie länger als ein paar Minuten stillsitzen.

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»Könntest du dich vielleicht mal hinsetzen«, schimpfte Delia. »Ich will meinen Lippenstift nachziehen.« Sie griff nach der silbernen Hülse, die ihren Lieblingston Mitternachtsfeuer enthielt, und frischte die Farbe auf. Dann stopfte sie den Lippenstift zurück in ihre Tasche und sah sich nach einem Tuch zum Abtupfen um.

Eins von Brittys Heften lag auf dem Sitz neben ihr. Delia riss eine Seite heraus und presste sie gegen ihre Lippen.

»Delia!«, kreischte Britty und sprang sofort wieder auf die Füße. »Deinetwegen muss ich mir beinahe jede Woche ein neues Heft kaufen.«

»Sorry. Ist wirklich ‘ne schlechte Angewohnheit von mir. Dein nächstes Heft geht auf meine Rechnung«, entschuldigte sich Delia. Sie blickte auf den dunkelroten Abdruck, den sie auf dem Papier hinterlassen hatte - ein lächelndes Lippenpaar. Beim Abtupfen hatte sie wohl mal wieder an Vincent gedacht.

Britty ließ sich auf den Sitz neben ihr fallen. »Seitdem wir hier sind, bist du mit den Gedanken ganz woanders. Was ist eigentlich mit dir los? Wir haben über das Conklin Stipendium geredet, und das interessiert dich sonst immer brennend.«

Sofort verschwand Vincent aus ihren Gedanken. »Tut mir Leid, Britty. Aber wenn ich schon an das Stipendium denke, werde ich so nervös, dass ich es kaum aushalten kann.«

Delias Eltern hatten kein Geld, um sie aufs College zu schicken. Wenn sie das Conklin Stipendium nicht bekam, musste sie daher im Herbst aufs Junior College hier in Shadyside gehen. Und sogar das würden sie sich kaum leisten können.

Aber wenn sie das Stipendium bekam, konnte sie das begehrteste und teuerste Modecollege in New York besuchen. Schon mit zwölf hatte sie beschlossen, dort zu studieren, und dieser Traum war geblieben.

Delia runzelte die Stirn. Das Conklin Stipendium war für sie mehr als nur eine Auszeichnung. Es war das Ticket zu ihrer Zukunft. Die wichtigste Sache im ganzen Universum.

Na ja, bis auf Vincent natürlich. »Was glaubt ihr?« Delia sah ihre Freunde scharf an. Natürlich

wollte sie nicht, dass die beiden sie anlogen. Aber sie war sich auch nicht sicher, ob sie wirklich die

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Wahrheit hören wollte. »Hab ich eine Chance auf das Stipendium?«

»Na, logo«, versicherte ihr Gabe. Der Summer, der das Ende des Spiels anzeigte, ertönte, und er klatschte dem Seniorteam Beifall. Die Zuschauer schnappten sich ihre Bücher und Rucksäcke und strömten aus der Halle.

»Für dich ist das doch ein Kinderspiel«, nahm Gabe das Thema wieder auf. »Keiner hat bessere Chancen auf das Stipendium als du.«

Delia konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich freu mich, dass du das so siehst«, sagte sie zu Gabe. »Aber ich fürchte, die Jury wird mir den Preis nicht einfach so überreichen. In diesem Jahr haben sich sieben Leute für das Stipendium beworben.«

Sie ging die anderen Kandidaten im Kopf durch. Die meisten von ihnen stellten keine Bedrohung für sie dar, aber einige von ihnen hatten durchaus eine Chance. Eine gute Chance sogar.

»Stewart Andrews ist ein echtes Problem«, seufzte sie. »Er ist der begabteste Zeichner in unserer Klasse.«

»Er hat mir erzählt, dass er für den Talentteil des Wettbewerbs eine Zaubernummer einstudiert«, warf Britty ein. »Wisst ihr noch, wie er Mr Marsden hat verschwinden lassen? Das war richtig cool.«

Gabe zuckte mit den Achseln. »War doch nur ein billiger Trick.« Delia zählte nacheinander die anderen Kandidaten auf. »Und dann

ist da noch Karina. Ihre Chancen stehen auch nicht schlecht«, sagte sie schließlich.

Sie gab sich alle Mühe, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang zu geben. Die beiden anderen sollten denken, dass es ihr überhaupt nichts ausmachte, gegen Karina anzutreten.

Aber sie hatte das dumme Gefühl, dass ihre Freunde ihr das nicht abkauften.

»Mach dir keine Sorgen wegen Karina«, versuchte Britty sie zu beruhigen.

»Du hast leicht reden«, dachte Delia. »Du musst ja auch nicht gegen unsere kleine Miss Perfekt antreten.«

»Karina hat eine wunderschöne Stimme. Aber man braucht mehr als nur Talent, um das Stipendium zu gewinnen«, fuhr Britty fort. »Gute Noten sind auch total wichtig.«

»Genau«, bestätigte Gabe. »Und deine Noten sind besser als die

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von allen anderen.« »Dank deines Nachhilfeunterrichts«, sagte Delia mit weicher

Stimme. Britty verdrehte die Augen. »«Stimmt, deshalb sind ihre Noten

besser als deine, Gabe.« Dann machte sie plötzlich ein ernstes Gesicht. »Delia, lass dich von

der ganzen Sache doch nicht so stressen«, meinte sie. »Deine Noten sind dieses Jahr noch viel besser als sonst. Du bist zwei Jahre lang Trainerin der Mädchen-Volleyballmannschaft gewesen. Und du hast die ganze Organisation des Abschlussballs übernommen.«

»Außerdem bist du Redakteurin unserer Schülerzeitung«, zählte Gabe weiter auf. »Und die Vorsitzende des Recycling-Komitees.«

»Schon gut, schon gut«, rief Delia. »Aber das zählt alles nicht. Nichts davon zählt!« Sie hasste es, so weinerlich zu klingen, aber sie konnte nichts dagegen tun. Ich bin vielleicht Redakteurin unserer Schülerzeitung, aber Karina ist die Chefredakteurin«, erinnerte Delia ihre Freunde. »Ich trainiere das Volleyballteam. Dafür ist Karina die Starspielerin der Mannschaft. Ich bin für die Organisation des Abschlussballs verantwortlich. Aber Karina…«

»Na, und?«, wurde sie von Gabe unterbrochen. »Dann ist sie eben die Ballkönigin. Was soll’s! Okay, sie ist die Sprecherin der Abschlussklasse. Und vielleicht wird ihre Stimme die Jury im Talentwettbewerb umhauen. Aber wen interessiert das schon?« Gabe zuckte mit den Achseln. »Alle halten sie für das schönste Mädchen, das sie je gesehen haben«, fuhr er fort. »Und die Schiedsrichter werden sich bestimmt sofort in sie verlieben. Am besten sollte überhaupt erst gar kein anderer versuchen zu gewinnen.« Gabe wandte sich an Delia. »War es das, was du hören wolltest?«

Britty kicherte. Delia nicht. Sie wusste, dass er Recht hatte. »Entspann dich doch mal ‘n bisschen«, schimpfte Gabe. »Wann

kapierst du endlich, dass du viel cooler bist, als Karina es jemals sein wird? Wen kümmert es schon, dass sie hübsch ist und sooo süß. Süße Mädchen sind langweilig. Süße Mädchen vergisst man schnell wieder. Ich hasse süße Mädchen!«

Jetzt musste auch Delia lachen. Britty schüttelte den Kopf. »Weißt du was? Irgendwie steht mir die

ganze Sache bis hier.«

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Sie sprang von ihrem Tribünensitz auf. »Was ist eigentlich mit euch beiden los? Mit dir und Karina. Warum hasst ihr euch so sehr? Immerhin wart ihr mal befreundet.«

Delia sah ihre beste Freundin aus zusammengekniffenen Augen an. Wie konnte Britty das bloß fragen? Sie wusste doch genau, wie sie das beschäftigte.

»Ich hab wirklich versucht, mit Karina auszukommen«, verteidigte sich Delia. »Das weißt du ganz genau, Britty.«

»Ja, und sie gibt sich auch Mühe, nett zu dir zu sein.« Britty legte Delia eine Hand auf die Schulter. »Du weißt, dass ich alles für dich tun würde. Schließlich bist du meine beste Freundin. Aber ich bin auch mit Karina befreundet. Und ich glaube nicht, dass es gut für euch ist, wenn ihr die ganze Zeit rumstreitet. Du flippst ja schon aus, wenn du nur an sie denkst. Und ihr geht’s umgekehrt auch nicht anders.«

»Das darf ja wohl nicht wahr sein – jetzt verteidigst du sie auch noch!«, explodierte Delia. Hilfe suchend drehte sie sich zu Gabe um.

Der runzelte die Stirn. »Du und Karina, ihr hattet doch letztes Jahr so eine Art Waffenstillstand«, erinnerte er sie. »Ihr habt euch fast die ganze Zeit in Ruhe gelassen. Und davor wart ihr eigentlich die ganze Zeit auf freundschaftliche Art Konkurrentinnen, oder?«

»Stimmt, aber dieses Jahr hab ich sie dabei erwischt, wie sie Vincent angebaggert hat!«, erwiderte Delia hitzig. »Ich trau ihr einfach nicht! Sie tut immer so lieb und unschuldig und versucht dabei, mir meinen Freund wegzunehmen. Und das nur, weil sie es nicht ertragen kann, dass ich etwas habe, was sie nicht hat. Das ist richtig gemein!«

In diesem Moment flog die Tür der Sporthalle auf und knallte gegen die Wand.

Ein ohrenbetäubender Schrei hallte durch den Raum. Delia schlug sich die Hände vor den Mund. Sie war zu geschockt,

um etwas zu sagen. Das Einzige, was sie schaffte, war, nach unten zu starren.

So wie auch Gabe und Britty das Mädchen anstarrten, das im Türrahmen aufgetaucht war.

Karina Frye.

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Kapitel 4

»Was ist denn mit der los?«, stieß Delia hervor.

Karina kam in die Sporthalle getorkelt. Ihr normalerweise perfekt sitzendes Haar stand wild und zerzaust vom Kopf ab. Schwarze Streifen zerlaufener Wimperntusche zogen sich über ihre Wangen. Und ihre Augen waren rot – vom Weinen?

»Du!« Karinas heisere Stimme prallte von den Wänden der Halle zurück. Mit zitternder Hand zeigte sie auf Delia. »Du verdammte Hexe! Ich hasse dich!«

Delia schnappte entsetzt nach Luft, als Karina quer durch die Halle auf sie zugewankt kam und wutschnaubend die Tribüne hinauf stapfte.

Bevor Delia sich wehren konnte, hatte Karina auch schon beide «Hände um ihren Hals gekrallt.

Sie hörte Britty erschrocken aufschreien. Aber es klang sehr weit weg.

»Diesmal wirst du nicht gewinnen!«, kreischte Karina. Ihr heißer Atem peitschte Delia ins Gesicht.

Karinas Nägel gruben sich schmerzhaft in ihre Kehle. »Hey!«, stieß Delia mit erstickter Stimme hervor. Rote Punkte

explodierten vor ihren Augen. Sie drückte den Rücken durch und versuchte, sich aus dem festen Griff zu befreien.

Plötzlich ließ Karina sie los. Delia fiel hintenüber und knallte mit dem Kopf gegen den harten

Tribünensitz. Karina kauerte sich über sie und hechelte wie ein wildes Tier.

Wieder griff sie nach Delias Kehle. »Lass sie los! Karina, hör sofort auf!«, schrie Gabe. Delia versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Aber Karinas Hände schlossen sich immer enger um ihre Kehle.

»Du wirst nicht gewinnen! Und du wirst nichts bekommen, was mir gehört!«, schrie sie mit heiserer Stimme.

»Ich bekomme keine Luft mehr!«, dachte Delia entsetzt. Langsam wurde ihr schwarz vor Augen.

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Mit letzter Kraft streckte sie die Hand aus und griff nach Karinas Haaren.

Dann zog sie so fest sie konnte. Karina schrie vor Schmerz und Überraschung auf und lockerte den

Griff um Delias Kehle. Delia krabbelte in den Gang und schnappte nach Luft. »Haltet sie mir vom Leib!«, keuchte sie. Gabe griff nach Karina, aber sie war zu schnell für ihn. Schon hatte

sie einen von Delias langen, herabbaumelnden Ohrringen umfasst und riss ihn nach unten.

Delia schrie auf, als ein brennender Schmerz durch ihr Ohr schoss. Warmes Blut strömte ihr in einem schmalen Rinnsal über das eingerissene Ohrläppchen.

Sie hatte das Gefühl, ihre Lungen würden in Flammen stehen, und die Sporthalle verschwamm vor ihren Augen.

Das Einzige, was sie klar und deutlich sehen konnte, war Karinas Gesicht. Karinas schönes Gesicht, das vor Wut verzerrt war.

Mit einem tiefen Knurren bleckte Karina die Zähne. Sie hob beide Hände und krümmte sie zu Klauen. Dann stürzte sie sich wieder auf Delia.

»Ich werde dich töten!«, schrie sie.

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Kapitel 5

Ein saurer Geschmack erfüllte Delias Mund. Sie krallte ihre Hände in Karinas teuren Pullover und schubste sie weg.

Karina schwankte auf einer der Tribünenstufen hin und her und kämpfte um ihr Gleichgewicht.

Gabe nutzte die Gelegenheit, um sie festzuhalten. Plötzlich ließ Karinas Anspannung nach. Vorsichtig führte Gabe sie die Tribüne hinunter. Vom Hallenboden aus starrte Karina zu Delia hinauf. Sie begann

zu zittern. »Du wirst nicht gewinnen!«, schluchzte sie. »Diesmal nicht, Delia. Ich schwöre es!«

Delia ließ sich langsam auf die Tribüne sinken und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Sie nahm kaum wahr, dass Britty ihr den Arm um die Schulter gelegt hatte.

»Wovon redet sie eigentlich? Was soll das heißen? Und warum führt sie sich auf wie ‘ne Irre? Ich hab ihr doch gar nichts getan«, murmelte Delia vor sich hin.

Sie hielt den Blick starr auf Karina gerichtet. Die wischte sich gerade mit dem Arm über die Wange und

verschmierte dabei ihr Make-up über den ganzen Pullover. »Du wirst das Stipendium nicht kriegen«, rief Karina zu ihr hinauf. »Das schwöre ich dir! Und Vincent bekommst du nie im Leben! Er gehört mir, Delia. Mir!«

»V-Vincent?«, stammelte Delia. Um sie herum drehte sich alles. Ihr Ohr pochte. Sie hatte

Kopfschmerzen, und der Ärmel ihres orangefarbenen Kleides war blutverschmiert.

Langsam bewegte Delia den Kopf von einer Seite zur anderen. Mühsam versuchte sie zu verstehen, was gerade passiert war.

Das, was Karina gesagt hatte, machte überhaupt keinen Sinn. »Vincent?« Mit Brittys Hilfe rappelte Delia sich auf. »Was soll das heißen,

Karina? Was meinst du damit?« Sie starrte auf Karina herab und versuchte aus der ganzen Sache

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schlau zu werden. »Sie ist verrückt«, dachte Delia. »Total verrückt.« »Du brauchst Hilfe, Karina«, rief sie mit zittriger Stimme. »Du bist

krank.« »Mir geht’s bestens!«, schrie Karina. »Aber du lässt besser die

Finger von ihm!« »Hey, Mädels! Was ist denn hier los?« Mrs. Bates, eine

Sportlehrerin, kam auf sie zugelaufen. »Karina hat Delia angegriffen«, berichtete Gabe. »Ja, aber nur, weil…«, kreischte Karina los. »Du kommst jetzt erst mal mit und erzählst mir alles«, sagte Mrs.

Bates beruhigend und führte sie aus der Turnhalle. »Delia, und du gehst schon mal zur Krankenschwester, damit sie

dein Ohrläppchen verarztet«, rief die Lehrerin über die Schulter zurück. »Ich sehe dann in ein paar Minuten nach dir.«

Delia ließ sich erschöpft gegen Britty sinken. Gabe kletterte die Stufen der Tribüne hinauf und nahm ihre Hand.

»Bist du okay?«, fragte er besorgt. »Ich… ich denke schon.« Delia fragte sich, ob den beiden ihre

Stimme genauso zittrig vorkam wie ihr selber. »Sie hat den Ohrring nicht ganz rausgerissen. Aber warum hat sie das getan?«

Gabe warf einen Blick zur Tür der Sporthalle. »Ich denke, einer von uns sollte besser bei Karina bleiben. Ich mach das schon«, sagte er hastig. Dann drehte er sich um und rannte ihr und Mrs. Bates hinterher.

»Ich finde, du solltest dich erst mal einen Moment ausruhen, bevor wir zur Krankenschwester gehen«, meinte Britty.

»Ich hab mich ganz schön erschrocken«, gab Delia zu. »Und ich mach mir Sorgen um Karina. Hast du ihren Gesichtausdruck gesehen? Diesen blanken Hass!«

Britty war blass und sah sie aus weit aufgerissenen Augen an. Angespannt kaute sie auf einer Haarsträhne herum. »So hab ich Karina noch nie erlebt. Ich meine, so hab ich noch nie irgendjemanden erlebt.«

»Hast du gehört, was sie über Vincent gesagt hat? Sie glaubt offenbar wirklich, dass er ihr Freund ist. Sie ist verrückt geworden. Komplett verrückt. Das ist die einzige Erklärung«, murmelte Delia.

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»Ich red nachher mit ihr«, versprach Britty. »Ich werd versuchen, sie… sie zu beruhigen. Irgendwas muss sie total aus der Bahn geworfen haben. Ich werde schon rauskriegen, was passiert ist.«

Delia nickte. »Ich hab richtig Angst gehabt. Ich hab noch nie gesehen, dass jemand so ausgerastet ist! Meinst du, sie hat noch irgendwas vor?«

»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte Britty sie. »Du bist jetzt vor ihr sicher. Mrs. Bates wird mit ihren Eltern sprechen. Und außerdem passt Gabe auf sie auf. Komm, wir schnappen uns unsere Sachen und gehen erst mal zur Krankenschwester. Dann können wir von hier verschwinden.«

»Gute Idee«, meinte Delia. »Aber gib mir noch eine Minute. Ich seh bestimmt furchtbar aus.«

Britty lachte und schüttelte den Kopf. »Na, bitte. Offenbar geht’s dir schon wieder besser«, sagte sie.

Auch Delia musste lachen. »Autsch, tut das weh«, jaulte sie auf. Sie fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar und zupfte

ihr Kleid zurecht. Und obwohl ihre Hände immer noch zitterten, zog sie ihre Lippen perfekt nach.

Dann entdeckte sie eine Serviette auf der Tribüne. Eine von den dünnen, die man am Popcornstand bekam. Delia griff danach und tupfte sich die Lippen damit ab. Dann legte sie sie auf den Sitz neben sich.

Dieses Mal lächelte ihr Lippenabdruck nicht.

»Ich glaube, meine Zeichnungen sind ganz okay«, sagte Delia am nächsten Abend zu Vincent. Sie legte den Kopf schief und betrachtete die Bilder, die an der Wand des Wohnzimmers aufgereiht waren. »Aber sie sind nichts im Vergleich zu Stewarts Bildern«, fügte sie hinzu. In ihrem Magen bildete sich ein winziger Klumpen.

Vincent antwortete nicht. »Stewart steht total auf Details«, fuhr sie fort. Der Klumpen wurde

ein bisschen größer. »Seine Zeichnungen sind völlig realistisch und perfekt bis in die letzte Kleinigkeit. Meine sind irgendwie… fantasievoller, denke ich.« Sie legte den Kopf auf die andere Seite und lächelte. »Vielleicht sehen sie seitlich betrachtet ja besser aus!«

Delia benutzte für ihre großen, auffallenden Bilder dicke Filzstifte

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– in den schrillsten und leuchtendsten Farben, die sie auftreiben konnte. Einige der Zeichnungen waren ihre eigenen Modeentwürfe. Wilder Stil. Verrückte Farbtöne.

Einige andere zeigten ihre Freunde. Britty, die während einer Turnübung am Boden durch die Halle wirbelte – eine verschwommene Gestalt in hellen Farben. Und Gabe mit seinem feuerwehrroten Haar, dessen Gesicht fast nur aus einem gigantischen Lächeln bestand.

Sogar ein Selbstporträt war dabei. Darauf trug Delia ihr Lieblingsoutfit – einen schwarzen Minirock und ein tiefrotes Hemd, das nur eine Schattierung heller war als ihr Lippenstift Mitternachtsfeuer. Das Haar hing ihr als wilde, dunkle Mähne offen um die Schultern.

Aber es gab kein Bild von Vincent. Delia warf ihrem Freund, der neben ihr auf der Wohnzimmercouch

saß, einen schnellen Seitenblick zu. Sie war eine ziemlich gute Zeichnerin. Jedenfalls gut genug, um in die Endausscheidung für das Conklin Stipendium zu kommen. Aber sie würde nie genug Talent haben, um ihm gerecht zu werden.

Niemand konnte so gut sein. »Vincent?«, drängte Delia. »Findest du meine Zeichnungen okay?« Vincent starrte weiter auf das Basketballspiel im Fernsehen. Dann

reckte er sich und gähnte. »Natürlich«, murmelte er. »Du wärst ja wohl nicht ins Finale gekommen, wenn sie Schrott wären, oder?«

Delia beobachtete ihn beim Sprechen. Er wirkte gelangweilt. »Nein«, dachte sie. »Nicht gelangweilt. Er ist müde und macht sich

Sorgen. Wir sind beide immer noch aufgeregt wegen Karina.« Karina hatte sich heute nicht in der Schule blicken lassen. Aber an

allen Ecken war über sie geredet worden. Wie unheimlich sie ausgesehen hatte, als sie Delia angegriffen hatte. Wie hysterisch sie gewesen war. Und wie wenig das zu der lieben, verantwortungsbewussten Karina passte.

Natürlich war Vincent durcheinander. Alle in der Schule waren durcheinander. Sie waren schließlich ihre Freunde.

»Und ich bin auch ihre Freundin«, dachte Delia. »Oder wenigstens sollte ich das sein.« Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte, bis Vincent sich zu ihr umdrehte und sie

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erstaunt ansah. »Ich hab nur gerade an Karina gedacht«, erklärte sie und fuhr sich

mit der Hand vorsichtig über ihr verletztes Ohr. »Wir waren mal richtig gut befreundet. Aber das ist verdammt lange her.« Delia seufzte. »Ich mach mir echt Sorgen, Vincent. Karina war gestern nicht einfach nur wütend – sie war komplett unzurechnungsfähig! Du hättest sie sehen sollen! Und sie hat lauter so verrücktes Zeug erzählt – dass du ihr Freund wärst und dass ich dich nie kriegen würde. Es war richtig unheimlich.«

Er antwortete nicht. »Vincent?«, drängte Delia. »Hä? Oh, ja. Unheimlich.« Vincent rückte näher an sie heran. Er

knipste die Lampe auf dem Beistelltisch aus und legte ihr einen Arm um die Schulter.

