Aktiv gegen Depressionen - Netzwerk-Depression · PDF fileOffene Fragen •Alles...

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Aktiv gegen Depressionen Dr. Anja Grocholewski, Dipl.-Psych., PP

Psychotherapieambulanz der TU Braunschweig

Humboldtstr. 33, 38106 Braunschweig

Tel.: 0531/391-2801 (-2865); e-mail: anja.grocholewski@tu-braunschweig.de

„Stimmen aus dem Internet“ •Mal ist es ein Fußballspieler und mal ein Schauspieler, die in das

Rampenlicht rücken, weil sie ihr Leben beendet haben. Wieder und wieder

hört man es im Radio, dem Fernsehen oder liest es in den Zeitungen: "Er litt

an Depressionen„.

•Krankheiten die nicht so sichtbar sind, wie ein amputiertes Bein oder ein

Loch im Kopf stehen immer etwas höher im Kurs bei Simulanten und natürlich

auch bei denen, die mit entsprechender Behandlung ihr Geld machen.

•Ich frage mich nur ob "Depressionen" eine Diagnose ist, die heutzutage sehr

schnell, vielleicht manchmal sogar zu schnell gestellt wird. Nach dem Motto

„Ach dem geht es nicht so gut, der hat oft schlechte Laune, der hat wohl

Depressionen". Dann hat das Kind wenigstens einen Namen und man braucht

nicht mehr groß zu suchen und sich Gedanken zu machen.

•Also, wie viel Schmerz muss der Mensch heute haben, um im Volksmund

schon als depressiv verklärt zu werden, wie sehr müssen darunter die

"wirklich" Depressiven leiden, deren Krankheit in der Folge verharmlost wird,

und wie cool ist es vielleicht mittlerweile, depressiv zu sein bzw. mal eine

depressive Zeit hinter sich gehabt zu haben?

Offene Fragen

•Alles Übertreibungen der Medien? Oder wächst die Zahl der

Betroffenen wirklich an?

•Ist die Depression eine Domäne der Simulanten und

Beutelschneider?

•Ist es „in“, an Depressionen zu leiden oder gelitten zu

haben?

Was genau ist denn überhaupt eine Depression im

klinisch relevanten Sinn?

•Traurigkeit und Befindlichkeitsschwankungen

Was ist Traurigkeit?

•Traurigkeit ist ein normales Gefühl.

•Wie Zorn, Freude oder Angst gehört Traurigkeit zu den

Grundemotionen des Menschen.

•Traurigkeit ist biologisch (körperlich) fest in uns angelegt und

kommt bei jedem Menschen vor.

•Gefühle von Traurigkeit sind in der Regel vorübergehend.

•Gefühle von Traurigkeit schwanken abhängig davon, was wir

gerade tun.

•für Traurigkeit haben wir fast immer eine Erklärung.

•Traurigkeit lässt sich oft durch positive, angenehme

Tätigkeiten und Ereignisse unterbrechen.

Befindensschwankungen sind keine

Krankheit

Keine gesunde Person fühlt sich fortlaufend nur gut oder schlecht.

•Wann spricht man von einer klinisch relevanten

Depression?

Ein typisches Beispiel

Am 02. Juli 1961 erschoss sich Ernest Hemingway in seinem Haus mit einer zweiläufigen Schrotflinte. Zwei Elektrokrampftherapien hatten seine Stimmung nicht bessern können. Fünf Jahre nach seinem Tod beging seine Schwester Ursula Suizid, die wegen ihres Krebsleidens unter starken Depressionen litt. Im Jahr 1928 hatte sich der Vater, Clarence Hemingway, im Verlauf einer Depression erschossen. Auf den Tag genau 35 Jahre nach diesem Suizid wird die Enkelin in einem Strandhaus in Santa Monica nach dem Genuss von Alkohol und Drogen tot aufgefunden.

Symptomatik einer Depression 1

Körperhaltung:

• kraftlos, gebeugt, spannungsleer;

• Verlangsamung der Bewegungen;

• Agitiertheit, nervöse zappelige Unruhe, Händereiben o.ä.

Gesichtsausdruck:

• traurig, weinerlich, besorgt;

• herabgezogene Mundwinkel, vertiefte Falten, maskenhaft erstarrte, manchmal

auch nervöse, wechselnd angespannte Mimik.

Sprache:

• leise, monoton, langsam.

Symptomatik einer Depression 2

Emotional: • Gefühle von Niedergeschlagenheit, Hilflosigkeit, Trauer, Hoffungslosigkeit,

Verlust, Verlassenheit, Einsamkeit, Schuld, Feindseligkeit, Angst und Sorgen,

Gefühl der Gefühllosigkeit und Distanz zur Umwelt.

