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HUGO VON SANKT VIKTOR
DIDASCALICON DE STUDIO LEGENDI1
Aus: Hugo von Sankt Viktor , Didascalicon. De studio legendi. Studienbuch, lat./dt., übersetzt und
eingeleitet von Thilo Offergeld (Fontes Christiani 27), Freiburg i.Br. 1997.
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort ................................................................................................................................................... 3 Erstes Buch ............................................................................................................................................. 4
Kapitel 1: Der Ursprung der Wissenschaften ...................................................................................... 4 Kapitel 2: Philosophie ist das Streben nach Weisheit ....................................................................... 6 Kapitel 3: Die dreifache Potenz der Seele – Nur der Mensch ist mit Vernunft begabt ................. 6 Kapitel 4: Welche Bereiche zur Philosophie gehören ........................................................................ 8 Kapitel 5: Der Ursprung der Theoretik, der Praktik und der Mechanik ........................................ 8 Kapitel 6: Die drei Arten von Dingen ................................................................................................... 9 Kapitel 7: Die superlunare und die sublunare Welt ......................................................................... 10
Kapitel 8: Worin der Mensch Gott ähnlich ist .................................................................................. 10 Kapitel 9: Die drei Werke .................................................................................................................... 11 Kapitel 10: Was Natur ist ..................................................................................................................... 12 Kapitel 11: Der Ursprung der Logik ................................................................................................... 12
Zweites Buch ......................................................................................................................................... 14
Kapitel 1: Die Unterscheidung der Wissenschaften ......................................................................... 14 Kapitel 2: Die Theologie ....................................................................................................................... 15 Kapitel 3: Die Mathematik .................................................................................................................. 16 Kapitel 4: Die Vierzahl der Seele ........................................................................................................ 17 Kapitel 5: Die Vierzahl des Körpers ................................................................................................... 18 Kapitel 6: Das Quadrivium .................................................................................................................. 18 Kapitel 7: Der Begriff „Arithmetik“ ................................................................................................... 19 Kapitel 8: Der Begriff „Musik“ ............................................................................................................ 19 Kapitel 9: Der Begriff „Geometrie“ ..................................................................................................... 19 Kapitel 10: Der Begriff „Astronomie“ ................................................................................................. 19 Kapitel 11: Die Arithmetik .................................................................................................................. 19 Kapitel 12: Die Musik ........................................................................................................................... 20 Kapitel 13: Die Geometrie .................................................................................................................... 20 Kapitel 14: Die Astronomie .................................................................................................................. 21 Kapitel 15: Definition des Quadriviums............................................................................................. 21 Kapitel 16: Die Physik .......................................................................................................................... 21 Kapitel 17: Das Spezifische der einzelnen Wissenschaften ............................................................. 22 Kapitel 18: Zusammenfassung des oben Gesagten ............................................................................. 23 Kapitel 19: Fortsetzung ......................................................................................................................... 23 Kapitel 20: Die Einteilung der Mechanik in sieben Wissenschaften ............................................ 24 Kapitel 21: Erstens: Die Tuchherstellung .......................................................................................... 24
1 Das Studienbuch – über das Studium des Lesens
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Kapitel 22: Zweitens: Die Waffenschmiedekunst ............................................................................. 24
Kapitel 23: Drittens: Die Handelsschiffahrt ..................................................................................... 25 Kapitel 24: Viertens: Die Landwirtschaft .......................................................................................... 25 Kapitel 25: Fünftens: Die Jagd ............................................................................................................ 26 Kapitel 26: Sechstens: Die Medizin ..................................................................................................... 26 Kapitel 27: Siebtens: Die Theaterkunst .............................................................................................. 27 Kapitel 28: Die Logik als der viere Teil der Philosophie ................................................................ 27 Kapitel 29: Die Grammatik .................................................................................................................. 28 Kapitel 30: Die Argumentationslehre ................................................................................................. 28
