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Arthur Fleischmannmit Carly Fleischmann
»IN MIR IST ESLAUT UND BUNT«Eine Autistin findet ihre Stimme –ein Vater entdeckt seine Tochter
Aus dem Amerikanischenvon Alexandra Baisch
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Carly’s voice: breaking through autism
bei Touchstone, New York.
Verlagsgruppe Random House FSC® N001967
Das für dieses Buch verwendete
FSC®-zertifizierte Papier Super Snowbright
liefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen.
Deutsche Erstausgabe 9/2013
Copyright © 2012 by Arthur Fleischmann
Published by arrangement with the original publisher,
Touchstone, a Division Simon & Schuster, Inc.
All rights reserved.
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Andrea Kunstmann
Fotos innen: aus dem Privatbesitz des Autors
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany 2013
ISBN: 978-3-453-64049-8
www.heyne.de
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Für all diejenigen,
die ihre innere Stimme noch suchen,
und für diejenigen,
die ihnen helfen, sie zu finden.
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Die Welt mag voller Leid sein –
aber sie ist auch voller Überwindung von Leid.
HELEN KELLER
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Inhalt
PROLOG 9
TEIL I DIE GEBURT DES CHAOS 17
1 Im Auge des Sturms 19
2 Rote Linsen und Chemotherapie 42
3 Auf einer rutschigen Leiter nach oben klettern 53
4 Schlaflosigkeit 79
5 Fern von daheim 88
6 Man braucht ein Dorf 97
7 Bang ums Herz 111
8 Ungewöhnlich 118
TEIL II EINE INNERE STIMME 127
9 Das Schweigen durchbrechen 129
10 Von einem Flüstern zu einem Schreien 140
11 Wie eine geschüttelte Coladose 154
12 Menschenfarm 164
13 Auseinanderwachsen 172
14 Gebrüll ist nicht einfach nur Gebrüll 193
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TEIL III AUFSTIEG 217
15 Tochter des Gebots 219
16 So lernen wir 232
17 Pilgerfahrt zur Stadt der Engel 244
18 Entdeckung 252
19 Nach Hause kommen 269
20 Ein Abschied 293
21 Auge in Auge mit dem Bösen 302
22 Gut genug, oder nicht? 317
23 Was sie schon immer wollte 335
24 Verbeug dich 365
25 Ich bin Carly 376
EPILOG 383
Jetzt spricht das Pferd 385
Eine Unterhaltung mit Carly: Die Wahrheiten und Mythen über Autismus 397
Ein Ausblick: Carlys Beitrag zu ihrem individuellen Bildungsplan, Herbst 2011 408
Danksagung 412
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PROLOG
Es war das Ende eines Arbeitstages. Zwei meiner Geschäftspartner
waren auf der anderen Seite meines Schreibtisches in den beiden sty-
lishen, unbequemen Klubsesseln zusammengesackt. Ich selbst hatte
mich mit hochgelegten Füßen zurückgelehnt.
»Das war vielleicht ein furchtbares Meeting«, stellte ich fest.
»Wir waren schrecklich«, ließ einer der Partner verlauten.
»Wir haben viel zu viel geredet. Bla, bla, bla«, sagte der andere.
»Irgendwann dachte ich: ›Um Himmels willen, wer redet denn da so
viel?‹«, fuhr ich fort, »›Ich bin so was von angeödet.‹ Und dann habe
ich bemerkt, dass ich das war.«
Wir lachten. Wir drei hatten soeben einen Geschäftstermin mit
einem potenziellen Kunden beendet – einem, den wir nicht wirklich
wollten. Doch als neu gegründete Werbeagentur bekamen wir nur dann
etwas zwischen die Zähne, wenn wir auch etwas erlegten. Also mach-
ten wir auf so ziemlich alles Jagd, was sich bewegte.
»Uns werden sich noch viele andere Möglichkeiten bieten«, schloss
ich achselzuckend und stand auf, um zu bedeuten, dass Feierabend
und es somit an der Zeit war, nach Hause zu gehen.
Ich verließ das Büro, einen hippen Ort, an dem viel herumgealbert
wurde – meine Assistentin hatte ihn das »Epizentrum der Liebe« ge-
tauft – und stieg in meinen Wagen.
Auf dem Weg zu unserem gemütlichen Zuhause in einem zentral ge-
legenen Viertel von Toronto dröhnte vermutlich The Fray oder Creed
aus den Boxen, und ich sang dazu. Bei offenen Fenstern und offenem
Schiebedach genoss ich die warme Abendluft. Als ich die Annex über-
querte und die University Avenue durch Yorkville nahm, fragte ich
mich, warum ich Toronto als eine solch wunderschöne, lebenswerte
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Stadt wahrnahm und meine Frau sie als das genaue Gegenteil emp-
fand. Andererseits war sie in Toronto aufgewachsen und sah die Stadt
mit anderen Augen. Als jemand, der in einem Vorort aufgewachsen
war, aber immer die Stadt bevorzugt hatte, genoss ich Torontos kos-
mopolitischen Charme.
Die Sonne ging bereits unter und verbreitete ein goldenes Licht.
Die Farben des Sommers verblassten und beendeten so ihre viel zu
kurze Saison. Doch ehe die Blätter der Ahornbäume abfielen, erwach-
ten sie noch ein letztes Mal zum Leben, und die Bäume, die die Straße
säumten, waren von einer Farbpalette von Goldgelb bis Rot über-
zogen.
Ich kam zu Hause an und stellte meinen Wagen in der Auffahrt
ab, die sich hinter unserem Haus entlangzog. Dabei fiel mir auf, dass
Tammy, meine Frau, nicht zu Hause war. An einem Abend unter der
Woche war das nichts Ungewöhnliches. Normalerweise war eines der
Kinder bei irgendeiner Freizeitbeschäftigung, oder Tammy hatte einen
Termin oder machte Besorgungen. Ehe ich hineinging, blieb ich stehen
und nahm hinter dem Haus die Ruhe unseres kleinen Fleckchens in
mich auf: ein Zedernholzzaun, der den kleinen, leuchtenden Garten
umschloss; eine mit Kalkstein ausgelegte Terrasse; ein Rasen, der für
diese späte Jahreszeit noch erstaunlich gut aussah. Ich blieb einen Mo-
ment an der Hintertür stehen, lauschte dem Plätschern des kleinen
Wasserfalls, den ich diesen Sommer angelegt hatte, und stärkte mich
mit einem tiefen Seufzer.
Die Hintertür zur Küche war nicht abgeschlossen. Das war unge-
wöhnlich, aber nicht alarmierend. Wir wohnten in einer schönen und
gepflegten Gegend voller alter Ziegelsteinhäuser mit angenehmen Nach-
barn, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Die Küche,
die wir vor Kurzem renoviert hatten, war aufgeräumt und ruhig. Unsere
Kinderfrau hatte die Kinder bereits versorgt und das Abend essen weg-
geräumt.
»Hallo«, rief ich in das Fernsehzimmer, in dem mein vorpubertärer
Sohn mit seiner Xbox spielte. Er grummelte irgendeine Antwort. Ich ließ
meine Mappe fallen und rief »Hallooooo« nach oben, konnte Taryn,
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einer meiner beiden siebenjährigen Zwillingstöchter, aber nur ein »Hi«
entlocken.
»Wo ist Carly?«, rief ich unserer Kinderfrau über das Geräusch des
einlaufenden Badewassers zu. Diese Frage stellte ich ganz instinktiv
und fast genauso oft, wie ich ein- und ausatmete.
»Ist sie nicht in ihrem Zimmer?«, rief sie mir vom Badezimmer aus zu.
»Oh, Scheiße«, sagte ich.
Ich rannte oben von einem Zimmer zum nächsten, die Treppen
nach unten durch das Wohnzimmer, das Esszimmer und das Fernseh-
zimmer und dann nach unten in den Keller. Ich machte eine regel-
rechte Razzia durch das Haus. Aber ich wusste, dass ich sie hier nicht
finden würde. Das Haus war zu still. Ihm fehlte Carlys frenetische
Energie, die für gewöhnlich jeden Raum unter Strom setzte. Einen
kurzen Moment trafen wir vier – unsere Kinderfrau, mein Sohn, meine
Tochter und ich – auf dem Treppenabsatz aufeinander. Carly war ver-
schwunden.
Und wir standen da und starrten einander an. Wenn sie nicht hier
war, wo war sie dann? »Wer hat sie als Letzter gesehen?«, fragte ich.
Ich wollte niemandem die Schuld zuweisen, leistete hier lediglich De-
tektivarbeit.
»Sie saß auf ihrem Bett, als ich das Badewasser einlaufen ließ«, ant-
wortete unsere Kinderfrau. Sie war von einer bedächtigen Gemächlich-
keit, die meine Geduld manchmal sehr auf die Probe stellte. Aber sie
hatte sich für Carly und unsere Familie immer sehr aufgeopfert und
war sehr tolerant bei den anspruchsvollen Aufgaben, die die Erziehung
eines kleinen Mädchens mit stark ausgeprägtem Autismus mit sich
brachte. Und so sahen wir über viele individuelle Macken hinweg.
