Post on 02-May-2020
„Das neue Zueignen des Glaubens in veränderter Zeit“
Eines der Grundanliegen, das sich wie ein
roter Faden durch alle Dokumente des II.
Vatikanums zieht und die weitere Rezep‐
tion prägte, kann mit dem später von Jo‐
hannes Paul II. geprägten Begriff der ‚Neu‐
evangelisierung‘ auf den Punkt gebracht
werden. Wie aktuell dieses Anliegen ist,
zeigt sich nicht zuletzt im Schreiben ‚Evan‐
gelii gaudium‘ sowie den Inhalten der lau‐
fenden Diözesansynode im Bistum Trier.
Bereits in den achtziger Jahren sprach der
Konzilsteilnehmer und spätere Papst Johan‐
nes Paul II. von der Notwendigkeit einer
„Wiederevangelisierung Europas“. Erst 1990
prägte er den Begriff ‚Neuevangelisierung‘.
Dieser unterschiedlich gedeutete, vielschich‐
tige Begriff charakterisiert die „erneute
Einwurzelung und Vergegenwärtigung des Evangeliums Jesu Christi“ in den Län‐
dern christlicher Tradition, in denen der christliche Glaube zwar schon sehr lange
beheimatet ist, aber durch die fortschreitende Säkularisierung an Bedeutung verloren
hat. 2010 schuf Papst Benedikt XVI. hierfür ein eigenes Amt in der Römischen Kurie,
den ‚Päpstlichen Rat zur Förderung der Neuevangelisierung‘.
In Abgrenzung zum Missionsbegriff, der sich vornehmlich auf Länder bezieht, in
denen die Kirche „noch nicht Wurzel gefaßt hat“ (Missionsdekret), richtet sich die
Aufforderung zu einer neuen Evangelisation an die Völker der alten Christenheit.
Erzbischof Rino Fisichella, der Präsident des ‚Päpstlichen Rates zur Förderung der
Neuevangelisierung‘, betonte, dass hierfür die Fähigkeit notwendig ist, gemäß 1 Petr
3,15 „im Hinblick auf den eigenen Glauben Rede und Antwort zu stehen“.
Das II. Vatikanum als neues Pfingsten
Zum 8. Dezember 2015 jährt sich das Ende des II. Vatikanischen Konzils. Über dieses
kirchenhistorische Ereignis resümierte Papst Benedikt XVI., dass es durchdrungen
gewesen sei von dem Wunsch, sich „neu in das christliche Mysterium zu vertiefen,
um es dem Menschen von heute wieder wirksam vortragen zu können“. An anderer
Stelle führte er aus, „daß die Neuevangelisierung bereits mit dem Konzil begonnen“
habe und verwies darauf, dass Johannes XXIII. das II. Vatikanum als „neues Pfings‐
ten“ betrachtet habe. Die Aufgabe, Christus den Menschen unserer Zeit erneut zu
verkünden, sei der ganzen Kirche anvertraut, es sei dies „nicht das Werk einiger
Spezialisten, sondern des ganzen Gottesvolkes“ kurz aller „Bischöfe, Priester, Gott‐
geweihter und Laien“.
Ähnlich sieht es Erzbischof Fisichella als Ziel des II. Vatikanischen Konzils an, die
Kirche ihrer Sendung in die Gegenwartswelt zuzuführen. Für ihn thematisieren die
Konzilstexte die Frage, wie der vorrangige und hauptsächliche Auftrag erfüllt wer‐
den kann, das Evangelium auf neue und wirkungsvolle Weise zu verkünden und
damit die Kirche auf Evangelisierungskurs zu bringen.
Dies zeigt sich bereits in der Ansprache zur Eröffnung des Konzils. Hier rief Papst
Johannes XXIII. zu einer erneuerten Verkündigung auf. Er mahnte an, dass den neu‐
en Umweltbedingungen, den neuen Lebensverhältnissen sowie dem neu belebten
katholischen Apostolat Rechnung getragen werden müsse. In seiner ersten Anspra‐
che zur Weiterführung des Konzils bezeichnete es Papst Paul VI. als dessen „Haupt‐
ziel“ die Kirche geistlich zu erneuern und innerlich zu heiligen.
Notwendigkeit einer vertieften Kenntnis
Der bedeutende Konzilstheologe Henri de Lubac monierte rückblickend, dass die
Inhalte der Kirchenkonstitution wenig bekannt seien. Doch sei es grundlegend „den
wahren Sinn dieser geheimnisvollen und … einzigartigen Wirklichkeit“ zu verste‐
hen, „welche die Kirche ist“. Erst mit dem Hintergrund einer solchen vertieften
Kenntnis kann sie erneuert werden. Dies umreißt Benedikt XVI. in seiner Beschrei‐
bung des ‚Geistes des Konzils‘ folgendermaßen: „Die Konzilsväter konnten und
wollten nicht eine neue, eine andere Kirche schaffen. Dafür hatten sie weder Voll‐
macht noch Auftrag. … Sie konnten und wollten deshalb nicht einen anderen Glau‐
ben oder eine neue Kirche schaffen, sondern nur beides tiefer verstehen und so
wahrhaft »erneuern«.“
Kirchenkonstitution ‚Lumen gentium‘ (LG)
Die Konstitution über die Kirche beschreibt den Weg einer solchen Belebung wie
folgt: Als lebendiges Glied des Leibes Christi durch die Taufe ist jeder Christ berufen
und verpflichtet „zum Wachstum und zur ständigen Heiligung der Kirche beizutra‐
gen“ (LG 33). Alle „sind von Gott gerufen … vor allem durch das Zeugnis ihres
Lebens … Christus den anderen kund zu machen“ (LG 31). In welcher Weise der
Einzelne seine Berufung lebt, hat demnach Auswirkungen auf die übrigen Glieder
der Kirche, ja auf die ganze Welt.