Drittes Buch ......................................................................................................................................... 30
Kapitel 1: Ordnung und Methode in Studium und Wissenschaft ................................................... 30 Kapitel 2: Die Urheber der Wissenschaften ...................................................................................... 30 Kapitel 3: Welche Wissenschaften vornehmlich zu studieren sind ............................................... 32 Kapitel 4: Die zwei Arten von Schriften ............................................................................................ 33 Kapitel 5: Jeder Wissenschaft muß man das Ihre zukommen lassen ............................................ 34 Kapitel 6: Was für das Studium nötig ist ........................................................................................... 35 Kapitel 7: Die natürliche Auffassungsgabe ....................................................................................... 35 Kapitel 8: Die Ordnung beim Lesen .................................................................................................... 35 Kapitel 9: Die Methode beim Lesen .................................................................................................... 36 Kapitel 10: Die Meditation ................................................................................................................... 36 Kapitel 11: Das Gedächtnis .................................................................................................................. 37 Kapitel 12: Die sittliche Disziplin ...................................................................................................... 37 Kapitel 13: Die Demut .......................................................................................................................... 38 Kapitel 14: Der Eifer im Forschen ..................................................................................................... 39 Kapitel 15: Die vier übrigen Vorschriften ......................................................................................... 41 Kapitel 16: Ruhe .................................................................................................................................... 41 Kapitel 17: Untersuchung ..................................................................................................................... 41 Kapitel 18: Anspruchslosigkeit ............................................................................................................ 41 Kapitel 19: Fremde ................................................................................................................................ 42
Viertes Buch ......................................................................................................................................... 42
Kapitel 1: Das Studium der heiligen Schriften ................................................................................. 42 Kapitel 2: Ordnung und Zahl der Bücher .......................................................................................... 43 Kapitel 3: Die Verfasser der heiligen Bücher ................................................................................... 44 Kapitel 4: Was eine Bibliothek ist ...................................................................................................... 44 Kapitel 5: Die Übersetzer ...................................................................................................................... 45 Kapitel 6: Die Verfasser des Neuen Testamentes .............................................................................. 45 Kapitel 7: Die übrigen sind Apokryphen – Was sind Apokryphen? .............................................. 46 Kapitel 8: Die Bedeutung der Namen der heiligen Bücher ............................................................. 46 Kapitel 9: Das Neue Testament ............................................................................................................ 49 Kapitel 10: Die Kanontafeln ................................................................................................................ 49 Kapitel 11: Die Kanones der Konzilien .............................................................................................. 49 Kapitel 12: Es gibt vier Hauptsynoden ............................................................................................... 50 Kapitel 13: Die Begründer von Bibliotheken .................................................................................... 51 Kapitel 14: Welche Schriften authentisch sind ................................................................................ 51 Kapitel 15: Welche Schriften apokryph sind .................................................................................... 52 Kapitel 16: Einige Worterklärungen, die sich auf das Lesen beziehen ......................................... 53
Fünftes Buch ........................................................................................................................................ 54