Als ich in die Küche hinunterrannte, konnte man durch das Pano-
ramafenster hinter dem Küchentisch sehen, wie das Abendlicht bereits
verblasste. Obwohl wir in einer großen, lebendigen Stadt wohnten, ver-
lief Carlys Leben streng geordnet. Es gab nur wenige Orte in unse-
rer Gegend, zu denen wir sie zu Fuß brachten. Fast instinktiv stürzte
ich aus der Hintertür hinaus und rannte die Straße hinunter. Wenige
Blocks entfernt war ein kleiner Park. Seit wir hier in dieses Viertel ge-
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zogen sind, als die Mädchen ein Jahr alt waren, sind wir an warmen
Abenden nach dem Abendessen immer hierhergegangen. Als sie noch
zu klein waren, um diese Strecke zu laufen, schoben wir sie in ihrem
Zwillingswagen dorthin und zogen dabei die Aufmerksamkeit der Pas-
santen auf uns. Und auch wenn ich mit den Augen rollte, wenn sich
Frauen mit süßlicher Stimme über unsere beiden niedlichen Zwillinge
in ihren hinreißenden Outfits beugten, so genoss ich diese Aufmerk-
samkeit doch insgeheim.
Schaukeln im Park war eine von Carlys Lieblingsbeschäftigungen;
anscheinend fand sie den Wind, der ihr Gesicht streifte, entspannend.
Und nach einem langen Arbeitstag war es eine Erleichterung, sie in
einer Kinderschaukel gut aufgehoben zu wissen.
Ich war bestürzt über die Vorstellung, dass ich sie dort finden könnte.
Sie hätte mehrere stark befahrene Straßen im Dämmerlicht überqueren
müssen. Doch ich war gleichermaßen bestürzt über die Aussicht, sie
dort vielleicht nicht zu finden. Das war mein Plan A und zugleich mein
Plan B. Wir lebten nur wenige Straßen entfernt von einer großen Haupt-
straße, die von Läden und Restaurants gesäumt war. Toronto ist durch-
zogen von einem einzigen grenzenlosen Gitternetz aus Straßen. Wenn sie
nicht im Park war, war überhaupt nicht abzusehen, wo sie sonst sein
sollte.
Ich rannte die vier oder fünf Häuserblocks hinunter, ohne auf den
Verkehr zu achten. Vor lauter Sorge war ich ganz atemlos. Mein klei-
nes Mädchen war sieben Jahre alt. Eigentlich müsste sie wissen, dass
sie das Haus nicht ohne einen Erwachsenen verlassen durfte. Eigent-
lich müsste sie Angst davor haben, im Dunkeln allein draußen oder
unter Fremden zu sein. Doch Carly wusste diese Dinge nicht. Wir hat-
ten den Eindruck, dass es sehr vieles gab, das sie wissen sollte, aber
nicht wusste.
Als ich um die Ecke bog, sah ich eine Frau neben ihrem Rad ste-
hen, die durch den Anblick, der sich ihr bot, wie versteinert war. Ein
kleines Mädchen, mein kleines Mädchen, stand neben der Schau-
kel. Abgesehen von ihren Sportsandalen war sie völlig nackt. Das Kleid,
das sie angehabt hatte, lag zusammengeknüllt auf der Wiese. Carly
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stand steifbeinig da und machte kurze, nach vorn gerichtete, zu-
ckende Bewegun gen von der Hüfte aufwärts, wie ein Roboter mit Kurz-
schluss.
»Oh, Gott sei Dank!«, keuchte ich. Aber ich empfand nicht die Er-
leichterung eines Elternteils, das wieder mit seinem Kind vereint war,
nachdem es im Einkaufszentrum verloren gegangen war, weil es ein
glänzendes Spielzeug sehen wollte. Ich wusste, dass ich Carly nicht ein-
fach nur schimpfen und darauf hoffen konnte, dass sie ihre Lektion
lernen würde. Carly schien keine Angst und kein Gewissen zu haben.
Meine Frau und ich konnten keinen einzigen Atemzug tun, ohne genau
zu wissen, wo sie war. Eine Unachtsamkeit, und schon war es pas-
siert – Carly im Park, nackt, bei Anbruch der Dunkelheit, allein. Ich war
glücklich, sie gefunden zu haben und gleichzeitig empfand ich einen
Schwall Frustration und Verzweiflung, weil ich wusste, dass das hier
keine einmalige Beinahekatastrophe bleiben würde. Das war nur ein
Moment in unserem Leben, und es würden noch viele weitere solcher
Momente folgen.
Als ich zu Carly rannte, fragte mich die Frau: »Sind Sie ihr Vater?
Gott sei Dank!« In ihrer Stimme lag die Erleichterung, die ich hätte füh-
len sollen. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte«, brachte sie aufgeregt
hervor und hörte sich dabei fast schon schuldbewusst an. Doch hierfür
sollte nicht sie sich schuldig fühlen.
Ich hatte bereits meine Standarderklärung parat, die ich schon so
oft vorgetragen hatte, dass sie zu einem Sprachtick geworden war. »Carly
hat Autismus.« Drei kurze Worte müssen ausreichen, um eine Band-
breite an merkwürdigem Verhalten und Beschränkungen zu erklären.
Das ist Steno für: Carly-ist-anders-sie-verhält-sich-merkwürdig-liebt-
es-ihre-Kleidung-auszuziehen-ganz-besonders-wenn-auf-dem-was-
sie-anhat-ein-Wasserfleck-ist-sie-liebt-sich-wiederholende-Bewe gungen-
wie-die-der-Schaukel-sie-spricht-nicht. Wir wussten nicht, was Carly
wusste und was sie nicht wissen konnte. Sie machte merkwürdige Be-
wegungen und Geräusche und hielt sich die Ohren zu, wenn es zu laut
wurde. Sie weinte viel. Und sie hörte niemals auf, sich zu bewegen. Nie-
mals.
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In einer einzigen Bewegung ergriff ich Carlys Kleid und zog es ihr
über den Kopf. Mit wenig Hoffnung, dass es Einfluss auf zukünftiges
Ausbüxen haben würde, sagte ich zu ihr: »Du kannst nicht einfach so
aus dem Haus gehen, Carly. Du hast mir Angst gemacht. Und du musst
deine Sachen anlassen, wenn du draußen bist.« Am liebsten hätte ich
gesagt: »Hör damit auf. Hör damit auf, mir so eine Heidenangst einzu-
jagen. Hör damit auf, alle fünf Minuten irgendein Chaos anzurichten.
Hör auf, so hilfsbedürftig zu sein. Ich liebe dich, aber hör auf damit.«
Aber das tat ich nicht. Stattdessen bedankte ich mich bei der Frau,
dass sie bei meiner Tochter geblieben war. Sie wiederholte, dass sie
nicht wusste, was sie hätte tun oder wen sie hätte anrufen sollen. Ich
konnte ihr ansehen, wie glücklich sie war, diese Situation hinter sich zu
lassen. Sie war nicht unfreundlich, aber an ihrem Blick konnte ich
sehen, wie dankbar sie darüber war, dass das nicht ihr Leben war. Dar-
über, dass sie dieser kläglichen Situation entkommen und nach Hause
zu ihrer Familie fahren konnte. Sie würde ihren Kindern an diesem
Abend eine tolle Geschichte erzählen können.
Ich nahm Carly an der Hand. Sie widersetzte sich nicht und bekam
auch keinen ihrer üblichen Wutanfälle. Vielleicht gab es doch etwas
Hoffnung und ihr war bewusst, dass sie etwas falsch gemacht hatte?
Mir blieb immer noch diese Hoffnung. »Wir kommen morgen wieder
in den Park, Carly«, sagte ich ihr, als wir nach Hause liefen. Ich wieder-
holte immer wieder, dass sie das Haus nur mit einem Erwachsenen
verlassen dürfe. Bitte, lass sie wenigstens diese Lektion lernen.
Zurück zu Hause seufzte ich: »Ich habe sie gefunden.« Tammy war
in der Zwischenzeit heimgekommen. Taryn war in der Badewanne,
und ich schickte Carly mit unserem Kindermädchen zu ihr nach oben.
Ich erzählte alles meiner Frau, sie schloss die Augen und ließ den
Kopf hängen. Wir mussten nicht länger darüber sprechen. Das war nur
eine Erinnerung an all die Herausforderungen, denen wir uns stellen
mussten.
Am nächsten Tag würde meine Frau eine Firma für Alarmanlagen
anrufen und einen Alarm installieren lassen, der dann ertönte, wenn
die Tür geöffnet wurde.
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Ich hörte, wie oben wieder Badewasser eingelassen wurde. Das Piep-
Piep-Piep ließ mich wissen, dass Matthew am Computer wieder War-
lords vernichtete. Die Klimaanlage surrte. Alles war wieder so, wie es
sein sollte. Unser Haus war erfüllt von den ganz gewöhnlichen Ge-
räuschen, die man auch in den anderen, normalen Häusern in unserem
normalen Block hören konnte.
Aber das hier war kein normales Haus.
Das hier war Carlys Haus.
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TEIL I DIE GEBURT DES CHAOS
Schwierigkeiten bilden die beste Erziehung
in diesem Leben.