In ihrem bedeutungsvollen aber bisweilen wenig rezipierten fünften Kapitel entfaltet
die Kirchenkonstitution ihre Herzmitte, die allgemeine Berufung zur Heiligkeit, die
sie als Gabe und Aufgabe umreißt. Demnach sollen die Getauften „die Heiligung, die
sie empfangen haben, mit Gottes Gnade im Leben bewahren und zur vollen Entfal‐
tung bringen“ (LG 40). Dies ist nicht ein Weg neben den sonstigen Aufgaben, son‐
dern soll alle Lebenslagen, Pflichten, Verhältnisse sowie alle Berufungen bestimmen.
Ganz konkret benennt sie Beispiele geistlicher Fruchtbarkeit. So sollen alle „Armen,
Schwachen, Kranken und von verschiedener Mühseligkeit Bedrückten oder die um
der Gerechtigkeit willen Verfolgten … sich in besonderer Weise mit Christus in sei‐
nem Leiden für das Heil der Welt zu vereinigen wissen.“ (LG 41). Noch konkreter
fasst dies ‚Evangelii nuntiandi‘: „Es ist unabdingbar, daß der Verkündigungseifer
aus einer echten Heiligkeit unseres Lebens kommt, die aus dem Gebet und vor allem
der Eucharistie Kraft und Stärkung erhält“ (EN 76).
Ökumenismusdekret ‚Unitatis redintegratio‘ (UR)
In engem Zusammenhang zwischen Ökumene und Ekklesiologie spricht auch das
Ökumenismusdekret von der Sendung der Kirche „zur ganzen Welt“ (UR 1; LG 1).
Es deutet die fehlende Einheit der Christen als Schaden für die Verkündigung des
Evangeliums und betrachtet die Kirche als dazu gesandt, „damit sich die Welt zum
Evangelium bekehre“ (UR 1; vgl. AD 6).
Ordensdekret ‚Perfectae caritatis‘ (PC)
Das Ordensdekret (PC) trägt bereits das Grundanliegen im Titel: „Über die zeitge‐
mäße Erneuerung des Ordenslebens“; dies bedeute „ständige Rückkehr zu den Quel‐
len jedes christlichen Lebens“ (PC 2). Ihre Kontemplation, durch die sie Gott „im
Geist und im Herz anhangen“, für Gott allein da sind, sollen sie „mit apostolischer
Liebe“ ausführen, die „zur Ausbreitung des Reiches Gottes drängt“ (PC 5).
Laienapostolatsdekret ‚Apostolicam actuositatem‘ (AA)
Das gesamte Dekret über das Laienapostolat spricht über „Pflicht und Recht zum
Apostolat“. Hierfür schenkt der Heilige Geist „besondere Gaben (vgl. 1 Kor 12,7)“
(AA 3; vgl. LG 6; EG 130). Es betont dabei, dass die Fruchtbarkeit des Apostolates
„von der lebendigen Vereinigung mit Christus“ abhängt (AA 4).
Missionsdekret ‚Ad gentes‘ (AG)
Besonders deutlich findet sich das Anliegen des II. Vatikanischen Konzils einer
Durchdringung der Welt mit dem Evangelium und damit der Neuevangelisierung
im Missionsdekret formuliert. Auch wenn seine Zielrichtung sich vor allem an die
Völker richtet, bei denen die Kirche „noch nicht Wurzel gefaßt hat“ (AG 6), sind doch
viele Aussagen grundlegend. Es bezeichnet die Kirche von ihrem Wesen als ‚missio‐
narisch‘, denn sie ist von ihrem Ursprung aus der Sendung des Sohnes und des Hei‐
ligen Geistes „als Gesandte unterwegs“ (AG 2). Selbst wenn die Arbeit „des Neube‐
ginns oder Pflanzens“ vorüber sei, obliegt den Diözesen „die Pflicht“, die Evangelisa‐
tionsarbeit „fortzusetzen und das Evangelium den einzelnen zu verkündigen, die
noch draußen stehen“ (AG 6). „Da die ganze Kirche missionarisch und das Werk der
Evangelisation eine Grundpflicht des Gottesvolkes ist, lädt die Heilige Synode alle zu
einer tiefgreifenden, inneren Erneuerung ein, damit sie im lebendigen Bewußtsein
der eigenen Verantwortung um die Ausbreitung des Evangeliums ihren Anteil am
Missionswerk bei den Völkern übernehmen.“ (AG 35) „Als Glieder des lebendigen
Christus, durch Taufe, Firmung und Eucharistie ihm eingegliedert und gleichgestal‐
tet, ist allen Gläubigen die Pflicht auferlegt, an der Entfaltung und an dem Wachstum
seines Leibes mitzuwirken, damit dieser so bald wie möglich zur Vollgestalt gelan‐
ge.“ (AG 36)
Wie ein roter Faden durchzieht der Wunsch, das Christentum solle die Gegenwart
durchdringen, auch alle weiteren Aussagen des Konzils. Für den Präsidenten des
Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung formulieren die Texte
„dieselbe Grundidee und thematisieren dieselbe Problematik: die Frage nämlich, wie
der hauptsächliche und vorrangige Sendungsauftrag erfüllt werden kann, das Evan‐
gelium auf neue und wirkungsvolle Weise zu verkünden“.