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Delia sich nichts Schöneres vorstellen können, als in der Wärme von Vincents Armen zu versinken. Aber im Moment war sie dazu viel zu unruhig und aufgewühlt.

Forschend blickte sie in seine dunkelbraunen Augen. »Ich glaube, Karina denkt wirklich, dass ihr zusammen seid. Und sie hat sich eingeredet, ich wollte dich ihr wegnehmen.«

Vincent schüttelte den Kopf. »Mach dir ihretwegen keine Sorgen. Sie ist eigentlich ganz in Ordnung.«

Delia erstarrte. Nach dem, was Karina ihr angetan hatte, fand Vincent sie ganz in Ordnung! Um Delias Hals zogen sich immer noch blaue Flecke, und ihr eingerissenes Ohr war dick verbunden.

Und woher wusste er überhaupt so viel über Karina? Machte er sich Gedanken über sie?

»Sei doch nicht albern«, sagte sich Delia. »Vincent macht sich überhaupt nichts aus ihr. Er will nur mich.«

Zärtlich schlang sie ihre Arme um Vincents Hals und rieb ihre Wange an seiner. »Diese Sache mit Karina hat doch für uns nichts zu bedeuten, oder?«

»Könntest du jetzt endlich mal mit Karina aufhören?«, fauchte Vincent. Er drehte sich um und gab ihr einen Kuss. Seine Lippen fühlten sich hart und angespannt an.

Während er sie küsste, fuhr Delia mit den Fingern durch sein Haar.

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Sie merkte, dass ihr Lippenstift verschmierte, aber sie achtete nicht darauf. Ihr war alles andere egal. Bis auf Vincent.

Und das Conklin Stipendium. »Vincent…« Delia schob ihn weg und betrachtete sein Gesicht.

»Du wirst mich doch besuchen, wenn ich auf dieses College in New York gehe, nicht wahr?«, fragte sie. »Du…«

Ihr blieben die Worte im Halse stecken. Erschrocken starrte sie über seine Schulter. Und schnappte nach Luft. »Vincent! Jemand beobachtet uns!«

Kapitel 6

»Oh, Vincent!«, rief eine hohe Stimme.

»Karina? In unserem Haus?«, dachte Delia ungläubig. Die Lampe auf dem Beistelltisch wurde wieder angeknipst. Sarah,

ihre 15-jährige Schwester, stand hinter dem Sofa. »Oh, Vincent!«, machte sie Delia mit hoher, schwärmerischer

Stimme nach. »Karina darf sich nicht zwischen uns drängen. Versprich mir, dass es für uns nichts zu bedeuten hat!«

»Sarah! Du kleines Monster!« Delia sprang von der Couch auf und griff ihre Schwester am Arm.

»Das ist nicht witzig! Das ist überhaupt nicht witzig! Was zum Teufel machst du überhaupt hier?«

Sarah schubste Delia weg. »Ich wohne auch hier«, schnaubte sie spöttisch. »Ich brauche nicht deine Erlaubnis, um hier zu sein.«

Mit zusammengekniffenen Augen schaute Delia ihre Schwester an. Obwohl sie ungefähr dieselbe Größe, dasselbe dunkle Haar und braune Augen hatten, konnte sie manchmal kaum glauben, dass sie verwandt waren.

Denn Sarah hatte keine Ahnung von Make-up oder Klamotten. Heute trug sie zum Beispiel ausgebeulte Jeans und ein uraltes T-Shirt aus ihrer Pfadfinderzeit, auf dem quer über die Vorderseite in quietschgrünen Buchstaben stand: »Such dir neue Freunde, aber vergiss die alten nicht«.

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Delia verdrehte die Augen. Was war bloß mit Sarah los? »Du solltest doch jetzt eigentlich beim Schwimmtraining sein,

oder?«, sagte sie mit scharfer Stimme zu ihrer Schwester. »Was machst du dann hier zu Hause? Warum kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Kram, statt uns hinterherzuschnüffeln?«

Sarah streckte Delia die Zunge heraus. »Hey, wie erwachsen!«, fauchte Delia. »Bist du eigentlich 15 oder

fünf?« »Fünf, feuerte Sarah zurück. »Entspricht genau deinem IQ.« »Hey kommt, ihr beiden«, mischte Vincent sich ein und stand auf.

»Lass uns ein bisschen allein, Sarah, ja? Wir versuchen gerade, uns zu unterhalten.«

»Ach? Wie wollt ihr euch denn mit aufeinander gepressten Lippen unterhalten?«, fragte Sarah mit hämischer Stimme und lachte über ihren eigenen Witz.

»Du bist doch bloß eifersüchtig«, fauchte Delia. »Weil du das ganze Jahr noch keine Verabredung mit ‘nem Typen hattest!«

Sarah verschlug es die Sprache. Augenblicklich bereute Delia ihre Worte. »Das hätte ich nicht sagen dürfen«, warf sie sich vor. »Wo Sarah

doch schon seit einiger Zeit darunter leidet, dass die Jungs in Shadyside kein Interesse an ihr haben.«

»Bist du jetzt zufrieden?«, schrie Sarah sie an. »Nachdem du mich vor Vincent lächerlich gemacht hast? Bist du jetzt glücklich?«

»Es tut mir Leid…«, begann Delia. Aber ihre Schwester ließ sie nicht ausreden. »Ich hasse dich!«,

kreischte Sarah. Mit einem Wutschrei versetzte sie Gabes Porträt einen kräftigen

Fußtritt. Es kippte um und fiel mit dem Gesicht nach unten hin. Als Nächstes schlidderte die Zeichnung von Britty über den Fußboden.

»Lass die Bilder in Ruhe!«, rief Delia erschrocken. »Ich brauche sie für das Stipendium!«

Mit einem weiteren Wutschrei schnappte Sarah sich Delias Selbstporträt und stürmte aus dem Zimmer.

»Hey – komm zurück!« Vincent und Delia sprangen auf und jagten ihr hinterher.

Als sie im Flur ankamen, war Sarah schon halb die Treppe

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hinaufgerast. Delia blieb am Fuß der Treppe stehen und donnerte mit der Faust

gegen das Geländer. »Sarah, mach keinen Mist!«, rief sie. »Gib es mir zurück. Ich hab’s doch nicht so gemeint…«

»Vergiss es!« Ihre Schwester drehte sich nicht mal um. Ungerührt rannte sie die

restlichen Stufen empor. »Gut«, fauchte Delia. »Mach doch, was du willst. Aber hör auf, uns

hinterherzuspionieren.« Sarah blieb oben auf dem Treppenabsatz stehen und wirbelte

herum. Finster starrte sie zu Delia hinunter. »Oh, keine Angst«, schnaubte sie höhnisch. Sie kniff die Augen

zusammen und ließ ihren Blick von Delia zu Vincent wandern. »Ich werde mir was viel Besseres einfallen lassen«, fuhr sie fort. »Darauf könnt ihr Gift nehmen!«

Ein eisiger Schauder kroch Delias Nacken entlang. »Sarah – was soll das heißen?«, rief sie alarmiert. »Was zum Teufel hast du vor?«

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Kapitel 7

Als sie am nächsten Nachmittag in der Schule ihren Schrank nach dem Biologieheft durchsuchte, stellte Delia fest, dass sie schon wieder an Sarah dachte.

»Ich hätte sie vor Vincent nicht so blamieren dürfen«, ging es ihr durch den Kopf. »So wütend hab ich sie noch nie erlebt.«

Sarah war so sauer, dass sie bis jetzt noch kein Wort mit Delia gesprochen hatte. Und die Zeichnung hatte sie auch nicht zurückgegeben.

Delia hatte noch andere Bilder, mit denen sie das Selbstporträt ersetzen konnte – aber die fand sie nicht ganz so gelungen.

Sie seufzte. Der Wettbewerb würde verdammt hart werden. Da musste sie jeden kleinen Vorteil nutzen.

Aber sie war die ganze Zeit furchtbar abwesend. Ständig geisterte ihr Karina durch den Kopf, und jetzt musste sie sich auch noch wegen ihrer Schwester Sorgen machen.

Auf Händen und Knien durchsuchte Delia das Durcheinander auf dem Boden des Schranks. »Was hab ich bloß mit dem Heft gemacht?«, überlegte sie. »Ich muss mich ein bisschen zusammenreißen. Meine Noten dürfen auf keinen Fall abrutschen. Ich hab so hart dafür gearbeitet.«

»Und da hab ich mich gefragt, ob du dich vielleicht am Samstag mit mir treffen willst«, hörte sie plötzlich eine tiefe Stimme hinter sich.

»Was?« Delia schoss so schnell hoch, dass sie mit dem Kopf gegen das oberste Bord des Schranks knallte. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf Stewart Andrews, der sie anstarrte.

Stewart Andrews – ihr härtester Gegner im Kampf um das Conklin Stipendium. Von Karina einmal abgesehen.

Delia lehnte sich mit dem Rücken gegen den Schrank und musterte Stewarts Gesicht. »Was hast du gesagt?«, fragte sie.

Stewart strich sich eine Strähne seiner schwarzen Haare aus den Augen. »Ich wollte wissen, ob du dich Samstagabend mit mir treffen willst.« Er lächelte sie schüchtern an.

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»Er ist süß«, dachte Delia. »Richtig süß.« »Du meinst… zusammen weggehen?« Delia merkte, dass ihre

Stimme sich ganz kieksig anhörte. »Na ja…« »Was mach ich hier eigentlich?«, schoss es ihr durch den Kopf.

»Ich hab doch schon einen Freund.« »Ich dachte, es wär vielleicht ‘ne gute Idee, um ein bisschen zu

relaxen. Du weißt schon. Vor dem Talentwettbewerb am Montag«, sagte Stewart. »Ich weiß ja nicht, wie’s dir geht – ich jedenfalls möchte nicht das ganze Wochenende damit verbringen, an den Nägeln zu kauen. Dazu hab ich Sonntag immer noch genug Zeit«, witzelte er.

Über Stewarts Schulter hinweg entdeckte Delia Vincent, der den Flur entlangkam. Sofort spürte sie, wie ihr Puls sich beschleunigte. Das passierte jedes Mal, wenn sie ihn sah.

Mit einem schnellen Blick überprüfte sie ihren Lippenstift in dem kleinen Spiegel in der Schranktür. Dann zog sie ein Papiertuch aus der Tasche, tupfte sich die Lippen ab und knallte die Tür zu.

»Tut mir Leid, Stewart«, sagte sie und blickte wieder über seine Schulter. Vincent winkte ihr zu und ging dann weiter. »Aber ich kann nicht mit dir weggehen. Vincent und ich sind…«

»Oh.« Stewarts Lächeln verblasste. »Okay. Kein Problem.« Er lief knallrot an. »Wir sehen uns dann Montag«, murmelte er und wandte sich zum Gehen. »Beim Talent Wettbewerb.«

»Ja. Klar. Tschüss.« Delia sah ihm hinterher. »Komisch«, dachte sie. »Stewart hätte eigentlich wissen müssen, dass ich mit Vincent gehe. Das wissen doch alle.«

Oder etwa nicht? Mit gerunzelter Stirn lief Delia hinüber zur Bücherei, um ein Buch

zurückzugeben. Dann stieg sie die Treppen zu den Klassenräumen im zweiten Stock hoch. Sie hatte jetzt eigentlich eine Freistunde, aber sie war mit Britty im Biologielabor verabredet. Vor dem morgigen Test wollten sie ihre Mitschriften noch einmal durchgehen.

Als sie den Flur entlangtrabte, hörte sie plötzlich leise ihren Namen. Delia blickte in beide Richtungen den Korridor hinunter. Es war niemand zu sehen.

Dann fiel ihr auf, dass die Tür des Abstellraums offen stand. Delia schlich sich näher heran. Sie glaubte zu hören, dass wieder ihr Name

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fiel. Vorsichtig presste sie sich mit dem Rücken an die Wand und warf

einen schnellen Blick in den Raum. Drinnen stand Stewart – mit jemandem ins Gespräch vertieft. Delia

konnte nicht sehen, wer es war, aber Stewart machte ein ernstes Gesicht und gestikulierte beim Reden mit den Händen.

Eine Mädchenstimme murmelte leise eine Antwort. Delia fragte sich, mit wem er da wohl sprach. Versuchte er gerade,

sich mit der Nächsten zu verabreden? Dann veränderte Stewart leicht seine Position. Delia lehnte sich ein Stückchen weiter vor. Warf einen neugierigen Blick in den kleinen, dunklen Raum. Und schnappte nach Luft, als sie die zweite Person erkannte.

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Kapitel 8 Karina?

Er unterhielt sich heimlich mit Karina? Delia spähte durch die Türöffnung und musterte das wütende

Gesicht ihrer Konkurrentin. »Die reden über mich«, wurde es ihr plötzlich klar. »Ich habe doch

meinen Namen gehört. Die planen irgendwas.« Und Delia war sich ziemlich sicher, worum es ging. »Du bist spät dran.« Brittys Stimme ließ sie vor Schreck

zusammenzucken. Ihre Freundin war auf einmal neben ihr aufgetaucht. »Was ist denn los?«, fragte sie erstaunt. »Wir waren vor zehn Minuten verabredet.«

Delia nahm Britty am Arm und zog sie ins Biologielabor. Dann schloss sie hastig die Tür hinter sich.

»Ich sag dir, was los ist«, flüsterte Delia. »Karina und Stewart tuscheln in diesem Abstellraum miteinander. Ich glaube, sie hat ihn geschickt, um mich für Samstag einzuladen. Sie benutzt ihn, um Vincent und mich auseinanderzubringen.«

Britty knabberte nachdenklich am Ende ihres Französischen Zopfs herum. »Das versteh ich nicht.«

Delia schob einen Stapel Blätter mit einer weit ausholenden Bewegung ans andere Ende des Lehrerpults und knallte ihre Bücher darauf. »Stewart wollte sich gerade mit mir verabreden.«

Britty zog die Augenbrauen hoch. »Und deswegen regst du dich auf?« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Ich finde, es gibt Schlimmeres, als von Stewart eingeladen zu werden. Mindestens die Hälfte aller Mädchen an der Highschool ist scharf auf ihn.«

»Du kapierst es einfach nicht.« Je länger sie darüber nachdachte, desto wütender wurde Delia. »Ich

hab ihm einen Korb gegeben. Und er rennt als Erstes nach hier oben, um es Karina brühwarm zu berichten«, erklärte sie Britty. »Verstehst du denn nicht? Karina hat ihn dazu überredet! Sie dachte wohl, ich würde Ja sagen. Wetten, sie hat tatsächlich geglaubt, ich würde mit Stewart ausgehen? Das hat sie nur getan, um mich aus dem Weg zu

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räumen - damit sie Vincent ganz für sich alleine hat.« Sie begann mit großen Schritten im Labor auf und ab zu gehen.

Britty folgte ihr. »Delia…« »Eigentlich sollte ich jetzt da rübergehen und ihr sagen, dass ich

genau weiß, was sie getan hat«, unterbrach Delia sie. »Aber das werde ich nicht tun. Das Letzte, was ich im Moment gebrauchen kann, ist ‘ne neue Szene mit Karina. Die ist doch gar nicht zurechnungsfähig. Nachher versucht sie wieder, mich umzubringen!«

»Delia?«, versuchte Britty es noch einmal. »Was denn?«, fragte Delia ungeduldig. Sie hörte auf herumzutigern

und drehte sich zu ihrer Freundin um. »Äh… hör mal, werd jetzt bitte nicht sauer, wenn ich dich das

frage, okay?« Delia nickte. Britty trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte herum.

»Warum sollte Stewart Karina eigentlich helfen? Das macht doch keinen Sinn.«

Für einen Moment starrte Delia Britty nur an. Dann ließ sie sich auf einen der Tische sinken. »Kann sein, dass du Recht hast«, räumte sie ein.

»Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber vielleicht wollte Stewart sich einfach deswegen mit dir treffen, weil er dich mag«, sagte Britty ironisch. »Vielleicht hast du gehört, wie er mit Karina über das Conklin Stipendium oder so was Ähnliches gesprochen hat. Dabei könnte doch ganz zufällig dein Name gefallen sein.«

»Und warum müssen sie sich ausgerechnet im Abstellraum unterhalten?«, wollte Delia wissen.

»Karina hat diese Woche schon viel verrücktere Sachen gemacht, oder?« Britty ging zur Tür und steckte ihren Kopf auf den Flur. »Stewart verschwindet gerade«, berichtete sie. »Aber von Karina ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich ist sie immer noch drin.«

Delia stöhnte. »Karina spinnt«, sagte sie. »Und sie steckt mich mit ihrer Verrücktheit schon selber an. Echt wahr – ich hab mich eben ganz schön bescheuert verhalten.«

Britty drehte sich um und schaute sie an. »Na ja, du bist vielleicht ein bisschen gestresst«, räumte sie ein. Delia und Britty mussten beide lachen.

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»Aber jetzt ist Schluss damit«, versprach Delia. »Die einzelnen Wettbewerbe für das Stipendium sind bald vorbei. Vielleicht läuft danach wieder alles ganz normal.«

Wieder warf Britty einen Blick aus der Tür. »Sie ist immer noch drin. Was macht sie da bloß? In diesem Abstellraum ist doch gar nichts außer kaputten Möbeln und Putzzeug.«

»Ich hab’s so satt, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was Karina vorhat«, seufzte Delia. »Und außerdem fängt sie langsam an, mir Leid zu tun. Sie versaut sich ihr ganzes Abschlussjahr – nur weil sie das Gefühl hat, ständig gegen mich antreten zu müssen. Weißt du, früher hat es mir sogar Spaß gemacht, mich mit Karina zu messen. Dadurch haben wir uns gegenseitig angespornt.«

»Pscht!«, flüsterte Britty. »Sie kommt raus!« Delia huschte zu ihr hinüber. Die beiden schauten vorsichtig aus

der Tür und beobachteten Karina, die an einem Wasserspender stehen blieb.

»Vielleicht können wir ihr helfen, Britty«, sagte Delia mit gedämpfter Stimme. »Du könntest doch mit ihr reden. Ihr erklären, wie sehr Vincent und ich uns mögen.«

Britty kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Ich weiß nicht…« »Du könntest ihr sagen, dass ich ihr nicht böse bin«, fuhr Delia

fort. »Dass zwischen uns alles okay ist, solange sie nichts unternimmt, um Vincent und mich auseinanderzubringen.«

Britty schüttelte den Kopf. »Das hab ich schon versucht«, sagte sie. »Ich bin auf dem Nachhauseweg bei ihr vorbeigegangen. Aber sie wollte mir nicht mal zuhören. Sie hat nur gesagt, ich sollte verschwinden.«

Delia stöhnte. »Sie ist total durcheinander. Na ja, dann kann ich wohl auch nichts mehr machen. Wenn sie mit dir schon nicht reden will, wird sie mit mir erst recht nicht sprechen. Am besten geh ich ihr so gut es geht aus dem Weg.«

Delia beobachtete, wie Karina mit hoch erhobenem Kopf den Flur entlangging. Ihr blondes Haar schimmerte im Licht

der Deckenbeleuchtung. Ihre dunkle Hose mit den Bügelfalten und das pinkfarbene Twinset fand Delia viel zu brav. Sie wäre lieber gestorben, als in solchen Klamotten rumzulaufen. Aber sie musste zugeben, dass es Karina stand. Sehr gut sogar.

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»Versuch doch noch mal mit ihr zu reden«, bettelte Delia. »Vielleicht hört sie dir ja doch zu. Ich brauch’s gar nicht erst zu versuchen. Bitte nur noch dieses eine Mal.«

»Ich möchte da nicht mit reingezogen werden«, beharrte Britty. »Bitte!«, bat Delia inständig. Sie wusste genau, dass ihre Freundin

irgendwann nachgeben würde. »Na gut«, sagte Britty seufzend. »Hör auf, mich wie ein krankes

Hündchen anzuschauen. Ich geh ja schon und rede mit ihr.« Delia grinste triumphierend. »Danke, Brit. Ich möchte nur sicher

sein, dass mit Karina alles in Ordnung ist – und dass sie mich in Ruhe lässt.«

Britty zwang sich zu einem Lächeln und trat in den Flur. Delia versteckte sich hinter der Tür, um ihre Freundin durch einen schmalen Spalt zu beobachten.

»Na, dann wollen wir mal«, murmelte Britty vor sich hin und atmete tief durch. Dann rief sie laut: »Hey, Karina! Warte doch mal!«

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Kapitel 9

»Ich hab schon überall nach dir gesucht, Karina«, rief Britty. »Wollen wir uns heute nach der Schule treffen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Karina zögernd. »Um fünf hab ich eine Gesangsstunde, und vorher wollte ich mit Stewart eigentlich noch ein bisschen lernen. Was hattest du denn vor?«

Britty kniete sich hin, um ihren Schnürsenkel zuzubinden, und zwang Karina dadurch, einen Moment stehen zu bleiben.

»Cleverer Schachzug«, flüsterte Delia. Wenn sie den Flur noch weiter hinuntergegangen wären, hätte sie die beiden bald nicht mehr hören können.

»Ich dachte, wir könnten vielleicht shoppen gehen«, sagte Britty, während sie an ihrem Turnschuh herumfummelte. »Oder einfach nur reden. Du weißt schon, so wie früher.«

»Reden?«, fragte Karina. »Worüber denn?« Britty warf einen Seitenblick auf die Tür, hinter der Delia sich

versteckte. Dann räusperte sie sich. »Na, komm schon, Karina. Du weißt, dass ich Delias beste Freundin bin. Wir sind doch alle Freundinnen, oder? Ich finde, wir müssen über das reden, was neulich in der Sporthalle passiert ist.«

Delia beobachtete, wie Karina anfing zu lachen. »Ach, das! Ich bin kurz ausgerastet. War doch keine große Sache.«

»Keine große Sache?«, fragte Britty mit erhobener Stimme. »Du hast Delia beinahe erwürgt!«

Delia spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief, als sie Karinas unbewegtes Gesicht betrachtete. Ihr wurde schlagartig klar, dass es Karina nichts ausmachen würde, wenn sie sie verletzt hätte. Erinnerte sie sich überhaupt daran, was passiert war?

»Du musst mit irgendjemandem reden, Karina«, drängte Britty. »Es kann ja auch jemand anders sein als ich. Vielleicht würdest du dann kapieren, dass das kein Spaß ist…« Britty zögerte. »Du würdest merken…«

»Na, was denn?«, fragte Karina ungeduldig. »Dass Delia nicht bereit ist, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen?«

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Delia schnappte nach Luft. Britty blickte nervös in Richtung Labor. »Karina…«, setzte sie an. »Du kannst deiner besten Freundin etwas von mir ausrichten«,

sagte Karina leise. So leise, dass Delia sie kaum verstehen konnte. »Sag ihr, sie wird das Stipendium nie im Leben kriegen. Das garantiere ich ihr. Und Vincent wird sie mir auch nicht wegnehmen!«

Delias Magen schlug einen Purzelbaum. Es war schon schlimm genug gewesen, diese Worte von Karina zu hören, als sie in der Sporthalle so außer sich gewesen war.