Kapitel 1: Einige Besonderheiten der Schrift – Die Art, sie zu lesen............................................ 54 Kapitel 2: Der dreifache Wortsinn ..................................................................................................... 54 Kapitel 3: Auch Dinge haben in der Heiligen Schrift eine Bedeutung ......................................... 55 Kapitel 4: Die sieben Regeln ................................................................................................................ 56 Kapitel 5: Was das Studium behindert ............................................................................................... 58 Kapitel 6: Die Früchte der geistlichen Lektüre ................................................................................ 59 Kapitel 7: Wie man die Heilige Schrift studieren soll, um sein sittliches Verhalten zu verbessern ................................................................................................................................................ 59 Kapitel 8: Studieren ist die Sache der Anfänger, Handeln Sache der Vollkommenen ................ 61 Kapitel 9: Vier Stufen ........................................................................................................................... 62
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Kapitel 10: Die drei Arten von Studierenden .................................................................................... 63
Sechstes Buch ....................................................................................................................................... 64
Kapitel 1: Wie diejenigen die Heilige Schrift studieren sollen, die darin Wissen suchen ......... 64 Kapitel 2: Die Ordnung bei den Wissenschaftsdisziplinen ............................................................. 64 Kapitel 3: Geschichte ............................................................................................................................ 64 Kapitel 4: Die Allegorie ........................................................................................................................ 67 Kapitel 5: Die Tropologie, das heißt die Moralität .......................................................................... 70 Kapitel 6: Die Reihenfolge der Bücher .............................................................................................. 71 Kapitel 7: Die Reihenfolge der Erzählung ........................................................................................ 72 Kapitel 8: Die Reihenfolge der Auslegung ......................................................................................... 72 Kapitel 9: Der Wortlaut........................................................................................................................ 72 Kapitel 10: Der Sinn ............................................................................................................................. 73 Kapitel 11: Die tiefere Bedeutung ....................................................................................................... 74 Kapitel 12: Die Methode beim Lesen .................................................................................................. 74 Kapitel 13: Die Meditation wird hier nicht behandelt..................................................................... 74
Appendices ............................................................................................................................................ 75
Appendix A: Einteilung des Inhalts der Philosophie ...................................................................... 75 Appendix B: Die Magie und ihre Teile .............................................................................................. 76 Appendix C: Die drei Seinsweisen von Dingen .................................................................................. 77
VORWORT
Es gibt viele Menschen, welche in ihrer Begabung so sehr von der Natur vernachlässigt
worden sind, daß sie sogar leichte Sachen kaum geistig erfassen können. Von solchen
Menschen scheint es mir zwei Arten zu geben. Die einen kennen ihre geistige Schwäche sehr
wohl, bemühen sich aber dennoch mit all ihrer Kraft, Wissen zu erwerben; und indem sie sich
unablässig anstrengen, erreichen sie schließlich verdientermaßen als Ergebnis ihrer
Willenskraft, was sie als Ergebnis ihrer Arbeitsleistung nicht erreicht haben. Die anderen
dagegen, weil sie merken, daß sie die höchsten Dinge nicht verstehen können, vernachlässigen
auch die geringsten, und während sie sozusagen im Schutze ihrer Trägheit dahindämmern,
verlieren sie das Licht der Wahrheit in den wichtigsten Dingen um so mehr, je mehr sie sich
weigern, die geringsten, welche sie doch verstehen könnten, kennenzulernen. Von solchen sagt
der Psalmist: „Sie wollten nicht verstehen, wie sie Gutes tun könnten“ (vgl. Ps 35,4 Vg. G).
„Nicht wissen“ ist nämlich etwas ganz anderes als „nicht wissen wollen“. Nichtwissen ist
einfach ein Zeichen von Schwäche, die Ablehnung von Wissen aber ist Zeichen eines bösen
Willens.
Es gibt aber noch eine andere Art von Menschen, welche die Natur mit der ganzen Fülle
der Begabung ausgestattet und denen sie den Zugang zur Wahrheit leicht gemacht hat. Dabei
ist gewiß das Ausmaß dieser Begabung jeweils unterschiedlich, aber diese Menschen haben
auch nicht alle die gleiche Disziplin und denselben Willen, ihre natürliche Anlage durch
Übung und Unterricht weiter auszubilden. Denn viele verwickeln sich über das nötige Maß
hinaus in die Geschäfte und Sorgen dieser Welt oder geben sich (105) Lastern und sinnlichen
Neigungen hin und vergraben so das ihnen von Gott gegebene Talent (vgl. Mt 25,18) in der
Erde, ohne sich damit die Frucht der Weisheit oder den Lohn eines guten Werkes zu
erwerben. Diese Leute sind in der Tat verabscheuungswürdig. Für andere hingegen
beeinträchtigen Mangel an Familienvermögen und geringer Besitz die Möglichkeit zu lernen.
Allerdings sind wir keinesfalls der Ansicht, daß diese damit vollauf entschuldigt werden
können, denn wir sehen schließlich, daß die meisten von ihnen, auch wenn sie mit Hunger,
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Durst und Blöße zu kämpfen haben, trotzdem die Frucht des Wissens erlangen. Und doch ist
es ein Unterschied, ob man nicht lernen kann – oder besser: nicht leicht lernen kann –, oder
ob man lernen kann, es aber nicht will. Denn wie es ruhmvoller ist, allein aus eigener Kraft
zur Weisheit zu gelangen, auch wenn die Mittel fehlen, so ist es gewiß schimpflicher, voller
Geisteskraft und allen Reichtum zu besitzen und dennoch im Nichtstun zu erschlaffen.