Neuevangelisierung als Frucht des II. Vatikanums
Zehn Jahre nach Ende des II. Vatikanischen Konzils bezeichnete Papst Paul VI. in
seiner programmatischen Schrift ‚Evangelii nuntiandi‘ die Evangelisierung als die
eigentliche Aufgabe der katholischen Kirche (EN 14). Daran knüpfte Papst Johannes
Paul II. 1990 in der Enzyklika ‚Redemptoris missio‘ an und hob hervor, dass auch in
Ländern mit christlicher Tradition eine Erneuerung und Rückbesinnung des Glau‐
bens stattfinden müsse. Nachdem 2010 ein eigener Rat zur Neuevangelisierung
gegründet worden war, wurde 2012 dieses Anliegen wieder aufgegriffen. Zeitgleich
zum Konzilsjubiläum fand in Rom eine Bischofsynode zum Thema „Die Neuevange‐
lisierung für die Weitergabe des christlichen Glaubens“ statt. Deren Inhalte hat Papst
Franziskus in ‚Evangelii gaudium‘ zusammengefasst und weiterentwickelt und
dabei nicht nur im Titel auf die programmatische Schrift des Konzilspapstes verwie‐
sen.
Glaubensverlust als eigentliche Herausforderung
In jüngster Zeit wird vielfach ein frappierender Glaubensverlust in Ländern alter
christlicher Tradition beklagt. Ein Kommentator in ‚Christ in der Gegenwart‘ (CIG)
nannte den „Auszug aus dem Christentum, aus dem Glauben selber … eine Kata‐
strophe – nicht nur in Deutschland“ (CIG 30/2015). Demnach liegen die wahren
Gründe hierfür nicht in den Skandalen, nicht an der Struktur‐, Frauen‐ oder Zölibats‐
frage, denn diese „geforderten Liberalisierungen haben die Evangelischen längst
verwirklicht – mit noch gewaltigerem Niedergang.“ Der Grund läge vielmehr allein
im Glaubensverlust; viele „können nicht mehr an Gott glauben, nicht an Christus,
nicht an Auferstehung, also das Wesen des Christentums“, so die Analyse des Kom‐
mentators.
Aufwärtstrend in den USA
Umso erstaunlicher sind daher die Entwicklungen in den USA. In diesem Land, das
lange vor dem abendländischen Christentum massiv von Krisen gebeutelt wurde,
gibt es nach Aussage der dortigen Bischofskonferenz 2015 einen Anstieg der Pries‐
terweihen um ein Viertel. Dr. Richard Kocher berichtete im Rahmen eines Kongres‐
ses, dass dies auf die Einführung einer Ewigen Anbetung in jeder amerikanischen
Diözese sowie vielfach sogar jeder größeren amerikanischen Stadt zurückgehe.
Kirche ist zu dauernder Erneuerung aufgefordert
Die mit dem Konzil grundgelegte Neuevangelisierung ist sicherlich ein guter Anstoß.
Die nur angerissene Analyse der Konzilstexte zeigt, wie umfassend dieses Anliegen
ist.
Mit Papst Franziskus hat das Thema weiter an Dynamik gewonnen. In seinem Apos‐
tolischen Schreiben ‚Evangelii gaudium – Über die Verkündigung des Evangeliums
in der Welt von heute‘ wendet er sich an alle Christen, „um sie zu einer neuen Etap‐
pe der Evangelisierung einzuladen, die von der Freude des Evangeliums geprägt ist“
(EG 1). Darin hat er wiederholt das II. Vatikanum aufgegriffen und sieht eine kirchli‐
che Erneuerung als unaufschiebbar an. Eine solche versteht er, das Konzil zitierend,
als andauernden Prozess: „Jede Erneuerung der Kirche besteht wesentlich im Wachs‐
tum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung, und so ist ohne Zweifel hierin der
Sinn der Bewegung in Richtung auf die Einheit zu sehen. Die Kirche wird auf dem
Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform gerufen, deren sie
allzeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist“ (EG 26; UR 6).
Margarete Eirich, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Theologische Fakultät Trier