Kognitiv: • Einfallsarmut, langsames mühseliges Denken, Konzentrationsprobleme,

zirkuläres Grübeln, rigides Anspruchsniveau, permanente Selbstkritik,

Selbstunsicherheit.

Aktivierung: • Allgemeine Aktivierungsminderung bis zum Stupor, wenig Abwechslung,

eingeschränkter Bewegungsradius, Probleme bei der praktischen Bewältigung

alltäglicher Anforderungen.

Symptomatik einer Depression 3

imaginativ:

• negative Einstellung gegenüber sich selbst (als Person, den eigenen Fähigkeiten

und dem eigenen Erscheinungsbild) und der Zukunft (z.B. imaginierte

Vorstellung von Sackgasse, schwarzem Loch),

• Pessimismus, Hypochondrie, Erwartung von Strafen oder Katastrophen,

Wahnvorstellungen (z.B. Versündigungs-, Insuffizienz- und

Verarmungsvorstellungen),

• nihilistische Ideen der Ausweglosigkeit und Zwecklosigkeit des eigenen Lebens,

Suizidideen.

motivational:

• Misserfolgsorientierung, Rückzugs- bzw. Vermeidungshaltung.

• Flucht und Vermeidung von Verantwortung, Erleben von Nicht-Kontrolle und

Hilflosigkeit, Interessenverlust, Antriebslosigkeit, Gefühl des Überfordertseins,

Rückzug bis zum Suizid oder Zunahme der Abhängigkeit von anderen.

Psychosomatische Symptome

einer Depression

Häufigkeit typischer Depressionssymptome

6% akustische Halluzinationen

15% Selbstmordversuche

33% Wahnideen

35% Gedächtnisstörungen

51% Hoffnungslosigkeit

64% Tagesschwankungen

66% Appetitmangel

76% psychomotorische Verlangsamung

76% Reizbarkeit

76% Müdigkeit

82% Suizidgedanken

91% schlechte Konzentration

94% Weinerlichkeit

100% traurige Verstimmung

100% Schlaflosigkeit

•Epidemiologie depressiver Störungen

Prozentuale Häufigkeiten der Depression

Häufigkeit Depressive Episode

Punktprävalenz

3-7%

6-Monats-Prävalenz

3-10%

Lebenszeitrisiko

15-18%

Epidemiologie Depressive Episode

•Ersterkrankungsalter um 30 Jahre, verlagert sich vor!

•Frauen (26%) erkranken doppelt so häufig wie Männer

(12%).

•Symptome entwickeln sich über einige Tage bis Wochen.

•Eine unbehandelte Episode dauert unabhängig vom

Ersterkrankungsalter ca. 5 Monate.

•In 5-10% der Fälle kann eine Depression auch über mehr

als 2 Jahre bestehen (“chronisch”).

•Häufigkeit schwerer Episoden bleibt konstant.

•Häufigkeit leichterer Episoden nimmt zu!

Verlauf, Prognose und Komorbidität

Depressive Störung

Median Phasendauer 5 Monate

Zykluslänge 4,5 Jahre

> 5 Jahre Remission 40%

>2 Jahre Dauer

(„Chronifizierung“)

10-20%

Komorbidität mit Angststörungen 18-21%

Komorbidität mit

Abhängigkeitserkrankungen

14-20%

•Wie diagnostiziert man eine depressive Störung?

Psychologische Diagnostik

Selbstbeurteilung

z. B. BDI (Beck-Depressions-Inventar)

Interviews

z.B. Strukturiertes Klinisches Interview (SKID I / SKID II)

für Psychische Störungen

Fremdbeurteilung

z.B. HAMD (Hamilton Depression Scale)

Wichtig: Die Maße müssen bestimmten Gütekriterien wie

Validität, Reliabilität, Objektivität genügen!

Weitere Diagnostik

• Klinische Beobachtung (z.B. Körperhaltung, Stimme

usw.).

• Berichte von Angehörigen.

• Berichte von anderen Behandlern (Schweigepflicht

beachten!), z.B. Psychiater, Pflegepersonal.

• Anamnese

•Wie bekommt man eine depressive Störung?