Zwei Dinge sind es vor allem, durch die jeder Wissen erlangt, nämlich Lesen und
Meditation. Von diesen beiden steht das Lesen an erster Stelle in der Unterweisung, und
davon handelt auch dieses Buch, indem es Regeln zum richtigen Lesen gibt. Drei Regeln sind
in besonderem Maße für das Lesen notwendig: erstens soll jeder wissen, was er lesen soll,
zweitens, in welcher Reihenfolge er lesen soll, also welches früher und welches später, und
drittens, in welcher Weise er lesen soll. Diese drei Punkte werden, jeder für sich, in diesem
Buch behandelt. Das Buch unterweist aber sowohl den Leser weltlicher wie auch den heiliger
(107) Schriften. Es gliedert sich daher in zwei Teile, von denen jeder drei Abschnitte enthält.
Im ersten Teil belehrt es den Leser der Wissenschaften, im zweiten Teil den Leser der
heiligen Schriften. Es geht in der Belehrung so vor, daß es erst zeigt, was gelesen werden soll,
und dann, in welcher Reihenfolge und auf welche Weise gelesen werden soll. Um aber
deutlich zu machen, was gelesen werden soll, oder vielmehr, was vor allem gelesen werden soll,
führt das Buch im ersten Teil zunächst den Ursprung aller Wissenschaften auf sowie dann
deren Beschreibung und Einteilung, das heißt, inwiefern jede Wissenschaft eine andere
einschließt oder aber selbst in einer anderen enthalten ist. Auf diese Weise wird die
Philosophie aufgegliedert, von ihrer Spitze bis hinunter zu den letzten Einzelgliedern. Dann
zählt das Buch die Autoren der jeweiligen Wissenschaften auf und zeigt anschließend,
welche dieser Wissenschaften vornehmlich zu studieren sind, sowie in welcher Reihenfolge
und auf welche Weise. Zuletzt werden den Studierenden Weisungen für ihre Lebensführung
gegeben, und damit schließt der erste Teil.
Im zweiten Teil wird definiert, welche Schriften als die „heiligen“ zu gelten haben, dann
werden die Zahl und die Reihenfolge der heiligen Bücher, die Erklärungen ihrer Namen und
ihre Verfasser aufgeführt. Anschließend werden einige Besonderheiten der Heiligen Schrift
behandelt, die zu kennen unverzichtbar ist. Dann lehrt das Buch, wie derjenige die Heilige
Schrift lesen soll, der darin die Besserung seines Verhaltens und eine Richtschnur für sein
Leben sucht. Zuletzt schließlich unterweist es denjenigen der die Heilige Schrift aus Liebe
zur Wissenschaft liest, und somit kommt auch der zweite Teil zu seinem Ende. (109)
ERSTES BUCH
Kapitel 1: Der Ursprung der Wissenschaften
Unter allem, was erstrebenswert ist, ist das höchste die Weisheit, in der die Form des
vollkommenen Guten existiert. Die Weisheit erleuchtet den Menschen, so daß er sich selbst
erkennen kann – denn er war den übrigen Geschöpfen gleich, solange er nicht erkannte, daß
er als ein ihnen überlegenes Wesen erschaffen wurde. Sein unsterblicher Geist aber, von der
Weisheit erleuchtet, betrachtet seinen eigenen Ursprung und erkennt, wie unangemessen es
für ihn ist, irgend etwas außerhalb seiner selbst zu suchen, wenn doch das, was er selbst ist,
ihm genug sein könnte. Auf dem Dreifuß des Apollo steht geschrieben: „Gnothi seauton“ das
heißt, „erkenne dich selbst“. Denn in der Tat, wenn der Mensch seinen Ursprung nicht
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vergessen hätte, so würde er erkennen, daß alles, was der Veränderung unterworfen ist, ein
Nichts ist.
Unter Philosophen findet der Satz Zustimmung, daß die Seele aus allen Teilen der Natur
zusammengesetzt sei. Und (111) Platos Timaeus formte die Entelechie aus der teilbaren, der
unteilbaren und der aus beiden gemischten Substanz und ebenso aus der „einen“, der
„verschiedenen“ und der aus beiden gemischten Natur, wodurch das Universum bezeichnet ist.