Aber jetzt klang sie genauso wie immer. Normal und ausgeglichen. Bis auf die Tatsache, dass ihre Worte völlig verrückt waren.

Offenbar war sie nach wie vor davon überzeugt, dass Vincent und sie ein Paar waren.

Delia schloss die Augen und kämpfte gegen das eisige Gefühl an, das sich in ihrer Magengrube ausbreitete. Sie schluckte heftig.

Wenn Karina glaubte, dass sie mit Vincent zusammen war, was würde sie dann noch alles tun, um ihn zu halten?

»Hast du mich gehört, Delia?«, rief Karina plötzlich mit lauter Stimme.

Delia riss erschrocken die Augen auf. »Ich weiß, dass du da stehst und lauschst«, rief Karina. »Von mir

aus kannst du uns belauschen, so viel du willst. Die Frage ist nur, ob du das auch wirklich hören willst.«

Ihre Stimme wurde schrill und wütend. »Jetzt hör mir mal gut zu, Delia. Ich würde alles tun. Hast du mich verstanden? Alles – nur damit du nicht gewinnst!«

»Ob ich wohl schlafen kann?«, fragte sich Delia.

Oder würde sie die ganze Nacht wach liegen und an den morgigen Talentwettbewerb denken?

Vielleicht sollte sie aufstehen und ihre Gitarre noch einmal stimmen.

Sie setzte sich auf. Nein. Das hatte sie schon zweimal gemacht. Verstimmt war sie

garantiert nicht. Vielleicht sollte sie noch ein wenig proben und ihren Song

durchgehen.

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Nein. Sie kannte ihn praktisch in und auswendig. Delia ließ sich zurück aufs Bett fallen und kniff die Augen fest zu. Schlafen. Schlafen. Sie würde den Talentwettbewerb nie gewinnen, wenn sie mitten in

ihrem Stück anfing zu gähnen. Ruhelos drehte sie sich auf die Seite. Ihre Beine hatten sich in der

Bettdecke verheddert. »Ich frage mich, was Karina gerade macht«, dachte Delia. »Ich

wüsste gerne, ob sie auch an die Decke starrt und so hellwach ist wie ich. Und ob sie sich wegen morgen auch solche Sorgen macht.«

Ach was. Bestimmt schlief Karina schon seit einer Stunde. Wahrscheinlich war sie sofort eingeschlafen, weil sie genau

wusste, dass Delia kein Auge zubekam! Was für verrückte Gedanken… »Krieg jetzt bloß keinen Verfolgungswahn«, redete Delia sich gut

zu. Wieder schloss sie die Augen und zwang sich, an Zuckerwatte zu

denken. Luftige Zuckerwatte – riesige Mengen, die vom Himmel fielen und wie Schnee den Boden bedeckten.

Zuckerwatte. So weich. So still… Es funktionierte immer. Ein paar Minuten später fiel sie in einen leichten Schlaf. Aber kurz darauf wurde sie blinzelnd wieder wach. Erschrocken

fuhr Delia von ihrem warmen Kissen hoch. Was war das für ein Geräusch? Ein seltsames Kratzen. Delia wandte sich zur Tür – und war plötzlich hellwach. Ein kratzendes Geräusch. Gefolgt von einem Husten. »Wer ist da?«, rief sie, ihre Stimme noch heiser vom Schlaf. Ein Schritt. Aber keine Antwort. In dem grauen Rechteck ihrer offenen Zimmertür entdeckte Delia

eine dunkle Gestalt, die sich auf sie zubewegte. »Wer ist da?« Keine Antwort. Delia wollte sich gerade aufsetzen. Doch bevor sie sich bewegen konnte, legte sich eine Hand über

ihren Mund und ihre Nase. Presste ihre Wangen zusammen. Drückte

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sie ins Kissen und erstickte ihren Schrei. Angstvoll warf Delia den Kopf hin und her und krümmte ihren

Körper. Versuchte sich unter der Hand hervorzuwinden. Aber sie konnte dem harten Griff nicht entkommen. Die

Handfläche lag fest über Delias Nase und nahm ihr die Luft. Während sie mit aller Kraft kämpfte, sich wand und mit den

Beinen strampelte, starrte Delia zu ihrem Angreifer hinauf. Sah das helle Haar. Die zusammengekniffenen, entschlossenen

Augen. Und erkannte sie. Karina! Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung riss Delia beide Arme

hoch und schlug Karinas Hand beiseite. »Karina…«, stieß sie mit heiserer Stimme hervor. »Was tust du

denn da?« Karinas Augen blitzten in der Dunkelheit auf. Gefolgt von einem

anderen Blitzen. Ein metallisches Leuchten in Höhe ihrer Taille. Der Umriss einer kleinen Pistole. »Es wird nicht weh tun, Delia«, flüsterte Karina. Delia sank hilflos zurück, als sie die Pistole hob. Hoch über Delias

Kopf. »Es wird nicht weh tun«, wiederholte sie mit rauer Stimme. »Du

wirst überhaupt nichts merken.«

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Kapitel 10

Der silberne Schimmer schwebte über ihrem Kopf.

Voller Entsetzen starrte Delia nach oben. Wartete auf den Knall. Wartete auf den Schmerz.

»Ohh!« Sie keuchte erstaunt auf, als sie merkte, dass sie gar keine Pistole anstarrte.

Karina hielt die silberne Hülse eines Lippenstifts in der Hand. »Bitte – warte!«, flehte Delia. Sie spürte, wie Karinas mit der freien Hand ihre Brust

herunterdrückte. Und dann ließ sie den Lippenstift sinken. Immer tiefer. Presste ihn

mit aller Kraft gegen Delias Wange. Delia spürte, wie er ihre Haut verschmierte. Sie kämpfte angestrengt, um sich aufzurichten. Aber Karina hielt

sie unerbittlich niedergedrückt. Verteilte den klebrigen Lippenstift auf Delias Stirn. Rieb ihn in

ihre Ohren. Strich damit ihre Nasenflügel entlang. »Karina – hör auf!«, flehte Delia. »Bitte, hör doch auf! Warum

machst du das? Lass mich! Bitte!« Während sie noch bettelte, merkte Delia plötzlich, dass sie träumte. Sie befand sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb ihres Traums. Mühsam zwang sie sich zum Aufwachen und öffnete die Augen. Ihr Gesicht kribbelte. Sie setzte sich auf und fuhr sich mit beiden Händen über das

Gesicht. Kein Lippenstift. Keine Karina und kein Lippenstift. Nur ein

Traum. Ein entsetzlicher Traum… »Karina, ich habe Angst vor dir, wenn ich wach bin. Und jetzt

bedrohst du mich auch noch in meinen Träumen«, murmelte Delia. »Was soll ich bloß tun? Was?«

Delia war Nummer sieben.

Die Letzte.

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Sie rutschte nervös auf ihrem Sessel im Zuschauerraum hin und her und schlug die Beine übereinander. Dabei stieß sie gegen Britty. »Tschuldigung«, murmelte Delia und stellte die Beine wieder nebeneinander.

»Könntest du endlich mal still sitzen?«, flüsterte Britty ihr zu, den Blick auf die Bühne gerichtet, wo Stewart gerade seine Zaubernummer vorführte. »Du wolltest doch unbedingt als Letzte auftreten.«

»Ich hab gedacht, ich könnte mich dabei ein bisschen entspannen und erst mal sehen, was die anderen im Wettbewerb so bringen«, flüsterte Delia zurück. »Aber diese Warterei macht mich wahnsinnig!«

Delia klatschte halbherzig, als Stewart seinen Beagle aus dem Zylinder zog.

Britty kicherte. »Wie hat er den überhaupt da rein bekommen?« »Woher soll ich das wissen?«, murmelte Delia und schlug unruhig

die Beine übereinander. »Hey, entspann dich«, meinte Britty. »Toller Tipp«, schnaubte Delia und verdrehte die Augen. »Sag das

mal meinem Magen.« Sie stellte die Beine wieder nebeneinander. Dann hielt sie Britty ihre Hände vors Gesicht. »Sieh mal - sie sind

total verschwitzt und zittern. So kann ich doch unmöglich Gitarre spielen. Und wie soll ich in diesem Zustand meinen Song singen?«

Britty begann auf einer ihrer Haarsträhnen herumzukauen. »Jetzt reiß dich mal zusammen, okay? Du machst mich schon ganz nervös!«, rief sie aus.

Delia wischte sich die feuchten Handflächen an ihrem schwarzen Rock ab. Dann griff sie nach ihrer Tasche und zog einen kleinen Spiegel heraus.

Sie überprüfte – ungefähr zum tausendsten Mal – ihren Mitternachtsfeuer-Lippenstift, zog dann ihre leuchtend bunte Brokatweste zurecht und zupfte an den Ärmeln ihrer weißen Bluse herum.

Wenn sie doch bloß nicht als Letzte dran wäre. »Ich wünschte, ich könnte mein Leben vorspulen«, dachte Delia. »Abrakadabra!« Mit einer schwungvollen Bewegung zog Stewart

das Seidentuch weg, das er sich über die Hand gelegt hatte. Auf

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seinem Finger saß ein rot-gelber Papagei. Delia klatschte gemeinsam mit dem Rest des Publikums. Ungefähr

30 oder 40 Schüler waren nach der Schule dageblieben, um beim Talentwettbewerb zuzuschauen.

»Er ist gut und hat ein paar klasse Tricks drauf«, dachte Delia. »Aber seine Nummer ist insgesamt nicht besonders originell.«

Karina hatte eine bessere Stimme als sie und würde bestimmt eine höhere Punktzahl erreichen. Aber wenn die Schiedsrichter Delia ein paar Extrapunkte dafür gaben, dass sie ihr Stück selber geschrieben hatte, standen ihre Chancen, den Talentwettbewerb zu gewinnen, gar nicht so schlecht.

»Wo hat er bloß den Papagei her?«, prustete Britty. Stewart verbeugte sich, und alle klatschten noch ein wenig lauter.

Dann sammelte er seine Requisiten zusammen. Als er seinen Kram schließlich von der Bühne trug, wirkte er irgendwie erleichtert.

Delias Magen krampfte sich zusammen. Der große Augenblick rückte immer näher. Sie musste nur noch eine Nummer durchstehen. Sie fragte sich, wie sie das aushalten sollte – zumal es auch noch Karinas Auftritt war.

»Ich wünschte, Vincent wäre hier«, seufzte Delia sehnsüchtig. »Aber seine Mutti hat ihn dazu verdonnert, mit seinem kleinen Bruder zum Zahnarzt zu gehen. Kannst du dir das vorstellen?«

»Ich bin ja auch noch da, um dich anzufeuern«, erinnerte Britty sie. »Und Gabe ist direkt hinter der Bühne. Er hat versprochen, dass du in der Beleuchtung, die er für dein Stück ausgesucht hat, großartig aussehen wirst.«

Zwei Jungen rollten einen wuchtigen Flügel auf die Bühne. »Der gehört Karina«, erklärte Britty. »Ich hab gehört, dass sie ihn extra für den Wettbewerb von ihr zu Hause hierher transportiert haben.«

Delia schüttelte den Kopf. »Das wird ja immer schlimmer!« Eine ältere Frau setzte sich an den Flügel und begann, Tonleitern

zu spielen. »Karinas Gesangslehrerin«, flüsterte Britty. Delia umklammerte die Armlehnen ihres Sitzes und starrte gebannt

auf Karina, die in der ersten Reihe saß. Sie wirkte cool und gelassen. Und sah sehr blond und sehr schön aus.

Als hätte sie Delias Blick gespürt, drehte sich Karina um. Ihr Mund

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verzog sich zu einem hämischen Grinsen. Aber dann schienen ihr die Schiedsrichter wieder einzufallen. Sie lächelte strahlend und winkte zu ihr hinüber.

»So ‘ne falsche Schlange«, zischte Delia Britty zu. Delia musste wieder daran denken, was letzte Woche passiert war.

Wie Karina sie beim Lauschen erwischt und ihr gedroht hatte. Seitdem war sie ihr mehrmals im Flur begegnet. Und jedes Mal

war Karina so zuckersüß zu ihr gewesen, dass es Delia den Magen umgedreht hatte.

Die Schiedsrichter riefen jetzt Karinas Namen auf. Delia beobachtete, wie sie aufstand und auf die Bühne ging.

»Was für ein traumhaftes Kleid«, murmelte Britty bewundernd. »Ja«, dachte Delia. »Traumhaft schön.« Der blaue Satin lag eng an

und betonte Karinas schlanke Figur. Karina schwebte zur Mitte der Bühne und sagte ihr Lied an. Ihre

Stimme klang dabei ruhig und gelassen. Dann trat sie zurück, während ihre Klavierbegleiterin die Einleitung des Stücks spielte.

Als Karina zu singen begann, war das ganze Publikum wie verzaubert. »Wow!«, hauchte Britty.

Karina hatte nicht nur eine gute Stimme. Sie hatte eine außergewöhnliche Stimme – rein und klar. Und obwohl Delia nicht ein Wort der italienischen Arie

verstand, die Karina sang, wusste sie genau, dass es ein Liebeslied war. Ein wunderschönes Liebeslied.

Wunderschön. Genau wie Karina. Delia gab sich Mühe, unbeeindruckt zu wirken, als sie sich in

ihrem Sessel umdrehte, um die Reaktion der Schiedsrichter zu sehen. Die drei Mitglieder der Jury saßen seitlich im Zuschauerraum und lächelten, während sie gebannt zur Bühne hochschauten.

Als Delia sich wieder nach vorne drehte, fiel ihr auf, dass jemand sie vom anderen Ende der Reihe her anstarrte. Sie beugte sich vor und reckte den Hals, um an Britty vorbeizusehen.

»Sarah?«, flüsterte sie verblüfft. »Was macht die denn hier?« »Pscht!« Britty stieß sie in die Seite. »Warum sollte Sarah…?« »Sie ist deine kleine Schwester«, flüsterte Britty. »Ist doch klar,

dass sie hier ist, um zu sehen, wie es bei dir läuft.«

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Das zeigte, dass Britty Sarah nicht besonders gut kannte. »Stimmt. Jede normale Schwester würde mir für meinen Auftritt die Daumen drücken. Aber Sarah ist nicht normal, schon vergessen?«

»Pscht!« Das Mädchen, das vor Delia saß, drehte sich um und legte den Finger an die Lippen.

Verlegen ließ sich Delia in ihren Sessel zurücksinken. Dann blickte sie wieder die Reihe entlang.

Ihre Schwester starrte sie unverwandt an. Um ihre Lippen spielte ein seltsames, zufriedenes Lächeln.

»Freut sie sich, dass Karina ihre Sache so gut macht?«, fragte sich Delia. »Will sie mich verlieren sehen? Warum lächelt sie so merkwürdig?«

Als der Applaus einsetzte, lösten sich ihre Gedanken von Sarah. Die Zuschauer klatschten und klatschten. Delia blinzelte und starrte zur Bühne hinauf. Karina lächelte liebenswürdig ins Publikum.

Delia konnte das nicht länger ertragen. Noch bevor die Schiedsrichter ihren Namen aufgerufen hatten,

sprang sie von ihrem Sessel hoch und ging hinter die Bühne, um ihren Gitarrenkoffer zu holen.

Gabe kam hinter der Schalttafel für die Beleuchtungsanlage hervor und stürmte auf sie zu. »Du machst das bestimmt großartig!«, flüsterte er ihr ins Ohr und trottete dann zurück auf seinen Posten.

Delia sah zu, wie die Jungen den Flügel von der Bühne rollten und stattdessen einen hohen Hocker an seine Stelle setzten. Sie atmete tief ein und zwang sich, langsam wieder auszuatmen.

»Tu einfach so, als wäre es gar nichts Besonderes«, redete sie sich gut zu.

»Delia Easton?«, rief einer der Schiedsrichter. »Ich stell mir einfach vor, ich wäre zu Hause und würde für Britty

und Gabe singen«, dachte sie. »Wenn doch bloß Vincent hier wäre.« Dann hob sie den Kopf und trat auf die Bühne. »Ich habe extra für

den heutigen Talentwettbewerb einen Song geschrieben«, sagte sie ins Mikro.

In dem dunklen Zuschauerraum konnte Delia kaum etwas erkennen. Aber als Delia nach den Gesichtern der Schiedsrichter Ausschau hielt, fiel ihr Blick auf Karina. Sie war auf ihren Platz in der ersten Reihe zurückgekehrt, und Stewart saß neben ihr.

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»Du darfst nicht zulassen, dass sie dich nervös macht«, dachte Delia und lächelte Karina strahlend an. Dann fuhr

sie mit ihrer Ankündigung fort: »Es ist ein Lied über einen Jungen und ein Mädchen und was sie einander bedeuten. Ich habe es ‘Vincent’ genannt.«

Delia setzte den Gitarrenkoffer auf dem Hocker ab. Dann drehte sie dem Publikum den Rücken zu und ließ die Verschlüsse aufschnappen.

Sie klappte den Deckel auf. Starrte auf die Gitarre hinunter. Und begann zu schreien.

Kapitel 11

Die Saiten.

Sie waren alle durchgeschnitten worden. Schlaff hingen sie über dem Hals der Gitarre. Und die hingeschmierten Worte leuchteten Delia entgegen. Mit feuchter, roter Tinte hatte jemand quer über die Gitarre

geschrieben: HA HA HA. Delia blieb der Schrei in der Kehle stecken. Mit offenem Mund

starrte sie ihre Gitarre an. Blinzelte. Blinzelte noch einmal. Als könnte sie dadurch das Bild auslöschen.

Als könnte sie dadurch den hässlichen Anblick verschwinden lassen. Und ihr Instrument wieder heil machen.

»Ohhh.« Delia stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus, als ihr Blick auf das Schallloch in der Mitte der Gitarre fiel.

Was steckte dort drin? Zusammengeknüllte graue Lumpen? Nein! Eine Ratte. Eine verwesende Ratte. Ihr Kopf steckte im Inneren der

Gitarre, und der rosafarbene Schwanz und die dürren Beine ragten in die Höhe.

»Neiiiiiin!« Entsetzt riss Delia die Hände vors Gesicht. Dabei stieß sie an den Instrumentenkoffer. Die Gitarre fiel hinaus und knallte auf

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den Bühnenboden. Durch den Aufprall wurde die Ratte aus dem Loch geschleudert

und landete mit einem widerlichen »Plopp« auf Delias Schuh. Angeekelt schubste sie sie weg. Der ramponierte Körper segelte

nur wenige Zentimeter durch die Luft und blieb dann liegen. Die eingesunkenen Rattenaugen starrten anklagend zu ihr auf.

Delia wurde es plötzlich furchtbar übel, und sie sank auf die Knie. Jetzt konnte sie die Ratte noch deutlicher sehen. Die räudigen

Stellen, an denen ihr das Fell ausgegangen war. Die Hautstreifen, die sich vom Körper abschälten. Das getrocknete Blut auf ihrem Rücken.

Delia hämmerte das Blut in den Ohren. Aber das Rauschen war nicht laut genug, um die Geräusche aus dem Publikum zu übertönen.

Erschrockene Rufe. Schreie. Überraschtes Keuchen. Ein dumpfes Stimmengewirr.

Stampfende Schritte kamen auf sie zu. Dann zog Gabe sie sanft auf die Füße und führte sie von der Bühne.

Britty rannte zu ihnen hinüber. »Delia? Was ist passiert? Bist du okay?«

Delia antwortete nicht, sondern starrte auf die erste Reihe. Karina hatte sich nicht bewegt. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Ihre Augen weit aufgerissen. Sie wirkte völlig unschuldig – als könnte sie kein Wässerchen trüben.

Delia stieß einen Wutschrei aus und raste auf Karina zu. »Wie konntest du das tun?« Ihre Stimme zitterte, und sie schlotterte am ganzen Körper.

Sie sah wieder die Ratte vor sich, die in ihre Gitarre gestopft worden war, und das hingeschmierte: HA HA HA. Finster starrte sie Karina an. »Wie konntest du nur?«

»Was denn? Wovon redest du?«, fragte Karina ruhig. »Ich weiß, dass du es warst!«, kreischte Delia. Karina schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Ich weiß wirklich nicht,

was…« »Spiel bloß nicht den Unschuldsengel! Das zieht bei mir nicht. Du

hast es getan!«, schrie Delia. »Das reicht jetzt, ihr beiden.« Einer der Schiedsrichter trat mit

strengem Gesicht zwischen sie. »Wir werden herausfinden, was hier vorgefallen ist, und uns mit der Angelegenheit befassen.«

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Karina stand auf und erwiderte Delias Blick. »Ich habe keine Tricks nötig«, sagte sie leise. »Nicht, um dich zu schlagen.« Dann verschwand sie ohne ein weiteres Wort.

Delia sah ihr nach, wie sie mit langen Schritten den Gang hinaufeilte. Zu ihrer Überraschung blieb Karina neben Sarahs Platz stehen. Sie lächelte sie an und beugte sich zu ihr hinunter, um ihr etwas zu sagen.

Sarah nickte. Dann verließ sie mit Karina den Zuschauerraum, ohne Delia auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Ich glaub’s einfach nicht«, stieß Delia hervor. »Karina und meine Schwester?«

Als sie sich zur Bühne umdrehte, entdeckte sie Stewart, der halb verborgen in den Kulissen stand. Lächelte er? Oder war da ein Grinsen auf seinem Gesicht?

Sie blinzelte angestrengt. Im Halbdunkel konnte sie ihn nicht so gut sehen.

»Ich suche gerade meine Requisiten zusammen«, rief Stewart ihr zu. Er kam zu Delia hinüber und hockte sich an den Bühnenrand, damit er mit ihr reden konnte. »Bist du okay?«, fragte er besorgt.

»Ja«, murmelte Delia. »Mir geht’s gut. Es… es war nur so ein furchtbarer Schock. Ich kann einfach nicht glauben, dass jemand…«

»Meinst du, sie lassen dich den Auftritt wiederholen?«, unterbrach Stewart sie.

»Natürlich werden sie das! Sie müssen! Schließlich hat ihr jemand absichtlich den Auftritt vermasselt!«, explodierte Gabe.

Stewart hob die Hände. »War ‘ne blöde Frage«, gab er zu. »Aber das würde ich als Erstes wissen wollen, wenn mir so was passieren würde.«

»Lasst uns von hier verschwinden«, drängelte Britty ungeduldig. »Gute Idee«, meinte Gabe. »Wir können uns doch ‘ne Cola holen,

während wir auf die Entscheidung der Jury warten.« Delia schlang schützend die Arme um sich, als sie nach draußen

gingen. Aber trotzdem lief ihr ein Schauer nach dem anderen über den Rücken.

»Ich glaube, Karina hat es ernst gemeint, als sie sagte, sie würde alles tun, um zu gewinnen«, murmelte Britty.

Gabe legte Delia den Arm um die Schultern. »Dann sind wir eben

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ab jetzt deine offiziellen Bodyguards«, witzelte er. »Genau«, rief Britty. »Wo du hingehst, gehen wir auch hin.