BENJAMIN DISRAELI
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1 Im Auge des Sturms
Ein Reporter hat mich einmal gebeten, unser Aha-Erlebnis mit Carly
zu beschreiben. Er wollte diesen Moment der Erleuchtung bezüglich
unserer Tochter verstehen. Ich dachte einen Augenblick darüber nach,
ehe ich antwortete: »So etwas hat es niemals gegeben. Carly ist einfach
schon immer Carly gewesen.«
Seit dem Moment, als unsere Töchter an einem grauen Januartag
1995 geboren wurden, wussten meine Frau und ich, welcher Zwilling –
Zwilling A oder Zwilling B – das Leben von Carly leben würde und wel-
cher Taryns. Nennen Sie das Intuition oder kosmische Einmischung,
aber eines der Babys war einfach eine Carly.
Nach der bewegten Zeit um die Geburt unseres Sohnes, viereinhalb
Jahre zuvor, waren wir beide begeistert, das Traumakapitel beenden zu
können und mit unserer vergrößerten Familie in ein neues Leben zu
starten. Matthew war während der Trauerphase um Tammys Mutter
zur Welt gekommen, die ganz überraschend wenige Monate vor seiner
Geburt gestorben war.
Zwillinge zu bekommen war nicht einfach gewesen. Es war kein
Problem für Tammy, Leben hervorzubringen, doch es zu erhalten
war eines. Nach drei Fehlgeburten in den Jahren nach Matthews
Geburt standen wir kurz davor, den Fluch zu brechen. Wir freu-
ten uns auf einen neuen Start. Quidproquo – das war man uns schul-
dig.
»Wie viele Schlafzimmer haben Sie?«, hatte Tammys Geburtshelfe-
rin sie fünf Monate zuvor, im Sommer 1994, kryptisch gefragt.
»Drei«, hatte Tammy geantwortet.
»Dann sollten Sie vielleicht über vier nachdenken«, hatte Dr. Amonkwa
entgegnet.
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Anscheinend hatten das ClomHexal, das Progesteron und das Aspi-
rin, das man ihr verschrieben hatte, den Teufelskreis von verlore-
nen Kindern und verzweifelten Eltern durchbrochen. Und statt nur
mit einem Kind schwanger zu sein, erwartete Tammy Zwillinge. An-
dere Ärzte hatten uns gesagt, dass wir vielleicht einfach keine weiteren
Kinder bekommen sollten. Doch wir, und insbesondere Tammy, nah-
men »vielleicht nicht« fast nie für bare Münze.
Nachdem sie die verbleibenden Monate bis zur Geburt sorgfältig
überwacht wurde, brachte Tammy Zwillinge auf die Welt. Wir haben
darüber nachgedacht, sie nach den Medikamenten zu benennen, die
ihre erfolgreiche Geburt möglich gemacht hatten, aber ClomHexal und
Progesteron Fleischmann wäre wohl etwas grausam gewesen.
Unser älterer Zwilling und mittleres Kind kam um 7 Uhr 38 morgens
auf die Welt und ihre kleinere Schwester Taryn vierzehn Minuten da-
nach. Carly war die lebhaftere im Mutterleib und kämpfte darum, es
nach draußen zu schaffen. Aber als sie dann da war, war es, als sähe sie
sich um und würde sagen: »Ups, falscher Ort.« Diese Welt würde nie
im Einklang mit unserem kleinen Mädchen sein. Innerhalb weniger
Wochen nach ihrer Geburt nahm Carly einen erschrockenen, mürri-
schen Gesichtsausdruck an, der zu ihrem Verhalten passte.
Taryn war friedlich und elegant, mit dunklem Haar und einem fra-
genden Gesichtsausdruck. Carly hingegen sah fleckig und ungleich-
mäßig aus, und sie blickte überrascht drein. Nichts aus den Vorsorge-
untersuchungen hatte darauf hingedeutet, dass die Zwillinge solch
unterschiedliche Schicksale haben würden. Aus dem ärztlichem Be-
richt geht hervor, dass die Geburt der Mädchen »spontan, vaginal und
unkompliziert« verlaufen war, ziemlich ähnlich wie auch ihre Zeugung.
Nach einer Woche im Krankenhaus steckten wir unsere Bündel, die in
etwa der Packungsgröße von neuen Kartoffeln entsprachen, in flau-
schige Strampelanzüge und nahmen sie mit in unser bescheidenes Heim
in Toronto.
Die folgenden sechs Monate waren eine von Schlafentzug und Mü-
digkeit geprägte Periode der Normalität. So normal, wie ein Haushalt
mit drei Kindern unter fünf Jahren, von denen zwei alle drei Stunden
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etwas zu essen wollten und das rund um die Uhr, eben so sein kann.
Tammy und ich erklommen um neun Uhr abends die steile, enge
Treppe zu unserem Schlafzimmer, zusammen mit den beiden Babys
und sechs Minifläschchen Babymilch. Erschreckenderweise waren bis
um fünf Uhr morgens immer alle sechs Portionen verspeist, wobei auf
jedes Füttern das unerlässliche Windelwechseln folgte.
Ganz egal, wie müde ich war, ich konnte nicht umhin, die beiden ge-
wickelten Bündel anzulächeln. Carly und Taryn schliefen in einem gro-
ßen geflochtenen Korb, den wir auf der niedrigen Kommode platziert
hatten, die Tammy schon seit dem College mit sich herumschleppte.
Sie war von einem seltsam fleckigen Grün und besaß mehr sentimen-
talen denn ästhetischen Wert. Jetzt war sie in eine Nische in unserem
Schlafzimmer gezwängt und diente unseren Töchtern als Podest, von
dem aus sie ins Leben starteten.
Die beiden Mädchen hatten neun Monate eng zusammengepresst
in Tammy Bauch verbracht, und so fühlte es sich für sie ganz normal
an, gut zugedeckt und eng beieinander zu liegen. Wir bemühten uns
von Anfang an sehr bewusst darum, ihnen eigenständige Identitäten
zu geben, nahmen Abstand davon, sie gleich zu kleiden oder sie mit
»die Zwillinge« anzureden und sprachen vielmehr von Carly und Taryn.
Dennoch waren sie zwei Hälften eines Ganzen und lagen nebeneinan-
der, streckten die Arme nach einander aus und berührten, ja, umarm-
ten sich fast schon. Woher sollten wir wissen, dass sie eines Tages wie
die Vorder- und Rückenansicht eines Buches sein würden – einander
ergänzende Gegensätze, die so vieles trennte?
Nachdem Dinnerpartys nun nicht mehr infrage kamen (nicht, dass
das vor der Geburt der Mädchen oft der Fall gewesen wäre), legten wir
eine große Unterlage und eine Plastiktischdecke auf unseren Esstisch,
damit wir die Babys dort wickeln konnten, wenn wir unten im Haus
waren. Tammys Freundin Sue kam sonntagabends zu uns, um uns mit
der Wäsche zu helfen. Solange Tammy die beiden Babys gleichzeitig
fütterte, kochten Sue und ich für die kommende Woche so viel vor, wie
in unsere Gefriertruhe passte. Die ersten Monate waren eine verschwom-
mene Mischung aus schmutziger Wäsche, Kacka, Erbrochenem, Quiche
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und Lasagne. Doch nach all den Fehlstarts und schwindenden Hoff-
nungen war Tammy glücklich, eine Familie zu haben. Ich habe unzäh-
lige Fotos von der ersten Zeit, auf denen wir beide abwechselnd die
beiden Babys halten. Beide haben wir dabei einen müden, aber auch
verblüfften Ausdruck im Gesicht, als würden wir sagen: »Wie war das
nur möglich?«
Der chaotische Rhythmus unseres Lebens beruhigte sich mit dem
Eintreffen unsere Kinderfrau Mari. Mari war kurz zuvor von St. Lucia
hierhergezogen, um ihren Schwestern und Cousins näher zu sein. Eine
ihrer Schwestern arbeitete als Kinderfrau bei einem unserer Freunde.
Mari fühlte sich sofort zu unseren Töchtern hingezogen und immer,
wenn sie die beiden ansah, hatte sie ein breites, angenehmes Lächeln
auf dem Gesicht. Obwohl sie eine sehr ruhige Person war, strahlte Mari
das Selbstbewusstsein aus, unseren Haushalt in den Griff zu bekom-
men – eine undankbare Aufgabe, die wir nur zu gerne abgaben. Als
unerschütterlicher Pfeiler unserer Familie kümmerte sie sich über
die nächsten zwölf Jahre um unsere drei Kinder und die Hausarbeit.
Tammy und Mari teilten sich die nie enden wollenden Aufgaben,
die aus Matthews schulischen und außerschulischen Aktivitäten und
dem ständigen Füttern und Wickeln von Carly und Taryn bestanden.
Tammy und ich hatten von Anfang an alle Pflichten geteilt, um klarzu-
kommen, eine Herangehensweise, die uns in den folgenden Jahren zu-
gutekommen würde.
Mein Beruf brachte es mit sich, dass ich um acht Uhr im Büro anfing
und selten vor 19 Uhr zu Hause war. Trotzdem gab ich mir größte
Mühe, mich nach der Arbeit auf Matthew zu konzentrieren, damit er
nicht das Gefühl bekam, außen vor gelassen zu werden. Man hatte uns
vorgewarnt, dass Jungs in der Regel regressiv wurden, wenn weitere
Babys ins Haus kamen.