Denn die Entelechie erfaßt „nicht nur die Elemente, sondern auch alle Dinge, die aus den
Elementen zusammengesetzt sind“, da sie, durch ihre geistige Erkenntnis, die unsichtbaren
Urgründe der Dinge wahrnimmt und, durch ihre Sinneseindrücke, die sichtbaren Formen der
tatsächlichen Dinge erfaßt. „Gewissermaßen geteilt, versammelt sie ihre Bewegung in zwei
Kreisen“, denn ob sie durch ihre Sinne hinausgeht zum Sinnenhaften oder ob sie durch ihre
geistige Erkenntnis zum Unsichtbaren hinaufsteigt, sie kreist umher und zieht die
Ähnlichkeiten der Dinge in sich zusammen; und daher ist auch ein und derselbe Geist, der
alles und jedes zu erfassen vermag, aus (113) jeder Substanz und Natur zusammengesetzt, so daß
er ein Abbild von deren Ähnlichkeit darstellen kann.
Denn es war ja ein Lehrsatz der Pythagoreer, daß Ähnliches von Ähnlichem erfaßt wird,
so daß also die vernunftbegabte Seele nicht in der Lage wäre, alles zu erfassen, wenn sie nicht
selbst aus allem zusammengesetzt wäre. Jemand hat dies einmal so formuliert:
„Erde erfassen wir durch Irdisches, Feuer durch Flammendes,
Nasses durch Flüssiges, Luft durch unseren Atem.“
Wir sollten allerdings nicht denken, daß Männer, die mit jeglicher Natur der Dinge aufs
beste vertraut waren, die Auffassung gehabt hätten, einfache Wesenheit könne aus einer
Quantität von Teilen bestehen. Sie erklärten vielmehr, um das bewundernswerte Vermögen
der Seele noch deutlicher zu machen, daß diese aus allen Naturen bestehe „nicht in ihrer
tatsächlichen Zusammensetzung, sondern in dem Prinzip dieser Zusammensetzung“. Denn
man darf nicht annehmen, daß die Seele die besagte Ähnlichkeit mit allen Dingen von
anderswo oder von außen erhalten hätte, vielmehr findet sie diese Ähnlichkeit in sich selbst
und schöpft sie aus sich selbst, aufgrund eines angeborenen Vermögens und eigener Kraft.
Denn, wie Varro im Periphyseon sagt: „Nicht jede Veränderung kommt von außen her auf die
Dinge zu, und in einer solchen Weise, daß alles was sich verändert, dabei notwendigerweise
etwas Vorhandenes verliert oder etwas Anderes, Verschiedenartiges, das es vorher nicht hatte,
von außen her dazugewinnt.“ Wir sehen zum Beispiel, wie eine Wand die Ähnlichkeit eines
beliebigen Bildes annimmt, wenn die Form diese Bildes von außen auf sie aufgetragen wird.
Wenn aber ein bildender Künstler ein Bild in Metall einprägt dann ist es das Metall selbst,
das beginnt, etwas anderes darzustellen, nicht einfach nur äußerlich, sondern aufgrund seiner
eigenen Fähigkeit (115) und natürlichen Beschaffenheit. Auf dieselbe Weise heißt es auch vom
Geist, da ihm die Ähnlichkeit mit allen Dingen eingeprägt ist, daß er alle Dinge ist und sich
aus allen Dingen zusammensetzt, nicht in tatsächlicher Wirklichkeit, sondern seiner
Möglichkeit und Fähigkeit nach. Dies also ist die Würde unserer Natur, die alle Menschen
von Natur aus in gleichem Maße besitzen, die aber nicht alle in gleichem Maße erkennen.
Denn der Geist, betäubt durch die körperlichen Leidenschaften und von sich selbst abgelenkt
durch die Gestalten des Sinnenhaften, hat vergessen, was er einmal war, und weil er sich nicht
erinnert, etwas anderes gewesen zu sein, glaubt er nur das zu sein, was man sehen kann. Aber
durch das Studium werden wir wiederhergestellt, so daß wir unsere eigentliche Natur
erkennen und lernen, nicht außerhalb zu suchen, was wir in uns selbst finden können. „ Das
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höchste Heilmittel im Leben“ ist also das Streben nach Weisheit; wer sie findet, ist glücklich,
und wer sie besitzt, der ist selig.