Organische und pharmakologische Ursachen

• Genetische Veranlagung

• zerebrale vaskuläre Erkrankung/ beginnende Demenz

• Hirntumor / traumatische Hirnschädigung

• Parkinsonsche Erkrankung

• Epilepsie

• Lebererkrankungen

• Hormonelle Störungen (z.B. Schilddrüse)

• Viruserkrankungen

• Chronische Intoxikation

• Medikamente

Psychologische Faktoren

• Persönlichkeit

• Sozialer Hintergrund

• Feindliche Lebensbedingungen (z.B. Armut!)

• Lebensereignisse (z.B. Kündigung, Rente)

• Verlust positiver Erlebnisse

• Ungünstige Einstellungen („Die Welt ist schlecht“)

• Hilflosigkeitserfahrungen

• Interaktionsmerkmale

Multifaktorielles Zusammenspiel

•Wie behandelt man eine depressive Störung?

Behandlungsmöglichkeiten

Für die Behandlung der Depression gibt es eine nationale

Versorgungsleitlinie!

1. Biologische Therapien

• Medikamente (Antidepressiva)

• Lichttherapie

• Schlafentzug

• Elektrokrampftherapie

2. Psychotherapie

• Kognitive Verhaltenstherapie (z.B. Aktivitätenaufbau,

„Umstrukturierung“ negativer Denkweisen, Training sozialer

Fertigkeiten).

• Andere Psychotherapien (z.B. Interpersonelle Psychotherapie,

Tiefenpsychologisch fundierte Therapie; Psychoanalyse).

Bausteine einer erfolgreichen

Depressionstherapie

1. strukturiert, geplant und transparent

2. vermittelt Fertigkeiten und

Bewältigungsstrategien

3. Übungen und Aufgaben außerhalb des

Therapierahmens

4. fördert Selbstattributionen

Forschungsbefunde: Therapie-Wirksamkeit

0 8 1 Kombinationstherapie

1 2 0 Kombinationstherapie

0 2 0 Pharmakotherapie

0 1 0 Kognitive Verhaltenstherapie

- 1 1 Kontrollbedingung

Vergleichs-

bedingung

besser

vergleichbare

Wirkung

IPT

überlegen Interpersonelle

Psychotherapie (IPT) vgl. mit:

0 8 2 Pharmakotherapie

0 5 4 Tiefenpsychologische

Psychotherapie

0 1 0 Interpersonelle Psychotherapie

0 4 0 Unspezifische Psychotherapie

0 3 15 Kontrollbedingung

Vergleichs-

bedingung

besser

vergleichbare

Wirkung

KVT

überlegen Kognitive Verhaltenstherapie

(KVT) vgl. mit:

Was tun? – Ein erster Schritt

Bei eigener starker psychischer Belastung oder der

Vermutung an einer Depression zu leiden:

1. Vertrauensperson ansprechen (z.B. Hausarzt, Freundin)

2. Hilfeangebote annehmen – nicht zu lange zögern! Ab

einem bestimmten Schweregrad muss die Depression

durch Fachpersonal behandelt werden.

3. Falls Medikation indiziert:

•Einnahme trotz der üblichen, anfänglichen

Nebenwirkungen.

4. Falls Psychotherapie indiziert:

•Arbeiten Sie aktiv mit und nehmen Sie sich Zeit

dazu!

Wie können Sie selbst aktiv sein?

1. Aktivitäten/ Positive Aktivitäten

2. Entspannungsverfahren

3. Bewegung

4. Euthyme Methoden

5. Achtsamkeit

.

.

.

n. ….. (z.B. Freizeitprogramm, Ergotherapie, Kunst und

Gestaltung)

1. Aktivitäten/ positive Aktivitäten

• Verhaltensbezogene Maßnahmen der

Tagesstrukturierung (also z.B. einen „Stundenplan“ führen

und danach leben)

• Positive Aktivitäten (langsames Vorgehen, realistische

Ziele setzen, den Ablauf planen: Wie sieht der erste

Schritt aus? Mit welcher Kleinigkeit kann ich anfangen?)

• Balance angenehmer und unangenehmer Aktivitäten

(nicht nur die Pflicht, sondern auch die Kür absolvieren!!)

