Barmherzigkeit 328066

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KAMPLING, RAINER (2006) Barmherzigkeit, in: BERLEJUNG, ANGELIKA / FREVEL, CHRISTIAN (Hrsg.) Handbuch

theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT). Darmstadt: Wissenschaftliche

Buchgesellschaft 2006, 106-108.

Prof. Dr. Klaus Baumann – AB Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit – Theologische Fakultät – Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

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Barmherzigkeit (B.)

( Dachartikel: Ethik)

Vorbemerkung: B. gehört zu den zentralen theol. Begriffen der gesamten Bibel, der die bibl.

Ethik wie kaum ein anderer bestimmt. Dieser Befund ist dadurch begründet, dass B. sowohl auf

Gott wie auf den Menschen angewandt wird und damit zu einer Letztbegründung ethischen Han-

delns wird: Aus B. handelt Gott an den Menschen in B.; der Mensch antwortet darauf, indem er die

selbst erfahrene göttliche B. wiederum durch barmherziges Handeln am Mitmenschen bezeugt.

I.. AT: 1. Im AT sind die Begriffe hæsæd („Liebe, Gunst, Gnade, Güte, Wohlwollen, B.“) und

ræhæm / mrahamim („Mutterleib; Eingeweide, Erbarmen“) zentral.

I. 2. Menschliche B. ist nach der Schrift Nachahmung Gottes. Aussagen über Gottes B. gehören zu

den festen Titulaturen des AT (Ex 34,6; 2 Chr 30,9; Ps 86,15; 103,8; 145,89; Joel 2,13), die in

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bundes-, schöpfungs- und geschichtstheol. Kontexten begegnen. In der hymnischen

Tradition wird B. gleichsam zu einer Erscheinungsform Gottes, der durch seine B. als

gegenwärtig im Gottesvolk Israel erfahren wird (Ps 36,6; 40,12; 61,8; 51,3). Gott ist der

Erbarmer (Jes 49,10; 54,10), d.h. B. gehört zu seinem innersten Wesen, was v. a. in der sog.

Gnadenformel zum Ausdruck kommt. Die Gnadenformel Ex 34,6f, mit der die Vorordnung

der göttlichen B. vor dessen Gerechtigkeit begründet wird, gehört im AT zu den am

häufigsten aufgenommenen Texten (vgl. Num 14,18; Jona 4,2; Joel 2,13; Ps 103,8; 11,4; Sir

2,11 u.a.). Qualifiziert ist diese B. durch Treue und Verlässlichkeit, die dem Menschen von

Gott zukommt. Dass das hebr. Äquivalent ræhæm / mrahamim für das deutsche Erbarmen im

Wortstamm verwandt mit dem Begriff für Mutterschoß ist, verweist auf eine Emotionalität

der B., die sich bes. auf die Schwachen der Gesellschaft erstreckt (Ps 68,6}. Hier zeigt sich

auch ein sozialkritischer Zug der Konzeption der B., da Gott tut, was den Menschen

zukommt.

Durch die B. Gottes ist menschlichem Handeln ein Modell vorgegeben, das die Menschen

dankbar im Leben miteinander praktizieren sollen. Aufgrund der eigenen Erfahrung ist der

Mensch in das Vermögen gesetzt, die empfangenen Wohltaten zu teilen. Dieser

Kausalzusammenhang taucht u. a. in der prophetischen Kritik auf, in der die B. Gottes mit

der Unbarmherzigkeit der Menschen kontrastiert wird (Am 2,7-10) und den sozialethischen

Aspekt des Sabbatgebotes (Ex 20,9-11) trägt. Ethisches Handeln aus B. ist Handeln in

erinnernder Vergegenwärtigung der sich je neu erweisenden B. Gottes und ist Zeichen der

KAMPLING, RAINER (2006) Barmherzigkeit, in: BERLEJUNG, ANGELIKA / FREVEL, CHRISTIAN (Hrsg.) Handbuch

theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT). Darmstadt: Wissenschaftliche

Buchgesellschaft 2006, 106-108.

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menschlichen Treue zu Gott (Ijob 6,14). Durch diese theozentrische Begründung wird das

Objekt der B. aufgewertet, da die ihm erwiesene B. gleichsam eine Bringschuld des

Glaubenden ist.