Kapitel 2: Philosophie ist das Streben nach Weisheit
„Pythagoras war der erste, der das Streben nach Weisheit Philosophie nannte“ und der es
vorzog, „ Philosoph“ genannt zu werden, denn bis dahin sprach man von sophoi, das heißt,
von Weisen. Es ist in der Tat angemessen, die Forscher der Wahrheit nicht „Weise“, sondern
„Liebhaber der Weisheit“ zu nennen, denn alle Wahrheit ist ja verborgen, so daß der Geist,
wie brennend er sie auch begehren und wie sehr er auch zu ihrer Erforschung aufstreben mag,
die Wahrheit in ihrem Wesen nur sehr schwer erfassen kann. Pythagoras aber etablierte die
Philosophie als Wissenschaft (117) „von den Dingen, die wahrhaft existieren und selber
unveränderbare Substanz besitzen“.
„Philosophie ist also die Liebe zur Weisheit, das Streben nach Weisheit und
gewissermaßen die Freundschaft mit der Weisheit. Gemeint ist allerdings nicht jene
Weisheit, die sich mit irgendwelchen Werkzeugen und mit handwerklichem Wissen und
Können beschäftigt, sondern die Weisheit, die in jeder Beziehung vollkommen ist, die ein
lebendiger Geist und die alleinige Grundursache der Dinge ist. Diese Liebe zur Weisheit aber
ist eine Erleuchtung des verständigen Geistes durch jene reine Weisheit und, gewissermaßen,
ein Rückzug und ein Rückrufen des menschlichen Geistes zu sich selbst, so daß das Streben
nach Weisheit als eine Freundschaft mit diesem Göttlichen, diesem reinen Geist erscheint.
Diese Weisheit überträgt die Würde ihrer eigenen Göttlichkeit auf alle Seelen und führt diese
zurück zu der Kraft und Reinheit, die ihrer Natur eigen ist. Und daraus entstehen die
Wahrheit des Forschens und des Denkens und die reine und heilige Sittlichkeit des
Handelns.“
„Da aber dieses hervorragendste Gut, die Philosophie, für menschliche Seelen vorbereitet
worden ist, muß die Darstellung auch, um ihrem Leitfaden weiter zu folgen, bei den
Wirkkräften der Seele beginnen.“
Kapitel 3: Die dreifache Potenz der Seele – Nur der
Mensch ist mit Vernunft begabt
„Es läßt sich insgesamt eine dreifache Potenz der Seele im Beleben von Körpern
unterscheiden: Die eine führt dem Körper das bloße Leben zu, so daß er geboren wird, wächst
und durch Ernährung weiter lebt; die zweite befähigt zur Unterscheidung durch die
Sinneswahrnehmung; die dritte stützt sich auf die Kraft des Geistes und der Vernunft. (119)
Die Aufgabe der ersten ist es, der Schaffung, der Ernährung und der Erhaltung von
Körpern zu dienen, ohne ihnen jedoch die Fähigkeit der Unterscheidung durch
Sinneswahrnehmung oder durch Vernunfterkenntnis zu verleihen. Diese Potenz ist wirksam
etwa in Gräsern und Bäumen und überhaupt in allem, was mit Wurzeln in der Erde haftet.
Die zweite Potenz ist zusammengesetzt und verbunden; indem sie die erste in sich
aufnimmt und sie zu einem Teil ihrer selbst macht, erlangt sie ein vielfältiges
Urteilsvermögen über diejenigen Dinge, die sie erfassen kann. Denn jedes Lebewesen, das mit
Sinneswahrnehmung ausgestattet ist, wird auch geboren, ernährt und erhalten; die Sinne aber
sind verschieden, es können bis zu fünf sein. Nun hat, was nur Nahrung zu sich nimmt,
deshalb nicht auch schon Sinneswahrnehmung, doch alles, was Sinneswahrnehmung hat,
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nimmt auch Nahrung zu sich – was beweist, daß ihm die erste Potenz der Seele, die des
Entstehens und Wachsens, zukommt. Diejenigen Lebewesen, die über Sinneswahrnehmung
verfügen, nehmen aber nicht nur die Formen der Dinge wahr, die in direkter Gegenwart des
sinnenbegabten Körpers auf sie einwirken, sondern sie behalten auch dann, wenn die
Sinneswahrnehmung aufgehört hat und die Objekte schon verschwunden sind, noch die
Abbilder der sinnlich wahrgenommenen Gestalten und entwickeln eine Erinnerung daran.
