Post on 26-Jun-2020
1
Ausbildung zum Katechisten für die Evangelisation
2017-2020
Hochaltingen
Radioakademie
12. Vortrag: KW 15 (11.04.2018) Sr. Dr. Theresia Mende OP
Weisheit in Israel (Weisheitsbücher)
Reflexion über Glaube und Atheismus in einer säkularisierten Welt
2
Weisheit in Israel (Weisheitsbücher)
Reflexion über Glaube und Atheismus in einer säkularisierten Welt
Einführung
Nach Jer 18,18 gibt es im alttestamentlichen Gottesvolk drei Gruppen von
autorisierten Lehrern des Glaubens: die Priester mit ihrer Weisung, die
Propheten mit ihrem Gotteswort und die Weisen mit ihrem Rat. Schon von
früher Zeit an spielten die Weisheitslehrer in Israel eine bedeutende Rolle. Dies
schlug sich in einem reichen weisheitlichen Schrifttum nieder, das im Kanon
der katholischen Bibel die Bücher Ijob, Sprichwörter, Kohelet, Jesus Sirach und
Weisheit umfasst. Auch in andere Bücher der Bibel ist weisheitliches Denken
eingeflossen, wie z.B. in manche Psalmen und in Teile der Bücher Tobit und
Baruch.
Solche Weisheitsliteratur stellt kein Spezifikum Israels dar. Sie war eine
beliebte und blühende Literaturgattung im ganzen Alten Orient.
A. Die Geschichte der alttestamentlichen Weisheit
In Israel kann die Weisheit eine lange Geschichte aufweisen. An ihrem Anfang
stand die Sippenweisheit der Nomadenzeit, die sich z.B. im Dekalog – den
Zehn Geboten – und in frühen Teilen des Buches Amos niederschlug. In der
frühen Königszeit entstanden dann eigene Weisheitsschulen am Königshof, die
Kontakte zur internationalen Schulweisheit pflegten und von ihnen manche
Gedanken und Einflüsse übernahmen. Die spätere Weisheit, insbesondere in
der nachexilischen Zeit, wandte sich dann unter dem Druck veränderter
historischer Umstände stärker religiösen Themen zu. So wandelte sich die
Weisheit Israels von der praktischen Lebensweisheit mehr und mehr zur
„theologischen Weisheit“.
3
Zunächst jedoch kreiste das weisheitliche Denken um die recht profan
anmutende Frage: Wie kann das menschliche Leben am besten gelingen?
Dabei ging es weder um philosophische Seinserkenntnis noch um theologische
Lehre, sondern allein um praktische Lebensweisheit. Die Beantwortung der
Frage geschah aus der vielfältigen menschlichen Erfahrung und deren Reflexion
und drückte sich in verschiedenen literarischen Gattungen aus, wie z.B. in
Gleichnisworten, Parallelismen, Bildern und Vergleichen, in der Aufdeckung von
Analogien und Ordnungen der Welt, in Mahnworten, Lehrreden, Reflexionen
sowie in Fabeln, Parabeln und Allegorien. Inhaltlich lässt sich die Beantwortung
der Frage nach dem Gelingen des menschlichen Lebens auf den gemeinsamen
Nenner bringen: Lebe in Übereinstimmung mit der vorgegebenen Weltordnung,
die den gesamten Kosmos sowie den Menschen in ihm umfasst. Dabei war für
Israel klar: diese Weltordnung wurzelt in Gottes Wollen und Wirken, da er der
Schöpfer ist.
Für den heutigen Betrachter der alttestamentlichen Weisheit erscheinen viele
Texte „profan“. Sie sind es aber nicht, wenn man bedenkt, dass nach
alttestamentlicher Auffassung die gesamte Schöpfung von der Weltordnung
Gottes, des Schöpfers, durchwirkt ist und sich somit die Existenz des Menschen
stets vor den Augen des Schöpfers vollzieht. Hinzu kommt, dass Israel auch in
den älteren Weisheitstexten Jahwe selbst öfters direkt nennt, wie z.B. in Spr
12,22: „Lügnerische Lippen sind dem Herrn ein Greuel, doch wer zuverlässig
ist in seinem Tun, der gefällt ihm“ (vgl. auch Spr 10,22; 11,1; 14,27; 15,9 und
25; 16,3 und 9; 17,15; 19,17; 21,30; 22,2 u.ö.).
Menschliche Erfahrung und göttliche Offenbarung sind für die Weisheitslehrer
Israels keine grundsätzlich getrennten Sphären. Dennoch bildet sich in
nachexilischer Zeit mehr und mehr die Erkenntnis heraus, dass Gott der
eigentliche Weisheitslehrer ist, der durch seine „Knechte“ und Propheten
seinem Volk Weisheit übermittelt. So sagt Mose zu Israel in Dtn 4,5-6:
„Hiermit lehre ich euch, wie es mir der Herr, mein Gott, aufgetragen hat,
Gesetze und Rechtsvorschriften … Ihr sollt auf sie achten und sollt sie halten.
Denn darin besteht eure Weisheit und eure Bildung“ (4,5-6).
4
Unter dem Einfluss der nachexilischen Verknüpfung von menschlicher
Erfahrung und göttlicher Offenbarung sind z.B. die Kapitel 1-9 im Buch der
Sprüche entstanden. Sie enthalten im Wesentlichen eine weisheitliche
Reflexion der im Buch Deuteronomium und in den Propheten überlieferten
Offenbarungsinhalte. Der Weisheitslehrer, dargestellt wie ein Vater, der seinen
Sohn belehrt, hält hier seinen Lesern das Beglückende einer Weisheit vor
Augen, die umfangen ist von der Weisheit Jahwes, des Schöpfers. So schreibt
er in Spr 3,13-19:
„13 Wohl dem Mann, der Weisheit gefunden, dem Mann, der Einsicht
gewonnen hat.
14 Denn sie zu erwerben ist besser als Silber, sie zu gewinnen ist besser als
Gold.
15 Sie übertrifft die Perlen an Wert, keine kostbaren Steine kommen ihr gleich.
16 Langes Leben birgt sie in ihrer Rechten, in ihrer Linken Reichtum und Ehre;
17 ihre Wege sind Wege der Freude, all ihre Pfade führen zum Glück.
18 Wer nach ihr greift, dem ist sie ein Lebensbaum, wer sie fest hält, ist
glücklich zu preisen.
19 Der Herr hat die Erde mit Weisheit gegründet und mit Einsicht den Himmel
befestigt.“
Diese Weisheit ist nicht mehr das Ergebnis menschlichen Mühens, sondern ein
göttliches Angebot. Sie wird nicht erworben, sondern gefunden; sie ist besser
als Silber und Gold; sie übertrifft jede Perle an Wert; kein Edelstein kommt ihr
gleich; sie schenkt Reichtum, Ehre, Freude und Glück und ist dem, der sie
besitzt, ein Garant für das Leben („Lebensbaum“).
Darum ist es nicht verwunderlich, dass in einem weiteren Schritt der
Weisheitslehrer selbst zurücktritt, um diese göttliche Weisheit selbst als
personifizierte Größe in den Vordergrund treten zu lassen – so in Spr 1,20ff;
8,1ff und 9,1ff.
So tritt sie zunächst in Spr 1,20ff wie ein Prophet auf, der zu Buße und Umkehr
mahnt; erhebt aber zugleich auch den Anspruch, mehr zu sein als ein Prophet,
5
wenn sie z.B. in 1,23 wie Gott verspricht, ihren Geist auszugießen und ihre
Worte kundzutun. In Spr 8,1-12 erscheint sie als eine werbende, Segen
verheißende Ratgeberin und in Spr 9,1ff als eine Gastgeberin, die zu einem
reich vorbereiteten Mahl einlädt.
In Spr 8,22 enthüllt sie schließlich ihr letztes Geheimnis. Sie stellt sich vor als
die, der Gott vor aller Schöpfung Leben gab (8,22-26), die schon zugegen war,
als er die einzelnen Schöpfungswerke ins Dasein rief (8,27-30) und die zu
besitzen oder nicht zu besitzen Leben oder Tod bedeutet: „Wer mich findet,
findet das Leben und erlangt das Gefallen des Herrn. Doch wer mich verfehlt,
der schadet sich selbst; alle, die mich hassen, lieben den Tod“ (Spr 8,35-36).