Jedenfalls solange, bis der Gewinner des Wettbewerbs bekannt gegeben worden ist.«

»Ich glaube, das reicht Karina nicht«, sagte Delia zu ihren Freunden. »Sie will das Stipendium. Und Vincent. Und alles, was ich habe. Alles. Sie will mein ganzes Leben!«

Ihre Freunde versuchten sie zu beruhigen, aber die tröstenden Worte drangen kaum zu Delia durch.

Auf einmal sah sie wieder die durchgeschnittenen Gitarrensaiten vor sich.

Die verwesende Ratte, die in das Schallloch gestopft worden war, und ihre dürren Beinchen, die in die Höhe ragten.

Und Karinas Gesicht. So unschuldig. So scheinheilig. »Was soll ich bloß tun?«, fragte sich Delia. »Was kann ich tun?«

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Kapitel 12

Delia lenkte ihren roten Jetta in die Auffahrt. Sie konnte es kaum erwarten, ein langes, heißes Bad zu nehmen – am besten mit ihrem Lieblingsbadeöl, das nach Jasmin duftete. Und dann würde sie ins Bett krabbeln und sich erst mal richtig ausschlafen.

Hauptsache, sie musste an nichts mehr denken. Nicht an Karina. Oder daran, dass sie den Schiedsrichtern nächste Woche ihren Song vorspielen sollte.

Wenn sie doch bloß nicht ständig ihre ruinierte Gitarre, die zerschnittenen Saiten und die verwesende Ratte mit den eingesunkenen Augen vor sich sehen würde.

»Wer ist die wahre Ratte?«, fragte sich Delia. »Die miese Ratte, die mir das angetan hat?«

War es Karina? Würde sie wirklich so weit gehen, um zu gewinnen?

Delia griff nach ihrer Tasche und stieg aus dem Wagen. Während des Talentwettbewerbs hatte es leicht geschneit. Vorsichtig ging sie über den glatten Boden zur Haustür.

»Hey!« Ein Brief. An der Haustür klebte ein Umschlag mit ihrem Namen

in großen, roten Buchstaben. »Der ist von Vincent!«, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte

seine Handschrift sofort erkannt. Delia riss den Umschlag auf und faltete das Blatt auseinander. »Ich

weiß, dass du umwerfend warst«, las sie laut vor. »Ich wünschte, ich hätte dabei sein können. Lass uns heute Abend feiern. Wie wär’s mit dem Red Heat?«

Wow! Das Red Heat war die heißeste Disco der Stadt. Plötzlich war Delia überhaupt nicht mehr müde. Sie überlegte, was sie anziehen sollte. Auf jeden Fall ihren schwarzen Minirock aus Wildleder. Dazu die

schwarze Wildlederweste mit den Fransen. Darunter den dunkelroten Spitzenbody. Und diese irren roten Schuhe mit den Plateausohlen, die sie im Secondhand-Laden aufgetrieben hatte.

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Perfekt! Dummerweise aber hatte Britty sich vor ein paar Wochen ihren

schwarzen Rock ausgeliehen und noch nicht zurückgegeben. Also drehte Delia sich um und ging zurück zu ihrem Auto. Es

würde nicht lange dauern, zu Britty nach North Hills zu fahren. Sie öffnete die Wagentür und glitt hinter das Lenkrad. Dann setzte

sie rückwärts aus der Auffahrt und machte sich auf den Weg zu ihrer Freundin.

Während der Fahrt versuchte sie, alle unangenehmen Gedanken aus ihrem Kopf zu verdrängen. Sie dachte nur an Vincent und an den Abend, den sie im Red Heat verbringen würden.

Kurz darauf parkte Delia vor dem Haus der Myers und stürmte den Weg hinauf. Ungeduldig drückte sie auf die Klingel.

Nach wenigen Sekunden öffnete Britty in einer schokoladenverschmierten Schürze die Tür. Ihr honigblondes Haar war mit mehlbestäubten Strähnen durchzogen.

Delia lachte schallend los. »Wie siehst du denn aus? Ich dachte, du wolltet mit Gabe für Geschichte büffeln?«

»Hm, ja, aber stattdessen backen wir jetzt Schokoladenkekse«, gab Britty zu und führte Delia in die Küche.

Gabe grinste sie mit mehlbestäubten Wangen an. »Was hast du denn gemacht – in Plätzchenteig gebadet?«, rief

Delia. »Äh, na ja… wir haben uns ‘ne kleine Mehlschlacht geliefert«,

gestand Gabe. »Du solltest das gar nicht sehen«, mischte Britty sich ein. Sie baute

sich vor dem Küchentisch auf, als könnte sie damit verhindern, dass Delia die Schüsseln, Messgefäße und Zutaten bemerkte, die überall herumstanden.

»Es sollte eine Überraschung sein«, fügte Gabe hinzu. Er warf Delia einen Blick zu und errötete. »Für dich.«

Delia schüttelte erstaunt den Kopf. »Wie meinst du das?« »Wir wollten dich ein bisschen aufheitern«, erklärte Britty. »Nach

allem, was heute passiert ist…« Sie kratzte sich an der Nase und hinterließ dabei eine weiße Mehlspur. »Wir haben gedacht, dass ein paar Plätzchen bestimmt deine Laune heben würden.«

Delia spürte einen dicken Kloß in der Kehle. Was für gute Freunde.

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»Ach, Leute!« Delia umarmte die beiden. »Das ist lieb von euch!« Dann fügte sie mit bitterer Stimme hinzu: »Aber im Moment würde es mir nur besser gehen, wenn ich es Karina heimzahlen könnte.«

»Ach, komm.« Britty tätschelte aufmunternd Delias Arm und schmierte dabei Mehl auf ihre Bluse. »Mit Schokokeksen wird das schon wieder.«

»Stimmt genau!«, bestätigte Gabe. »Sie werden dir sogar bei deinem zweiten Vorsingen helfen.« Die Zeitschaltuhr des Ofens begann zu summen. Gabe griff sich einen Topflappen und zog ein dampfend heißes Blech voller Kekse heraus.

»Wow! Riecht das nicht lecker?« Mit einem Pfannenwender beförderte er die Kekse auf einen Teller.

»Delia, du überlegst doch nicht im Ernst, dich an Karina zu rächen, oder?«, fragte Gabe. Er sah plötzlich ganz besorgt aus. »Dann wärst du auch nicht besser als sie. Das ist doch nicht dein Stil.«

Gabe pustete auf ein Plätzchen und kostete es. »Autsch! Heiß!« »Außerdem wäre es ziemlich gefährlich«, mischte Britty sich ein.

»Karina ist im Moment unberechenbar.« »Das stimmt«, sagte Gabe. »Bleib ihr so weit wie möglich vom

Hals. Am besten lässt du sie ganz in Ruhe.« Delia seufzte. »Wahrscheinlich habt ihr Recht. Ich weiß ja nicht

mal, ob sie wirklich meine Gitarre kaputt gemacht hat.« »Iss erst mal einen Keks«, meinte Gabe. »Kekse lösen alle

Probleme.«

Auf der Rückfahrt dachte Delia über das nach, was ihre Freunde gesagt hatten.

Sie hatten wirklich Recht. Und sie wusste es. Sie musste sich zusammenreißen und durfte nicht so durchdrehen

wie Karina. »Heute Abend will ich einfach nur Spaß haben und an nichts

anderes denken«, beschloss Delia. Sie warf einen Blick auf die Plastiktüte auf dem Beifahrersitz, in der ihr schwarzer Wildlederminirock war.

Heute Abend würde sie sich keine Gedanken über das Conklin Stipendium oder das College machen oder über irgendwas anderes, das sie runterziehen konnte.

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Und dazu gehörte auch Karina! Aber als Delia in den Park Drive einbog, verschlug es ihr den

Atem. Karina! Sie stand direkt an der Straßenecke neben einem großen Jungen.

Einem großen Jungen mit welligem, braunen Haar. Vincent! Er beugte sich dicht zu ihr, und ihre Köpfe berührten sich beinahe. Delia fuhr langsamer, um die beiden zu beobachten. In diesem Moment schlang Karina ihre Arme um Vincent. »Nein!«, schrie Delia. Sie sah, wie die beiden sich küssten. Ein langer, zärtlicher KUSS. Mit einem wütenden Aufschrei stieg Delia auf die Bremse – und

trat daneben. Stattdessen erwischte sie das Gaspedal. »Neiiin!« Sie wirbelte hektisch das Lenkrad herum, als der Wagen ausbrach. Dabei geriet er auf eine vereiste Stelle und rutschte seitlich über die

verschneite Straße. In Delias Kopf drehte sich alles. Wieder geriet sie auf ein Stück Glatteis. Der Wagen drehte sich

einmal um die eigene Achse. Mit aller Kraft umklammerte sie das Lenkrad und versuchte, ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen. Während der Wagen den Hügel hinunterschlidderte, wurde er immer schneller.

Auf einmal sah Delia den Baum vor der Windschutzscheibe. Sie spürte einen harten Stoß. Hörte das Knirschen von Glas und Metall. Und dann wurde alles schwarz.

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Kapitel 13

Alles wurde schwarz, weil sich der Airbag aufblies und in ihrem Gesicht landete.

Delias Kopf ruckte zurück und knallte gegen die Nackenstütze. Dann wurde sie wieder nach vorne geschleudert. Dabei grub sich

der Sicherheitsgurt in ihren Oberkörper. Der Airbag presste sich gegen ihr Gesicht. Krampfhaft versuchte sie, tief einzuatmen. »Delia? Delia, kannst du mich hören?«, rief jemand. Es hörte sich

panisch an. Sie strengte sich an, den Airbag beiseite zu schieben. In diesem

Moment wurde die Autotür aufgerissen – und Karina beugte sich zu ihr hinein.

Sie packte Delia an der Schulter. »Delia«, rief sie, »bist du okay?« Delia schüttelte benommen den Kopf. Mit zitternden Händen strich

sie sich die Haare aus den Augen. »Ich… ich glaub schon.« Sie versuchte, um den Airbag herumzublinzeln. »Ist der Wagen…?«

»Alles nicht so schlimm«, meinte Karina beruhigend. »Du hast ‘ne große Beule in der Motorhaube. Und ein Scheinwerfer ist im Eimer. Nichts Ernstes. Hauptsache, dir ist nichts passiert.«

»Wo ist Vincent?« Delia starrte an Karina vorbei und suchte mit den Augen den Bürgersteig ab.

Keine Spur von Vincent. »Aber ich hab ihn doch mit dir zusammen gesehen.« Delia versagte

es die Stimme. »Wo ist er?« »Er ist zu dem Haus da drüben gelaufen, um deine Eltern

anzurufen.« Karina zeigte über die Straße. Delia quälte sich aus dem Wagen. Ihre Beine zitterten, und ihre

Finger schmerzten, weil sie das Lenkrad so fest umklammert hatte. Aber sie hatte sich nichts gebrochen, und es fühlte sich auch nicht

so an, als hätte sie eine Gehirnerschütterung abbekommen. »Puh. Das war knapp!«, sagte Karina mit einem Seitenblick auf

den großen Baum. »Wenn du ein bisschen mehr Speed draufgehabt hättest, wäre er bei dir auf dem Fahrersitz gelandet.«

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Ein entsetzlicher Gedanke. Delia wandte sich schaudernd ab und starrte Karina an. »Ich…« begannen Delia und Karina gleichzeitig. »Ich meine…« Wieder setzten beide auf einmal an. »Du zuerst«, sagte Karina. »Okay«, seufzte Delia. »Ich hab gesehen…« Aber sie konnte sich

nicht dazu überwinden, es auszusprechen. Dass sie beobachtet hatte, wie Vincent und Karina sich geküsst hatten. »Also, ich hab dich und Vincent zusammen gesehen. Ich wusste nicht…«

»Dass er sich mit uns beiden trifft?«, beendete Karina den Satz für sie. »Nein, ich auch nicht. Jedenfalls bis vor ein paar Tagen - als ich deinen Lippenstift auf seiner Wange entdeckt habe.«

»Wetten, er hat dir nie versprochen, dass er nicht mit anderen Mädchen ausgeht?«, meinte Delia.

»Nein. Er hat mich nicht angelogen.« Karinas blaue Augen blitzten vor Wut. »Aber er hat es mir leicht gemacht zu glauben, was ich glauben wollte. Er hätte es mir sagen müssen. Und dir auch. Er hat uns beide belogen.«

»Ich denke, jetzt gibt es nichts mehr, um das wir kämpfen müssen«, fügte sie leise hinzu. »Ich meine… wir wissen beide über Vincent Bescheid.«

»Nichts mehr. Bis auf das Conklin Stipendium«, erinnerte Delia sie.

Es stimmte, und beide wussten es. Für einen Moment breitete sich erneut Schweigen zwischen ihnen aus.

»Karina…« »Delia…« Wieder begannen sie gleichzeitig zu sprechen. »Du zuerst«, sagte Delia lachend. Karinas Wangen färbten sich zartrosa. »Ich hab mich ziemlich

daneben benommen. Es tut mir furchtbar Leid, dass ich dich neulich in der Sporthalle angegriffen habe. Und all diese schrecklichen Dinge zu dir gesagt habe. Ich bin einfach ausgerastet – ich geb’s zu. Aber deine Gitarre hab ich nicht kaputt gemacht. Das schwöre ich. Lass uns einen Waffenstillstand schließen, okay?«

Delia sah Karina prüfend an. Es schien ihr ernst zu sein. Aber bei Karina war das schwer zu sagen. Sie sah immer aus wie die

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Unschuld in Person. »Okay«, stimmte Delia zu. Das hieß ja noch lange nicht, dass sie

Karina hundertprozentig vertrauen musste. »Kommst du hier so weit klar?«, fragte Karina. »Ich muss jetzt

nämlich dringend nach Hause.« »Ja, alles in Ordnung«, sagte Delia. »Ich hab Glück gehabt.« Sie sah Karina hinterher, die eilig davonlief. Ihr blondes Haar

wehte durch die winterlichen Luft. Kurz darauf kam Vincent aus dem Haus auf der anderen

Straßenseite. Delias Puls beschleunigte sich – so wie immer, wenn sie ihn sah.

Ihr Waffenstillstand mit Karina bedeutete ja nicht, dass sie Vincent aufgeben musste. Sie würden einen fantastischen Abend im Red Heat verbringen, und sie würde die schärfste Geburtstagsparty aller Zeiten für ihn schmeißen. Und schon bald würde er Karina völlig vergessen haben!

»Ich weiß, dass ich mit dir ins Red Heat gehen wollte. Es war schließlich meine Idee. Aber heute Abend wird es doch nichts. Wir holen es am Wochenende nach, versprochen.«

Vincent hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg. Er brauchte sich Delias Antwort gar nicht anzuhören – er wusste sowieso, was sie sagen würde.

Als Erstes würde sie ihn fragen, was wichtiger sein könnte als ihr gemeinsamer Abend im Red Heat.

Dann würde sie sagen, es sei nicht fair, und sie hätte extra für ihn besonders schicke Klamotten rausgesucht.

Und sie würde ihn daran erinnern, was für einen furchtbaren Tag sie gehabt hatte.

Aber es würde nicht funktionieren. Nicht heute Abend. »Delia…«, unterbrach Vincent sie. »Ich kann auf keinen Fall. Es

tut mir echt Leid, wirklich.« Vincent schluckte trocken. »Vielleicht ist das ein Fehler«, dachte

er. »Vielleicht sollte ich heute doch lieber mit ihr tanzen gehen.« Er wurde das Bild, wie Karina und Delia sich miteinander

unterhielten, einfach nicht los. Als er heute Nachmittag Delias Eltern angerufen hatte, hatte er die beiden durch das Fenster beobachtet.

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Worüber hatten sie wohl gesprochen? Wenn Delia und Karina sich wieder anfreundeten, würde das sein

ganzes Leben durcheinander bringen. Vincent rutschte nervös auf der Wohnzimmercouch herum. »Ich

hab gesehen, dass du nach deinem Unfall eine Weile mit Karina geredet hast. Sie hat dir doch nicht erzählt… ich meine, sie hat doch nicht etwa behauptet, dass wir zusammen sind, oder? Wenn ja…«

Er atmete tief ein und versuchte ganz gelassen zu klingen. »Also, wenn sie das gesagt hat, müssen wir die Sache dringend klären.« Vincent schüttelte besorgt den Kopf, als könnte Delia ihn sehen. »Sie ist offenbar völlig durcheinander. Ich meine, denk doch nur mal dran, wie sie dich in der Sporthalle angegriffen hat. Und dann die tote Ratte in deiner Gitarre…«

Vincent beschloss, besser auch gleich den Kuss zu erklären – für den Fall, dass Delia es gesehen hatte. »Du wirst nicht glauben, was Karina heute mit mir gemacht hat. Als ich ihr auf dem Park Drive begegnet bin, hat sie einfach meinen Kopf zu sich runtergezogen und mich geküsst. Sie kann einem echt Leid tun.«

»Ich wusste doch, dass es nicht wahr ist!«, rief Delia aus. »Stimmt, sie hat mir tatsächlich erzählt, dass ihr miteinander geht. Und ich hab ihr das auch noch abgenommen! Ich muss von dem Unfall ganz durcheinander gewesen sein.«

Vincent legte den Hörer ans andere Ohr. »Du brauchst dir wegen Karina und mir keine Sorgen zu machen«, versicherte er Delia. Dann senkte er die Stimme, so wie er es immer tat, wenn er ihr ins Ohr flüsterte. »Du glaubst mir doch, oder?«

»Dann lass uns heute Abend weggehen. Du kannst deine Eltern bestimmt überreden«, sagte Delia.

»Nein, keine Chance. Ich kann hier nicht weg. Die Leute von der Teppichreinigungsfirma stehen gleich morgen früh auf der Matte. Und meine Mutter kriegt ‘ne Krise, weil all unsere schweren Möbel noch weggeschoben werden müssen. Das verstehst du doch, nicht wahr, Delia?«

»Ich denke schon.« Vincent spürte, dass sie enttäuscht war. Aber wenigstens war sie

nicht mehr sauer auf ihn. »Ich werde es wieder gutmachen, okay?« Er wartete Delias Antwort gar nicht erst ab. »Wir sehen uns dann

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morgen«, fügte er schnell hinzu und legte auf. Vincent war ein bisschen außer Atem. »Puh, das war gar nicht so

einfach, wie ich gedacht hatte«, gab er zu. »Sie war stinkwütend.« »Delia wird sich schon damit abfinden.« Das Mädchen neben

Vincent kuschelte sich enger an ihn. »Das tut sie doch immer.« Vincent nickte. Er dachte nicht länger an Delia und legte seinen

Arm um die Schulter des Mädchens. Dann strahlte er sie mit seinem typischen Vincent-Milano-Lächeln an.

Das Mädchen kicherte und küsste ihn auf den Mundwinkel. Vincent lachte. »Du bist ganz schön boshaft, Sarah.«

Kapitel 14

»Nervös. Nervös«, murmelte Delia vor sich hin. Sie tigerte nach der Schule unruhig vor dem Kunstraum hin und her. »Ich muss aufhören, so nervös zu sein.«

Sie rannte ein Stück den Flur hinunter zu ihrem Schrank, gab hastig die Zahlenkombination ein und riss die Tür auf. In dem kleinen Spiegel, der an der Innenseite hing, überprüfte sie noch einmal ihre Frisur.

Perfekt! Mit Brittys Hilfe hatte sie ihre Haare geflochten, und der lange Zopf hing ihr bis auf den Rücken hinunter. Sehr auffallend. Sehr ausdrucksvoll.

Sehr künstlerisch. In einem Ohr trug sie einen silbernen Ohrring, der mit runden,

roten Perlen und langen, schmalen, tiefrot gesprenkelten Steinchen besetzt war. Ideal für den Kunstwettbewerb.

Delia griff nach ihrem Ersatzlippenstift Marke Mitternachtsfeuer, den sie in ihrem Schrank aufbewahrte, und zog sich die Lippen nach. Die wenigsten Leute würden diesen dunkelroten Farbton mit einer knallroten Jacke und einem langen, pinkfarbenen Rock kombinieren, so wie Delia sie heute trug. Aber Delia war ja auch anders als andere Leute. Sie liebte schräge Farbkombinationen. Und es würde der Jury zeigen, dass sie einen ganz besonderen Stil hatte.

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»Ich bin froh, dass ich noch ein neues Selbstporträt gemalt habe«, dachte Delia. Auf der neuen Zeichnung hatte sie dasselbe Outfit an wie heute. Dieselbe Frisur, denselben Ohrring – alles völlig identisch.

Bestimmt würden die Schiedsrichter sich dann leichter an sie erinnern.

Delia knallte die Schranktür zu und rannte zum Kunstraum zurück. »Blöde Nervosität«, murmelte sie wieder und warf einen Blick auf die geschlossene Tür.

Plötzlich wurde ihre Schulter mit festem Griff von einer Hand umklammert. Sie jaulte erschrocken auf und fuhr herum.

Stewart stand mit verlegenem Gesicht vor ihr. »Tschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Er folgte ihrem Blick zur Tür des Klassenraums. »Bist du als Nächste dran?«

Delia nickte. »Im Moment ist Karina drin«, sagte sie zu ihm. »Zusammen mit der Jury. Hast du ihre Sachen schon gesehen?«

»Sie ist gut«, sagte er. »Meistens macht sie Ölgemälde von Blumen und Bäumen. Winzigkleine Zeichnungen. Hübsche Miniaturen. Sehr schön.«

»Ja, sehr schön. Das kann man wohl sagen.« Delia merkte, wie neidisch sie klang, aber sie konnte nichts dagegen tun.

Vielleicht hatte Stewart es ja nicht gemerkt. Er lächelte sie an. »Deine Kunstwerke habe ich noch nicht gesehen – aber die Künstlerin sieht toll aus«, meinte er.

»Danke«, murmelte Delia. Die Art, wie Stewart sie ansah, machte sie noch nervöser.

Sie warf einen schnellen Blick auf ihre lederne Kunstmappe. »Meine Arbeiten sind auch nicht schlecht. Allerdings sind meine Zeichnungen nicht so verspielt wie Karinas. Und sie sind ganz anders als deine. Ich meine, deine Bilder haben all diese vielen Details. Jedenfalls die, die ich im Kunstraum gesehen habe.«

»Ich quatsche ja wie aufgezogen«, dachte Delia und zwang sich, damit aufzuhören.

Stewart verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Schrank. »In Hemd und Krawatte sieht er ganz ungewohnt aus«, dachte Delia. »Ich glaube, ich hab ihn noch nie mit Schlips gesehen.«

Seine Krawatte erinnerte Delia an einen Sonnenuntergang. Sanfte

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Farben. Gedämpfte Schattierungen. Poesie in Seide. »Er sieht richtig gut aus«, dachte Delia. Ihr gefiel sein

tiefschwarzes Haar und das Grübchen in seinem Kinn. »Aber er ist eben kein Vincent«, fügte sie im Stillen hinzu.