Jedes Lebewesen behält diese Eindrücke für längere oder kürzere Zeit, je nach seiner
Fähigkeit. Aber sie nehmen diese Eindrücke nur in einer verworrenen und unklaren Weise
auf, so daß sie aus deren Verbindung und Zusammenstellung heraus nichts zustande bringen
können. Sie können sich deshalb auch nicht an alle in gleicher Weise erinnern, und wenn
eine Erinnerung einmal verloren ist, können sie sie nicht zurückrufen und wieder
aufnehmen. Von der Zukunft haben sie überhaupt keine Kenntnis. (121)
Die dritte Potenz der Seele aber, die die beiden ersten Kräfte der Ernährung und der
Sinneswahrnehmung in sich einbezieht und sie gleichsam als Diener und Helfer gebraucht,
beruht ganz und gar auf der Vernunft. Sie betätigt sich entweder in unbezweifelbaren
Schlußfolgerungen über gegenwärtige Dinge oder in dem Verständnis der abwesenden oder
aber in der Erforschung der unbekannten Dinge. Diese Potenz steht nur dem
Menschengeschlecht allein zur Verfügung. Sie nimmt nicht nur vollkommene und
wohlbegründete Sinneseindrücke und Vorstellungen auf, sondern erklärt und bestätigt auch
durch einen vollgültigen Erkenntnisakt, was das Vorstellungsvermögen dargeboten hat. Dieser
göttlichen Natur genügt es daher, wie gesagt, nicht, das zu erkennen, was sich ihren Sinnen
darbietet, sondern indem sie aus Sinneseindrücken Vorstellungen bildet, ist sie auch in der
Lage, gegenwärtig nicht vorhandenen Dingen Namen zu geben, und was sie durch ihr
Erkenntnisvermögen erfaßt, das enthüllt sie durch die Benennung mit Wörtern. Denn auch
das ist dieser Natur eigen, daß sie mit Hilfe des Bekannten das Unbekannte erforscht, und
von allem will sie nicht nur wissen, ob es sei, sondern auch was, wie beschaffen und sogar
warum es sei.
Wie schon gesagt, ist allein die menschliche Natur mit dieser dreifachen Potenz der Seele
ausgestattet worden. Die Kraft ihrer Seele erstreckt sich auch auf die Bewegungen der
Erkenntnis, und dadurch übt sie die Kraft der Vernunft in der ihr eigentümlichen Weise in
den folgenden vier Betätigungen aus: Entweder sie untersucht, ob ein Ding existiert, oder,
wenn sie dies festgestellt hat, erkundet sie, was dieses Objekt ist. Wenn sie aber über dies
beides vernünftige Kenntnis gewonnen hat, erforscht sie die Eigenschaften eines jeden Dings
und die Einflüsse aller anderen Akzidentien; und wenn sie all dies weiß, so ergründet sie
gleichwohl noch weiter mit ihrer Vernunft, warum das Ding so ist, wie es ist. (123)
Da es nun die Verhaltensweise des menschlichen Geistes ist, sich stets mit der
Wahrnehmung der gegenwärtigen oder mit der Erkenntnis der nicht gegenwärtigen oder aber
mit der Erforschung und Entdeckung der unbekannten Dinge zu befassen, so gibt es zwei
Dinge, denen die Kraft der denkenden Seele ihre ganze Mühe widmet: Das eine ist, daß sie
durch rationale Erforschung die jeweilige Natur der Dinge erkenne, das andere aber ist, daß
sie dasjenige zunächst wissensmäßig erfasse, was später der sittliche Ernst in die Praxis
umsetzen soll.“
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Kapitel 4: Welche Bereiche zur Philosophie gehören
Wir sind aber nun wie ich sehe, durch die Vorgehensweise unserer Erörterung in ein
„unentrinnbares Labyrinth“ geraten, wobei die Schwierigkeit nicht durch komplizierte Worte,