Eine solche fast gottähnliche Darstellung der Weisheit lässt die vieldiskutierte
Frage hochkommen, ob es sich bei ihr nur um eine rein poetische
Personifizierung handelt oder ob der Verfasser an mehr denkt. Es gibt gute
Gründe, hier schon an mehr zu denken, an einen verborgenen Hinweis auf die
spätere Logoslehre, d.h. auf die Lehre von Jesus Christus als dem
menschgewordenen Wort Gottes. Denn wie schon im ersten Vortrag über die
göttliche Offenbarung ausgeführt, ist in jedem inspirierten Text der Heiligen
Schrift, der uns selbstverständlich immer gefiltert durch das zeitbedingte
Fassungsvermögen und die begrenzte Sprache eines menschlichen Autors
entgegenkommt, zugleich Größeres verborgen, ein „Mehrwert“ enthalten, der
sich erst nach und nach im Lauf der Geschichte enthüllt.
In der Tat lässt ein anderer Weisheitslehrer, Jesus Sirach, geraume Zeit später
– im 2. Jh. v. Chr. – im Anschluss an Spr 8,22ff. genau in diesem Sinne den
„Mehrwert“ des Textes ein Stück weit ans Licht treten. Er spricht in Kapitel 24
von einer Weisheit, die aus dem „Munde des Höchsten“ hervorging und auf
Gottes Befehl hin Wohnung in Israel nahm. Natürlich meint Jesus Sirach mit
jener personifizierten Weisheit aus dem Munde Gottes das Wort Gottes selbst,
seine Offenbarung an Israel.
Doch wenn es zum Wesen der Offenbarung gehört, dass ein Wort Gottes nie
ganz ausgelotet ist, dann dürfen wir Christen im Licht des Neuen Testamentes
6
noch einen weiteren Mehrwert in jenen Weisheitstexten erkennen: Die
Weisheit, die aus dem Munde des Höchsten hervorgeht und wie eine Person
auf die Menschen zukommt, um unter ihnen Wohnung zu nehmen, enthüllt sich
uns als Jesus Christus selbst, der Sohn Gottes, der Mensch gewordenen ist und
von dem es im Johannesevangelium heißt: „Im Anfang war das Wort und das
Wort war bei Gott und das Wort war Gott. … Und das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,1.14).
Wenden wir uns nun wieder der alttestamentlichen Weisheit zu. Von ihrem
Wesen her ist sie optimistisch. Weil Jahwe die Welt erschaffen hat und sie im
Rahmen der ihr eingestifteten Ordnung in Gang hält, ist die Welt grundsätzlich
gut. Zu dieser göttlichen Schöpfungsordnung gehört es, dass die Tat eines
Menschen ihre entsprechende Folge hat: Handelt ein Mensch gerecht und
fromm, darf er Segen in seinem Leben erwarten, handelt er ungerecht und
frevlerisch, wird Unheil über ihn kommen.
Dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang stellt eine Gesetzmäßigkeit dar, die schon
in gewisser Weise von den Propheten verkündet worden war. Doch während
die Propheten den Tun-Ergehen-Zusammenhang auf das ganze Volk bezogen
und mit ihm konkrete geschichtliche Ereignisse deuteten, machte die Weisheit
daraus eine immergültige Gesetzmäßigkeit für das Leben eines jeden einzelnen
Menschen, so dass man nun auch den Umkehrschluss daraus zog: Lebt ein
Mensch in Glück und Wohlstand, dann ist er in Gerechter und Frommer, den
Gott segnet, erleidet er Unglück, Krankheit und frühen Tod, dann ist er ein
Sünder und Frevler, den Gott bestraft.
Es konnte nicht ausbleiben, dass diese weisheitliche Vergeltungslehre bald in
große Schwierigkeiten führte, ja zum regelrechten Gottesproblem wurde.
Schon der Prophet Jeremia richtete aus eigener schmerzlicher Erfahrung die
Frage an Gott: „Warum haben die Frevler Glück in ihrem Leben?“ (Jer 12,1),
während er selbst nur Verfolgung, Spott und Leid ertragen musste.
Im Bereich der Weisheitsliteratur war es sodann das Buch Ijob, das sich
ausschließlich dieser Problematik des Vergeltungsdenkens widmete und in
7
immer neuen Ansätzen um die Beantwortung der Frage rang: Warum leidet der
Gerechte und siecht in Krankheit und Not dahin, während der Frevler in Glück
und Wohlstand sein Leben in vollen Zügen geniest, wenn doch Gott gerecht ist,
wie der Glaube bisher sagte, und die Frommen segnet, die Gottlosen aber
bestraft? Die Antworten, die die Weisheitslehrer im Buch Ijob auf diese Frage
fanden und die Art und Weise, wie sie das verbreitete Vergeltungsdenken unter
jeweils verändernden Zeitumständen nach und nach überwanden, wird ein
eigenes Thema im nächsten Vortrag sein.
B. Die Auslegung von Weish 1,16-2,24: Der Gläubige in einer
säkularisierten Welt
Wir wollen nun nach dem kurzen Überblick über die alttestamentliche
Weisheitsliteratur allgemein uns mit der Auslegung eines konkreten Textes
befassen, um zu erkennen, wie aktuell die Themen der alttestamentlichen
Weisheit auch für uns heute noch sind. Wir betrachten Weish 1,16-2,24.
I. Das Buch der Weisheit – Entstehung, historischer Kontext, Intention
Zunächst ein kurzer Blick auf die Entstehung, den historischen Kontext und die
Intention des Weisheitsbuches. Es stellt die jüngste Schrift des Alten
Testamentes dar, entstanden in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor
Christus in der ägyptischen Hauptstadt Alexandria und ist in griechischer
Sprache abgefasst. Die katholische wie auch die orthodoxe Kirche haben das
Buch der Weisheit in ihren biblischen Kanon aufgenommen, die Reformatoren
hingegen als eine apokryphe Schrift aus ihrem Kanon ausgeschlossen.
Um das Buch der Weisheit in seiner Intention richtig zu verstehen, müssen wir
uns seinen Entstehungsort genauer ansehen. Die im westlichen Nildelta von
Alexander dem Großen 332 v. Chr. gegründete Großstadt Alexandria zählte in
ihrer Blütezeit über eine Million Einwohner – eine gigantische Größe für die
damalige Zeit. Dementsprechend bot sie ein multikulturelles und
multiethnisches Gepräge. Es lebten dort Griechen, Makedonier, Ägypter, Syrer,
8
Römer und Juden. So kann man Alexandria, in dem die verschiedensten
Kulturen und Religionen auf einander trafen, als einen blühenden Mittelpunkt
von Kunst, Literatur, Philosophie, Wissenschaft und Wirtschaft in der
hellenistischen Welt bezeichnen.
Die Juden kamen im 3. Jh. v. Chr. vor allem als Militärkolonisten der
Ptolemäer1 nach Alexandria. Ihnen folgten nach und nach auch Zivilisten aus
Judäa, vor allem Kaufleute und Handwerker, die sich anlocken ließen von den
günstigen wirtschaftlichen Bedingungen der Großstadt am Nil. Sie bewohnten
zwei von fünf Stadtvierteln mit zahlreichen Synagogen und Lehrhäusern. So
konnte es nicht ausbleiben, dass diese bemerkenswert starke jüdische
Bevölkerungsgruppe in Alexandria mehr und mehr gesellschaftlich-politische
Bedeutung erlangte und dementsprechend auch die offizielle Sprache des
Landes, nämlich Griechisch, erlernte. Damit aber bekamen die Juden Zugang
zu allen Kulturgütern des Hellenismus, insbesondere zur griechischen Literatur
und Philosophie. Nach einigen Generationen schwand sogar unter ihnen die
hebräische Muttersprache mehr und mehr, so dass man ab 250 v. Chr. die
religiösen Schriften des Judentums, das Alte Testament, ins Griechische
übersetzen musste. So entstand die Septuaginta.
Zunächst faszinierte die hellenistische Kultur die Juden, und viele sogen sie in
vollen Zügen in sich auf. Denn an ihr teilzuhaben bedeutete, Eingang in die
gehobenen Kreise der Gesellschaft zu erlangen, bedeutete modern,
fortschrittlich und angesehen zu sein, bedeutete Aufstieg und Macht.