»Lass mich raten«, sagte Stewart. »Bestimmt sind deine Bilder wild und außergewöhnlich. Genau wie du.«

Die Tür zum Kunstraum öffnete sich mit einem klickenden Geräusch, und Delia fuhr zusammen. »Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich sie dir zeigen.« Sie griff nach ihrer Mappe und ging auf den Klassenraum zu. »Dann wüsstest du auch, gegen was du antreten musst«, rief sie über die Schulter zurück.

Stewart erwischte sie am Arm, bevor sie durch die Tür trat. »Wenn wir fertig sind, könnten wir doch zu Pete’s Pizza gehen. Dort könntest du sie mir zeigen.«

Er schaute sie erwartungsvoll an. »Ich… ich kann nicht.« Delia warf ihm ein kurzes Lächeln zu. »Ich

muss mit Vincent sprechen und…« »Ach so. Na dann.« Stewart ließ sie los. Sein Blick wurde kalt.

»Sie warten da drinnen auf dich«, murmelte er. Delia wandte sich ab und betrat den Raum. Als Erstes sah sie

Karinas schöne Ölbilder, die an der Wand aufgereiht waren. Dann fiel ihr Blick auf Karina, die ihr kurz zulächelte.

Delia zwang sich zurückzulächeln. Sie betrachtete Karinas Bilder. Jedes der kleinen Gemälde zeigte einen Garten. Pinkfarbene Rosen. Weiße Margeriten. Lilafarbener Flieder. So naturgetreu, dass Delia ihn fast riechen konnte.

Ein heißer Stich der Eifersucht durchfuhr sie. Warum musste Karina in allem so gut sein?

»Sind Sie so weit, Miss Easton?« Delia nickte nur. Sie hatte Angst, dass ihre Stimme zittern würde.

Vorsichtig trug sie ihre Mappe hinüber zur Jury. Sie legte sie auf den Tisch und öffnete sie.

Aber was war das für rote Farbe? Dicke, dunkelrote Streifen zogen sich über das oberste Bild. Delia schnappte entsetzt nach Luft. Eine Welle von Panik ließ sie

erstarren. Sie musste sich zwingen, sich zu bewegen. Mit angehaltenem

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Atem blätterte sie die Zeichnungen durch, für die sie so viele Monate gebraucht hatte.

Ruiniert. Alle ruiniert. Alle mit dieser roten Farbe verschmiert. War das Lippenstift? Dunkelroter Lippenstift? Ihr Lippenstift? All ihre Modeentwürfe. All ihre Porträts. Mit roter Farbe

verschmiert. Als Delia nach ihrem Selbstporträt griff, entfuhr ihr ein

unterdrückter Schrei. Roter Lippenstift bedeckte die Augen, die blicklos zu ihr

hinaufstarrten. Zwei runde, blutrote Kreise. Der Lippenstift war mit solcher Gewalt auf die Leinwand gepresst

worden, dass er an einer Stelle sogar ein Loch gerissen hatte. Und unter der Zeichnung stand in derselben blutroten Farbe eine

Nachricht für Delia hingekritzelt: »HA HA HA. HÄTTEST DU NICHT EINFACH STERBEN KÖNNEN? «

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Kapitel 15

Die Schiedsrichter starrten fassungslos auf die verschmierten Zeichnungen.

»Delia, was ist das?«, fragte schließlich einer von ihnen. Delias Knie schlotterten, und ihr Atem ging unregelmäßig. »Sehen Sie das denn nicht?«, schrie sie mit schriller Stimme.

»Sehen Sie denn nicht, was man mir angetan hat?« »Aber – wie ist das passiert?«, fragte ein anderer Schiedsrichter

und schüttelte den Kopf. Was wollten sie denn von ihr? Woher sollte sie das wissen? Mit einem heiseren Aufschrei ließ Delia die Zeichnungen fallen

und stürzte aus dem Raum. Sie hörte, wie ihr die Schiedsrichter bestürzt hinterherriefen. Aber sie blieb nicht stehen.

Sie war gerade ein paar Schritte den Flur entlanggerannt, als sie mit Stewart zusammenstieß.

»Hey, was ist passiert? Was ist denn los?«, rief er. »Meine Zeichnungen! Sie sind alle zerstört!«, stieß Delia hervor. »Was?« Delia drehte sich um und stürmte auf die Treppe zu. »Warte!«, rief Stewart ihr hinterher. Aber Delia wurde nicht langsamer. Schluchzend drückte sie die

Tür auf und raste die Stufen hinunter. Sie bog in vollem Lauf um die Ecke – und kam schlitternd zum

Stehen. »Das darf doch nicht wahr sein«, schoss es ihr durch den Kopf.

»Nicht schon wieder!« Am anderen Ende des Flurs stand Karina. Eng an Vincent

gekuschelt. Delia presste sich mit dem Rücken an die Wand, damit die beiden

sie nicht bemerkten. »Ich weiß, dass ich gewinnen werde. Ich weiß es einfach«, sagte

Karina gerade aufgeregt. »Du hättest mal die Gesichter der Schiedsrichter sehen sollen, als ich ihnen meine Bilder gezeigt

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habe!« Vincent beugte sich noch dichter zu Karina und flüsterte ihr etwas

ins Ohr. Ihr Gesicht begann zu glühen. Sie küsste ihn zärtlich auf die

Wange. Delia schluckte heftig. »Okay«, dachte sie. »Karina hat gewonnen.

Sie steht dort mit Vincent. Die Schiedsrichter sind in allen Wettbewerben von ihr begeistert. Und von mir haben sie überhaupt noch nichts gesehen.«

»Toller Waffenstillstand!«, dachte Delia bitter.

»Vielleicht sollte ich mir das Stipendium einfach abschminken«, stöhnte Delia und ließ sich auf das Sofa in Brittys Wohnzimmer fallen.

»Kommt überhaupt nicht in Frage! Du kannst nicht einfach so aufgeben!«, protestierte Britty. »Du musst den Schiedsrichtern sagen, dass Karina deine Bilder zerstört hat.«

»Ich weiß doch nicht genau, ob sie es wirklich war«, antwortete Delia.

»Natürlich weißt du das!«, rief Britty aus. »Wer sollte denn sonst…«

»Aber ich hab keinen Beweis«, beharrte Delia. »Warum sollten mir die Schiedsrichter abnehmen, dass Karina meine Gitarre zerstört und all meine Bilder verschmiert hat? Sie würden mich garantiert aus dem Wettbewerb schmeißen.«

»Woher willst du das wissen?«, wandte Britty ein. Sie hockte sich auf die Armlehne der Couch. »Eine Menge Leute haben gesehen, wie Karina dich in der Sporthalle angegriffen hat. Und ich habe gehört, wie sie dich bedroht hat. Ich könnte mit ihnen reden.«

Delia setzte sich auf. Sie löste ihren Zopf und zupfte sich die Haare locker um den Kopf. »Und dann?«, fragte sie. »Glaubst du im Ernst, Karina fliegt aus dem Wettbewerb, und alles ist wieder in Ordnung? Das passiert nie im Leben.« Delia seufzte. »Du weißt doch, wie unberechenbar sie ist, Britty. Sie hat solch schreckliche Dinge getan – was glaubst du wohl, was sie mit mir anstellen würde, wenn ich dafür sorge, dass sie aus dem Wettbewerb fliegt? Sie würde noch mehr hinter mir her sein. Sie würde einen Weg finden, mich noch

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mehr zu verletzen.« Britty kaute auf einer ihrer langen Haarsträhnen herum. »Ich

denke, es gibt nur eins, was wir tun können«, sagte sie. Delia schaute ihre Freundin mit zusammengekniffenen Augen an.

»Und das wäre?«, fragte sie mit niedergeschlagener Stimme. »Wir müssen Karina töten.«

Kapitel 16

Delia merkte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich.

Sofort veränderte sich Brittys Miene. »Hey – ich hab doch bloß Spaß gemacht.« Sie griff nach Delias Arm und schüttelte ihn. »Reiß dich zusammen! Es war nicht so gemeint. Ich wollte nur, dass du nicht mehr so trübselig aus der Wäsche schaust.«

»Im Moment bin ich echt nicht in der Stimmung für Scherze.« Delia seufzte. »Und außerdem war er ziemlich daneben.«

»Ich sterbe vor Hunger«, erklärte Britty. »Wenn mein Magen knurrt, werde ich immer ein bisschen makaber.«

Die beiden gingen in die Küche. Delia sah zu, wie Britty herumhüpfte und die Schränke nach etwas Essbarem durchwühlte. Sie brachte ein paar Teller, eine Tüte Taco-Chips, ein Glas mit Salsa-Dip und eins mit eingelegten Peperoni zum Vorschein und knallte alles auf den Tisch. Dann holte sie noch etwas Käse, Oliven und Reis aus dem Kühlschrank.

»Wenigstens hat mir die Jury eine Verlängerung gegeben, damit ich neue Zeichnungen machen kann. Und ich hab auch schon ein paar fertig, die mir fast genauso gut gefallen wie die anderen«, erzählte Delia.

»Ich mach mir Sorgen um dich«, sagte Britty. Sie stellte das Essen vor Delia ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Dann öffnete sie hastig die Gläser und riss die Tüte auf. »Noch vor ein paar Wochen wärst du nie im Leben auf die Idee gekommen, dass ich Karina tatsächlich umbringen will«, beklagte sich Britty. Sie dippte ein paar Chips in die Sauce und kaute mit vollem Mund.

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»Ich weiß. Aber das hier ist eine verdammt ernste Sache. Karina ist wahrscheinlich nicht ganz zurechnungsfähig. Wer weiß, was sie sich noch alles einfallen lässt, nach dem, was sie mir schon angetan hat. Vielleicht ist sie wirklich verrückt. Ich… ich hab richtig Angst vor ihr.«

Britty stopfte sich die nächste Hand voll Chips in den Mund. Die Salsasoße tropfte ihr dabei über das Kinn, und sie wischte sie mit dem Finger weg. »Dann lass sie doch dieses blöde Stipendium gewinnen. Alle werden wissen, dass sie mit fiesen Tricks gearbeitet hat, um es zu bekommen.«

»Und was hab ich davon? Bestenfalls denken ein paar Leute, dass ich es eigentlich verdient hätte.« Delia griff jetzt auch nach den Chips. »Verstehst du denn nicht? Wenn ich nicht gewinne, hänge ich für den Rest meines Lebens in Shadyside fest.« Delia fiel ein Taco-Chip auf den Tisch. »Du wirst auf die Ohio State gehen. Gabe schreibt sich bestimmt für Yale oder eine dieser anderen berühmten Unis ein. Sogar Vincent geht aufs College – und seine Noten sind schrecklich.« Wieder seufzte Delia. »Kapierst du das nicht, Britty?«, fragte sie. »Ich möchte nicht als Einzige hier bleiben. Wenn ich nicht nach New York kann, werde ich auch nie Modedesignerin. Und ohne Vincent…«

»Nein«, dachte Delia. »Noch habe ich Vincent nicht verloren. Er liebt mich, das weiß ich genau. Ich werde ihn nicht so einfach aufgeben!«

Sie stand auf. »Ich muss mit ihm reden, Britty. Über uns. Und über Karina.« Mit schnellen Schritten ging sie auf die Haustür zu.

»Du willst dich mit Vincent treffen?«, rief Britty und lief ihr hinterher. »Nach allem, was du heute gesehen hast? Nach all den Lügen, die er dir erzählt hat? Warum? Wieso willst du da noch mit ihm reden? Überlass ihn Karina. Die beiden haben sich wirklich verdient.«

»Das kann ich nicht.« Delia blieb an der Tür stehen. Sie wünschte, sie könnte es Britty erklären. Aber wie sollte sie das machen? Ihre Freundin war noch nie so heftig in einen Jungen verliebt gewesen wie sie in Vincent.

»Du bist was ganz Besonderes, Delia«, fuhr Britty fort. »Die Typen stehen Schlange, um mit dir auszugehen. Nimm doch nur mal Gabe

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und Stewart. Du bist viel zu schade für so einen Versager!« Delia riss die Tür auf. »Ich muss mit Vincent reden. Er soll

wenigstens die Chance haben, sich zu verteidigen.« »Er hat bestimmt eine vernünftige Erklärung für alles«, dachte

Delia, als sie zu ihrem Wagen lief und auf den Fahrersitz schlüpfte. »Ich werde mit ihm reden, und alles wird wieder okay sein.«

Alles wird wieder okay sein. Während sie zu Vincent fuhr, gingen Delia immer wieder diese Worte im Kopf herum. Sie wusste, dass er zu Hause sein würde. Donnerstagabend gab’s immer Basketball – und Vincent liebte Basketball. Er würde garantiert vor dem Fernseher sitzen.

Delia parkte direkt vor dem Haus der Milanos. »Alles wird wieder okay sein«, sagte sie sich noch einmal. »Völlig

okay…« Doch als sie an dem großen Wohnzimmerfenster vorbeiging,

entdeckte sie, dass neben Vincent noch jemand auf dem Sofa saß. Ein Mädchen.

Karina? Nein. Das Mädchen hatte dunkle Haare. Delias Magen zog sich zusammen. Wer war das? Sie lief zur Haustür und drehte am Knauf. Es war nicht

abgeschlossen. Delia schlüpfte ins Haus und schloss vorsichtig die Tür hinter sich.

Der Fernseher plärrte, und man hörte undeutlich die Geräusche einer lärmenden Zuschauermenge bei einem Basketballspiel. Auf Zehenspitzen schlich Delia ins Wohnzimmer.

Blinzelnd starrte sie in den dämmerigen Raum. Vincent und das Mädchen hielten sich eng umschlungen. »Lass sie sofort los!« Der Schrei schien wie von selbst aus Delias

Kehle zu kommen. Vincent und das Mädchen fuhren auseinander. Er sprang

erschrocken von der Couch auf, und Delia starrte das Mädchen an. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. »Sarah!«, schrie sie.

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Kapitel 17

»Delia! Hi!« Vincent räusperte sich verlegen und stopfte die Hände in die Taschen seiner Jeans. Er leckte sich über die Lippen und warf Sarah einen schnellen Blick zu.

Aber die schien überhaupt nicht nervös oder überrascht zu sein. Ganz im Gegenteil – sie sah aus, als wäre sie sehr mit sich zufrieden.

»Sarah!«, wiederholte Delia und blinzelte geschockt, als könnte sie so das Bild ihrer Schwester vertreiben.

War das ein schlechter Traum? Oder war Sarah tatsächlich hier bei Vincent? Mit hoch erhobenem Kopf und gestrafften Schultern stand Sarah

auf. Seelenruhig zupfte sie das schwarze T-Shirt zurecht, das sie sich von Delia ausgeliehen hatte – ohne zu fragen.

»Hi. Wie geht’s denn so?« Lässig schlenderte Sarah zu ihrer Schwester hinüber.

»Was ist bloß anders an ihr?«, überlegte Delia. Es dauerte nicht lange, bis sie darauf kam. Sarahs Lippen. Sie glänzten im satten Rot von Delias Mitternachtsfeuer. Sarah grinste sie an. »Na, was gibt’s denn, Schwesterherz?« Delia biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte Sarah nicht die

Befriedigung eines Wutausbruchs gönnen. »Nichts Besonderes«, stieß sie zwischen zusammengebissenen

Zähnen hervor. Dann drehte sie sich zu Vincent um und zwang sich zu einem

Lächeln. »Stimmt’s?« Vincent lachte, aber es klang total gekünstelt. »Sarah wollte gerade

gehen«, sagte er hastig und riss ihren Mantel von dem braunen Lehnsessel in der Ecke.

Dort legte auch Delia immer ihre Jacke ab. Vincent warf Sarah ihren Mantel zu. »Deine Schwester ist nur kurz

vorbeigekommen, um…« »Ich weiß genau, warum sie hier ist«, erwiderte Delia kühl. Dann ging sie in den Flur und öffnete die Haustür. Sie trat einen

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Schritt zurück und wartete, dass Sarah verschwand. Es dauerte nicht lange. Als sie an ihr vorbeiging, griff Delia nach

Sarahs Arm. Sie beugte sich dicht zu ihrer Schwester. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass er dich mir vorziehen

würde, oder? Sogar in meinen Klamotten und mit meinem Make-up bist du nichts Besonderes.«

Sarahs spitzes kleines Kinn zitterte. Delia hatte vorgehabt, ihre Schwester zu verletzen. Und das war ihr auch gelungen.

Ohne ein weiteres Wort rannte Sarah nach draußen, und Delia knallte die Tür hinter ihr zu.

Dann fuhr sie herum und funkelte Vincent wütend an. »Was zum Teufel läuft hier?«

Vincent senkte den Kopf. Anscheinend wollte er mal wieder die Nummer mit dem schuldbewussten Hundeblick abziehen.

Delia stieß ein empörtes Schnauben aus. »Vergiss es – das funktioniert diesmal nicht.«

»Sarah hat mir doch nur Leid getan«, verteidigte er sich. »Ich hab gedacht, ich geb ihr mal ein paar Tipps im Umgang mit Jungen. Damit die Typen von der Highschool sie nicht mehr für so’n Mauerblümchen halten.«

Delia verdrehte die Augen. »Na, klar. Sonst noch was?« Vincent ging langsam auf sie zu und nahm ihren Arm. »Da ist echt

nichts gelaufen. Ich wollte der Kleinen bloß ein bisschen helfen. Du weißt doch, dass ich nur auf dich stehe.«

Delia schlug seine Hand beiseite. »Ach, und deswegen hast du Karina im Flur geküsst?«

»Karina?« Vincent schluckte. »Äh, ja, ich muss dringend mit dir über sie sprechen.«

»Na, dann schieß mal los.« Delia verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.

»Karina bildet sich ein, dass ich ihr Freund bin. Ich weiß auch nicht wieso, aber so ist es nun mal«, sagte Vincent. »Ich überlege hin und her, was ich tun könnte. Aber du weißt doch, wie Karina ist. Sie kann so schnell ausrasten.«

»Was muss denn erst noch alles passieren?«, schrie Delia. »Sie hat meine Gitarre kaputt gemacht. Und sie hat meine Mappe mit den Zeichnungen zerstört. Du musst mit ihr reden, Vincent. Du musst ihr

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sagen, dass sie dich in Ruhe lassen soll. Du…« »Mach ich«, antwortete Vincent mit sanfter Stimme. Wieder griff

er nach ihr. Und wieder schubste Delia ihn weg. »Bitte, Vincent…«, bettelte sie. »Sprich mit Karina. Sag du ihr,

dass sie Hilfe braucht. Sag ihr, dass sie nicht mehr weiß, was sie tut. Sag ihr irgendwas!«

Vincent nickte. »Ich werd’s versuchen. Ich versprech’s dir. Und wenn das nichts bringt, rede ich mit ihren Eltern.«

»Bitte, Vincent…«, wiederholte Delia hitzig. »Sprich mit ihr – bevor sie etwas richtig Schlimmes anstellt. Ich hab solche Angst vor Karina. So schreckliche Angst!«

»Ich verspreche es«, sagte Vincent und hob feierlich die Hand. »Und tu es bald«, drängte ihn Delia. »Bevor es zu spät ist.« Überrascht verzog Vincent das Gesicht. »Zu spät? Was meinst du

damit?« Delia holte tief Luft. »Ich… ich hab solche Angst vor dem, was sie

als Nächstes vorhat«, stieß sie hervor.

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Kapitel 18

»Na, ist das nun die beste Idee für ‘ne Geburtstagsfete, oder nicht?« Vincent trat aus der Türöffnung und führte Britty und Gabe nach drinnen.

Und er kannte die Antwort genau – es war die beste Idee aller Zeiten!

»Wow!« Britty warf einen Blick in die dunkle Eingangshalle. »Ganz schön unheimlich hier. Warum hast du dir denn diese alte Villa in der Fear Street für deine Party ausgesucht?«

»Weil’s cool ist«, antwortete Vincent und grinste sie an. »Und wie bist du an die Hütte rangekommen?«, wollte Gabe

wissen. »Wer wohnt denn hier?« »Niemand«, sagte Vincent. »Deswegen hab ich es ja bekommen.

Das Haus steht seit fast einem Jahr leer. Also hab ich’s mir für heute Abend gesichert. Ihr wisst schon – so ‘ne Art Hausbesetzung. Ich hab nur ein bisschen geputzt. Und jetzt ist Partytime! Alle aus der Abschlussklasse sind hier.«

Er führte sie durch die Eingangshalle zu einer großen Flügeltür. »Wenn ich die Party zu Hause geschmissen hätte, wäre meine

Mutter reif für die Klapse gewesen«, fuhr er fort. »Sie hätte sich wegen jedem Krümelchen auf dem Boden aufgeregt. Und mein Dad wäre bestimmt wieder total verspannt gewesen. So auf diese peinliche Art, die unsere Lehrer drauf haben, wenn sie beim Schulball einen Pflichttanz aufs Parkett legen müssen.« Vincent tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Ich bin ein Genie«, sagte er. »Ist das nicht stark hier? Keine Eltern in der Nähe. Keine Nachbarn. Minimaler Aufwand. Maximaler Spaß. Und außerdem hatte ich Glück - der Strom ist damals nicht abgestellt worden.«

»Dürfen wir jetzt endlich zu den anderen auf die Party, du Genie?«, fragte Gabe.

Vincent öffnete schwungvoll die großen Doppeltüren. Auf der anderen Seite befand sich ein riesiger Ballsaal. Laute

Musik und Gelächter schlugen ihnen entgegen. »Das ist echt ‘ne abgefahrene Geburtstagsfete«, sagte Vincent sich

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im Stillen. Ein Haufen zu essen - Pizza, jede Menge Chickenwings, Chips, Brezeln und Nachos mit klebrigem Käse. Und natürlich super Musik. Er hatte für diesen Abend einen DJ von der Highschool engagiert und ihm eine Liste seiner Lieblings-CDs in die Hand gedrückt, nach denen man so richtig abhotten konnte.

Britty verrenkte sich den Hals und versuchte, über die Menge hinwegzusehen. »Wo ist denn Delia?«, fragte sie.

»Ha?«, machte Vincent, der sich gerade ein Stück Pizza in den Mund stecken wollte. Er hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich zu Britty um. »Delia?«

Er war so damit beschäftigt gewesen, alles für die Party vorzubereiten, dass er gar nicht mehr an sie gedacht hatte. Suchend blickte er sich in dem großen, überfüllten Raum um. Aber er konnte Delia nirgends entdecken.

»Wenn sie auftaucht, fragt sie mich hoffentlich nicht als Erstes, ob ich schon mein ernstes Gespräch mit Karina geführt habe«, dachte er. »Ich hatte alle Hände voll zu tun, diese Fete auf die Beine zu stellen. Eine Szene mit Delia würde mir jetzt gerade noch fehlen – schließlich ist es meine Geburtstagsfete.«

»Ich hab gedacht, Delia würde früher kommen«, rief Britty über die dröhnende Musik hinweg. »Komisch, dass sie noch nicht da ist.«

»Da bist du ja!«, rief Karina. Sie musste gleich nach Gabe und Britty gekommen sein. Strahlend stürmte sie auf Vincent zu und küsste ihn auf die Wange.