II. NT: 1. Im NT ist der Begriff ̉έλεος („Mitleid, Erbarmen, B.") zentral.

II. 2. Das NT folgt der atl. Konzeption weitgehend (Lk 1,54; 6,35; Mt 5,45-47; Tit 2,11),

erweitert sie freilich um die christologische Komponente in dem Sinne, dass sich das

Heil und die B. Gottes in Jesus präsentisch konkretisieren (Lk 2,11.29-32). Nach Paulus ist

das Rechtfertigungsgeschehen Akt der B. (Rom 11,25), durch die Gott in Kontinuität seines

Handelns an Israel und den Völkern Heil schafft.

Ntl. wird jesuanisch die B. Gottes zur Richtschnur der menschlichen bestimmt (Lk 6,35; Mt

5,48), die damit als unbegrenzt aufgezeigt wird. Die Werke der B. sind katalogartig in der Erzäh-

lung vom Weltgericht aufgezählt (Mt 25,31-46; hier wird nicht das Tun der Werke der B., sondern

der Urteilsspruch christologisch begründet). Sie entsprechen weitgehend der Vorstellung des Ju-

dentums, das bereits relativ früh eine planmäßige Armenfürsorge als Form der Caritas kannte, die

dann in den christl. Gemeinden übernommen wurde ( Armut). Die Caritas als gegenseitige

Hilfeleistung und Erweis der geschwisterlichen Liebe ist zunächst binnengemeindlich

ausgerichtet; eine außergemeindliche Aktivität hätte sowohl das finanzielle wie das

organisatorische Vermögen gesprengt. Dem Almosen kommt dabei eine bes. Aufgabe zu; wenn

auch seine Begründungen unterschiedlich sind (eschatologisch: Mt 6,2.19; kulttheol. im Sinne

eines Opfers: Spr 10,12; 1 Petr 4,8), so ist der Zusammenhang mit dem Gedanken der B. immer

greifbar: Der Besitzende gibt von dem ihm geschenkweise zugekommenen Vermögen ab. Neben

dem individuellen Almosen, das der einzelne einem Bedürftigen gibt (Apg 10,2), tritt das Almosen,

das der Gemeinde zur Verwaltung übergeben wird (idealtypische Schilderung in Apg 4,34-35).

Eine bes. Rolle spielte im frühen Christentum die Kollekte für die Armen Jerusalems (Gal 2,9).

Paulus, der sogar einen Vorschlag für die Organisation unterbreitet {1 Kor 16,1-4) und sich

intensiv um die Umsetzung der Kollekte sorgt (2 Kor 8-9), sieht darin das Abtragen einer

Dankesschuld gegenüber Jerusalem (Rom 15,26-27) und den Erweis des Willens zur

Gemeinschaft der Gemeinden untereinander (Rom 15,26; Abgabe). Unzweifelhaft ist, dass die

gelungene Caritas in den Gemeinden ihre Attraktivität erhöhte, da dadurch der Anspruch, eine

Gemeinschaft in Christus zu sein, wahrnehmbar realisiert wurde.

I.. M. Franz, Der barmherzige und gnädige Gott, Stuttgart, 2003; R. Kampling, „Wer

Barmherzigkeit seinem Nächsten verweigert, der verlässt des Allmächtigen Furcht“ (Hiob 6,14),

in: ders. (Hg.), Deus semper maior, Berlin 2001, 88-101; R. Scoralick (Hg.), Das Drama der

KAMPLING, RAINER (2006) Barmherzigkeit, in: BERLEJUNG, ANGELIKA / FREVEL, CHRISTIAN (Hrsg.) Handbuch

theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT). Darmstadt: Wissenschaftliche

Buchgesellschaft 2006, 106-108.

Prof. Dr. Klaus Baumann – AB Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit – Theologische Fakultät – Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

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Barmherzigkeit Gottes, Stuttgart 2000.

II. S. Dybowski, Barmherzigkeit im Neuen Testament – ein

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Grundmotiv caritativen Handelns, Freiburg 1982; R. Scoratick (Hg.), Das Drama der

Barmherzigkeit Gottes, Stuttgart 2000; M. Zehetbauer, Die Polarität von Gerechtigkeit und

Barmherzigkeit, Regensburg 1999.

Rainer Kampling