Doch zugleich barg diese Annäherung an die griechische Kultur auch eine
große Gefahr in sich. Denn die zahlreichen philosophischen Lehren, die auf die
Juden einstürmten, waren nicht nur auf einem anderen religiösen, meist
polytheistischen Hintergrund entstanden, sondern vertraten nicht selten auch
1 Die Ptolemäer – eine makedonisch-griechische Dynastie, die nach dem Tod Alexanders des Großen in Ägypten die Herrschaft übernahm und dort regierte bis zur Eroberung durch die Römer 30 v. Chr.
9
einen krassen Atheismus. So schreibt z. B. der Komödiendichter Alexis im 4./3.
Jh. v. Chr.2:
„Wir wollen uns freuen, solange es möglich ist, das Leben zu nähren. […]
Das Geschick wird dich erkalten lassen zur festgesetzten Zeit.
Du wirst nur das haben, was du isst und trinkst.
Alles, was übrig bleibt, ist Staub – (ob) Perikles3, Kodros4 (oder) Kimon5“.
Wie sollte man also mit dem Einbruch einer solchen rein diesseitigen,
säkularen, ja teilweise sogar atheistisch-nihilistischen Kultur in die jüdische
Denk- und Lebenswelt fertig werden? Sollte man sich ihrer Faszination
verschließen und sich isolieren? Oder konnte man es wagen, sich auf sie
einzulassen? Ja musste man sich nicht auf sie einlassen, wenn man irgendwie
in dieser fremden Welt überleben und nicht den Anschluss verlieren wollte?
Wenn man mitreden und mitgestalten wollte? Doch das Sicheinlassen auf die
Moderne barg auch die Gefahr einer völligen Assimilation in sich. Was also ist
zu tun?
Mit diesen schwerwiegenden Fragen hatten sich die Verantwortlichen für den
jüdischen Glauben, die schriftgelehrten Weisen, in Alexandria
auseinanderzusetzen. Das Buch der Weisheit stellt in diesem Kontext ein
Versuch dar, der jüdischen Glaubensverkündigung zwar einerseits eine
zeitgemäße, dem Hellenismus gegenüber offene Form zu geben, ohne jedoch
andererseits die Überlieferungen des eigenen Glaubens an den einen Gott
Jahwe zu verwässern oder gar aufzugeben. So wird dieses jüngste Buch des
Alten Testaments, obgleich es in der modernen Sprache des Hellenismus, d. h.
in Griechisch, abgefasst ist, zu einer eindringlichen Warnung an all diejenigen,
die in Gefahr standen, ihren Glauben an Jahwe aufzugeben und sich dem
säkularen Denken ihrer Zeit anzupassen oder die dies gar schon getan hatten.
Ihnen will das Buch zeigen, was bei ihrer Entscheidung gegen den Gott der
Offenbarung auf dem Spiel steht.
2 Überliefert bei Athenaios von Naukratis, 2.-3. Jh. n. Chr. Zitiert nach: Armin Schmitt, Skepsis, Bedrängnis und Hoffnung in Weish 1,16-2,24, Bibel und Kirche 52 (1997) 166-
173.168. 3 Perikles war ein Politiker und Feldherr Athens im 5. Jh. v. Chr., Nachfolger Kimons. 4 Kodros war der letzte legendäre König von Attika. 5 Kimon war ein berühmter Politiker und Feldherr Athens im 6./5. Jh. v. Chr.
10
Die Verse Weish 1,16-2,24, die wir nun des Näheren betrachten wollen, sind
im Stil einer Rede von Menschen verfasst, die sich selbst ausdrücklich als
Gottlose, als Atheisten, bezeichnen. Sie geben in geradezu frivolen
Redewendungen ihre atheistische Lebensauffassung kund, um ihr dann in
spöttischem, ja verächtlichem Ton den gottesfürchtigen Lebenswandel des
Gerechten bzw. Gläubigen gegenüberzustellen. Diese Rede der Gottlosen wird
gerahmt von einer Stellungnahme des Autors des Weisheitsbuches, in der der
Weg der Gottlosen als ein schmählicher Irrtum beurteilt wird, der Weg der
Gläubigen hingegen als erfolgreich und zukunftsweisend.
II. Die Auslegung von Weish 1,16-2,24
Weish 1,16
„Die Gottlosen riefen ihn (den Tod) mit Taten und Worten herbei,
sie sehnten sich nach ihm wie nach einem Freund.
Sie schlossen einen Bund mit ihm,
denn sie sind würdig, ein Anteil von jenem zu sein.“
Der Text beginnt mit der Schilderung einer eigenartigen Todessehnsucht der
Gottlosen? Was soll diese Todessehnsucht? Sind die Gottlosen allesamt
depressive, selbstmordgefährdete, psychisch labile Menschen? Durchaus nicht,
das werden die Verse 2,6-12 noch erkennen lassen. Vielmehr entlarvt der
Verfasser mit diesen Worten die Daseinshaltung der Gottlosen als eine
Lebenseinstellung, die unweigerlich in den Tod führt, auch wenn die
Betroffenen selbst dies so nicht wahrnehmen.
So meint der Satz: „Sie riefen den Tod mit ihren Taten und Worten herbei“ so
viel wie: sie betreiben ihre eigene Selbstzerstörung. Oder der Satz: „Sie
sehnen sich nach ihm wie nach einem Freund“ meint: sie geben sich
leidenschaftlich ihrem verkehrten Tun hin, ohne zu merken, dass es sie in die
Sackgasse führt. Oder der Satz: „Sie schlossen mit ihm einen Bund“ bedeutet:
sie haben sich Ihrem verkehrten Treiben und damit dem Tod unwiderruflich
übereignet. Sie wollen keine Umkehr, kein Zurück mehr.
11
Was der Verfasser mit dieser Beurteilung der Lebenseinstellung der Gottlosen
meint, begreifen wir schnell, wenn wir uns einmal einen der Sucht verfallenen
Menschen vor Augen halten: Er betreibt im Letzten seine eigene
Selbstzerstörung und dies oftmals mit einer leidenschaftlichen Anhänglichkeit
und Bindung an den Gegenstand seiner Sucht, wie z. B. die Droge.
Dass dabei der Verfasser die Begriffe „Freundschaft“ und „Bund“ verwendet,
die sonst im Alten Testament die unwiderrufliche Bindung Gottes an sein Volk,
eine Bindung in Liebe, umschreiben, ist beabsichtigt: Auf diese Weise tritt die
Perversion der Haltung der Gottlosen umso deutlicher zutage: Denn während
dem Gläubigen als Freund und Bundespartner des ewigen Gottes die Würde
der Unvergänglichkeit verheißen ist (2,23), besteht die „Würde“ des Gottlosen,
der quasi mit den vergänglichen Gütern dieser Welt einen Bund geschlossen
hat, darin, an deren Vergänglichkeit und damit am Tod seinen Anteil zu haben.
Nach dieser Stellungnahme des Verfassers aus der Sicht des Glaubens
kommen die Gottlosen selbst zu Wort:
Weish 2,1-5
„2,1 Sie (die Gottlosen) sprachen zueinander in verkehrten Gedanken:
Kurz und traurig ist unser Leben,
für das Ende des Menschen gibt es keine Arznei,
und es ist kein Retter aus dem Hades bekannt.
2 Denn durch Zufall / grob sind wir gebildet
und hernach werden wir sein, als wären wir nie gewesen.
Denn (nur) Rauch ist der Atem in unserer Nase,
und der Gedanke (bloß) ein Funke des Herzschlages.
3 Wenn er verlöscht, vergeht zu Asche der Leib,
und der Geist verweht wie dünne Luft.
4 Und unser Name wird vergessen werden mit der Zeit,
und niemand wird sich unserer Werke erinnern.
Und unser Leben geht vorüber wie die Spur einer Wolke,
und es wird zerstreut wie Nebel,
12
der von den Strahlen der Sonne durchbrochen
und von ihrer Wärme niedergedrückt wird.
5 Denn unser Leben ist nur der Vorübergang eines Schattens,
und es gibt keine Rückkehr an unserem Ende,
denn das ist versiegelt und keiner kann es wenden6“.