»Lass uns tanzen – okay, Gabe?«, sagte Britty, während sie sich an Vincent vorbeischob.

Der hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf Karina gerichtet. »Irre Party!« Sie küsste ihn noch einmal. »Komm.« Übermütig zog

sie ihn auf die Tanzfläche, und ihre blauen Augen blitzten. »Ich liebe diesen Song.«

Vincent zog Karina ganz dicht an sich heran und legte seine Wange an ihr Gesicht, als sie sich langsam im Takt der Musik wiegten. »Total starke Fete«, dachte er noch einmal.

Als das Lied vorbei war und ein schnelles Stück begann, tanzten Karina und Vincent weiter. Genau danach war ihm jetzt. Die ganze Nacht durchzutanzen.

Nach ein paar weiteren Songs zupfte ihn jemand am Ärmel. Als er

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sich umdrehte, fiel sein Blick auf Britty, die ihn anstarrte. »Was gibt’s denn?«, fragte er.

»Irgendwas ist nicht in Ordnung, Vincent«, sagte Britty. »Irgendwas ist absolut nicht in Ordnung. Delia ist nicht hier.«

Vincent verdrehte die Augen. Er wollte auf keinen Fall in Karinas Gegenwart über Delia diskutieren. Jedenfalls nicht, wo die Dinge zwischen ihnen gerade so gut liefen.

Er murmelte Karina zu, dass er noch mehr Eis besorgen musste, und zerrte Britty von der Tanzfläche.

»Wovon redest du eigentlich?«, fragte er, als sie die andere Seite des Saals erreicht hatten.

»Ich rede von Delia«, fauchte sie ihn an. Britty blickte sich um. »Sie ist nicht hier.«

»Und was soll ich jetzt machen?«, dachte Vincent. Quer durch den Raum sah er, wie Stewart Andrews Karina zum Tanzen aufforderte.

»Ich… ich muss gehen«, murmelte er, die Augen auf Karina gerichtet.

»Aber überleg doch mal, Vincent«, bat Britty. »Es ist deine Geburtstagsparty, und Delia ist nicht gekommen. Findest du das nicht auch ein bisschen komisch?«

»Irgendwie schon. Aber ich glaube, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Über Brittys Schulter hinweg beobachtete Vincent Karina und Stewart. Sie schienen sich gut zu amüsieren. Viel zu gut.

Vincent ging auf die beiden zu. »Du kennst doch Delia«, rief er Britty über die Schulter zu. »Wahrscheinlich wartet sie noch ein bisschen ab, um sich ihren großen Auftritt zu sichern. Du weißt schon. Irgendwas Dramatisches. Es ist noch früh. Sie wird garantiert auftauchen.«

Eine Stunde verging. Und noch eine. »Keine Spur von Delia«, dachte Vincent. Irgendwie war er ganz froh darüber. Ihm war klar, dass es

bestimmt Streit gegeben hätte, wenn Delia und Karina sich auf der Party begegnet wären.

Und da Delia offenbar beschlossen hatte, nicht zu kommen, musste er sich auch keine Gedanken darüber machen, wie er die beiden voneinander fernhalten konnte.

Aber warum kam sie nicht zu seiner Party? Vielleicht wollte sie

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sich an ihm rächen, weil er mit Sarah rumgemacht hatte. Und weil er Karina geküsst hatte.

Das kratzte ihn nicht weiter. In ein paar Tagen würde Delia sowieso wieder anrufen oder vorbeikommen. Sie war nie lange sauer auf ihn. Und sie kam immer zu ihm zurück.

Gegen elf ging Vincent zum Büffet, um sich noch ein Stück Pizza zu holen. Dabei fiel ihm auf, dass Britty in der Nähe der Eingangstür hin und her tigerte. »Gibt’s denn hier kein Telefon?«, rief sie ihm zu.

Vincent schüttelte den Kopf. »Ein Telefon in einem leer stehenden Haus?«

So langsam bekam er doch ein schlechtes Gewissen. Vielleicht sollte er mal bei Delia anrufen oder nach ihr sehen.

Aber er entschied sich dagegen. Das war doch genau das, was sie wollte. Er würde nicht zulassen, dass sie ihm die Party verdarb. Sie hatte eine Einladung bekommen. Sie hatte sich nicht blicken lassen. Also war es auch ihr Problem.

Gegen Mitternacht begannen die ersten Leute aufzubrechen, und Vincents Gedanken kehrten wieder zu Delia zurück.

»Es ist schon komisch, dass sie nicht aufgetaucht ist«, musste er sich eingestehen. »Auch wenn sie immer noch sauer ist, würde sie mich doch nie mit Karina alleine lassen.«

Es machte keinen Sinn. Überhaupt keinen. Britty kam auf ihn zugelaufen. Sie hatte schon ihren Mantel an.

Vincent sah, dass Gabe an der Tür auf sie wartete. »Nicht, dass es dich besonders interessieren wird, aber wir werden

auf dem Nachhauseweg bei Delia anhalten«, informierte ihn Britty. »Vielleicht ist sie krank oder…«

Britty keuchte entsetzt, als die große Doppeltür aufschwang. Vincent zog scharf die Luft ein. Delia stand schwankend in der Türöffnung. Sie machte zwei

unsichere Schritte und stolperte dann. Vincent fiel auf, dass einer der Absätze ihrer roten Schuhe

abgebrochen war. Der rechte Ärmel ihres Kleides war an der Schulter abgerissen. Vincent klappte der Unterkiefer herunter, als er die Kratzer

entdeckte, die sich über ihre Arme zogen.

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Und das Blut. Das dunkle Blut, das von ihrem Gesicht tropfte. »Helft mir… Hilfe…«, stöhnte Delia.

Kapitel 19

Delia schwankte unsicher vor und zurück.

Gabe und Britty rannten sofort zu ihr, dicht gefolgt von Vincent. Noch bevor sie Delia erreicht hatten, brach sie zusammen. Ihr Kopf

schlug auf dem harten Holzfußboden auf. Ein heftiger Schmerz schoss durch ihren Nacken in den Rücken.

Mühsam versuchte sie, sich aufzusetzen. Sie musste Karina finden. Sofort.

Britty zog ihren Mantel aus, rollte ihn zusammen und schob ihn unter Delias Kopf. »Lieg ganz still«, befahl sie.

Stewart kam mit einem Glas Wasser angelaufen. Vincent nahm es ihm aus der Hand. »Bringt mir ein Papierhandtuch!«, rief er. »Oder ein paar Servietten!«

Irgendjemand reichte ihm eine, und Vincent wischte vorsichtig das Blut von Delias Gesicht.

Delia starrte zu den Leuten hinauf, die sie umringten. Gabe. Stewart. Britty. Vincent. Und ein Dutzend anderer Kids aus der Schule.

»Sie sehen alle so besorgt aus. Ganz durcheinander und aufgeregt. Offenbar mögen sie mich wirklich«, dachte Delia.

Ihr Herz flatterte. Vorsichtig versuchte sie, sich aufzurichten. »Macht ihr doch mal ein bisschen Platz«, rief Gabe. Daraufhin zog

sich die Menge ein Stück zurück. Gabe kniete sich neben sie. »Delia – was ist passiert? Hattest du einen Unfall?«

Delia zwang sich zu einem langsamen, tiefen Atemzug. »Hilf mir hoch«, krächzte sie.

Vincent schlang den Arm um ihre Taille und zog sie auf die Füße. Delia lehnte sich an ihn, während sie ihren Blick über die Gäste

wandern ließ. Schließlich entdeckte sie Karina. »Ihr wollt wissen, was passiert ist?«, schrie sie. »Fragt sie! Fragt

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Karina!« Ein leises Gemurmel ging durch die Menge. Alle Augen richteten

sich auf Karina, die etwas abseits stand. »Mich? Was sollt ihr mich fragen?«, rief sie. »Sie hat mich heute Abend zu sich nach Hause eingeladen«,

begann Delia und zeigte mit zitterndem Finger auf Karina. »Vor der Fete. Sie sagte, sie würde gerne mit mir reden. Sich für all die schrecklichen Dinge, die sie mir angetan hat, entschuldigen. Sie… sie sagte, sie wollte, dass wir wieder Freundinnen werden.«

»Nein!«, protestierte Karina. »Bist du verrückt? Das hab ich nicht getan!«

»Oh, doch! Das hast du!«, beharrte Delia. »Ich bin also zu dir nach Hause gefahren. Du hast mir erzählt, deine Eltern seien ausgegangen und ich sollte mit dir nach oben kommen, um zu reden. Ich hab dir vertraut, verdammt noch mal!«

»Was redest du denn da?«, schrie Karina. »Ich hab dich seit Tagen nicht gesehen! Ich…«

»Ich bin ihr in ihr Zimmer gefolgt«, berichtete Delia weiter, ohne auf Karinas Protest zu achten. »Dort hat sie mir irgendwas über den Kopf gehauen. Ich… ich bin ohnmächtig geworden. Und als ich wieder wach wurde, war ich ans Bett gefesselt!«

»Oh, nein - Karina!«, rief Britty entsetzt. Delia begann zu zittern. Vincent legte beruhigend seine Arme um

sie. »Nein!«, schrie Karina. Sie sah sich mit wildem Blick im Raum

um, und aus ihren Augen leuchtete die blanke Panik. »Nein! Sie lügt. Das ist alles eine verdammte Lüge!«

Delia ging einen Schritt auf sie zu. »Hast du gedacht, du würdest damit durchkommen?« Ihre Stimme zitterte vor Wut. »Hast du wirklich gedacht, niemand würde mir glauben?«

»Sie lügt!«, rief Karina noch einmal. Delia schüttelte den Kopf. »Du musst ganz schön überrascht sein,

mich hier zu sehen. Wahrscheinlich hast du erwartet, mich nach der Fete gut verschnürt in deinem Zimmer vorzufinden. Aber ich hab die Knoten aufgekriegt.«

Anklagend hielt Delia ihre Hände in die Höhe, sodass alle die Abschürfungen sehen konnten. Zwei brennend rote Armbänder aus

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roher Haut. Britty schnappte nach Luft. »Wie konntest du ihr das bloß antun?«,

fragte sie Karina. »Was hattest du eigentlich mit mir vor, wenn du wieder nach

Hause gekommen wärst, Karina?«, fragte Delia wutentbrannt. »Wolltest du mich töten!« Sie wirbelte herum und schlang ihre Arme um Vincents Taille. Zitternd verbarg sie ihr Gesicht an seiner Brust. »Sie ist wahnsinnig!«, stöhnte Delia.

»Du bist wahnsinnig!«, kreischte Karina wütend. »Diese ganze Geschichte ist doch völlig hirnverbrannt!« Sie stürzte sich auf Delia.

Gabe und Stewart packten Karina an den Armen. Sie wehrte sich verzweifelt. »Das ist alles gelogen!«, heulte sie auf. »Total gelogen!«

Mit aller Kraft versuchte sie sich aus dem Griff der Jungen zu befreien.

»Hör auf, Karina!«, befahl Stewart. »Du bist später zur Fete gekommen. Wir haben dich alle gesehen.«

»Das hat doch überhaupt nichts zu bedeuten!«, rief sie. »Ich hab mich zu Hause nur ein paar Mal umgezogen.«

»Kommt mit zu ihr. Dann werdet ihr’s ja sehen!«, rief Delia aus. Sie riss sich von Vincent los und ging auf die Tür zu. »Ich werd’s euch beweisen!«, fügte sie hinzu. »Kommt mit zu Karina. Die Stricke sind immer noch ans Kopfende des Bettes gebunden. Und – ihr könnt das Blut sehen. Mein Blut. Auf dem ganzen Teppich.«

Karina riss sich von Gabe und Stewart los. Sie drängte sich durch die Menge und stellte sich mit

ausgebreiteten Armen vor die Tür. »Nein!«, schrie sie. »Ihr dürft nicht zu mir nach Hause gehen. Das

dürft ihr nicht!«

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Kapitel 20

»Und warum dürfen wir nicht zu dir nach Hause?«, fragte Delia. »Weil ich die Wahrheit sage?«

»Nein!«, schrie Karina, am ganzen Körper zitternd. »Weil das total verrückt ist! Nichts als ein Haufen verdammte Lügen! Delia ist eine Lügnerin!«

»Ach, ich bin also eine Lügnerin?«, rief Delia. Sie hob ihre Hände, damit alle sie noch einmal sehen konnten. »Schaut euch doch meine Handgelenke an.«

Sie berührte sich an der Schläfe und hielt ihre blutverschmierten Finger in die Höhe. »Schaut euch meinen Kopf an! Mein Kleid ist zerrissen. Meine Knie sind aufgeschürft.« Sie starrte Karina unverwandt an. »Und du behauptest, ich sei eine Lügnerin?«

»Neiiiin!« Karina stieß ein langgezogenes Heulen aus. Dann stürzte sie sich auf Delia.

Aber Vincent sprang dazwischen. »Karina…« Er zögerte. »Wir werden tun, was wir können, damit du die Hilfe bekommst, die du brauchst.«

Jetzt warf sich Karina auf Vincent und hämmerte mit beiden Fäusten gegen seine Brust. »Lächerlich! Lächerlich!«, rief sie in einem unheimlichen Singsang. »Ich hasse dich! Ich hasse euch alle!«

Dann wirbelte sie mit einem Brüllen herum. Mit wildem Blick und wehenden Haaren rannte sie los und schob die beiden Flügel der großen Tür auf.

Krachend fielen sie hinter ihr wieder zu. »Haltet sie auf!«, rief Stewart. Gabe nahm Brittys Hand, und die beiden rasten hinter Karina her. »Ich werde versuchen, irgendwo ein Telefon aufzutreiben und ihre

Eltern anzurufen«, bot Stewart an. »Wir müssen sie finden – bevor sie wieder etwas Schreckliches anstellt!«

Delia sah Stewart hinterher, der aus der Tür rannte. Dann ließ sie sich gegen Vincent sinken.

»Wir sollten dich erst mal nach Hause bringen«, sagte Vincent mit sanfter Stimme. »Diese Schnitte müssen dringend verarztet werden.«

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Delia seufzte und richtete sich wieder auf. »Lass uns nur noch einen Moment bleiben«, flüsterte sie mit schwacher Stimme. »Ich… ich kann einfach nicht glauben, dass sie mir das angetan hat. Dass sie so weit gegangen ist…«

Delia atmete tief ein. Sie liebte den Duft eines brandneuen Lippenstifts.

Geschickt verteilte sie eine frische Schicht Mitternachtsfeuer auf ihren vollen Lippen und begutachtete das Ergebnis im Spiegel. »Perfekt«, murmelte sie, nahm sich ein Papiertuch aus der Box auf ihrer Frisierkommode und tupfte sich die Lippen ab. Dann ließ sie das Tuch achtlos zu Boden fallen.

»Na, wie seh ich aus?« Delia wandte Britty ihr Gesicht zu. Ihre Freundin saß auf dem Bett und baumelte mit den Beinen.

»Auf jeden Fall besser als letzte Nacht!«, meinte Britty. »Kaum zu glauben, dass du dieselbe Person bist.«

Sie sprang auf und tigerte unruhig im Zimmer umher. »Gestern, als ich dich mit dem ganzen Blut auf dem Gesicht gesehen habe, da dachte ich schon, es wäre…«

Britty überlief ein Schauder. In ihren Augen glitzerten Tränen. »Sie ist eine wunderbare Freundin«, dachte Delia. »Mir gefallen deine Klamotten«, sagte Britty. Delia spürte, dass sie das Thema wechseln wollte. Aber das machte

ihr nichts aus. Sie wollte auch nicht mehr an gestern Abend denken. Hoffentlich würde sie eines Tages all das vergessen.

»Diese Farbkombi kannst auch nur du dir leisten«, meinte Britty. Delia strich mit beiden Händen über ihren rot, pink, gelb und braun

gemusterten Pullover. Er war eins ihrer Lieblingsteile. In diesem Moment ertönte ein lautes Hupen vor dem Haus.

»Gabe ist da«, verkündete Britty. »Bist du sicher, dass du dich gut genug fühlst, um bei Vincents Aufräumkommando mitzumachen?«

»Na klar«, antwortete Delia. Sie schnappte sich ihre Tasche, und die beiden gingen zur Tür. »Alleine zu Hause rumzuhocken ist das Letzte, worauf ich im Moment Lust habe. Ich würde ja doch nur die ganze Zeit an Karina denken. Jedes Mal, wenn ich ein winziges Geräusch im Haus höre, denke ich, dass sie hinter mir her ist.«

»Hast du es deinen Eltern erzählt?«, fragte Britty.

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»Natürlich. Aber ich wollte nicht, dass sie zur Polizei gehen. Sie werden mit Karinas Eltern ein ernstes Gespräch unter vier Augen führen. Sie braucht dringend Hilfe.«

Delia öffnete die Tür und trat hinaus ins helle Sonnenlicht. In tiefen Zügen sog sie die frische, kühle Luft ein. »Gestern Nacht, als ich gefesselt in Karinas Zimmer lag, dachte ich, ich würde nie mehr da rauskommen. Ich konnte mir nicht mal mehr vorstellen, wie es ist, draußen zu sein. Oder mich mit meinen Freunden zu treffen. Ich hatte so schreckliche Angst.«

Britty legte den Arm um Delias Schulter, als sie auf Gabes Auto zugingen. »Ich weiß, dass ich nur ein paar Stunden dort war«, fuhr Delia fort. »Aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Und die ganze Zeit hab ich mich gefragt, was Karina wohl vorhat… Was sie mir antun wird, wenn sie von der Fete nach Hause kommt.«

Sie stiegen ins Auto. »Ich hab uns ein paar Donuts besorgt, die wir während der Fahrt essen können«, sagte Gabe und reichte den beiden die Schachtel. »Wie geht’s dir?«, fragte er Delia und suchte im Rückspiegel ihren Blick.

»Besser«, antwortete sie. Gabe nickte. Delia starrte aus dem Fenster, als sie sich der alten Villa in der Fear

Street näherten, wo Vincent in der vorigen Nacht seinen Geburtstag gefeiert hatte. Ihr Magen zog sich zu einem schmerzhaften Knoten zusammen.

Schutz suchend schlang Delia die Arme um ihren Oberkörper und presste ihre Stirn gegen das kühle Glas des Wagenfensters. Gabe parkte direkt vor dem Haus.

Sie stiegen aus, öffneten den Kofferraum und holten einige Besen und ein paar große Mülltüten heraus.

»Vincent?«, rief Gabe, als sie das unheimliche Gebäude betraten. Keine Antwort. »Er sollte sich besser mal blicken lassen«, sagte Gabe. »Ich werd

hier jedenfalls keinen Handschlag tun, bevor er kommt.« »Vincent!«, rief Britty. Keine Antwort. Die drei gingen ein paar Schritte weiter ins Haus. »Er hatte doch

gesagt, er würde schon ganz früh hier sein, oder?«, fragte Britty.

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»Das hat er mir jedenfalls erzählt, als er mich gestern Nacht nach Hause gefahren hat«, meinte Delia. Sie steckte ihren Kopf in den großen Ballsaal. Der Boden war mit leeren Dosen, Pizzaschachteln und Papptellern übersät.

Die heliumgefüllten Ballons, die gestern Abend unter der Decke gehangen hatten, schwebten jetzt auf Augenhöhe. Delia schob einen Ballon beiseite und durchquerte den riesigen Raum.

»Vincent!«, rief sie laut. »Wo bist du? Wir haben ‘ne Menge zu tun!«

»Anscheinend ist er noch nicht da«, meinte Britty. »Warten wir lieber draußen auf ihn. Ich krieg in diesem Haus echt ‘ne Gänsehaut.«

»Okay«, antwortete Delia. Sie drehte sich um – und erstarrte. »Neiiiiiin!«, heulte Britty auf. Jetzt hatte sie es auch gesehen. Vincent. Mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden.

Umgeben von leeren Dosen und anderem Müll. »Vincent…?«, ächzte Delia. Im nächsten Moment kniete sie auch schon neben seinem leblosen

Körper. »Vincent? Vincent?« »Ist er… atmet er?«, stieß Gabe hervor. Delia streckte die Hand aus und fuhr ihm vorsichtig über die

Wange. Seine Haut fühlte sich kühl an. Sie presste ihre Finger an seinen Hals. Nichts. Kein Pulsschlag. Nichts. Nichts… »Er ist tot«, flüsterte Delia. »Vincent ist tot.«

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Kapitel 21

Gabe hockte sich neben Delia. Er hob Vincents Schulter ein Stück an und ließ ihn dann sanft wieder zu Boden sinken. »Jemand hat ihm… hat ihm ein Messer in die Brust gestoßen.«

»Oh, nein!«, jammerte Britty. »Vincent… Vincent… Vincent…« Delia wiegte sich hin und her

und wiederholte immer wieder seinen Namen. Gabe stand auf und zog sie auf die Füße. »Wir müssen hier weg

und die Polizei anrufen.« »Vincent… Vincent… Vincent…«, flüsterte Delia in einem

monotonen Singsang. Zusammengekauert und die Hände tief in den Taschen vergraben,

saß Delia neben Gabe und Britty auf der Vorderveranda der alten Villa. Sie warteten auf die Ankunft der Polizei – und ihrer Eltern.

»Vielleicht sollten wir lieber im Auto warten«, schlug Gabe vor. »Es ist ganz schön kalt hier draußen.«

»Nein«, protestierte Britty. »Ich bin viel zu nervös, um still zu sitzen.«

»Sie kommen sowieso gerade«, kündigte Delia an. Ein schwarz-weißer Streifenwagen hielt vor dem Haus. Zwei Polizisten stiegen aus und kamen den Fußweg entlang.

»Ich bin Detective Bender«, sagte der eine der beiden Männer. Er zeigte auf seinen großen, mageren Partner. »Und das ist Detective Jamison. Ihr habt einen Mord gemeldet?«

»Ja. Ein Freund von uns. Er ist erstochen worden. Wir haben ihn nicht bewegt oder so«, antwortete Gabe.

»Was hattet ihr hier draußen überhaupt zu suchen? Das Haus steht seit fast einem Jahr leer«, sagte Detective Jamison. Sein kantiges Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck.

»Das haben wir Ihnen doch schon am Telefon erklärt«, antwortete Delia. »Vincent… er ist derjenige, der… der getötet worden ist. Er hat hier gestern Abend eine Fete gegeben. Wir sind heute Morgen hergekommen, um ihm beim Aufräumen zu helfen. Und da haben wir ihn gefunden.«

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Britty trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und kaute an einer Haarsträhne herum. »Wir haben Sie sofort angerufen!«

»Okay, sehen wir uns das mal an«, meinte Detective Bender. Gabe und Delia gingen voran. Britty trottete den Polizisten

hinterher. Delias Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihre Rippen. Einer der heliumgefüllten Ballons streifte plötzlich ihren Arm. Sie

schauderte bei der Berührung der Gummihülle zusammen – es war ein widerliches Gefühl. Mit zitternder Hand zeigte sie auf Vincents Körper.