Aufwärtsgerichtete Depressionsspirale

Abwärtsgerichtete

Depressionsspirale

5. Ihre

Stimmung

ist auf dem

Nullpunkt,

und Ihnen

ist alles

zuviel

4. Sie haben

überhaupt

nichts

mehr, an

dem Sie

sich freuen

können

3. Ihre

Stimmung

wird

schlechter,

und Sie tun

nur noch

das

Nötigste

2. Sie haben

im Alltag

keine

positiven

Erlebnisse

1. Sie fühlen

sich nieder-

geschlagen

und haben

keine Lust,

etwas zu

tun

5. Ihre Stim-

mung wird

immer bes-

ser, und Sie

planen wei-

tere Unter-

nehmungen,

die Ihnen

Freude

machen

4. Heute tun

Sie außer

Ihren

Pflichten

noch

etwas, was

Ihnen Spaß

macht

3. Sie freuen

sich über

Ihren Erfolg

und Ihre

Laune wird

besser

2. Sie raffen

sich auf

und

machen

das, was

Sie schon

lange tun

wollten

1. Ihre

Stimmung

ist auf dem

Nullpunkt,

und Ihnen

ist alles

zuviel

Wochenplan

© Legenbauer, T. & Vocks, S. (2006)

Befindlichkeitsdiagramm Tägliche Befindlichkeit und tägliche Menge angenehmer Aktivitäten über

30 Tage

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

9

8

7

6

5

4

3

2

1

20

15

10

5

tägli

cher

Sti

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nzah

l angen

ehm

er Tätig

keiten

2. Entspannungsverfahren

1. Progressive Muskelentspannung nach Jacobson

• An- und Entspannung bestimmter Muskelgruppen:

nacheinander werden einzelne Muskelpartien zunächst

angespannt, die Muskelspannung wird kurz gehalten,

und anschließend wird die Spannung gelöst.

• Person konzentriert sich auf den Wechsel zwischen

Anspannung und Entspannung und auf die

Empfindungen, die mit diesen Zuständen einhergehen.

Tipp: Manche Krankenkassen geben an Versicherte CDs

mit Anleitungen zur Entspannung heraus!

2. Entspannungsverfahren

2. Autogenes Training

• Beruht auf Autosuggestion.

• Grundstufe: Suggestion eines ruhigen Körperzustandes

(Schwere/ Wärme/ Herzregulation/ Atmung/

Bauchwärme/ Stirnkühle).

• Mittelstufe: formelhafte Vorsatzbildung (Beispiel: „Ich

bleibe in der Situation gelassen“).

• Aufpassen bei organische Leiden: z.B. bei der

Verlangsamung der Atmung kann evtl. eine

Ateminsuffizienz verstärkt werden.

Tipp: Entspannungverfahren können als Kurs bei

verschiedenen Anbietern gebucht werden!

3. Bewegung

• Körper- und bewegungsbezogene Therapien

unterstützend zur Psychotherapie in Versorgungsleitlinie

empfohlen, d.h.:

• Positive Effekte von Bewegung sind vielfach

nachgewiesen.

• Auch hier: Klein anfangen und realistische Ziele setzen!

Lieber jeden Tag 5 Minuten spazieren gehen, als sofort

versuchen, den Halbmarathon zu laufen.

• Sich zur Bewegung verabreden.

• Kombination Bewegung – Musik= Tanzen

4. Euthyme Methoden

Grundannahme:

• Seelische Gesundheit und Krankheit sind zwei

unabhängige Dimensionen, nicht zwei Pole einer

Dimension.

• Seelische Gesundheit ist die Akzeptanz von guten und

schlechten Zeiten.

• Die Förderung von Ressourcen ist unabhängig von der

Behandlung der Beschwerden ein eigenständiges Ziel.

Genuss und Genießen

• Aufbau von Selbstfürsorglichkeit und Genussregeln

• Schaffung räumlicher und geistiger Nischen im Alltag, in

denen Genuss gestaltet und bewusst hergestellt wird

• Stimulation der 5 Sinnesmodalitäten (Riechen, Tasten,

Schmecken, Hören, Sehen)

• Befriedigung vitaler Bedürfnisse (Hunger, Durst, Schlaf,

Sexualität, Geborgenheit, usw.)

• Vermehrung von angenehmen Emotionen (Heiterkeit,

Freude, Stolz, Zufriedenheit, Zuneigung, Liebe, usw.)

© Legenbauer, T. &

Vocks, S. (2006)

5. Achtsamkeit

Gegenteil von „auf Autopilot fahren“

• Achtsamkeit kann insbesondere das Rückfallrisiko

minimieren.

• Achtsamkeit soll im Alltag geübt werden: durch diese

Achtsamkeitsübungen sollen die Betroffenen erlernen,

Frühwarnsymptome rechtzeitig wahrzunehmen und sich

bewusst hilfreichen Maßnahmen zuwenden, statt „auf

Autopilot“ in Grübelei und niedergedrückte Stimmung zu

versinken.

• Siehe Genusstraining – auch das ist mit Achtsamkeit

verknüpft.

Tipp: Achtsamkeit kann als Kurs bei verschiedenen

Anbietern gebucht werden!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!