Wer hätte gedacht, dass eine solche Rede in den Heiligen Schriften der Bibel zu
finden ist? Diese Verse offenbaren die erschütternde Lebenseinstellung eines
Menschen, der den Glauben an Gott und ein Leben nach dem Tod verloren hat:
ein uralter Text und doch ganz modern. Selbst Berthold Brecht, ein Dichter des
20. Jh. (1898-1956), kann diesen Text nicht mehr toppen, wenn er in einem
seiner Gedichte schreibt:
„Lasst euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen;
Ihr könnt schon Nachtwind spüren:
Es kommt kein Morgen mehr. …
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.“7
Ein Mensch, der nicht an Gott glaubt, kann sein Leben – streng genommen –
nur materialistisch sehen: Es ist dann wie alle anderen Phänomene der Welt
eine rein diesseitige Größe, die nach den Gesetzmäßigkeiten der Materie
funktioniert: von kurzer Dauer – wird es am Ende von Zerfall und Tod
verschlungen. Rückblickend entwertet der Tod das Leben vollständig: durch
Zufall entstanden, ist es nur kurz und traurig, dann verlöscht es, verweht,
vergeht wie Rauch, Schatten, Nebel – und hernach wird der Mensch sein, als
wäre er nie gewesen.
Bei dieser Schilderung des Lebens geben sich die Gottlosen in Weish 2,1-5
einerseits erschreckend illusionslos-realistisch, andererseits liegt ein Hauch von
Schwermut über ihrer Betonung von Flüchtigkeit und unwiderruflicher
6 Die Einheitsübersetzung: „ … und keiner kommt zurück.“ 7 In: Berthold Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt 1967.
13
Vergänglichkeit des Lebens, als ahnten sie, was sie mit der Preisgabe ihres
Glaubens an Gott, den Schöpfer und Herrn des Lebens, verloren haben. Dieses
insgeheime „Wissen“ um den Verlust wird dadurch deutlich, dass die Gottlosen
die Aussichtslosigkeit ihres Lebens exakt als Kontrastprogramm zu den
Verheißungen Jahwes beschreiben:
1. Sie sagen in V. 1b: „Für das Ende des Menschen gibt es keine Arznei.“
Dieser Vers erinnert an Ex 15,26, wo Gott seinem Volk Israel nach der Rettung
aus der Gewalt der Ägypter am Schilfmeer versichert: „Ich, Jahwe, bin dein
Arzt!“ Doch der Gottlose verneint diese Zusicherung Gottes in Weish 2,1b
schlichtweg.
2. In V. 1c spricht der Gottlose: „Es ist kein Retter aus dem Hades bekannt.“
Auch diese Aussage steht in krassem Widerspruch zu der in jener Zeit im
Judentum schon längst gewachsenen Hoffnung auf die Auferstehung der Toten.
Sie wird schon im 3. Jh. v. Chr. im Ijobbuch klar artikuliert: „Ich weiß, dass
mein Erlöser lebt und dass er sich als letzter über dem Staub erhebt. Und
wenn meine Haut (Leben) dahin ist – sie haben diese so zerfetzt – und ohne
mein Fleisch werde ich Gott schauen8“ (Ijob 19,25f.). Und schließlich wird die
Auferstehungshoffnung im 2. Jh. v. Chr. in den Makkabäerbüchern voll
entfaltet. Dort halten die zu Tode gemarterten Brüder und ihre Mutter dem
Tyrannen Antiochus IV. entgegen: „Gott hat uns die Hoffnung gegeben, dass
er uns wieder auferweckt. Darauf warten wir gern, wenn wir jetzt von
Menschenhand sterben“ (2 Makk 7,14). Doch der Gottlose in Weish 2,1c
behauptet schlichtweg das Gegenteil.
3. In V. 2a sprechen die Gottlosen: „Durch Zufall sind wir gebildet.“
Diese Auffassung von der Entstehung des Menschen widerspricht diametral der
alttestamentlichen Tradition, nach der Gott den Menschen nach einem klaren
Willensentschluss erschaffen hat – und dies nicht als ein zufälliges Etwas,
sondern als sein Ebenbild und als Herrscher über die ganze Schöpfung: „Lasset
uns den Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen
8 Übersetzung: Theresia Mende, Durch Leiden zur Vollendung. Die Elihureden im Buch Ijob (Ijob 32-37), Trierer Theologische Studien Bd. 49, Trier 1990, 251.
14
über die Fische des Meeres …“ (Gen 1,26; vgl. 1,28). Der Gottlose in Weish 2a
hingegen leugnet offen jene Tradition.
4. In V. 2c spricht der Gottlose: „Nur Rauch – hebräisch „ruach“ – ist der Atem
in unserer Nase.“
Diese Aussage klingt wie ein Hohn auf den zweiten Schöpfungsbericht, wo Gott
nach Gen 2,7 dem Menschen selbst seinen Lebensatem einhaucht und ihn
damit nicht nur über alle übrigen Geschöpfe erhebt, sondern auch zu seinem
geliebten Gegenüber macht.
5. In V. 4ab sagen die Gottlosen: „Unser Name wird vergessen werden mit der
Zeit und niemand wird sich unserer Werke erinnern.“
Mit dieser Aussage widersprechen die Gottlosen einer breiten biblischen
Tradition, wie sie insbesondere im Buch Jesaja überliefert ist. Dort überbringt
z. B. ein mit Namen unbekannter Prophet in nachexilischer Zeit, den die
Forschung Deuterojesaja nennt, seinem verzweifelten Volk das tröstliche
Gotteswort: „Ich habe dich geschaffen, du bist mein Knecht, Israel; ich
vergesse dich nicht“ (Jes 44,21b). Oder in Jes 49,13-16 tröstet derselbe
Prophet Israel, das klagt: „Jahwe hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen“
(V.14), mit dem wunderbaren Gotteswort: „Kann denn eine Frau ihr Kindlein
vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn
vergessen würde, ich vergesse dich nicht. Sieh her, ich habe dich
eingezeichnet in meine Hände!“ (V. 15-16).
6. In V. 3a sagt der Gottlose: „Wenn er (der Lebensatem) verlöscht, vergeht
zu Asche der Leib.“.
Dieser Satz erinnert zwar an das Gerichtsurteil Gottes über den gefallenen
Menschen in Gen 3,19: „Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren!“
Doch übergeht der Gottlose das Wissen der jüdischen Glaubenstradition um die
Verheißung, dass Gott einst das Gerichtsurteil wieder aufheben und den
Menschen aus dem Staub, d. h. dem Todesschicksal, befreien wird: „Deine
Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer im Staub liegt, wird
wieder erwachen und jubeln. … Die Erde gibt die Toten heraus“, verkündet ein
nachexilischer Prophet in Jes 26,19.
15
Dieses radikale Kontrastprogramm der Gottlosen zum Glauben ihrer Väter ist
erschütternd. Doch nicht genug, dass sie sich damit selbst jede Zukunft
verweigern, sie haben auch, was die logische Folge eines jeden Atheismus ist,
das Empfinden für die Würde des Menschen verloren: Durch Zufall ist der
Mensch geworden – wörtlich im griechischen Text: „durch grobe Einwirkung
der Natur“ –, d. h. der Mensch ist nicht mehr als ein willkürlich zustande
gekommener Zellhaufen (V. 2). Er kommt und geht, ohne Spuren zu
hinterlassen, ein Häufchen Asche bleibt zurück und das war‘s9 – eine zynische
Missachtung jedes menschlichen Arbeitens und Mühens um bleibende Werte!
Wenn wir an dieser Stelle innehalten und bedenken, dass Sprache und Inhalt
dieser Texte ja nicht neu sind, sondern weit verbreitete philosophische Lehren
jener Zeit aufgreifen; und wenn wir des weiteren bedenken, dass ähnliche
Gedanken durch alle Jahrhunderte hindurch bis in unsere Gegenwart hinein
geäußert wurden und werden, dann verstehen wir, wie stark die Juden in
Alexandria mitten in einem säkularen Kulturraum in Gefahr standen, ihren
Glauben als nicht mehr zeitgemäß zugunsten philosophischer Modeströmungen
über Bord zu werfen. Dementsprechend reden die Gottlosen weiter in Weish
2,6-11:
Weish 2,6-11
„2,6 Wohlan denn! Lasst uns die Güter genießen
und die Schöpfung auskosten wie in der Jugend!
7 Wir wollen uns füllen mit erlesenem Wein und Salböl,
und keine Frühlingsblume soll uns entgehen!
8 Wir wollen uns bekränzen mit Rosen, ehe sie verwelken!
9 Keine Wiese sei von unserer Ausgelassenheit verschont!
Überall wollen wir Zeichen der Fröhlichkeit zurücklassen,
denn dies ist unser Anteil und dies unser Erbe.