»Bleibt zurück«, befahl Detective Jamison und zog sich ein paar Plastikhandschuhe über. Er kniete sich neben Vincent und betrachtete ihn eine Weile, ohne ihn zu berühren. Dann rollte er ihn auf den Rücken.

Delia kniff die Augen zu. Sie hörte, wie Britty nach Luft schnappte.

»Todesursache vermutlich Messerstiche in die Brust«, diktierte er Detective Bender. »Ein Stich zwischen die Rippen. Ein zweiter ins Herz.«

Als Delia die Augen wieder öffnete, blieb ihr Blick an dem großen Messer hängen, das aus Vincents Brust ragte. Die Klinge steckte zum größten Teil in seinem Körper.

Langsam ließ sie ihre Augen über Vincent wandern. Über das Blut auf seiner Brust. Ein dunkler Fleck auf seinem grünen Pullover. Auf dem Pullover, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Den sie so sorgfältig ausgesucht hatte.

Ihr Blick wanderte hinauf zu seinem Mund. Er war in einem stummen Entsetzensschrei aufgerissen.

Dann betrachtete sie seine Augen. Sie starrten mit leerem Blick zu ihr auf.

»Delia«, flüsterte Britty. Delia folgte ihrem Blick hinunter zu Vincents Wange. Zu dem dunkelroten Lippenabdruck auf seiner bleichen Haut. Mitternachtsfeuer. »Delia, das ist dein Lippenstift!«, schrie Britty auf.

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Kapitel 22

Beide Polizisten fuhren zu Delia herum. Sie kniffen die Augen zusammen und betrachteten eingehend ihre Lippen.

Ihren dunkelroten Lippenstift. Dann blickten sie hinunter auf den Abdruck auf Vincents Wange. »Nein!«, keuchte Delia und schlug die Hände vors Gesicht. Detective Jamison kritzelte etwas in sein kleines Spiralnotizbuch. »Wann hast du den Jungen zum letzten Mal gesehen?«, fragte

Detective Bender. »Er… er hat mich letzte Nacht nach Hause gefahren«, antwortete

Delia mit zittriger Stimme. »Wir waren ungefähr um halb zwei bei mir.«

»Als ich heute Morgen bei Delia aufgetaucht bin, war sie noch im Schlafanzug«, bestätigte Britty. Ihre Stimme klang hoch und schrill. Nervös. »Sie kann gar nicht so früh am Morgen hier gewesen sein. Ich weiß genau, dass sie noch nicht lange wach war…«

»Und wir sind alle zusammen hergefahren«, schaltete sich Gabe ein.

»Wir brauchen von jedem von euch eine Zeugenaussage«, sagte der hoch gewachsene Detective zu ihnen. »Aber ihr bleibt jetzt erst mal hier und wartet auf eure Eltern. Ihr habt sie doch angerufen, nicht wahr?«

Delia und die anderen nickten. Sie wandten sich von der Leiche ab. »Jeder auf der Shadyside Highschool weiß, dass ich immer

Mitternachtsfeuer benutze«, sagte Delia leise. »Jemand wollte, dass es so aussieht, als wäre ich die Schuldige. Ich möchte wissen, wer…«

Ein Mann mit zwei Kameras um den Hals eilte auf Vincents Leiche zu, gefolgt von einer Frau mit superkurzen, blonden Haaren, die einen kleinen Aktenkoffer trug. Delia beobachtete, wie sie sich hinkniete, das Köfferchen neben Vincents Körper abstellte und es öffnete. Dann nahm sie seine Fingerabdrücke und sammelte Fasern ein.

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»Karina war gestern total außer sich«, flüsterte Delia ihren Freunden zu. »Sie… sie hat mich an ihr Bett gefesselt, um mich von Vincents Party fernzuhalten. Aber ihr glaubt doch nicht, dass sie ihn ermordet hat, oder?«

»Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch glauben soll«, antwortete Gabe und schüttelte den Kopf.

»Und warum sollte sie das tun?«, fragte Britty nachdenklich. »Sie ist doch völlig verrückt nach Vincent. Verrückt genug, um dich deswegen am Bett festzubinden. Also, wieso sollte sie ihn töten?«

»Delia, versuch ruhig zu bleiben, wenn du mit der Polizei redest«, flüsterte Gabe ihr zu. »Sag ihnen einfach die Wahrheit. Du hast überhaupt nichts zu befürchten. Und fang bloß nicht an, Karina zu beschuldigen. Lass sie selber die Wahrheit herausfinden. Wenn du sie belastest, könnte es so aussehen…«

»Na, wie denn?«, fragte Delia mit tiefer, harter Stimme. Gabe zögerte. »Als ob du schuldig wärst«, murmelte er. »Sie könnten annehmen, dass du versuchst, die Schuld jemand

anderem zuzuschieben.« »Du glaubst also, ich habe ihn umgebracht?«, fragte Delia mit

schriller Stimme. »Quatsch!«, protestierte Gabe. »Natürlich nicht«, echote Britty. »Ich will nur nicht, dass du bei der Polizei einen falschen Eindruck

hinterlässt. Wenn sie mit ihrer Befragung fertig sind, werden wir ihnen alles erzählen, was auf der Fete passiert ist«, sagte Gabe. »Wenn sie wollen, können sie sich ja auch bei den anderen erkundigen, die da waren.«

»Da kommt schon einer der Polizisten«, verkündete Britty. Detective Bender eilte auf sie zu. »Und jetzt?«, dachte Delia. Sie

hielt es in diesem Raum nicht mehr aus, so dicht bei Vincents Leiche.

»Wenn ich noch länger bleiben muss«, dachte sie, »fange ich an zu schreien. Und ich weiß, dass ich dann nicht wieder aufhören kann. Sie werden mich in einer Zwangsjacke rausbringen müssen.«

»Eure Eltern warten draußen vor dem Haus«, informierte sie der Detective. »Ich möchte, dass ihr jetzt alle mit mir ins Büro kommt und einige Fragen beantwortet.«

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Delia starrte ihn an. Er kniff seine blauen Augen zusammen und studierte eingehend ihr Gesicht. Sein Blick erinnerte Delia irgendwie an Röntgenstrahlen. Sie hatte das Gefühl, dass er direkt in ihren Kopf sehen konnte und genau wusste, was darin vorging.

»Das ist doch verrückt«, schimpfte Delia mit sich. »Du kannst bei uns im Wagen mitfahren«, sagte Detective Bender.

Er warf einen Blick auf die Abschürfungen an Delias Handgelenk. »Ich glaube, du hast mir möglicherweise eine Menge zu erzählen.«

Plötzlich rastete Delia aus. »Ich hab’s nicht getan! Und ich weiß genau, dass Sie das denken!«, platzte sie heraus. Ihre Stimme hallte in dem leeren Raum. »Ich hab doch gesehen, wie Sie den Lippenstift auf seiner Wange angestarrt haben!«, schrie sie. »Sie denken, ich hätte ihn getötet. Ihr alle denkt das. Aber ich hab’s nicht getan! Ich war’s nicht! Warum glaubt mir denn keiner?«

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Kapitel 23

»Ich hab’s Ihnen doch schon erzählt.« Delia seufzte. »Ich bin mit Gabe und Britty zur alten Villa gefahren, und dann sind wir alle zusammen reingegangen. Um Vincent beim Aufräumen zu helfen. Ich… ich weiß nicht mehr genau, wer ihn zuerst auf dem Boden liegen gesehen hat. Ich glaube, das war ich.«

Delia hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und den Kopf in die Hände gelegt. In dem winzigen Raum war kaum noch Sauerstoff vorhanden, und die grelle Deckenbeleuchtung stach ihr in die Augen.

Hatten sie es nicht langsam satt, dieselbe Geschichte wieder und wieder zu hören? Was musste sie noch tun, damit sie ihr glaubten?

Detective Jamison machte Detective Bender von der Tür des Vernehmungszimmers aus ein Zeichen. »Ich bin gleich wieder zurück, und dann gehen wir das Ganze noch mal durch«, sagte er.

Delia ließ sich auf den harten Holzstuhl zurückfallen. Suchend blickte sie sich im Raum um. Sie brauchte etwas, um sich

von der Polizei und all ihren Fragen abzulenken. Aber die Pinnwand aus Kork an der gegenüberliegenden Wand war

leer – bis auf Dutzende von winzigen Löchern, die die Nadeln hinterlassen hatten. Und alles andere im Zimmer schien in einen Topf mit trister brauner Farbe getaucht worden zu sein. Braune Wände, braune Stühle, brauner Tisch, brauner Boden.

Am einen Ende des Tischs befanden sich ein Glas mit Milchpulver, ein Stapel Servietten, kleine Päckchen mit Zucker und ein paar Stäbchen, um den Kaffee umzurühren. Delia schüttete ein bisschen von dem Pulver auf die Tischplatte und zeichnete mit einem der Stäbchen winzige Bilder hinein.

»Ich dreh hier drin noch durch«, dachte Delia verzweifelt und pulte nervös etwas Nagellack von ihrem Daumen. Dann griff sie nach ihrer Tasche und zog ihren Lippenstift hervor.

»Halt! Was mach ich denn da?«, schoss es ihr durch den Kopf. Jetzt war garantiert nicht die richtige Gelegenheit, ihren Lippenstift

nachzuziehen! Delia trommelte mit den Fingernägeln auf die Tischplatte. Sie

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konnten sie doch nicht im Ernst für schuldig halten. Alle in der Schule wussten, wie sehr sie in Vincent verliebt gewesen war.

Trotzdem hatten die Detectives sie im Verdacht. Das wusste sie ganz genau. Sie merkte es an der Art, wie sie sie ansahen. Und daran, dass sie

wieder und wieder dieselben Fragen stellten. Ein anderer Polizeibeamter betrat den Raum. Er ging wortlos zu

der Korktafel hinüber und pinnte zwei Fotos daran. Dann drehte er sich um und verschwand wieder.

Delia beugte sich vor und betrachtete die Fotos. Sie waren vorhin in dem alten Haus in der Fear Street gemacht worden.

Das eine zeigte den dunkelroten Lippenabdruck auf Vincents Wange. Das andere war eine Großaufnahme von ihrem Gesicht.

Detective Jamison und Detective Bender betraten jetzt wieder den Raum und setzten sich Delia gegenüber an den Tisch. Beide drehten sich um, um die Fotos zu studieren.

»Tja, Delia«, meinte Detective Bender und beugte sich über den Tisch. »Ich denke, deine Eltern sollten dir besser einen Anwalt besorgen.«

»Was?« Delias Schläfen begannen zu pochen. Sie richtete sich kerzengerade auf dem Stuhl auf. »Was soll das heißen?«

»Schau dir deine Lippen und den Lippenabdruck auf der Leiche an«, sagte Detective Jamison leise.

Detective Bender schüttelte den Kopf. »Sie passen genau zusammen.«

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Kapitel 24

»Sie… sie passen zusammen?«, stieß Delia hervor. »Aber… das ist unmöglich!«

Sie atmete tief ein und versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen. Es würde alles nur schlimmer machen, wenn sie panisch klang. Das würde sie noch schuldiger erscheinen lassen.

Delia spürte, wie ihr der Schweiß von der Stirn tropfte. Hastig nahm sie sich eine Serviette vom Stapel und wischte ihn weg.

Dann betrachtete sie die Fotos. Ja. Ihre Lippen und der Lippenabdruck waren tatsächlich identisch. Da war kein Irrtum möglich.

»Aber es macht keinen Sinn«, beharrte Delia. »Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt – ich habe Vincent nicht getötet. Warum sollte ich ihn erst küssen und dann umbringen?«

»Das würden wir gerne von dir wissen«, erwiderte Detective Bender scharf. In seiner Stimme schwang auf einmal ein neuer, kalter Unterton mit.

Detective Jamison blätterte die Seiten seines kleinen Spiralblocks durch und überflog seine Notizen.

Delia zerpflückte die Papierserviette zwischen ihren Fingern. Dann griff sie nach der nächsten.

»Wie kann ich sie bloß überzeugen?«, dachte sie. »Wie?« Sie zerfetzte auch diese Serviette und ließ die Schnipsel auf den

Tisch fallen. Detective Bender hievte sich vom Stuhl und beugte sich über den

Tisch. »Die Lippenabdrücke passen perfekt«, sagte er zu ihr. »Fotos lügen nicht. Warum erzählst du uns nicht…«

»Nein«, unterbrach ihn Detective Jamison. Er warf Delia einen ernsten Blick zu. »Du sagst jetzt besser nichts mehr. Jedenfalls nicht, bis deine Eltern einen Anwalt für dich besorgt haben.«

Delia schnappte sich eine neue Serviette vom Stapel auf dem Tisch. Diese zerpflückte sie nicht, sondern zerknüllte sie zu einem Ball, den sie mit der Hand fest umklammerte.

»Bleib ruhig«, redete sie sich gut zu. »Du musst ganz ruhig

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bleiben!« Sie ging zum Pinnbrett hinüber. Als sie das Foto von Vincents

Wange betrachtete, brannten ihr die Tränen in den Augen. Wie oft hatte sie ihn schon mit den Spuren von Mitternachtsfeuer im Gesicht gesehen.

»Wir hatten eine verdammt gute Zeit miteinander«, dachte sie. »Nach der Schule haben wir uns bei Pete ‘s Pizza getroffen. Haben im Red Heat eng getanzt und auf der Couch in seinem Wohnzimmer geschmust.«

Sie musste schlucken und wandte ihre Aufmerksamkeit dem anderen Foto zu, auf dem ihre eigenen Lippen zu sehen waren.

»Es passt perfekt«, murmelte sie. Erst starrte sie den Lippenabdruck auf Vincents Wange an. Dann ihre eigenen Lippen.

Hin und her. Hin und her. Die Lippenabdrücke. Ihre Lippen. Immer wieder blickte sie zwischen den beiden Fotos hin und her. Dann wirbelte sie herum und sah die beiden Polizeibeamten an. »Das sind nicht meine Lippenabdrücke auf Vincents Gesicht!«, rief

Delia. »Und das kann ich auch beweisen!«

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Kapitel 25

Detective Benders Augen wurden groß. Er warf seinem Partner einen schnellen Blick zu und drehte sich dann wieder zu Delia um.

Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Ich bin unschuldig! Und ich kann’s auch beweisen!«

Detective Jamison fuhr sich mit der Hand über den kantigen Kiefer. »Red weiter«, drängte er sanft.

Delia wirbelte wieder zum Pinnbrett herum. »Meine Lippen und der Lippenabdruck sehen genau gleich aus. Aber das dürften sie eigentlich nicht!«

Detective Bender wirkte jetzt völlig verwirrt. Detective Jamison nicht. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die Fotos. »Mach weiter«, sagte er.

»Wenn ich Vincent geküsst hätte«, erklärte sie, »würde der Lippenabdruck nicht so aussehen wie meine Lippen auf dem Foto. Der Abdruck wäre seitenverkehrt.«

»Hä?«, knurrte Detective Bender. Delia rannte um den Tisch und hob ihre Tasche auf. Sie wühlte

darin herum und brachte ihren neuen Lippenstift zum Vorschein. Sorgfältig legte sie eine frische Schicht Mitternachtsfeuer auf.

Dann zog sie ein Stück Papier hervor. Sie presste ihre Lippen darauf und streckte es den Detectives entgegen. »Wenn ich jemanden geküsst hätte, würde der Abdruck so aussehen.«

Delia hielt das Blatt neben ihren Mund. »Sehen Sie? Meine Lippen und der Abdruck passen nicht zusammen, oder? Auf dem Papier erscheint er nämlich seitenverkehrt.«

Detective Bender schien jetzt genauso interessiert zu sein wie sein Kollege.

Wieder zog Delia ihre Lippen nach. Dann nahm sie sich eine saubere, glatte Serviette vom Tisch. Sie tupfte sich damit die Lippen ab und zeigte den Polizisten den Abdruck, der darauf zurückblieb.

»Dieser Lippenabdruck ist natürlich auch seitenverkehrt. Genauso wie der auf dem Blatt Papier. Sehen Sie?« Sie zeigte ihnen die Serviette.

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»Aber wenn dieser Abdruck nun gegen etwas Flaches gepresst wird - zum Beispiel gegen eine Wange…«

Delia drückte die Serviette auf die Tischplatte. »Es muss einfach funktionieren«, dachte sie.

Dann hob sie sie vorsichtig wieder ab. Ein dunkelroter Lippenabdruck prangte auf dem Tisch. »Sehen Sie? Jetzt entspricht es genau meinen Lippen.« Detective Bender betrachtete eingehend die Serviette und die

Tischoberfläche. »Und was soll das alles bedeuten?« Delia wusste, dass Detective Jamison es bereits herausgefunden

hatte. Aber sie wartete nicht ab, bis er antwortete. »Es bedeutet, dass sich jemand einen Lippenabdruck von mir

besorgt hat. Von einer Serviette, einem Papiertuch oder von irgendetwas anderem. Ich tupfe mir ständig die Lippen ab und verstreue die Tücher überall in der Gegend.«

Delia hob die Serviette mit dem Lippenabdruck auf und warf sie vor Detective Bender auf den Tisch.

»Es bedeutet, dass derjenige, der Vincent getötet hat, meinen Lippenabdruck gegen seine Wange gepresst hat! Sonst wäre der Abdruck ja seitenverkehrt. Irgendjemand versucht, mir den Mord an Vincent anzuhängen!«

Detective Jamison nickte seinem Partner zu. »Sie hat Recht«, murmelte er.

»Und ich glaube, ich weiß auch, wer es ist«, fuhr Delia mit klopfendem Herzen fort. »Glauben Sie mir jetzt? Werden Sie mir zuhören?«

»Ja, das werden wir«, versicherte ihr Detective Bender. »Fang am besten ganz von vorne an.«

Delia atmete tief durch und begann, den Polizisten von Karina zu erzählen.

Dass sie beide schon ihr ganzes Leben miteinander wetteiferten. Und von ihrem Kampf um Vincent und das Conklin Stipendium.

Sie erzählte ihnen, dass Karina versucht hatte, sie zu erwürgen. Von der Ratte in der Gitarre. Und von der Mappe mit den verschmierten Zeichnungen.

Und natürlich, dass Karina sie bewusstlos geschlagen und dann gefesselt hatte. Zum Beweis zeigte sie den Detectives die

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Abschürfungen an ihren Handgelenken. Delias Augen flogen zwischen den beiden Männern hin und her.

»Sie glauben mir!«, dachte sie triumphierend. »Sie glauben mir, dass ich unschuldig bin. Dass ich Vincent nicht getötet habe.«

Detective Jamison stand auf. »Wir müssen das überprüfen«, erklärte er.

»Danke!«, rief Delia. »Arme Karina! Sie hat sich wie eine Wahnsinnige aufgeführt. Ich… ich werde mich nicht sicher fühlen, bis…«

Detective Jamison hob die Hand. »Immer mit der Ruhe. Wir müssen einen Schritt nach dem anderen machen.«

»Deine Geschichte klingt interessant«, fügte sein Partner hinzu. »Aber bis jetzt gibt es keinen handfesten Beweis, der diese Karina mit dem Mord in Verbindung bringt. Du hast uns allerdings mehr als genug Anhaltspunkte geliefert, um mal rüberzufahren und uns mit dem Mädchen zu unterhalten.«

»Ich würde gerne mitkommen«, sagte Delia atemlos. »Dann könnte ich Ihnen zeigen, wo sie…«

Jamison legte einen Finger auf die Lippen. »Ein Schritt nach dem anderen«, wiederholte er. »Immer ein Schritt nach dem anderen.«

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Kapitel 26

»Wo ist bloß der Tag geblieben?«, fragte sich Delia, als sie endlich die kleine Polizeidienststelle verließ. Es konnte doch nicht schon Abend sein.

»Lass uns nach Hause fahren, Schatz«, sagte ihre Mutter sanft und hielt ihr die hintere Wagentür auf.

Delia schlang die Arme um sich und sah den beiden Polizeibeamten hinterher, die in ihrem Streifenwagen davonfuhren. Sie hatten sich geweigert, sie zu Karina mitzunehmen.

»Vielleicht haben wir es mit einer Mörderin zu tun«, hatte Jamison zu ihr gesagt. »Wir wollen dich nicht in Gefahr bringen.«

»Delia?«, sagte ihre Mutter auffordernd. Delia warf einen Blick auf den Wagen ihrer Eltern. »Ich kann jetzt

nicht nach Hause fahren«, dachte sie. »Ich muss unbedingt wissen, was bei Karina passiert.«

»Äh… ich denke, ich geh eben noch bei Britty vorbei«, sagte Delia zu ihrer Mutter. »Sie macht sich bestimmt schreckliche Sorgen um mich! Und sie wohnt nur zwei Straßen weiter.«

Delias Vater runzelte die Stirn. »Bist du sicher? Ich lasse dich jetzt nur ungern allein. Immerhin hast du einen aufreibenden Tag hinter dir.«

»Ich bin okay«, versicherte ihm Delia. »Ich will nur kurz mit Britty reden und werd auch nicht lange bleiben.«

Nachdem ihre Eltern ins Auto gestiegen waren, machte Delia sich in Richtung Britty auf. Es stimmte, dass sie ganz in der Nähe wohnte. Aber Karina auch.

»Ich werde später zu Britty gehen«, dachte Delia. »Aber zuerst muss ich bei Karina vorbeischauen. Ich muss herausfinden, ob sie die Mörderin ist!«

Sie rannte das kurze Stück bis zu Karinas Haus. Der Streifenwagen parkte bereits vor der Tür. Delia blieb neben ihm stehen und blickte zum Haus empor. Es lag im Dunkeln, halb verborgen von einem großen, alten Weidenbaum.

Die Polizisten waren gerade die Treppe zur Veranda

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hinaufgestiegen und klingelten jetzt an der Tür. Kurz darauf flammte die Außenbeleuchtung auf. Karina trat in das harte, gelbliche Licht. Sie trug Jeans und ein Sweatshirt. In der grellen Beleuchtung

konnte Delia deutlich sehen, dass sie geweint hatte. Vorsichtig schlich sie näher heran und versuchte, etwas von dem

Gespräch mitzubekommen. »Mum!«, rief Karina. »Mum, komm doch mal!« Mrs. Frye tauchte hinter Ihrer Tochter auf. »Kann ich Ihnen

helfen?«, fragte sie höflich. »Vincent Milano, ein Freund ihrer Tochter, ist letzte Nacht

ermordet worden«, sagte Detective Bender mit flacher, ausdrucksloser Stimme.

Karina entfuhr ein lautes Schluchzen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie weinte nicht.

»Das wissen wir bereits«, erwiderte Mrs. Frye mit einem tiefen Seufzer. »Ich bin sicher, dass inzwischen jeder in Shadyside diese furchtbare Nachricht gehört hat.«

»Wir würden gerne mit Karina sprechen«, sagte Bender. »Dürfen wir reinkommen?«

Karina und ihre Mutter tauschten einen schnellen Blick. Dann sagte Karina etwas zu ihr, aber Delia konnte die Worte nicht verstehen.