Ich kann mich daran erinnern, dass mein Bruder mit neun oder
zehn ein ziemlicher Quälgeist war. Einmal hatte er versucht, mir Kat-
zenfutter zu füttern, und meiner Schwester hatte er Pfeffer in den Scho-
koladenpudding getan. Bei anderen Gelegenheiten hatte er sich abends
unter meinem Bett oder im Schrank versteckt, darauf gewartet, bis die
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Lichter gelöscht waren, und war dann laut brüllend herausgesprungen.
Böse Monster gibt es also wirklich, zumindest so lange, bis sie zu Teen-
agern werden. Denn mit der Zeit wachsen selbst kleine Jungs aus ihrer
Bosheit heraus.
Da ich nicht wusste, was mich erwartete, ging ich einfach davon
aus, dass Matthew der Familientradition folgen würde, weil er eine
Tendenz zu ungestümem Verhalten hatte. Ein oder zwei Jahre vor der
Geburt der Mädchen hatten wir ein Buch mit dem Titel »So erzie-
hen Sie Ihr temperamentvolles Kind« gekauft, um zu verstehen, warum
selbst Kleinigkeiten wie ein kratzendes Schild hinten im Ausschnitt
seines T-Shirts einen handfesten Wutanfall bei ihm verursachen konn-
ten. Er war ein störrisches Kind, das ständig zwischen verspielter Nied-
lichkeit und lang anhaltenden Trotzphasen schwankte.
Während Mari und Tammy die Mädchen badeten, aß ich mit Matthew
zu Abend. An warmen Frühlingsabenden ging ich mit ihm in den Park.
Und dabei dachte ich dann darüber nach, dass Matthews Kindheit
alles andere als normal war.
Seit ich denken kann, machte er viele Geräusche beim Essen, und
im Herbst 1990, als Matthew acht Monate alt war, mussten wir mit ihm
zur Notaufnahme, weil er kaum Luft bekam. Nach mehreren Tagen im
Krankenhaus und verschiedenen Tests teilten uns die Ärzte mit, er sei
mit einem doppelten Aortenbogen geboren worden. Die Gefäße, die
das Blut zu seinem Herzen hin- und von ihm wegtransportierten, schlan-
gen sich um seine Luftröhre wie Lianen und würgten ihn regelrecht.
Aber Matthew war eine Kämpfernatur und erholte sich schnell von der
Operation. Fünf Jahre später liebte Matthew es, zu hören, was für ein
mutiger Patient er gewesen sei und wie er schon wenige Tage nach
der Operation wieder gekichert und gelacht habe. Seine Narbe trug er
wie ein Ehrenabzeichen. »Jetzt hast du keine Probleme mehr mit dem
Essen«, scherzte ich mit ihm. »Erinnerst du dich daran, als du zwei
Jahre alt warst und Mom und ich dich dabei überrascht haben, wie du
nach dem Essen einen Maiskolben aus dem Müll stibitzt hast?« Tammy
und ich waren damals gerade dabei, den Abwasch zu machen, als wir
glückselige Essgeräusche hörten und Matthew entdeckten, wie er grin-
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send einen Maiskolben abknabberte, den wir schon vom Teller in den
Müll geworfen hatten.
Im späten Frühjahr schliefen die Mädchen die Nacht durch. Mit
Matthew verlief alles nach Plan, und Tammy und ich hatten sogar die
eine oder andere Stunde Ruhe, bevor wir ins Bett gingen. Es fühlte sich
so an, als hätten wir den holprigen Feldweg unseres Lebens verlassen
und wären endlich auf dem Highway gelandet. Wir tauschten die Limou-
sine gegen einen Minivan und wagten es, Tagesausflüge und Besuche
bei Freunden zu unternehmen. Wir hatten dabei immer die Mädchen,
einen überdimensionalen Kinderwagen, eine riesige Tasche Windeln
und unseren aufgedrehten fünfjährigen Sohn im Schlepptau, der um
uns herumrannte und dabei Geräusche machte wie ein Rennwagen.
Doch schon vor ihrem ersten Geburtstag bemerkten wir so langsam,
dass sich Carly und Taryn in verschiedene Richtungen entwickelten.
Unsere ersten Probleme mit Carly waren aber noch relativ harmlos:
mal das Einsetzen von Röhrchen in ihren Ohren, um Abhilfe gegen die
starke Flüssigkeitsansammlung zu schaffen, mal ein paar Tests beim
Audiologen, um sicherzustellen, dass die Entzündungen ihr Gehör nicht
beschädigt hatten. Mit dieser Art Eingriff konnten Tammy und ich
klarkommen. Viele Kinder hatten eine Drainage im Ohr. Das war ge-
nauso geläufig wie Windelausschlag. Doch schon allein wenn wir sie
ansahen, war klar, dass bei Carly umfassendere Probleme vorlagen, als
nur zähe Flüssigkeit in den Gehörgängen.
Während Taryns Haut ganz babyweich und zart wurde, sah Carlys
häufig gerötet und rissig aus. Taryns Augen hatten fast von Geburt an
einen amüsierten Ausdruck, während Carly häufig ganz schläfrig drein-
blickte. Und während Taryn Fortschritte beim Krabbeln machte, sich
aufrichtete und alle anderen Meilensteine der Entwicklung eines Klein-
kindes erreichte, lag Carly ermattet auf dem Rücken. Am deutlichsten
unterschieden sich die beiden Mädchen jedoch in ihrer Persönlichkeit.
Taryn war zufrieden und leise; Carly weinte unablässig, was ihr den
Spitznamen Heulcarly einbrachte.
Unsere Kinderärztin schien nicht weiter besorgt, doch nach dem,
was wir mit Matthew erlebt hatten, waren Tammy und ich höchst alar-
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miert. Man schickte uns zu einer Physiotherapeutin im Hospital for Sick
Children in Toronto, der ersten in einer langen Reihe von Spezialisten.
Als deutlich wurde, dass ein Termin pro Woche nicht ausreichte, um Carly
dazu zu bringen, sich zu bewegen, meldete Tammy sie in einer Privat-
klinik an. Dreimal pro Woche fuhr Tammy Carly zur Physiotherapie, wo
man sie geduldig und ganz allmählich vom Liegen zum Sitzen brachte
und vom Sitzen dazu, auf dem Po über den Boden zu rutschen.
Auszug aus dem Protokoll über Carlys Fortschritte im Spiel- und Lernprogramm der Integrativen Kindertagesstätte, 4. Januar 1996:
J. Spitz, Koordinator
ZUSAMMENFASSUNG UND EMPFEHLUNGEN
Mit ihren zehn Monaten weist Carly bestimmte Rückständig-
keiten in den Bereichen Sprache, grobmotorische Fähigkeiten,
au ditive Wahrnehmung und Erinnerung, Selbsthilfefähigkeit und
soziale Entwicklung auf. Häufige Mittelohrentzündungen mit Aus-
fluss könnten ihre Sprache, die auditive Wahrnehmung und die
Erinnerungsfähigkeiten beeinträchtigt haben. Sie scheint insge-
samt eher einen schwachen Muskeltonus zu haben, was sich mo-
mentan auf ihre grobmotorischen Fähigkeiten auswirken könnte.
Die angewandte Therapie scheint von den beiden Therapeutin-
nen, die gerade mit Carly arbeiten, richtig dosiert zu werden. Da-
durch wird Carlys Fokus momentan auf die motorische Entwick-
lung gelenkt. Carly und ihre Mutter besuchen das wöchentliche
Eltern-Kind-Programm von Play and Learn. Mithilfe dieses Pro-
gramms können wir spezifische Fähigkeiten durch eine spieleri-
sche Annäherung gezielt fördern. Aus praktischen Gründen kön-
nen jetzt ebenso Hausbesuche bei der Familie stattfinden, um für
weitere Aktivitäten zu sorgen, die Carlys Entwicklung verbessern.
Sie wird in sechs Monaten erneut beurteilt.
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Kurz nach Taryns und Carlys erstem Geburtstag mussten wir uns
eingestehen, dass Tammys Geburtshelferin recht hatte. Wir brauch-
ten ein größeres Haus. Unser Esszimmer, in dem nicht mehr gegessen
wurde, seitdem die Mädchen auf die Welt gekommen waren, war vol-
ler Spielzeug und Tretroller. Unsere Küche war kaum groß genug, um
als »Wohnküche« beschrieben zu werden, weshalb wir dort in Schich-
ten essen mussten. Und vor den beiden kleinen Badezimmern gab es
immer Stau.
Mit drei Kindern statt der geplanten zwei verwarfen wir die Idee,
Matthew auf eine Privatschule zu schicken, und fanden stattdessen
im Winter 1996 ein Haus in einer grünen Gegend der Stadt, ganz in
der Nähe von exzellenten öffentlichen Schulen, Parks und Geschäften.
Auch wenn es kein Traumhaus war – dazu reichte das Budget nicht
(das wir ohnehin überschritten hatten) –, so war es doch viel mehr, als
wir uns erhofft hatten, und im Vergleich zu unseren beengten Räumen
war es geradezu herrschaftlich: vier Schlafzimmer, ein Fernsehzimmer
im Erdgeschoss und ein ausgebauter Keller als Spielzimmer. Kein Stol-
pern mehr über Feuerwehrautos und Sitzschildkröten mit Rädern.
»Hier bringen sie mich erst in einem Leichensack wieder raus«, sagte
ich Tammy.