10 Wir wollen den armen Gerechten unterdrücken,
nicht die Witwe schonen,
9 Mit diesen Worten auf den Lippen starb der Begründer des atheistischen Existentialismus in Frankreich, Jean-Paul Sartre.
16
noch Ehrfurcht zeigen vor dem grauen Haar des Alten!
11 Vielmehr sei unsere Stärke das Gesetz der Gerechtigkeit,
denn das Schwache erweist sich als nutzlos.“
Ist das Leben tatsächlich so, wie es die Gottlosen in V. 1-5 beschreiben, dann
gibt es nur eine logische Schlussfolgerung: Freu dich des Lebens, so lange du
es noch hast! „Pflücke die Rose, ehe sie verblüht“. Verblüffend ist die
Ähnlichkeit des trivialen Volksliedes von Martin Usteri aus dem 18. Jh. mit
unserem Text aus dem Weisheitsbuch 50 v. Chr.10 Aber dies verwundert nicht:
Ist der Atheismus kein speziell neuzeitliches und auch kein antikes, sondern
ein Menschheitsphänomen, das in allen Generationen vorkommt, dann auch
die daraus resultierende materialistisch-hedonistische Lebenseinstellung:
„Lasst uns das Leben genießen und alles herausholen, was es hergibt!“ Diese
Lebenseinstellung ist es, die die Gottlosen in den Versen 6-11 breit entfalten.
An erster Stelle steht die Aufforderung zum Lebensgenuss, zum Auskosten von
allem, was das Leben an Möglichkeiten bietet. Es ist klar, wenn das Leben so
ausgehöhlt ist, wie in V. 1-5 beschrieben: allein von Zufall und Tod bestimmt,
dann klammert sich der Mensch umso mehr an die Dinge dieser Welt und sucht
hier nach Befriedigung und Sicherheit – und er tut dies mit einer
größtmöglichen Verbissenheit, da er ja nicht weiß, wie lange seine
Lebensspanne noch dauert: „wie in der Jugend“, d. h. mit Leidenschaft und
bedenkenloser Gier, verfolgt er das Ziel eines hemmungslosen
Lebensgenusses: „Wir wollen uns füllen mit erlesenem Wein!“ (V. 7a).
Ergänzt wird diese Aussage mit dem Hinweis auf ein sexuelles Sichausleben
des Gottlosen: Denn die Begriffe „Blume“, „Rose“ und „Wiese“ sind in der
10
Schon im 7. Jh. v. Chr. wird die hedonistisch-materialistische Lebenseinstellung in kaum zu
überbietender Schärfe artikuliert, so z. B. in der Grabinschrift des assyrischen Königs Assurbanipal – griechisch: Sardanapal –, der von 669 bis 631/627 v. Chr. lebte: „Wohl wissend, dass du (nur) sterblich bist, gehe deinen Wünschen nach, freue dich an den fröhlichen Gelagen. Wenn du einmal tot bist, gibt es keinen Vorteil mehr. Denn auch ich bin Staub, obwohl ich als König über das große Ninive geherrscht habe. Ich habe nur das, was ich gegessen, was ich selbstbewusst ausgeführt und was ich mit
Leidenschaft an Vergnügungen ausgekostet habe. Der Reichtum und das Glück sind nun gänzlich zerbrochen.“ (Überliefert von Athenaios von Naukratis (2.-3. Jh. n. Chr.); zitiert in: Armin Schmitt, Skepsis, 168f.)
17
damaligen Zeit geläufige Umschreibungen für das Weibliche: „Keine
Frühlingsblume – d. h. keine Frau – soll uns entgehen“ und „keine Wiese – d.
h. keine Frau – sei von unserer Ausgelassenheit – d. h. unserer sexuellen Gier
– verschont“ (V. 7-9). „Wir wollen uns mit Rosen – d. h. mit Frauen –
bekränzen, ehe sie verwelken!“ (V. 8).
Begründet wird dieser hemmungslose Lebensgenuss mit dem Hinweis, dass der
Mensch ein Recht darauf habe, dass er „Anteil und Erbe“ des Menschen sei.
„Anteil und Erbe“ sind ursprünglich Begriffe aus der Erwählungstheologie
Israels: Gott schenkt seinem Volk z. B. das Land Kanaan als Erbe; jeder
Israelit hat Anteil an diesem gottgeschenkten Land und seinen Erträgen.
„Anteil und Erbe“ sind also Gaben, über die der Mensch keine
Verfügungsgewalt besitzt. Die Gottlosen, die die Güter der Erde als ihr „Anteil
und Erbe“ betrachten und hemmungslos an sich reißen, stellen damit die
„Gottesordnung“, d.h. die ethischen Maßstäbe dieser Welt auf den Kopf und
machen sich selbst zu Gott. Damit aber werden sie unweigerlich zu
Unmenschen gegenüber ihren Mitmenschen.
Die Folge einer solch materialistischen Lebenseinstellung ist eine rücksichtslose
Selbstbehauptung, in der allein das Recht des Stärkeren gilt. Ehrfurcht und
Achtung vor der Würde des anderen spielen keine Rolle mehr. Schamlos
werden Unterdrückung, Missachtung und Ausbeutung zur
Selbstverständlichkeit erhoben, die „man“ tut, die „jeder“ tut. Das Recht des
Stärkeren ist das beherrschende Gesetz in der Gesellschaft. Allem Schwachen,
Unproduktiven hingegen wird das Recht zu leben abgesprochen.
Erinnert dies nicht bis in die Sprache hinein an eine sehr dunkle Phase unserer
deutschen Geschichte? Und heute? Handelt unsere Gesellschaft anders, wenn
sie unzähligen wehrlosen Menschen schon im Mutterleib das Recht auf Leben
verweigert?
Wo Gott aus dem Leben verdrängt wird, wo demzufolge der Mensch sich selbst
mit seinen hemmungslosen Wünschen zum Gesetz macht, dort entsteht
unwillkürlich ein Gegenprogramm zur ethischen Weltordnung Gottes. Das aber
18
hat zur Folge, dass derjenige, der sich diesem atheistischen Gegenprogramm
widersetzt, der am Glauben an Gott festhält und nach der ethischen
Weltordnung Gottes zu leben versucht, automatisch zum Feind wird. Und
dieser Feind wird bestenfalls belächelt, im Normalfall aber angegriffen und
bekämpft. Darauf weisen nun die folgenden Verse 12-16 hin:
Weish 2,12-16
„2,12 Wir wollen dem Gerechten auflauern, denn er ist uns unbequem.
Er hält uns unsere Werke vor
und tadelt uns wegen unserer Gesetzesübertretungen
und klagt uns wegen unserer Übertretungen der Zucht an.
13 Er rühmt sich, Gotteserkenntnis zu haben,
und nennt sich selbst Kind / Knecht Gottes.
14 Er hat unsere Gedanken aufgedeckt,
sein Anblick ist uns unerträglich,
15 weil sein Leben sich von den anderen unterscheidet
und seine Wege so fremdartig sind.
16 Für Heuchler hält er uns
und hält sich von unseren Wegen fern wie von Unrat.
Er preist das Ende des Gerechten
und rühmt sich damit, Gott zum Vater zu haben.“
Die Verse beschreiben, wie die Gottlosen sich mehr und mehr gegen den
Gerechten zusammenrotten und sich hineinsteigern in das Feindbild, das sie
sich von ihm gemacht haben. Er ist ihnen lästig, denn er ist ihnen ein
lebendiger Vorwurf. Ja, er ist ihr schlechtes Gewissen, solange er in ihrer Mitte
lebt. Denn er ist ein Mensch, der seine geschöpfliche Begrenzung anerkennt –
was sie nicht tun –, der infolgedessen akzeptiert, dass nicht er, sondern Gott
Gott ist – während sie sich selbst zu Gott machen – und der dementsprechend
nach den Geboten Gottes lebt – während sie sich selber Gesetz sind und ihr
Ethos der hemmungslose Lebensgenuss darstellt (V. 12).
Das heißt aber: Der Gerechte oder Gläubige wird dem Gottlosen gefährlich.
Denn da er sich auf eine höhere Instanz als sich selbst beruft, besitzt er einen
19
anderen Maßstab, der Profitgier, Macht und ungeordnete Suche nach
Lebensgenuss, alles Unrecht und alle Gewalttat – also all das, was die
Gottlosen so selbstverständlich tun – entlarvt und fundamental in Frage stellt.
