Das Glaskraut – eine verkannte Allergiepflanze in Mitteleuropa

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© 2008 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.pharmuz.de 5/2008 (37) | Pharm. Unserer Zeit | 433

auch als Neophyt per Zug oder Schiffneu eingeschleppt wird.

Da die Blüten von Parietariavom Wind bestäubt werden, setzendiese große Mengen an staubfeinemPollen frei, der für die menschlicheGesundheit von großer Bedeutungist: Im Mittelmeergebiet ist Glas-krautpollen neben Pollen von Oliveund Gräsern Haupt-verursacher von Heu-schnupfen und Asth-ma. Da die Pflanzenvom zeitigen Frühjahrbis in den Herbst blü-hen, kommt es fastganzjährig zum Auf-treten der entspre-chenden Symptomatik,wobei hauptsächlich10- bis 30-jährige Per-sonen betroffen sind.Die Hauptallergenedes Glaskrauts sindkleine Glykoproteinemit einem Molekular-gewicht zwischen 10und 14 kDa, deren Bindungsstellenfür IgE-Moleküle schon länger er-forscht sind. Hier liegt auch der An-satz für eine Immuntherapie, indemharmlose Peptide mit einer zum Epi-top analogen Struktur die Immunglo-bulin-Moleküle bindenund so die Freisetzungvon Histamin und da-mit die allergische Re-aktion verhindern. InMitteleuropa ist Glas-krautpollen wohl nochnicht in nennenswer-tem Umfang als Aller-gen von Bedeutung,wenn man auch kaumetwas über Sensibilisie-rungsraten weiß. Solltesich die Pflanze im Zu-ge von global changeallerdings weiter aus-breiten, könnte sichdies – zumindest inden Hauptverbrei-tungsgebieten – viel-leicht schon bald ändern.

Thomas Junghans, Borchen

Seit mehr als 2000 Jahren werdenGlaskraut-Arten (Gattung Parietaria)ihres Gehalts an Bitter- und Gerbstof-fen wegen als Heilpflanzen genutzt.Offizinell war das Aufrechte Glas-kraut (Parietaria officinalis), dochdeutet schon die Beschreibung inden frühen Kräuterbüchern daraufhin, dass daneben auch das sehr vielhäufigere Mauer-Glaskraut (Parieta-ria judaica) analog verwendet wur-de. So zeigt z.B. die Bildtafel 154 inLeonhart Fuchs’ berühmten Kräuter-buch von 1543 zwar Parietaria offi-cinalis, in der dazugehörenden Be-schreibung wird aber auf den „zar-ten/rotlechten/oder braunen Stengel“der Pflanze hingewiesen, der für Pa-rietaria judaica charakteristisch ist.

Herba Parietariae war aufgrundseiner harntreibenden Wirkung Be-standteil einer Vielzahl diuretischerPräparate und wurde z.B. gegen Nie-rensteine eingesetzt: „Dieweil es aberauch seubert/mag mans auch gebendenen so den Stein haben/ unndnicht leichtlich harnen künden“(Fuchs).

Die rund 850 Arten umfassendeGruppe der Brennnesselgewächse(Familie Urticaceae) sind eine über-wiegend krautige Gruppe, deren Blü-ten reduziert und überwiegend ein-geschlechtig sind. Nur beim Glas-kraut kommen neben rein weibli-chen und männlichen Blüten auchZwitterblüten vor. Die Blätter derGraskraut-Arten sind ganzrandig undwechselständig angeordnet, Brenn-haare fehlen. Die in dichten, knäueli-gen Infloreszenzen stehenden Blütenbestehen aus einer vierteiligenBlütenhülle und vier Staubgefäßen,die Frucht ist eine im Nahbereichentsprechender Pflanzenbeständedurch Ameisen ausgebreitete einsa-mige Nuss.

Von den weltweit etwa 30 Vertre-tern der Gattung Parietaria kommensieben in Europa, drei davon in

Deutschland vor, allesamt Adven-tivpflanzen, also nicht natür-licherweise bei uns vorkommend.Unter diesen ist das meist etwa 60 cm hohe und niederliegend bisaufrecht wachsende Mauer-Glaskraut(Parietaria judaica) die mit Abstandhäufigste und am weitesten verbrei-tete Art. Ursprünglich im Mittelmeer-gebiet beheimatet, wurde die Pflanzewohl überwiegend unabsichtlichdurch die Römer mit dem Weinbauverschleppt und konnte sich so inwarmen und wintermilden RegionenMitteleuropas als Archäophyt fest ein-bürgern. Dabei wächst es vor allemin nitrophilen, ruderalen Säumen ent-lang von Gebüschen, Baumreihen,Wegen etc. Außerdem besiedelt esMauern, worauf schon der lateini-sche Name der Pflanze bezugnimmt(Paries, parietis = Wand). Nebenkleinwüchsigen „Hungerformen“ inden Fugen der Mauerwand könnendie am nährstoffreicheren Mauerfußwachsenden Individuen rund einenMeter hoch werden, weshalb siedann leicht mit Parietaria officinaliszu verwechseln sind.

Etwa seit Mitte der 1980er Jahrebreitet sich Parietaria judaica wei-ter nach Nordosten, aber auch nachSüden und Südosten aus. Zum Bei-spiel wird im Raum Mannheim – wieauch in ganz Baden-Württemberg –in den letzten Jahren eine deutlicheZunahme von Fundorten registriert,die zumeist in der Nähe von Neckarund Altrheinarmen liegen und somitdarauf hindeuten, dass Flüsse wichti-ge Vektoren einer Fernausbreitungvon Parietaria-Diasporen sind. Ursa-che für die fortschreitende Ausbrei-tung dürften verlängerte Vegetations-zeiten infolge des Klimawandels sein,wofür auch die in jüngster Zeit beob-achtete Ausbreitung weiterer thermo-philer Pflanzensippen spricht. Aller-dings ist nicht auszuschließen, dassdas Glaskraut zudem hier oder da

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A B B . 1 Ab-schnitt einesSprosses von Parietaria judaica mit Blütenständen in den Achselnder Laubblätter.

A B B . 2 Mauer-fugen sind ein ty-pischer Wuchsortdes Mauer-Glas-krauts (Parieta-ria judaica).