Das sollte das Haus für den Rest unseres Lebens sein. Ich wollte in
meinem Zuhause ein gewisses Maß an Gelassenheit finden, als Gegen-
gewicht zu meinem stressigen Job und meiner lebhaften Familie. Auch
wenn Carly und Taryn sich in verschiedene Richtungen entwickelten,
war ich zuversichtlich, dass wir vor etwas Neuem, Aufregendem stan-
den. Ich hatte gerade eine neue Stelle angefangen und arbeitete in
einer neuen, hippen Werbeagentur, die erst vor Kurzem in Toronto ge-
gründet worden war. Einen wichtigen Kunden, das Aushängeschild der
Agentur, zu betreuen, war großteils meine verantwortungsvolle Auf-
gabe. Dank meiner vergrößerten Familie und einem Haus in einer wun-
derbaren Nachbarschaft mit guten Schulen war ich ziemlich zufrieden
mit mir selbst.
Doch während mein Leben auf der professionellen Seite durchstar-
tete, war es zu Hause kurz davor, im Treibsand zu versinken. Tammy
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machte sich Sorgen über die immer größer werdende Kluft zwischen
den Mädchen. »Etwas stimmt hier nicht«, sagte sie. Ich schrieb es
ihrem übervorsichtigen Wesen zu und lehnte es ab, es bei mir auf
die Liste der Dinge zu setzen, über die ich mir Sorgen machen musste.
Trotzdem fing meine Frau an, sich nach Spielgruppen umzusehen, die
für beide Mädchen genau richtig waren. Taryn brauchte Anreize, die
ihrer extrovertierten Persönlichkeit entsprachen; Carly brauchte sie,
damit sie aus ihrer Trägheit erwachte. Im folgenden Jahr, zwischen
dem ersten und zweiten Geburtstag der Mädchen, gingen sie zu etwas,
das man »integriertes Frühförderprogramm« nannte. Mehrmals die
Woche waren die Mädchen für mehrere Stunden in einem Zentrum,
das an eine Mischung aus Kindergarten und Kindergeburtstagsparty
erinnerte. Dort wurde Carly dazu animiert, ihre Hände zu benutzen, zu
malen und wie die »integrierten Kinder« zu spielen – diejenigen, die
mehr wie Taryn waren. Wir haben immer noch Bilder von Carly, wie sie
lacht, mit Fingerfarbe beschmiert ist und eine Wand im Keller verschö-
nert. Aber diese Spielszenen sind nur Momentaufnahmen. Sobald Carly
wieder zu Hause war, setzte sie sich auf den Boden im Fernsehzimmer,
wiegte sich vor und zurück und ignorierte die Welt um sie herum. Spie-
len war nichts, das unsere Tochter von selbst machte.
Eine der Lehrerinnen von Carlys Programm sagte uns: »Machen Sie
einfach weiter.« Fachkräfte, die ursprünglich von der Krankenversiche-
rung bezahlt wurden, später dann, als die Zuschüsse wegblieben, aus
unserer eigenen Tasche, kamen mit rasselndem Spielzeug und über-
dimensionalen Raggedy-Ann-Puppen. Dann saßen sie stundenlang mit
übertriebener Fröhlichkeit auf dem Boden unseres Fernseh- oder Spiel-
zimmers und animierten Carly, ihren Anweisungen Folge zu leisten,
Gegenstände von einer Hand in die andere zu nehmen und wie andere
Zweijährige zu spielen. Carly starrte sie hauptsächlich aus großen Augen
an, einer Mischung aus Verwunderung und Langeweile. Taryn anderer-
seits hatte bereits Spielverabredungen mit Freunden.
Nach den Vormittagen in der Vorschule verbrachte Tammy die Nach-
mittage damit, medizinische Einrichtungen und Krankenhäuser abzu-
klappern. Manchmal nahm ich mir frei, um sie dabei zu begleiten. Die
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vier folgenden Jahre fühlten sich so an, als wären wir in einem Spiegel-
kabinett gefangen. Der eine Arzt, der uns das Ausbleiben von Fortschrit-
ten bei Carly nicht zu erklären vermochte, schickte uns zum nächsten,
und so weiter.
Erster Schritt: Warten in einem beige-grauen Wartezimmer voller
Spielzeug, von dem man befürchtet, es könnte Entzündungen durch
eine fleischfressende Krankheit hervorrufen, und von dem man nicht
möchte, dass das eigene Kind damit spielt. Für uns stellte das keine
allzu große Sorge dar, denn Carly ignorierte so ziemlich alles. Abhängig
von der Spezialisierung des Arztes (Neurologe, Audiologe, Genetiker,
Sozialpädiater) tauscht man mitfühlende Blicke mit den anderen Eltern
von Kindern aus, die wie Carly auch nicht im Einklang mit der Welt um
sie herum zu leben scheinen – wenn auch keines so wenig wie sie.
Anmerkung: Meide bei einem Arzt, wie zum Beispiel einem HNO, die
Blicke aus den Augenwinkeln anderer Eltern, die Carly anstarren und
Gott insgeheim dafür dankbar sind, dass ihr Kind mit dem von fleisch-
fressenden Bakterien überzogenen Spielzeughaus der Feuerwehr spielt,
während Carly auf dem Boden sitzt und sich nur vor und zurück wiegt.
Zweiter Schritt: Man wird mit der Beteuerung, der Doktor komme
gleich (was bitte schön ist die medizinische Definition für gleich?), in
ein klaustrophobisch kleines Behandlungszimmer gebeten und muss
dem Assistenzarzt oder dem Arzt im Praktikum die Krankengeschichte
unterbreiten (»Können Sie nicht einfach die Berichte der vorigen acht
Ärzte lesen? Sagen Sie mir doch, was nicht stimmt.«)
Dritter Schritt: Wenn der Spezialist endlich eintrifft, wiederholt man
die ganze Krankengeschichte erneut, und zwar genau dann, wenn
Carly gerade völlig durchdreht, aus Leibeskräften brüllt und versucht,
sich aus dem Kinderwagen zu werfen, in dem sie mit einem Hüftgurt
festgeschnallt ist. Dann starrt man in das nachdenkliche, angespannte
Gesicht des Arztes, während er/sie die zehn Zentimeter dicke Kran-
kenakte überfliegt.
Vierter Schritt: Die flüchtige Überprüfung von Augen, Ohren, Becken,
Rücken, Gliedmaßen und Gelenken, während Carly sich windet und
schreit, wodurch besagte Untersuchung noch oberflächlicher ausfällt.
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Bei sich denken: »Was soll das Herumdrücken an unserer Tochter of-
fenbaren, was die Millionen teuren Scans und Bluttests nicht offenbart
haben?« Eine äußerliche Überprüfung wird uns bestimmt keinen Ein-
blick darüber verschaffen, was mit Carly nicht stimmt.
Fünfter Schritt: Mit hochgezogener Augenbraue und einer mitfüh-
lenden Berührung am Arm schickt der Arzt uns zu einem weiteren
Spezialisten. Manchmal folgt ein kurzer Zwischenstopp, um der Forde-
rung nach weiteren Blutuntersuchungen, Ultraschallbildern des Kopfes
oder beliebiger anderen Körperteile nachzukommen.
Sechster Schritt: Die Schritte eins bis fünf bis zur Besinnungslosig-
keit wiederholen.
Die Dynamik von Besprechungen, Spielgruppen und Therapie nahm
in besorgniserregendem Maße zu. Die Berichte, Dokumente und Arzt-
termine, die an unserem Kühlschrank hingen, verdrängten Matthews
und Taryns Kunstwerke und Magnetbuchstaben von dort. Es gab Wo-
chen, in denen Tammy mindestens einen Arzt- oder Therapietermin
pro Tag hatte. Wir bezeichneten diese Jahre als »Carlys Instandset-
zungsjahre«. Sowohl Tammy als auch ich arbeiten in den Bereichen
Unternehmen und Marketing; wir sind Problemlöser von Berufs wegen.
Also machten wir unseren Rücken krumm und bemühten uns, diese
Mühle zum Laufen zu bringen. Ganz besonders Tammy hatte sich diese
Mission auf die Fahne geschrieben. Abends erzählte sie von den Er-
gebnissen der Termine, die ich verpasst hatte, doch ich muss zugeben,
dass viele dieser Details einfach nur an mir vorüberzogen. Die Monate
verflossen, ohne dass wir irgendwelche Fortschritte hätten verzeich-
nen können. Auf dem Papier war Carly jedenfalls völlig gesund.