Der Gläubige besitzt, würden wir heute sagen, von Gott her die Gabe der
Unterscheidung der Geister, womit er das üble Treiben der Gottlosen und
dessen Folgen durchschaut und verurteilt: „Er hat unsere Gedanken
aufgedeckt“, stellen die Gottlosen entsprechend fest in V. 14a.
Damit aber kann der Gläubige, was seine Person betrifft, nur Hass und
Verfolgung ernten: „sein Anblick ist uns unerträglich“ (V. 14b), bringt er doch
das ideologische Fundament der Gottlosen gewaltig ins Wanken. So spitzt sich
in den folgenden Versen 17-20 die Verschwörung der Gottlosen gegen den
Gerechten dramatisch zu.
Weish 2,17-20
„2,17 Wir wollen sehen, ob seine Worte wahr sind,
und prüfen, was bei seinem Ende geschieht.
18 Denn wenn der Gerechte Sohn Gottes ist, wird er ihm helfen
und ihn aus der Hand seiner Feinde befreien.
19 Mit Gewalt und Folter wollen wir ihn versuchen,
um seine Milde kennenzulernen
und seine Langmut auf die Probe zu stellen.
20 Zu schimpflichem Tod wollen wir ihn verurteilen!
Denn nach seinen Worten wird es ja für ihn eine Heimsuchung geben (d.h.
wird Gott ihm helfen).
Zunächst planen die Gottlosen, den Gerechten auf die Probe zu stellen (V. 17).
Mit Gewalt und Folter wollen sie ihn in die Enge treiben (V. 19a) und schließlich
zum Tod verurteilen (V. 20a), um zu sehen, ob er standhaft bleibt und Gott die
Treue hält. Sarkastisch geben die Gottlosen dabei zu erkennen, dass ihr
Todesstoß nicht eigentlich dem Menschen gilt, sondern Gott, als dessen
lebendiger Zeuge und Anwalt der Fromme unter ihnen lebt.
20
Die Verse 17-18 erinnern stark bis in die Formulierung hinein an die Passion
Jesu nach Mt 27,43. Dort verhöhnen die Pharisäer, Schriftgelehrten und
Ältesten Jesus am Kreuz mit den Worten: „Er hat auf Gott vertraut, der soll ihn
jetzt retten, wenn er an ihm Gefallen hat; hat er doch gesagt: ich bin Gottes
Sohn“. Allerdings glauben die Spötter Jesu unter dem Kreuz doch wenigstens
noch an Gott, wenn auch an ein selbstgezimmertes Zerrbild von Gott; die
Gottlosen in Weish 2,17-18 hingegen halten Gott für eine bloße Einbildung.
Das aber entlarvt ihre Rede als reinsten Sarkasmus: „Wenn der Gerechte
Gottes Sohn ist, wird er ihm helfen und ihn aus unserer Hand befreien!“ (V.
18; vgl. V. 20).
Die Verse Weish 2,17-20 machen damit deutlich, dass es niemals eine
friedliche Koexistenz zwischen gottlosen und gläubigen Menschen geben wird,
auch heute nicht. Die hehre Rede von religiöser Neutralität oder Toleranz, wie
wir sie in der Neuzeit kennen, ist Illusion. Solange der Mensch als Ebenbild
Gottes und auf Gott hin geschaffen ist, gibt es in der Gottesfrage keine
Neutralität von Seiten des Menschen. Darin liegt die tiefere Bedeutung der
Aussage Jesu: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“. Vor dem Angesicht
Gottes muss der Mensch sich entscheiden – für oder gegen ihn. Wenn er sich
gegen ihn entscheidet, kann er niemals wirklich neutral oder tolerant sein. Er
muss dann alles, was ihn an Gott erinnert, aus seinem Lebenshorizont
ausmerzen – auch den gläubigen Menschen –, weil dies alles eine ständige
Erinnerung an seine falsche Entscheidung wäre.
Ist das nun das Los eines Gläubigen in einer säkularisierten Welt?
Verdächtigung, Verhöhnung, Verachtung, Verfolgung, Ausstoßung, Tötung?
Kann ein Mensch das denn ertragen? Ist es dann nicht besser, „halt“
nachzugeben und still und unauffällig mitzumarschieren? Man muss ja nicht
laut mitschreien, man kann ja im Herzen seinen Glauben und seine Ideale
bewahren – oder? Sich gegen die alles beherrschende Zeitströmung
aufzulehnen – das hat doch keinen Sinn, daran wird man zerbrechen – oder?
Ja, so könnte der um den Glauben bemühte Mensch zuweilen denken – und
viele verlässt in der Tat auch der Mut, zu ihren Idealen, ihrem Glauben, ihrem
21
Gott zu stehen, ist doch der Druck der allgemeinen Meinung, des säkularen
Denkens, das alle Lebensbereiche beherrscht, einfach übermächtig. Der
Verfasser des Weisheitsbuches, der selbst in der säkularisierten Weltstadt
Alexandria lebt, weiß um diese Verfassung des Gläubigen, um seine
Mutlosigkeit, seine Ängste und Leiden. Er weiß um die Gefahr, in der er steht.
Deshalb ermutigt er ihn mit den folgenden Versen 21-24. In diesen Versen
nimmt er einerseits klar Stellung zu dem Verhalten der Gottlosen, andererseits
weitet er den Blick des Frommen auf die wunderbaren Verheißungen Gottes
hin, die ihn wieder aufrichten und ihm Kraft zum Durchhalten geben können.
Weish 2,21-24
„2,21 Das also waren ihre Gedanken, doch sie täuschen sich!
Denn ihre Bosheit hatte sie geblendet.
22 Sie verstanden von Gottes Geheimnissen nichts.
Auch hofften sie nicht auf Lohn für Frömmigkeit.
Und so konnten sie auch nicht die Auszeichnung für untadelige Seelen
beurteilen.
23 Denn Gott hat den Menschen für die Unvergänglichkeit geschaffen
und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht.
24 Aber durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt;
und ihn erfahren die, die zum Anteil von jenem gehören.“
Mit V. 21 greift der Verfasser auf V. 1 zurück und bezeichnet die dort
eröffneten „verkehrten Gedanken“ der Gottlosen ohne Umschweife als blanke
Täuschung, als fundamentalen Irrtum, wie ihn nur eine totale Verblendung
hervorbringen kann. Dabei macht der Autor deutlich, dass die Verblendung der
Gottlosen nicht ein irgendwie schicksalhaftes Nichtwissen ist, sondern die Folge
einer bewussten Entscheidung gegen Gott: ihre Bosheit hatte sie geblendet (V.
21).
In V. 22 stellt der Autor fest, dass Menschen, die sich selbst verabsolutieren
und den Glauben an Gott über Bord werfen, nicht mehr in der Lage sind, „die
Geheimnisse Gottes“ zu verstehen. Das heißt, dass solche Menschen nicht
mehr begreifen können, dass es hinter den sichtbaren Abläufen dieser Welt
22
einen göttlichen Heilsplan für Schöpfung und Geschichte und d. h. auch für
jeden einzelnen Menschen gibt, auch wenn dieser nicht immer gleich und
offensichtlich zutage tritt. Sie haben ihre Weltsicht verkürzt auf das Machbare,
das Nützliche, den Fortschritt, auf all das hin, was sie sich selbst ohne
Rücksicht auf die Erlaubtheit der Mittel erarbeiten, erkämpfen und
zusammenraffen können. Folglich können sie auch nicht mehr realisieren, dass
es noch eine Hoffnung gibt auf Lohn für die Treue im Glauben an Gott. Sie
erwarten über das irdische Leben hinaus nichts, weil sie nicht wissen, von wem
sie etwas erwarten sollen. Die Hoffnung des gläubigen Menschen auf Rettung
und Rechtfertigung bei Gott ist ihnen fremd, weil ihnen der Schlüssel fehlt, der
diese Hoffnung aufschließen könnte, nämlich die Offenheit auf Gott hin.
Nach dieser Beurteilung der Gottlosen und ihrer Verblendung geht der Autor in
V. 23 dazu über, den gläubig Gebliebenen den Grund für ihre Hoffnung und
den Lohn für ihre Treue vor Augen zu führen. Es ist die Bestimmung des
Menschen zur Unsterblichkeit.