Mrs. Frye führte die Polizeibeamten ins Haus. Die Tür schloss sich hinter ihnen.

Delia zählte bis zehn. Dann flitzte sie quer über den Rasen durch den Vorgarten.

»Ich kann doch nicht einfach hier stehen bleiben«, sagte sie sich. »Ich muss unbedingt wissen, was da drinnen läuft.«

Bei der alten Weide hielt sie an und warf einen Blick zum Wohnzimmerfenster. Die Vorhänge waren zugezogen. Sie konnte nicht das Geringste sehen.

Also lief Delia zur Seitenfront des Hauses hinüber. Die Hände gegen die Schindeln gepresst, bewegte sie sich vorsichtig auf das andere Wohnzimmerfenster zu.

Sie beugte sich gerade so weit vor, dass sie hineinsehen konnte. Und schnappte nach Luft. Karina! Sie stand mitten im Raum und starrte zu ihr hinaus.

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Kapitel 27

Rasch zog Delia den Kopf zurück.

Zu spät? Hatte Karina den Detectives schon erzählt, dass sie sie entdeckt

hatte? Mit klopfendem Herzen presste sich Delia eng an die Wand. Und

wartete. Wartete auf das Geräusch, mit dem die Haustür aufflog und die

Polizisten nach draußen stürmten, um sie vom Fenster wegzuziehen. Aber alles blieb ruhig. Vorsichtig beugte sie sich wieder zum Fenster. Karina hatte sich umgedreht und sah jetzt Bender und Jamison an. Puh! Delia stieß einen erleichterten Seufzer aus. Offenbar hatte

Karina sie nicht entdeckt. Mit angehaltenem Atem schielte Delia durch das Fenster ins

Wohnzimmer. Karina hockte jetzt neben ihrer Mutter auf der Couch. Die beiden Detectives saßen ihnen auf Sesseln mit steifen Lehnen unbehaglich gegenüber.

Bender sagte etwas. Karina antwortete. Dann sprach Bender wieder. Jamison kritzelte etwas in seinen kleinen Notizblock.

»Ich wünschte, ich könnte hören, worüber sie reden«, dachte Delia unglücklich.

Das Gespräch zog sich eine ganze Weile hin. Karina ballte abwechselnd ihre Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Es war das einzige Zeichen der Anspannung, das man ihr anmerkte.

Plötzlich standen alle auf. Delia sah zu, wie Karina und ihre Mutter zur Treppe vorgingen. »Ich muss das mitkriegen«, dachte Delia. »Ich kann doch nicht hier

draußen rumstehen und alles verpassen. Ich muss unbedingt wissen, was passiert. Ich muss!«

Delia kannte das Haus wie ihre Westentasche. Seit sie klein war, war sie hier schon oft zu Besuch gewesen.

Sie wusste, dass die Seitentür in eine Art Vorraum führte. Von dort aus konnte sie problemlos die Hintertreppe erreichen. Karinas

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Zimmer befand sich am Ende des Flurs im ersten Stock. Leise und mit angehaltenem Atem zog Delia die Seitentür auf und

schlich sich ins Haus. Ein paar Sekunden später stieg sie die mit Teppich ausgelegte Treppe hinauf.

Aus Karinas Zimmer drangen leise Stimmen, und man hörte undeutlich, wie Schubladen auf- und zugeschoben wurden und Glasflaschen klirrend aneinanderstießen.

Delia erreichte den Flur und huschte hinüber zu Karinas Zimmer. Vorsichtig schaute sie durch den Türspalt.

Karinas riesiges Himmelbett, das ein weißer Spitzenüberwurf bedeckte, beherrschte den Raum. Auf der Tagesdecke lagen ein Stapel rosafarbener Kissen und jede Menge Stofftiere.

»Hoffentlich lassen sich die Detectives nicht von all dieser Niedlichkeit einwickeln«, dachte Delia. »Hoffentlich merken sie, wozu Karina fähig ist.«

Sie veränderte leicht ihre Position. Jetzt konnte sie Detective Jamison sehen, der den Kleiderschrank durchsuchte.

Delia studierte aufmerksam Karinas Gesicht. Sie schien völlig beherrscht zu sein. Während die Polizeibeamten ihr Zimmer durchsuchten, gab sie zu allem kleine Kommentare ab.

»Das ist meine Volleyballtrophäe«, erklärte sie Detective Bender. Er stellte sie zurück auf den Platz in der Kommode.

Detective Jamison schloss den Schrank und sah unter dem Bett nach. Er zog eine geblümte Schachtel darunter hervor.

»Ich hebe immer alle Briefe von meinen Freunden auf und sammle sie hier drin«, erklärte Karina.

»Will sie sich bei ihnen beliebt machen?«, fragte sich Delia. »Oder warum ist sie so gesprächig?«

Karina wandte sich an Detective Bender, der gerade die Schubladen ihrer Kommode aufzog. »Da drin werden Sie nichts finden. Nur noch mehr Kleidung.«

Detective Bender antwortete nicht. Er sah die einzelnen Stapel gründlich durch und machte dann mit der nächsten Schublade weiter.

Mrs. Frye lehnte sich erschöpft an die Schranktür. »Was suchen Sie eigentlich?«, fragte sie ungehalten. »Sie verschwenden nur Ihre Zeit. Wir waren bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Aber ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie Karinas Zimmer auseinandernehmen

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würden. Ich meine…« »Komm mal her«, rief Detective Bender seinem Partner zu. Bender hockte vor der Kommode und untersuchte

gerade die unterste Schublade. »Was gibt’s denn?«, fragte Jamison. »Ich habe etwas sehr Interessantes gefunden«, antwortete Bender.

Kapitel 28

Delia hielt die Luft an.

Karinas Gesicht verfärbte sich puterrot. Sie hastete zu den Detectives hinüber und starrte in die unterste Schublade. Sie öffnete und schloss ihren Mund, brachte aber keinen Ton heraus.

Mrs. Frye eilte an die Seite ihrer Tochter. »Ich verstehe nicht…« »Neiiiiiiin!«, heulte Karina auf. Das Geräusch schien tief aus ihrer Kehle zu kommen. »Nein! Das

kann nicht sein! Die sind nicht von mir!« Detective Bender schüttelte den Kopf. Er starrte Karina mit einem

scharfen Blick aus seinen blauen Augen an. »Aber sie befinden sich in deiner Kommode. Könntest du uns das vielleicht erklären?«

»Das muss ich sehen«, dachte Delia. Sie schlich dichter an den Türspalt heran.

Detective Jamison griff in die unterste Schublade und zog eine Seite aus einem Schulheft heraus. Er hielt das Blatt nur an einer Ecke fest und berührte es so wenig wie möglich.

Delia trat noch einen Schritt näher, fast zaghaft – und entdeckte einen dunkelroten Lippenabdruck auf dem Papier.

Wieder tauchte Detective Jamison mit der Hand in die Schublade und brachte diesmal ein Papiertuch mit einem dunkelroten Lippenabdruck zum Vorschein.

Nach und nach zog er mehrere Abdrücke von Delias Lippen aus der Schublade.

»Was soll Karina jetzt noch sagen?«, dachte Delia. »Wie will sie das wohl erklären?«

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Kapitel 29

»Bei der Untersuchung von Vincent Milanos Leiche haben wir festgestellt, dass er einen dunkelroten Lippenabdruck auf der Wange hatte«, erklärte Detective Jamison Karina und ihrer Mutter. »Einen Lippenabdruck in dieser Farbe und von dieser Form.«

»Aber… aber…«, stammelte Karina. »Wir nehmen an, dass der Mörder den Lippenabdruck dort platziert

hat, indem er ein Stück Papier – so wie eins von diesen hier – gegen Vincents Gesicht gepresst hat.«

Mrs. Frye wankte hinüber zum Bett. Sie zitterte am ganzen Körper. Karina entfuhr ein lautes Schluchzen. »Ich habe Vincent nicht

getötet. Ich habe ihn doch geliebt – mehr als alles andere auf der Welt. Und er hat mich geliebt.«

Delia konnte sich nicht länger zurückhalten. »Nein!«, kreischte sie. »Er hat dich nicht geliebt! Kein bisschen.

Und deswegen hast du ihn umgebracht. Du hast ihn ermordet! Den einzigen Jungen, den ich je geliebt habe!«

Karina schnappte nach Luft und fuhr herum, um sie anzusehen. »Delia? Was machst du denn hier?«, stieß sie ungläubig hervor. »Wir haben dir doch gesagt, dass du nicht mitkommen sollst«,

sagte Bender ärgerlich. Die beiden Polizisten gingen auf Delia zu. Doch bevor sie sie erreicht hatten, sauste Karina durch den Raum.

Sie packte Delia um die Taille – und warf sie zu Boden. Delia blieb die Luft weg. Vor ihren Augen tanzten weiße Flecken. »Karina, hör auf!«, hörte sie Mrs. Frye flehentlich rufen. »Bitte,

hör auf!« Aber ihre Tochter stieß nur einen animalischen Wutschrei aus. Delia versuchte verzweifelt, Karina wegzustoßen. Die Polizisten packten Karina an den Armen und zerrten sie von

ihr herunter. Mit einem weiteren wutentbrannten Schrei riss Karina eine Hand

los und zog ihre spitzen Nägel über Delias Wange. Dann stürzte sie sich ihrer Mutter in die Arme.

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»Aaaaiiii!« Delia schrie vor Schmerz auf und riss instinktiv die Hände hoch.

Sie spürte, wie ihr das Blut warm die Wange hinunterlief. Spürte das scharfe Prickeln, mit dem der Schmerz durch ihren Körper schoss.

»Ich hab ihn nicht umgebracht! Ich war’s nicht!«, kreischte Karina mit wildem Blick und am ganzen Körper zitternd. Sie war gar nicht mehr wieder zu erkennen. »Ich war’s nicht! Ich war’s nicht!«

Mrs. Frye schlang ganz fest die Arme um ihre Tochter und flüsterte ihr leise etwas ins Ohr.

Karinas Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Ihr Gesicht war knallrot angelaufen.

»Ruhig, ganz ruhig«, flüsterte Mrs. Frye beruhigend. »Wir bringen das schon wieder in Ordnung.«

Delia hatte immer noch die Hände vors Gesicht geschlagen, aus Angst, dass Karina wieder angreifen könnte.

»Wenn ich dich loslasse, versprichst du mir dann, Delia nichts mehr zu tun?«, fragte Mrs. Frye mit sanfter Stimme.

Delia senkte langsam die Hände. Karina zog zitternd die Luft ein. Dann nickte sie. Die Polizeibeamten sahen misstrauisch zu, wie Mrs. Frye ihren

Griff lockerte. »Ich habe Vincent geliebt – und er mich auch!«, rief Karina. »Ich

weiß, dass er mich geliebt hat!« »Ist ja gut, mein Schatz.« Ihre Mutter redete beruhigend auf sie ein

und wiegte sie sanft hin und her. »Ist ja gut. Es kommt alles wieder in Ordnung.«

»Wir müssen Sie und Ihre Tochter mit zur Polizeiwache nehmen«, sagte Detective Jamison. »Ich würde Ihnen raten, sofort einen Rechtsanwalt anzurufen.«

Mrs. Frye nickte, hielt aber immer noch Karinas Hand. »Arme Karina«, murmelte Delia. Dann folgte sie den Polizisten die Treppe hinunter. Zur Haustür

hinaus. Und in die kühle Nacht. »Ist es vorbei?«, fragte sich Delia, während sie tief einatmete. »Ist es endlich vorbei?«

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Kapitel 30

Gabe trat einen Schritt zurück und hielt Delia die Autotür auf. »Ich finde es furchtbar nett von dir, dass du herkommen wolltest«, sagte er. »Besonders heute, am Abend unseres Abschlussballs.«

Er konnte einfach nicht aufhören, Delia anzuschauen. Sie trug ein Ballkleid, das sie selber entworfen hatte. Es war aus dunkelrotem Satin und hatte einen hohen Kragen und einen unverschämt tiefen Rückenausschnitt.

»Es war mir wichtig«, erwiderte Delia, während sie über den Parkplatz schlenderten. »Schließlich waren Karina und ich mal Freundinnen… vor langer Zeit. Die Vorstellung, dass sie den Abend unseres Abschlussballs an einem so schrecklichen Ort verbringen muss, macht mich ganz traurig.«

Gabe öffnete eine der beiden Doppeltüren, die in die Psychiatrische Klinik von Shadyside führten. »Wenn ich hierher komme, habe ich irgendwie immer ein mulmiges Gefühl im Bauch«, gestand er. »Ich weiß auch nicht, ob es der Geruch ist oder…«

»Besuchst du Karina oft?«, fragte Delia. »Ja. Einmal die Woche oder so«, antwortete Gabe etwas

unbestimmt. Mit ihren hochhackigen Schuhen war Delia genauso groß wie er.

Sie küsste ihn auf die Wange. »Das ist echt süß von dir«, sagte sie. Gabe wusste nicht, ob das der richtige Ausdruck dafür war. Es war

eher so, dass er das Gefühl hatte, kommen zu müssen. Er wünschte immer noch, er hätte eher gemerkt, dass mit Karina

ernsthaft etwas nicht stimmte. Und er wünschte, er hätte etwas tun können, um ihr zu helfen, bevor sie völlig durchgedreht war.

Bevor sie so verzweifelt gewesen war, dass sie töten musste. »Warte hier«, sagte Gabe. Er blieb einen Moment in der Tür des

Wartezimmers stehen, während Delia sich auf ein Sofa setzte. »Ich sprech nur eben mit der Schwester in der Anmeldung.«

Gabe ging mit schnellen Schritten zum Anmeldetresen. Er konnte es kaum erwarten, zu Delia zurückzukommen.

Irgendwie konnte er es immer noch nicht glauben, dass sie die

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letzten drei Wochen mit ihm ausgegangen war. Und er konnte es erst recht nicht glauben, dass Delia seine Begleiterin beim großen Abschlussball der Shadyside Highschool war.

»Wir möchten Karina Frye besuchen«, sagte er zu der Schwester am Anmeldetresen.

Sie schaute auf eine Karte. »Im Moment ist gerade der Arzt bei ihr. Aber er wird in ein paar Minuten fertig sein.«

»Danke.« Gabe drehte sich um und ging zurück zu Delia. Er setzte sich dicht neben sie – dicht genug, um ihr blumiges Parfüm zu riechen. »Wir müssen noch ein bisschen warten.«

»Macht nichts.« Delia kuschelte sich enger an ihn. »Eigentlich sollte ich glücklich sein, dass Karina jetzt da ist, wo sie hingehört«, sagte sie leise. »Wenigstens

weiß ich, dass sie hier gut aufgehoben ist.« Delia seufzte. »Und ich muss mir ihretwegen keine Sorgen mehr machen – darüber, was sie mir als Nächstes antun wird. Aber in der Schule ist es nicht mehr dasselbe. Irgendwie finde ich es seltsam, meinen Abschluss zu machen, ohne dass Karina dabei ist.«

»Hey! Heute ist unser Abschlussball!«, erinnerte Gabe sie. »Das wird die tollste Nacht unseren ganzen Lebens. Keine Zeit zum Trübsal blasen.«

Er rückte den Kragen seines Smokinghemds zurecht. »Außerdem wirst du nächstes Jahr schon auf dieser irren Modeschule in New York sein. Überleg doch mal, Delia. Du, die Gewinnerin des Conklin Stipendiums. Losgelassen auf New York!«

Delia spielte mit Gabes Fliege herum. »Ach ja, das Conklin Stipendium.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf.

Gabe schaute sie verwundert an. »Warum sagst du das denn mit so einem komischen Unterton?«

»Ich hätte es lieber auf eine andere Art bekommen«, antwortete Delia.

»Wie bitte?« Ein seltsames Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ein

Lächeln, das Gabe noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Verschlagen. Und irgendwie grausam.

»Wenn Karina doch bloß gemerkt hätte, wie viel sie bereits besaß«, murmelte Delia.

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Gabes Augenbrauen gingen in die Höhe. »Hä? Wie meinst du das?«

»Sie hatte Vincent. Und sie hatte das Conklin Stipendium.« Sie drehte Gabes Fliege erst in die eine, dann in die andere

Richtung. Ihre Augen blitzten vor Erregung. »Karina hätte es nämlich gekriegt, weißt du«, sagte sie zu ihm.

»Sie hätte das Stipendium und Vincent bekommen. Wenn ich es zugelassen hätte.«

Gabe lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er wich ein Stück vor Delia zurück.

Und starrte sie unverwandt an. »Delia – was soll das heißen?«, fragte er.

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Kapitel 31

»Was soll das heißen?«, wiederholte Gabe. »Wenn du es zugelassen hättest, dass sie gewinnt.«

»Na ja, ich hab mich eben darum gekümmert«, meinte Delia. Wieder spielte das grausame Lächeln um ihre Mundwinkel. »Hast du’s immer noch nicht kapiert? Ich hab mit den harmlosen Sachen angefangen. Du weißt schon. Die Ratte in meiner Gitarre und der rote Lippenstift auf meinen Zeichnungen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es war ziemlich eklig, diese Ratte aufzutreiben. Ich musste dafür den ganzen Müllcontainer hinter der Schule durchwühlen.«

Gabe stieß einen unterdrückten Schrei aus. Delia schien überhaupt nicht zu bemerken, wie geschockt er war. Ungerührt fuhr sie mit ihrem Bericht fort. »Aber ich merkte, dass

diese kleinen Tricks noch nicht reichten. Karina war einfach zu hübsch. Und zu talentiert. Die Schiedsrichter liebten sie. Also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Etwas Wirksameres…«

Gabe wäre am liebsten aufgesprungen und weggerannt. Er konnte es auf einmal kaum noch ertragen, so dicht neben ihr zu sitzen. Ihr grausames Lächeln und das schadenfrohe Glitzern ihrer Augen stießen ihn ab.

Aber er war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Wie erstarrt vor Schock und Entsetzen musste er sich die

Geschichte zu Ende anhören. Delias Lächeln verblasste. Das Licht in ihren Augen wurde

schwächer. »Und dann hab ich Vincent dabei erwischt, wie er mit meiner widerlichen kleinen Schwester rumgemacht hat«, stöhnte sie bitter. »Bäh! Wenn ich nur daran denke, dreht sich mir der Magen um.«

Delia starrte auf den Boden. Gabe, der sich auf einmal ganz kalt und zitterig fühlte, wartete,

dass sie weitersprach. »Ich glaube, das war der Moment, in dem mir klar wurde, was ich

tun musste«, begann Delia flüsternd. »Ich konnte Vincent doch nicht

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einfach so davonkommen lassen. Schließlich hatte er vor meinen Augen mit meiner Schwester rumgeknutscht.«

Ihre Stimme glich jetzt einem Knurren. Einem wütenden Knurren. »Ich war dabei, alles zu verlieren. Alles. Vincent. Meine Schwester.

Das Stipendium. Ich merkte, wie mir alles entglitt.« Sie blinzelte. »Und dann wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte.

Ich musste Vincent töten«, erzählte Delia beinahe heiter. »Ich musste ihn umbringen, weil er Karina lieber mochte als mich. Und weil er meine Schwester geküsst hatte. Wenn ich dann noch Karina die Schuld für den Mord in die Schuhe schieben konnte, wären alle meine Probleme gelöst!«

Delia zog ihr Mitternachtsfeuer aus der Tasche und zog sich die Lippen nach. Dann zupfte sie sich ein Papiertuch aus der Schachtel, die auf dem Tisch stand, und tupfte sich die Lippen ab. Dabei blieb ein tiefroter Abdruck auf dem Papier zurück.

Gabe spürte, wie ihm wieder ein Schauer über den Rücken lief. »Also hast du… Vincent umgebracht? Am Morgen nach der Fete«,

brachte er mühsam heraus. »So ‘n Quatsch«, antwortete Delia scharf. »Vincent hat mich doch

in der Nacht überhaupt nicht nach Hause gefahren. Ich hab ihn getötet, nachdem alle gegangen waren. Es war alles genau geplant.«

Das fiese Lächeln kehrte zurück. »Ich war ziemlich clever, Gabe. Erst habe ich Vincent getötet, und dann habe ich einen Lippenabdruck wie diesen hier dazu benutzt, den Abdruck auf seiner Wange zu machen.«

»Und die Abdrücke in Karinas Kommode?«, gelang es Gabe zu fragen.

Delia lachte. »Ich bin in Karinas Zimmer geschlichen, während sie sich auf der Fete amüsiert hat. Ihre Eltern waren ja nicht zu Hause. Und dann hab ich sie in die Kommode geschoben.«

Sie zog einen Schmollmund. »Leider musste ich mein Kleid zerreißen. Echt schade drum. Ich liebe dieses Teil – das leuchtende Rot und all diese Perlen. Ich hab es selbst entworfen.«

Delia seufzte tief auf. »Aber das Übelste war, mir selber die Abschürfungen an den Handgelenken zuzufügen. Das hat verdammt weh getan. Aber es war die ganze Sache wert – findest du nicht?«

Sie rückte ein Stück von Gabe ab und schaute ihn an, als würde sie

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ihn zum ersten Mal sehen. »Puh. Da rede ich und rede ich.« Sie hob eine Hand ans Gesicht.

»Wie bin ich eigentlich darauf gekommen? Ich weiß gar nicht mehr…«

Gabe spürte die Hitze in seinen Wangen. Als er den Mund öffnete, um zu sprechen, brachte er kein Wort heraus.

»Ich denke, ich musste es einfach irgendjemandem erzählen«, fuhr Delia fort. »Du siehst ja so geschockt aus, Gabe. Aber du wirst mich doch nicht verpfeifen, oder?«

Sie küsste ihn auf die Wange. Gabe schluckte. Er sah den roten Lippenabdruck genau vor sich. »Du wirst mich nicht verraten – nicht wahr?«, fragte sie mit einer

hohen Kleinmädchenstimme. Sie küsste ihn aufs Ohr. Auf die Wange. Aufs Kinn. Auf die andere

Wange. In dem Spiegel, der im Wartezimmer hing, konnte Gabe sein

Gesicht sehen, das mit dunkelrotem Lippenstift verschmiert war. Sie küsste ihn. Wieder und wieder. Küsste seine Stirn. Seine Wangen. »Du wirst mich nicht verraten – nicht wahr? Du vergisst doch

nicht, was ich mit Vincent gemacht habe, oder?« Gabe starrte hilflos auf sein Spiegelbild - auf sein Gesicht, das mit

dicken, roten Flecken verschmiert war. »Du tust es nicht? Nicht wahr?« Immer noch fuhr sie mit den

Lippen über seine Haut. »Nicht wahr, Vincent? Ich meine, Gabe.« Ein Geräusch ließ Gabe herumfahren. Als er über Delias Schulter blickte, sah er einen Arzt im weißen

Kittel, der mit ernstem Gesicht in der Tür stand. »Ich habe die ganze Geschichte gehört«, sagte er zu Gabe. »Ich

werde jetzt die Polizei verständigen.«