Carly wurde bei dem Team von Ärzten, die sie beobachteten, als das
»Rätsel des Hospitals for Sick Children« bekannt. Man hatte sie mit dem
Label »globale Entwicklungsbeeinträchtigungen« versehen, weil sie die
meisten Meilensteine in ihrer Entwicklung wie Gehen, Sprechen, Spie-
len und Ausführen von grundlegenden Anweisungen nicht erreicht
hatte. Später fügten sie aufgrund von Carlys mangelndem Blickkon-
takt, des nicht vorhandenen sozialen Kontakts und der fehlenden Spra-
che »tiefgreifend entwicklungsverzögert« hinzu – ein weitgefasster Be-
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griff für ein so breit gefächertes Spektrum wie Autismus. Aber es gab
keine greifbare Ursache für diesen Zustand. Carlys fehlende Sprachent-
wicklung war besonders verwirrend. Es würde noch mehrere Jahre
dauern, bis ihr Unvermögen, nicht mehr als unverständliche Laute von
sich geben zu können, als Apraxie diagnostiziert würde – eine Störung
der motorischen Funktionen, bei der die Muskeln im Mund den An-
weisungen des Gehirns keine Folge leisten. Wir konnten keine Krank-
heit ausfindig machen, die man hätte heilen können, oder eine Person,
der wir die Schuld dafür hätten geben können, dass Carly so sehr Carly
war. Unsere Naivität hinsichtlich dessen, was vor uns lag, war ein Segen;
sie hinderte uns daran, den Mut zu verlieren. Verzögert hatte einen
optimistischen Klang. Ich kam zu dem Schluss, dass Züge oder Flüge
mit Verzögerungen letzten Endes auch ankamen. Tatsächlich stand
in vielen Arztberichten, dass sie eine Verbesserung erwarteten. Carlys
Kinderarzt beschrieb es so, dass Carly auf einer Leiter stand: Sie würde
sie erklimmen, wir wussten nur nicht, bis wohin.
Es brauchte Monate intensiver MEDEK-Therapie, einer besonders
drakonischen Form der Physiotherapie, um Carly dazu zu bringen,
allein zu laufen, was sie kurz nach ihrem zweiten Geburtstag schließ-
lich tat. Zusätzlich zu den Therapieterminen in einer örtlichen Klinik
kamen Therapeuten zu uns nach Hause und brachten Carly bei, wie
man eine Tasse hielt, wie man Gegenstände von einer Hand in die
andere nahm. Sie arbeiteten an ihrer Feinmotorik – an all den Dingen,
die andere Kinder ganz von allein lernen. Und wenn Carly gerade von
keinem Therapeuten dazu überredet wurde, sich hinzustellen, Klötz-
chen in Löcher zu stecken oder eine Schnur auf eine Spule zu wickeln,
dann tat es Mari. Während Taryn spielte, arbeitete Carly; sie arbeitete
härter als die meisten Erwachsenen.
Es gab Momente, da waren die Mädchen gar nicht so verschieden.
Manchmal strahlte Carly einfach nur über das ganze Gesicht und ki-
cherte. Die Schwestern rollten wie übergroße Welpen auf dem Boden
in ihrem Zimmer herum; Taryn hielt ihre Schwester fest und sagte:
»Oh Carly, oh Carly«, in dieser einseitigen Unterhaltung, die wir alle
mit ihr zu führen lernten. Carly kicherte, weil sie Zuwendung bekam.
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Von klein auf ging Taryn humorvoll und einfühlend auf Carly ein. Ich
saß auf dem Boden und nahm die beiden abwechselnd auf meine Knie,
während ich ihnen das Kinderlied »The Grand Old Duke of York« vor-
sang. Doch während Taryn ausgelassen »Noch mal, noch mal Grappa-
dupayorp!« rief, wenn ich den mitreißenden Refrain beendet hatte,
brach Carly in Tränen aus, bis ich wieder von vorn begann. »Noch mal
für Carly«, rief Taryn dann und verlieh ihrer Schwester so eine Stimme.
Taryn war ihrer Schwester gegenüber sehr fürsorglich, beschützte sie,
als wäre sie ihr wertvollster Besitz. Nur ganz selten, nämlich dann,
wenn Carly ihr etwas zu Essen oder ein Spielzeug wegnahm, schalt sie
Carly mit gerunzelter Stirn.
Häufig saß Carly neben Taryn, während diese mit ihren Barbies,
Polly-Pocket-Puppen oder Malbüchern spielte, und hatte selbst ein
weiteres Förderspielzeug in der Hand, das wir in der Hoffnung erstan-
den hatten, sie damit beschäftigen zu können. An sich spielte sie nicht
damit, sie drehte das Spielzeug vielmehr um, als wollte sie überprüfen,
in welchem Land es hergestellt worden war, und kratzte über die auf-
druckte Stelle an der Unterseite. Ihre Fingernägel fuhren über die her-
vorstehenden Wörter, als läse sie Blindenschrift, doch an ihren Augen
konnte ich erkennen, dass sie nicht hier war. Häufig steckte sie ihren
winzigen Zeigefinger in die Löcher der Schrauben, mit denen die bun-
ten Plastikteile zusammengehalten wurden.
Wenn Carly kein Spielzeug in der Hand hatte, dann starrte sie auf
ihre Hände und bewegte ihre Finger, als sähe sie sie zum ersten Mal.
»Carly macht ihr Fingerdings«, sagte Matthew dann. Ich betrachtete
sie und animierte sie dazu, auf den grünen Knopf zu drücken, damit
das grüne Licht anging, oder den bunten Stapelturm aufzubauen. Ich
fand keinen Zugang zu ihrer Welt, was auch immer das für eine Welt
war, und versuchte vergeblich, sie in meine zu holen.
Ganz egal, wie sehr wir versuchten, Carly dazu zu bringen, selbst zu
spielen, und sei es nur für ein paar Minuten – das Einzige, was Carly wirk-
lich von sich aus machte, war schaukeln und sich nach hinten werfen.
Sie presste die Fersen in ihre Matratze oder in die Kissen ihres gepols-
terten Lieblingsstuhls im Hobbyraum, richtete sich anschließend auf,
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bis sie fast stand, und warf sich dann mit voller Wucht nach hinten. Die
ganze Zeit über starrte sie ins Leere und brummte dabei ahhh ahhh
ahhh – was für uns ebenso entspannend war wie das Kratzen von Nägeln
über eine Tafel. Wenn man sie dabei nicht unterbrach, dann konnte ihr
methodisches, wirbelsäulenzerschmetterndes Ritual stundenlang an-
halten. Trotz größter Bemühungen, sie davon abzulenken oder wenigstens
ihre Stöße abzudämpfen, hatte sie den Stuhl letzten Endes durchge-
scheuert und ihr solides Eichenholzbett war so oft zusammengebro-
chen, dass es mit Stahlstangen verstärkt werden musste. Zumindest
das war uns klar: Carly hatte eine kräftige Rumpfmuskulatur. Aller Wahr-
scheinlichkeit nach würde sie niemals Rückenprobleme haben.
Auszug aus der psychologischen Begutachtung, 2. Februar 1997:
Dr. M. Mary Karas
ÄRZTLICHE BEURTEILUNG
Carly ist erst 25 Monate alt. Dennoch ermöglicht das Vorliegen
zahlreicher Symptome von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen
eine vorläufige Diagnose, die ihrem Verhaltensprofil entspricht.
Auch wenn sie viele der Kriterien für Entwicklungsverzögerungen
aufweist, so zeigt sie auch viele Merkmale von PDD (Pervasive
Development Delay), einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung.
Sie wehrt Veränderungen ab, ist affektiv isoliert und ihre kommu-
nikative Kompetenz reicht nicht über grundlegende Gesten hin-
aus. Sie erkennt Gefahrensituationen nicht und scheint sich der
Merkmale der Menschen in ihrem Umfeld nur undeutlich be-
wusst zu sein …
ZUSAMMENFASSUNG
Die psychologischen Tests ergaben, dass Carly in mehreren Ent-
wicklungsbereichen Rückstände aufweist, was im Einklang mit
der Diagnose von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen steht, da
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sie anscheinend im Bereich der Sprache stärker zurückliegt als in
ihren intellektuellen Fähigkeiten. Das Hauptaugenmerk liegt mo-
mentan auf Carlys rückständiger Entwicklung. Bei der Erstellung
eines passenden Programms sollte allerdings die Beobachtung
ihrer Eltern und Betreuer, dass sie viele Kriterien für autistische
Störungen zeigt, berücksichtigt werden. Die Tatsache, dass sie
mit einem gut entwickelten Zwilling aufwächst, macht den Eltern
ihre Verzögerungen deutlicher und könnte sich nachteiliger auf
Carly auswirken, als wenn sie ein Einzelkind wäre. Andererseits
sollte ihre Schwester ihr als förderndes Vorbild und Spielgefähr-
tin dienen. Die Tatsache, dass Carly das Spielen mit ihrer Schwes-
ter genießt, spiegelt den guten Einfluss von Taryn auf Carly wider.
Fünfzehn Jahre später sehe ich die farblich gekennzeichneten Unter-
lagen der Ärzte durch und erinnere mich an vieles, das ich vergessen
hatte. Es stimmte, Tammy hatte quasi an vorderster Front die Rolle der
Ermittlerin übernommen, um in Erfahrung zu bringen, was es mit Car-
lys Problemen auf sich hatte. Ich ging arbeiten, damit wir das bezahlen
konnten, wofür Versicherung und staatliche Unterstützung nicht auf-
kamen. Aber ich war nicht völlig abwesend. Die Berichte der Ärzte be-
legen meine Anwesenheit bei Terminen, die ich schon längst aus mei-
nem Gedächtnis gestrichen hatte. Ich kann mich nur undeutlich an
die Besuche bei Genetikern, Neurologen, Audiologen, Ernährungswissen-
schaftlern, Physiotherapeuten, Beschäftigungstherapeuten, Kinderärz-
ten und Psychologen erinnern, die für Tammy zur Vollzeitbeschäftigung
geworden waren. Und nach all den Jahren voller Blutuntersuchungen,
Hautbiopsien, Stoffwechseluntersuchungen, MRTs, evozierter Poten-
ziale, Hörtests und weiß Gott was noch alles war uns nur eines klar:
Carly war, wie ihre Kinderärztin in ihren Unterlagen vermerkt hatte:
schwierig.