Mit dem Glauben an die Unsterblichkeit des Menschen widerspricht der Autor
ausdrücklich der Auffassung der Gottlosen zu Anfang des Kapitels, dass der
Tod die alles beherrschende Macht in der Schöpfung sei. Der Mensch, so sagt
er vielmehr, ist kein Zufallsprodukt der Natur, sondern ein von Gott
ausdrücklich gewolltes, liebevoll geformtes und mit göttlichem Atem begabtes
Geschöpf, ein Ebenbild seines Schöpfers, das dazu bestimmt ist, an dessen
Lebensfülle Anteil zu haben. Denn wie könnte Gott, der Ewige und Lebendige,
der Herr über alles Leben und die Lebensfülle selbst ist, sein Ebenbild, den
Menschen, für immer im Tod versinken lassen? „Gott ist doch nicht ein Gott
von Toten, sondern ein Gott von Lebenden“, hält Jesus den Juden entgegen,
die die Auferstehung leugnen (Mt 22,32).
Doch diese ewige Bestimmung des Menschen ist verdunkelt durch die Sünde:
„Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt“ (V. 24a). Was ist mit
dieser Aussage gemeint?
23
Zunächst einmal: Mit dem Tod ist hier natürlich nicht das biologische Sterben
des Menschen gemeint. Wir wissen ja, dass sich die Zellen des menschlichen
Körpers alle zwei Jahre erneuern und das etwa vierzig mal. Dann ist die
Lebenskraft der Zellen erschöpft und der Mensch muss biologisch gesehen
sterben. Vielmehr bezieht sich der Autor mit dieser Aussage auf die Erzählung
vom Sündenfall in Gen 3: Der Mensch ist der Verführung Satans auf den Leim
gegangen, der ihm vorgaukelte, er könne werden wie Gott, wenn er die Gebote
Gottes missachte. Er löste sich von Gott, seinem Schöpfer und Herrn über das
Leben, und hat sich damit selbst und in freier Entscheidung von der Quelle des
Lebens getrennt. Gemeint ist also ein inneres Wegsterben von Gott, ein
Herausfallen aus der Gemeinschaft mit Gott, das im leiblichen Tod die Gestalt
der Endgültigkeit annimmt.
Aber was bedeutet es, dass dieser Tod, dieses innere Wegsterben von Gott,
durch den „Neid des Teufels“ in die Welt gekommen ist? Der Verfasser macht
hier eine ganz entscheidende Aussage über das Wesen Satans. Von Satan oder
dem Teufel wird ja heute – auch in der Theologie – kaum noch gesprochen.
Man fürchtet sich, in den Verdacht einer mittelalterlich-abergläubischen
Frömmigkeit zu geraten. Stattdessen ist man eher der Meinung, dass alles
Böse, was auf der Welt geschieht, aus einer inneren Regung des menschlichen
Herzens aufsteigt, dass es den Teufel als Person oder besser Unperson
außerhalb des Menschen überhaupt nicht gibt. Symptomatisch hierfür ist das
Buch des Tübinger Alttestamentlers Herbert Haag mit dem Titel „Abschied vom
Teufel“11.
Doch dagegen sprechen eindeutig die Botschaft unseres biblischen Textes und
übrigens auch viele Aussagen Jesu im Neuen Testament. Wenn deshalb der
Verfasser in Weish 2,24 sagt, dass der Neid des Teufels den Tod in die Welt
gebracht habe, dann geht er ebenso wie der Autor von Gen 3 ganz klar von
einer real existierenden, eigenständigen Macht des Bösen aus. Ihre Auflehnung
gegen Gott ist dem Menschen und seiner Entscheidung vorgelagert.
11 Das Buch des 2001 verstorbenen Alttestamentlers wurde 1969 erstmals veröffentlicht und erfuhr mehrere Auflagen.
24
Die jüdische Tradition sagt von dieser Macht, dass sie, die ebenso wie der
Mensch lediglich ein Geschöpf Gottes und kein göttliches Gegenprinzip ist, sich
erstens nicht mit der ihr zukommenden Stellung als Geschöpf unter Gott
abfinden konnte und zweitens von Neid auf den Menschen zerfressen wurde.
Denn der Mensch war zum Einen ausgezeichnet durch eine besondere Nähe zu
Gott: „Gott blies dem Menschen den Lebensatem ein“, heißt es in Gen 2,7, und
zum Anderen hatte Gott den Menschen mit einem expliziten Herrscherauftrag
über die Schöpfung ausgestattet: „herrsche über die Vögel des Himmels, die
Fische im Meer“ usw. (Gen 1,28). Aus Neid auf diese Würde des Menschen
habe jene Macht, so die jüdische Tradition, gegen ihren Schöpfer rebelliert und
sich schließlich von ihm losgesagt. Wir nennen sie von da an Satan –
Widersacher – oder Teufel.
Der Neid erfüllt den Teufel mit einem tiefen Hass auf den Menschen und so
trachtet er danach, sich einzelne Menschen und Völker dienstbar zu machen,
um sie mit in die Rebellion gegen Gott hineinzuziehen und sie so als Bild
Gottes zu zerstören. Doch so wie die Macht des Bösen vor Gott grundsätzlich
gebrochen und der Sphäre des Todes übereignet ist, so werden in dieses
Geschick alle jene mit hineingerissen, die der Verführung des Teufels erliegen
und sich mit ihm zusammen gegen Gott stellen (V. 24).
III. Geistlicher Ertrag: Der Gläubige in einer säkularisierten Welt
Am Ende der Auslegung von Weish 1,16-2,24 wollen wir uns die Frage stellen:
Kann dieser Text uns Heutigen nach über 2000 Jahren noch etwas sagen? Gibt
es einen geistlichen Ertrag für uns? Ich denke sehr wohl. Die Ähnlichkeit
zwischen der zeitgeschichtlichen Situation damals und heute hat sich ja schon
mehrmals abgezeichnet.
Zunächst ist zu beachten, dass sich das Buch der Weisheit nicht theoretisch an
irgendwelche Gottlosen oder Frommen richtet; es ist keine akademische
Auseinandersetzung mit dem Thema Atheismus und Glaube. Vielmehr hat der
Verfasser, ein schriftgelehrter Weiser in der jüdischen Diaspora in Alexandria,
konkret das eigene Volk im Blick. Unter dem Ansturm des säkularen
25
Hellenismus, einer faszinierenden und Erfolg versprechenden Kultur kurz vor
der Zeitenwende, war die Diasporagemeinde tief verunsichert worden und
stand in Gefahr, den eigenen Glauben an Jahwe aufzugeben. Diesen Menschen
will der Verfasser als Verantwortlicher für die Glaubensüberlieferungen seines
Volkes einerseits warnend, andererseits ermutigend zu Hilfe kommen.
In einer ganz ähnlichen Zeit leben auch wir heute. Unter dem Ansturm des
modernen Säkularismus, dem Diktat der Naturwissenschaften und dem Sog
des technischen Fortschritts fühlen sich viele Gläubige ebenfalls verunsichert
und stehen in der Gefahr, sich unmerklich dem Denken und den Forderungen
unserer Zeit anzupassen. Weite Teile unserer Bevölkerung, vor allem der
jungen Menschen, sind schon weit weg von Glaube und Kirche.
Ein weiterer Punkt, in dem der Text aus dem Buch der Weisheit unsere heutige
Zeit fast eins zu eins abbildet, ist die materialistische Denkweise, die in Weish
2 nahezu bis zum Exzess ausgezogen wird. Im hellenistisch-römischen Reich
um die Zeitenwende hatte sich aufgrund der rasanten Entwicklung von Technik
und Wissenschaft ein Fortschrittsglaube entwickelt, der den althergebrachten
Glauben der Väter als unmodern erscheinen ließ.
Nicht viel anders ist dies heute, wo sich mehr und mehr in allen Schichten der
Gesellschaft die Grundüberzeugung durchsetzt, dass alles machbar ist – sogar
der Mensch – und dass allein das zählt, was vom Menschen hergestellt und
bewiesen werden kann. Religion erscheint demgegenüber als rückständig und
überflüssig, bestenfalls für ein paar Feierstunden tauglich wie Hochzeit oder
Erstkommunion, aber nicht mehr als wirklich das Leben tragend. Gefragt ist
dementsprechend weniger der Gott der Bibel oder das Gebet als Ausdruck
eines lebendigen Verhältnisses zu ihm als vielmehr Techniken und Anleitungen
zum Glücklichsein. Denken wir an die unüberschaubaren Angebote der
Esoterik, deren Charme oder besser Verführungskraft darin liegt, dass sie
einen schnellen und schmerzlosen Erfolg versprechen und mir die Machbarkeit
meines eigenen Lebens, meines Glücks und scheinbar auch meiner Zukunft
vorgaukeln.
26
Doch das Buch der Weisheit zeichnet nicht nur ein düsteres Bild von den
Verhältnissen seiner Zeit, es zeigt auch, dass man sich angesichts solcher
Entwicklungen nicht entmutigen lassen muss. Es zeigt, dass es eine durchaus
ernsthafte und kompetente Auseinandersetzung mit dem säkularen Denken
der Zeit und ihrer materialistischen Lebensweise gibt, ja dass eine solche sogar
notwendig ist, weil die im Glauben Verunsicherten Stütze brauchen und die
vom Glauben sich Entfernenden eine ernsthafte Warnung.
So wagt es der Verfasser, der die Überlieferungen seines Glaubens ja bestens
kennt, zunächst, eine unerschrockene Analyse seiner Zeit zu geben. Ohne
Beschönigung weist er darauf hin, dass ein Lebensentwurf ohne Gott eine
große Täuschung darstellt, die sich am Ende auflöst wie Nebel, ja dass ein
Leben ohne Gott eine Sackgasse ist, gesäumt von Unmoral und Gewalttat. Es
ist das seelsorgerliche Verantwortungsbewusstsein dieser Weisen, das sie zu so
klaren und furchtlosen Worten greifen lässt – gegen die modernen Strömungen
ihrer Zeit. Sie ertragen es nicht, dass der Glaube ihres Volkes in einen
Säkularismus abdriftet, der alles Geistliche tötet und schließlich die Gläubigen
selbst in die Sackgasse eines praktischen Atheismus treibt.
Gibt es nicht auch in unserer Zeit Menschen, die ähnlich unerschrocken ihre
Zeit in Blick nehmen, weil sie sich für den Glauben vieler verunsicherter
Menschen in der Kirche verantwortlich fühlen? Ich denke hier insbesondere an
unseren emeritierten Papst Benedikt XVI. Er hat wie kein anderer Theologe der
Gegenwart sich nicht nur intensiv und leidenschaftlich, sondern auch
kompetent in vielen Büchern, Interviews und Predigten mit dem Denken
unserer Zeit auseinandergesetzt; und er hat den Säkularismus und
Materialismus wie kein anderer durchschaut und vor den ethischen Folgen
eines Lebens ohne Gott gewarnt: Wenn Gott wegfällt, sagt er, könne alles
andere noch so gescheit sein, dann verliere der Mensch unweigerlich seine
Würde und seine Menschlichkeit, und damit brächen die wesentlichen
Koordinaten des Lebens zusammen.
Doch hat Papst Benedikt auch – ebenfalls wie die Weisen Israels – sich bei aller
kritischen Zeitanalyse nicht einfach reaktionär vor der Moderne verschlossen
27
und in die Welt des Glaubens zurückgezogen. Vielmehr spricht er in seinem
Interviewband „Das Licht der Welt“ von dem „Aufeinanderstoßen zweier
geistiger Welten, der Welt des Glaubens und der Welt des Säkularismus“,
angesichts dessen sich die Frage stelle: „Wo kann und muss sich der Glaube
die Formen und Gestalten der Moderne aneignen – und wo muss er Widerstand
leisten?“12 Dieses große Ringen durchdringe heute die ganze Welt. Und er zeigt
auf, was nötig ist, um den Kampf zu bestehen: „Wir müssen vor allen Dingen
versuchen, dass die Menschen Gott nicht aus den Augen verlieren. Dass sie
den Schatz erkennen, den sie haben. Und dass sie dann selber, aus der Kraft
des eigenen Glaubens heraus, in die Auseinandersetzung mit dem
Säkularismus treten und die Scheidung der Geister zu vollziehen vermögen.
Dieser gewaltige Prozess ist der eigentliche große Auftrag dieser Stunde“13.
„Gott nicht aus den Augen verlieren“ – das ist auch das große Programm des
alttestamentlichen Weisen im Buch der Weisheit. Gott wieder in das Denken
und Leben der Menschen zurückzubringen, „die Priorität Gottes neu ans Licht
zu bringen“ und zu zeigen, „dass es Gott gibt, dass Gott uns angeht und dass
er uns antwortet“14, ist überhaupt das Programm gegen jeden Säkularismus
und Materialismus aller Zeiten.
Doch dies verlangt echte Umkehr. Und wie geschieht Umkehr? Papst Benedikt
empfiehlt, wieder nach dem Wort Gottes zu fragen, es zu studieren, um es als
Realität in das eigene Leben hineinleuchten zu lassen15 – ganz im Sinne des
alttestamentlichen Weisen, der betont, dass der Gerechte ein Mensch ist, der
nach Gotteserkenntnis strebt (V. 13), die er in den Heiligen Schriften findet,
der sein Leben nach Gottes Geboten, der Tora, ausrichtet (V. 12.15), die
ebenfalls im Alten Testament überliefert ist, und der Gott seinen Vater nennt
(V. 16).
12 Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein
Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg 2010, 77. 13 Benedikt XVI., Licht der Welt, 77; vgl. 86. 14 Benedikt XVI., Licht der Welt, 86. 15 Benedikt XVI., Licht der Welt, 83.
28
Tun wir das heute auch in der Kirche? Die Bibel studieren, um der
Zeitströmung des Säkularismus angemessen, d. h. von innen heraus,
begegnen zu können? Wir bräuchten in der Kirche wieder einen biblischen
Frühling.
Verbunden mit jenem Gegenprogramm zum Säkularismus und Materialismus,
nämlich der Umkehr zur Priorität Gottes in meinem Leben, was sich realisiert
im Studium seines Wortes, begegnet im alttestamentlichen Weisheitsbuch noch
ein weiterer Gedanke, der die modernen Zeitströmungen von innen her zu
überwinden vermag: der Glaube an die „Unvergänglichkeit“ des Menschen, an
sein ewiges Fortbestehen in der Gemeinschaft mit Gott jenseits der
Todesgrenze, so in V. 23.
Es ist zunächst einmal symptomatisch für jedes säkulare und materialistische
Denken, dass darin der Glaube an eine ewige Zukunft des Menschen bei Gott
keinen Platz hat. Wo allein Wissenschaft und Fortschritt, Ansehen und Macht
zählen, bleibt der Blick gefangen in jenem „Saeculum“, d. h. in jener
sichtbaren und greifbaren Welt, in der ich lebe. Der Gedanke an ein
Überschreiten dieser Welt im Tod muss auf diesem Hintergrund als reine
Torheit erscheinen.
Das aber hat zur Folge, dass der Tod selbst zu einer Größe wird, mit der man
nichts mehr anfangen kann, die man lieber peinlich verschweigt und so weit
wie möglich aus dem Leben verdrängt. Erleben wir nicht in unserer Zeit eine
solche Verdrängung des Todes in großem Stil? Was sagt uns das über die
Lebendigkeit des christlichen Glaubens an die Unsterblichkeit des Menschen
und seine ewige Würde in unserer Gesellschaft?
Dabei wissen wir Christen heute noch besser als der alttestamentliche Autor,
dass Gott uns Menschen im Tod niemals alleine lassen, uns niemals fallen
lassen wird, ist er doch in Jesus Christus nicht nur in unser Menschsein,
sondern auch in unseren menschlichen Tod hinabgestiegen. Dort unten, im
Abgrund unserer letzten Nacht, erwartet er uns, um uns an der Hand zu
nehmen und herauszuführen in das Licht seiner Auferstehung.
29
Eine solch starke Hoffnung, einen solch frohmachenden Glauben haben wir zu
verkünden! Er stellt in sich schon die Überwindung des Säkularismus jeder
Zeitepoche dar, eine Überwindung von innen her, vor der der Säkularismus
von selbst wie eine verdorrte Frucht vom Baum der Moderne fällt.
Verkünden wir also diesen unseren Glauben an den Gott, der uns nicht im Tode
lässt, der uns gerade im Tod als der Lebendige begegnet, der uns hineinhebt in
sein Reich ewiger Liebe, mit allem Selbstbewusstsein, das uns als erlösten
Christen zukommt. Geben wir den Menschen unserer Zeit auf diese Weise ihre
unsterbliche Würde wieder und bannen wir so die Traurigkeit und Lethargie
unserer Zeit.