Als ich diese Arztberichte durchging, erinnerte ich mich an all das,
was Carly nicht war. Die meisten Eltern haben eine lange Liste von wit-
zigen Geschichten über die ersten Jahre ihrer Kinder. Eines Tages pro-
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fitierte ich von fünf Minuten Ruhe, während die Zwillinge ein Schläf-
chen machten, um mich auf dem Bett auszustrecken. Und gerade, als
ich wegdöste, trampelte Matthew zur Tür herein wie Napoleon, der in
Italien einmarschierte, sang »stinkender furzender Po, stinkender fur-
zender Po« und warf dabei ein gerahmtes Foto um, das auf dem Nacht-
tisch stand. Als ihm klar wurde, was er angestellt hatte, stammelte er
zerknirscht: »Oh, es ist zu Brei gegangen«, und wollte eigentlich sagen:
»Es ist entzweigegangen.«
Taryn brachte uns mit ihrer Unabhängigkeit und Lebendigkeit zum
Lachen. Sie holte Spielzeug aus dem Schrank, setzte sich auf den
Boden zu unseren Füßen und spielte dort stundenlang ganz zufrieden.
In Bezug auf ihre Schwester hatte sie immer Sinn für Humor. Einmal
lag Carly nach dem Baden nackt auf unserem Bett, sie muss so drei
oder vier Jahre alt gewesen sein. Taryn nahm sich eine von Tammys
Kreditkarten, die auf dem Nachttisch lagen, und tat so, als würde sie
sie durch den Schlitz zwischen Carlys Pohälften ziehen, wobei sie
verkündete: »Ich zahle mit Karte.« Tammy und sie mussten so heftig
lachen, dass ihnen Tränen über die Wangen rannen. Wenige Minuten
später kam Taryn dann erneut in unser Zimmer, zog ihre Pyjama-
hose herunter und entblößte eine Karamellstange zwischen ihren Po-
backen. Sie quietschte: »Ich hab einen Schokopo!«, ehe sie sich auf den
Boden fallen ließ und in Lachsalven ausbrach. Vielleicht hätte ich mir
über die skatologische Besessenheit meiner Kinder Gedanken machen
sollen, aber sie lieferte uns eine so befreiende Komik, dass wir sie darin
bestärkten.
Selbst in Taryns Frechheit lag eine freundliche Unschuld. Einmal
nannte sie eine Lehrerin an ihrem Kindergarten kleines Fräulein. »Ich
heiße Miss Whittington«, korrigierte sie die junge Frau. »Na gut, klei-
nes Fräulein Miss Whittington«, sagte Taryn kichernd. Bereits mit drei
Jahren hatte sie einen komischen Sinn für Timing.
Aber zu Carly fällt mir keine solche Erinnerung ein. Die Seiten, die
die ersten Jahre von Carlys Leben füllen, gleichen einer Bestandsliste
von Unvermögen. »Mit Carly zu arbeiten war schwierig«, merkte ihre
Kinderärztin nach dem ersten Gespräch an. »Ich bekam sie dazu, sich
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an einen Tisch zu setzen und Dinge in die Hand zu nehmen, die ich ihr
reichte, aber sie war nicht in der Lage, Würfel aufeinanderzustapeln
oder Stifte in ein Steckbrett zu stecken. Sie reagierte auf keine verbalen
Aufforderungen. Ich vernahm undeutliche, konsonantische Laute, aber
keine einzelnen Worte.« Selbst ein Jahr danach, nach zahllosen Be-
handlungsstunden, bemerkte Dr. Stephensen, eine Kinderärztin, die
wir regelmäßig aufsuchten: »Carly stellt für mich noch immer ein Rät-
sel dar, obwohl man nicht bestreiten kann, dass man sich mit sehr
vielen hinzugezogenen Fachärzten um eine sorgfältig Abklärung be-
müht hat.«
Selbst als Carly dann schließlich ein paar Fertigkeiten erlernte, setzte
sie diese häufig auf eine Weise an, die mir zeigte, wie sehr sie sich von
ihrem Bruder und ihrer Schwester unterschied. Als sie laufen gelernt
hatte, fing sie sogleich an zu rennen – für gewöhnlich Hals über Kopf
in irgendeine gefährliche Situation, wie zum Beispiel auf eine stark
befahrene Straße. Als sie Freude daran gewann, Dinge in die Hand zu
nehmen, fing sie auch gleich damit an, sie von sich zu schleudern –
zum Beispiel einen Teller mit Essen oder ein Glas Saft. Ich lernte Mari
immer mehr zu schätzen. Nach dem Essen wischte sie die Essensreste
auf, die Carly weggeschleudert hatte (hatte sie überhaupt etwas geges-
sen?), und ging mit den Mädchen im Park spazieren.
In der Stunde ihrer Abwesenheit war es im Haus halbwegs ruhig.
Matthews bester Freund wohnte auf der anderen Straßenseite, wes-
halb die beiden nach der Schule unzertrennlich waren. Tammy saß an
ihrem Schreibtisch und plagte sich mit den Formularen herum, die
die Regierung hervorbrachte, um diejenigen, die auf Hilfe angewiesen
waren, davon abzuhalten, diese zu beantragen. Und ich konnte in aller
Ruhe dasitzen, Zeitung lesen, eine halbe Stunde lang ungestört mein
Essen zu mir nehmen und mich auf den Moment vorbereiten, wenn
Mari am Abend nach Hause ging und Carly sich für die zweite Runde
fertig machte. Das war nun nicht gerade ein Familienessen, aber wir
machten das Beste aus unserer gestörten Realität.
Vielleicht hatten wir deshalb niemals einen Aha-Effekt mit Carly,
weil ihre Fortschritte stets von ihren Problemen überschattet waren.
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Irgendwann lernte sie also zu laufen und, in gewisser Weise, allein zu
essen. Sie konnte ein paar verschwommene Worte wie Mama und
Käcka sagen, was Kräcker bedeutete, oder aft für Saft. Doch selbst
diese Annäherungen an das Sprechen würden sich bald wieder in Luft
auflösen. Mit vier Jahren brauchte sie noch immer Windeln, wachte
mitten in der Nacht auf und hatte Anfälle, die stundenlang andauer-
ten. Kaum, dass sie wach war, zog sie ihren Schlafanzug aus ( für sich
genommen eine Leistung, wie ihre Kinderärztin uns mitteilte), riss
sich die Windel vom Leib, hüpfte in ihrem Zimmer herum und bellte
ahhh ahhh ahhh. Und dann wiegte sie sich. Immer dieses unablässige
Wiegen. Das Wiegen wurde zu einem Symbol all der Dinge, die ich an
Carlys Zustand hasste. Es war irritierend, destruktiv und nicht zu unter-
binden. »Schschschschsch«, würde ich dann sagen, was sich aber eher
anhörte wie ein: »Hör auf, verdammt noch mal!« In gewisser Weise
war es ganz gut, dass Carly nicht sprechen konnte; meine Flüche ver-
selbstständigten sich häufig.
Taryn, die sich das Zimmer mit Carly teilte, schlief trotz allem ir-
gendwie weiter. Entweder das, oder aber sie hatte die erste Lektion des
Aufwachsens als Zwilling eines behinderten Kindes gelernt: Verhalte
dich ruhig. Tammys und meine Erschöpfung und Frustration durch die
Sisyphusarbeit, das Bett wieder und wieder neu zu beziehen, Carly er-
neut anzuziehen und sie wieder zuzudecken, ließen uns permanent in
einem leicht aufbrausenden Zustand zurück.
Tammy verbrachte Stunden damit, nach jemandem zu suchen, der
dabei half, den Hurrikan zu bändigen, der unsere Tochter war. Wir fan-
den niemanden, der dieser Aufgabe gewachsen war, und noch weniger
fanden wir ein Heilmittel. Welche einfache Methode konnte es geben,
um ein 14 Kilo schweres Kind davon abzuhalten, seinen Körper mit vol-
ler Wucht gegen die Wand zu schleudern? Wir lernten, zu improvisie-
ren und jeweils eine Sache nach der anderen in Angriff zu nehmen.
Eines Abends kam ich ins Zimmer, um Carly einen Gutenachtkuss zu
geben, und stellte dabei fest, dass Mari einen eng anliegenden Bade-
anzug aus Lycra über Carlys Windel gezogen hatte. »So hat sie Schwie-
rigkeiten, sie auszuziehen, und außerdem scheint sie es zu mögen«,
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erläuterte Mari das Ganze. Wir hatten gelesen, dass manche Kinder
wie Carly das Gefühl der Enge als angenehm empfanden. Und wenn sie
noch dazu den Badeanzug nicht ausziehen konnte, dann konnte sie
auch die Windel nicht mehr ausziehen. Das war eine neuartige Tech-
nik, die wir anwandten, bis Carly schließlich sauber wurde – was mit
fünf der Fall war. Wenigstens gehörte jetzt das Herumsuchen im Dun-
keln nach ihren Windeln und ihrem Schlafanzug der Vergangenheit
an. Sie dazu zu bringen, eine Nacht durchzuschlafen, würde allerdings
weitere sieben Jahre benötigen.
Nachdem ihre Kinderärztin schweren Autismus und orale Apraxie dia-
gnostiziert hatte, stellte man bei Carly im Alter von zwei Jahren zusätz-
lich einen mäßigen bis starken Entwicklungsrückstand fest. Das ist ein
breit gefasster und sehr allgemeiner Ausdruck, der den verhassten Aus-
druck retardiert abgelöst hat und immer dann verwendet wird, wenn
die Ärzte keine genaue Ursache feststellen können. »Bei Carly ist keine
spezifische Ätiologie feststellbar«, so drückten sie das aus. Mehrere
Jahre später gab ich Ätiologie bei Google ein. Der Begriff, so fand ich
her aus, stammte aus dem Griechischen und bedeutete »die Lehre,
weshalb sich gewisse Dinge ereignen oder die Gründe, warum gewisse
Dinge existieren«. Die Griechen benutzten Mythen, um Phänomene zu
erklären, die sie sich vernunftmäßig nicht erklären konnten. Statt all
der Antworten, die wir bekommen hatten, um uns zu erklären, warum
Carly war, wie sie war, wäre ein Mythos ebenso hilfreich gewesen.
Ich warf den Ärzten ihre mangelnde Genauigkeit nicht vor. Wie
könnte ich das? An vielen Untersuchungsmethoden, die sie anwenden
wollten, konnte Carly sich nicht beteiligen. Sie leistete den mehrstufi-
gen Anweisungen oder Aufgaben keine Folge und konnte auch nicht spre-
chen und erklären, was in ihr vorging. Manchmal gurrte sie, wenn Tammy
oder ich sie knuddelten, und mit ihrer Schwester kicherte und lachte
sie viel. Doch die meiste Zeit war sie zufrieden, sich in ihrer eigenen
Welt treiben zu lassen und an der Peripherie der unseren zu bleiben.
Während wir sie Tag für Tag vom Arzt zur Klinik, dann zum Labor
und wieder zurück zerrten, kam uns die Überlegung, dass wir vielleicht
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einfach nur versuchten, sie mit einem Label zu versehen, um sie ein-
ordnen zu können. Wie viele Nadelstiche wollten wir ihr noch zu-
muten? Wie viele schlaflose Nächte für Elektroenzephalogramme mit
Elektroden, die an ihrem nass geschwitzten kleinen Kopf angebracht
waren? Evozierte Potenziale, Hör- und Sehtests? Haut- und Muskel-
biopsien? Die sich wiederholenden Erzählungen, mit denen wir bei
jedem Arzt, jeder Krankenschwester und jedem Assistenzarzt aufwar-
ten mussten, reichten völlig aus, uns zum Aufhören zu bewegen. In
ihrer frühen Kindheit hatten wir nichts gelernt, das Carly zu uns zu-
rückbringen würde, nichts, das sie mit anderen Kindern spielen ließ
oder ihr half, sich sinnvoll mit sich allein zu beschäftigen, nichts, das
ihrem kleinen lärmenden Mund half, verständliche Worte zu formulie-
ren. Wir hatten Diagnosen, aber keinerlei Einblicke in das, was getan
werden könnte, um Carly aus diesem Strudel zu befreien.
Wir waren an dem Punkt angekommen, an dem wir spürten, dass
das Maß voll war, und beschlossen, dass es kein weiteres körperliches
Leiden für die Wissenschaft geben würde. »Wenn es dabei nur um In-
formationen um der Information willen geht und sich kein Heilmit-
tel finden lässt, dann ist es an der Zeit, damit aufzuhören«, sagte mir
Tammy eines Abends, als sie zusammengesackt auf der Couch saß und
sich mit tränenüberströmtem Gesicht unsere Niederlage eingestand.
Wir konnten die Hoffnung, ein spezifisches Körperteil bei Carly zu
finden, das nicht funktionierte und einfach zu reparieren war, nicht
länger aufrechterhalten. Globale Entwicklungsverzögerungen, tiefgrei-
fende Entwicklungsstörungen, Autismus, ideomotorische Apraxie – alles
Zustandsbeschreibungen, aber keine davon ein spezifisches Leiden.
Hätte sie Krebs gehabt, dann hätten wir gewusst, was getan werden
muss. Hätte sie einen Gehirnschaden erlitten oder einen Schlaganfall,
dann hätten wir ihren Zustand verstehen können. Aber Carlys Leiden
war wie ein Klecks Quecksilber: sichtbar, kompakt und real, doch so-
bald man versuchte, ihn festzuhalten, entglitt er einem.
Auch wenn die Ärzte in ihren Berichten von den »beherzten Versu-
chen ihrer fürsorglichen und höchst engagierten Eltern« sprachen, hat-
ten wir niemals dieses Aha-Erlebnis, so sehr wir es uns auch wünsch-
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ten. Eine Sackgasse führte in die nächste. Und irgendwie musste das
Leben weitergehen. Unsere anderen beiden Kindern wuchsen und ent-
wickelten sich weiter. Uns gingen die Überweisungen und Empfehlun-
gen aus. Und obwohl es in Kanada ein öffentliches Gesundheitswesen
gibt, wurden viele der Therapien und Beratungen nicht von der Kasse
übernommen und unser Überziehungskredit brachte uns an den Rand
des Abgrunds. »Ich habe das Gefühl, dass es einen Schalter in ihrem
Kopf gibt, der einfach nur umgelegt werden muss«, sagte Tammy. Aber
dieser Schalter war außer Sicht- und Reichweite. Insgeheim hatten wir
gehofft, die magische Pille zu finden, die Carly in jemand anderen ver-
wandeln würde; in jemanden, der sprechen, spielen und mit uns zu-
sammen sein könnte. Aber dieser Wahnwitz musste enden. Es ist nicht
so, dass wir unsere Tochter aufgeben wollten, aber es war an der Zeit
aufzuhören, nach dem Warum zu suchen, und stattdessen »Was jetzt?«
zu fragen.
Auszug aus dem Bericht für klinische Genetik, 12. Oktober 1997:
Dr. D. Shaet, Abteilung für klinische Genetik
Weiterhin Verzögerungen bei entwicklungstypischen Meilenstei-
nen, aber sie haben sich verbessert … Sie liegt nicht gerne auf
dem Bauch, und um sich fortzubewegen, rutscht sie auf dem Po.
Carlys feinmotorische Fähigkeiten sind verzögert, aber sie hat im
letzten Jahr viele Meilensteine erreicht. Sie hat ihren Zangengriff
verbessert, berührt Gegenstände aber nicht gerne und stapelt auch
keine Gegenstände übereinander. Sie versucht nicht, ein Puzzle
zusammenzusetzen und malt nicht.
Was die Sprache betrifft, so hat sie Schwierigkeiten sowohl mit
dem Sprachverständnis als auch mit der Ausdrucksfähigkeit …
sie leistet höchstens einer einfachen Aufforderung Folge. Carly
inter agiert häufig mit ihrer Schwester, nicht aber mit anderen Kin-
dern …
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Die bisherigen Untersuchungen haben keinen speziellen Be-
fund ergeben. Ich habe den Eltern erklärt, dass ich bezweifle,
dass wir Carlys Erkrankung genauer eingrenzen können. Den-
noch würden wir sie gerne weiter beobachten und alle zwei Jahre
durchchecken, und ebenso über ihr Wachstum, ihre Entwicklung
und irgendwelche neurologischen oder medizinischen Maßnah-
men informiert werden …
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. D. Shaet
Abteilung für klinische Genetik
CC: Ablage Krankenakte, Dr. I. Tine (Neurologie), Dr. D. Stephen-
sen (Sozialpädiatrie), Dr. J. Kobayashi (Neurologie), Dr. M. Gold-
stein (Kinderarzt)
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Ein wiederkehrender Traum
Ich habe einen Traum, den ich schon viele Male geträumt habe, seit Carly ge-boren ist. Wir zwei sitzen zusammen in der Küche. Oder vielleicht auch im Fern-sehzimmer. Wir reden. Carly redet. Sie zieht mich wegen etwas auf.
»Wie findest du meinen Haarschnitt?«, frage ich sie.»Sieht so aus, als wäre dein Kopf in einen Mixer geraten«, witzelt sie trocken.Lauthals lachend wache ich auf.Dann drehe ich mich auf die Seite und weine.
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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Arthur Fleischmann
"In mir ist es laut und bunt"Eine Autistin findet ihre Stimme - ein Vater entdeckt seineTochter
DEUTSCHE ERSTAUSGABE
Paperback, Klappenbroschur, 416 Seiten, 13,5 x 20,6 cmISBN: 978-3-453-64049-8
Heyne
Erscheinungstermin: August 2013
Außen stumm und verschlossen – innen ein Wunder der Sprache Carly wird mit einer schweren Form von Autismus geboren. Sie werde nie sprechen könnenund geistig auf dem Stand eines Kleinkindes bleiben, heißt es. Keine Förderung zeigt Wirkung.Bis Carly mit zehn plötzlich drei Wörter in den Laptop ihres Sprachtherapeuten tippt ...Beeindruckend beschreibt Carlys Vater Arthur in einer Mischung aus seinen und Carlys Worten,wie er Zugang zur Welt seiner Tochter findet und eine inspirierende hochintelligente junge Fraukennenlernt, die ihre Stimme und ihren Weg gefunden hat.