sondern durch die undurchsichtige Materie selbst verursacht ist. Da wir es unternommen
haben, von dem Streben nach Weisheit zu sprechen, und da wir bestätigt haben, daß dieses
Streben aufgrund eines bestimmten Vorrechtes ihrer Natur allein den Menschen zu eigen ist,
kommen wir offenbar folgerichtig zu der Auffassung, daß die Weisheit eine Art Leiterin
aller menschlichen Handlungen ist. Während nämlich die Natur der unvernünftigen Tiere,
die durch keine rationale Urteilskraft beherrscht wird, ihre Bewegungen nur nach den
Eindrücken der Sinne richtet und im Begehren wie im Meiden keine Unterscheidung
vernünftiger Einsicht anwendet, sondern von einem blinden Verlangen des Fleisches
getrieben wird, so ist es doch auf der anderen Seite so, daß die Handlungen der
vernunftbegabten Seele nicht durch blinde Begierde hinweggerissen werden, sondern daß
ihnen stets die Weisheit als Leiterin (125) vorausgeht. Wenn dies aber als wahr feststeht, dann
können wir sagen, daß nicht nur diejenigen Studien, die sich mit der Natur der Dinge oder
der Norm des sittlichen Verhaltens befassen, mit Recht zur Philosophie gehören, sondern
auch diejenigen, welche die Prinzipien aller menschlichen Handlungen oder Bestrebungen
zum Gegenstand haben. Gemäß dieser Auffassung können wir die Philosophie so definieren:
Philosophie ist die Wissenschaft, welche die Prinzipien aller menschlichen und göttlichen
Dinge umfassend erforscht.
Damit braucht nicht verworfen zu werden, was wir oben gesagt haben, nämlich daß
Philosophie die Liebe zur und das Streben nach Weisheit sei – nicht jener Weisheit, die mit
Werkzeugen ausgeübt wird, wie etwa Baukunst, Landwirtschaft und anderes dieser Art,
sondern der Weisheit, welche „die alleinige Grundursache der Dinge ist“. Denn ein und
dieselbe Handlung kann ihrem theoretischen Prinzip nach zur Philosophie gehören, ihrer
Ausführung nach aber von ihr ausgeschlossen sein. So ist, um bei dem angeführten Beispiel
zu bleiben, die Theorie der Landwirtschaft Sache des Philosophen, ihre Ausübung aber Sache
des Landwirts. Weiterhin sind die künstlich hergestellten Werke zwar nicht Natur, aber sie
ahmen doch die Natur nach und drücken die Form ihres Vorbilds – welches die Natur ist,
durch die sie nachahmen – aufgrund vernunftgeleiteten Schaffens aus. Du siehst also, aus
welchem Grund wir die Philosophie auf alle menschlichen Handlunge ausdehnen müssen, so
daß es notwendigerweise ebensoviele Teile der Philosophie gibt wie verschiedene Arten von
Dingen, auf die sie sich, wie hier begründet, bezieht. (127)
Kapitel 5: Der Ursprung der Theoretik, der Praktik und der Mechanik
Das Ziel und die Absicht aller menschlichen Handlungen und Bestrebungen, die von der
Weisheit geleitet werden, müssen darauf gerichtet sein, entweder die Unversehrtheit unserer
Natur wiederherzustellen oder die Not der Mängel, denen unser gegenwärtiges Leben
unterworfen ist, abzumildern. Ich will dies etwas deutlicher erklären.
Zwei Dinge sind im Menschen, das Gute und das Schlechte, die ursprüngliche Natur und
die Verdorbenheit. Das Gute muß, weil es ursprüngliche Natur ist, weil es verdorben worden
ist, weil es vermindert worden ist, durch aktive Anstrengung wiederhergestellt werden. Das
Schlechte muß, weil es Fehler ist, weil es Verdorbenheit ist, weil es nicht ursprüngliche Natur
ist, ausgeschlossen werden. Wenn es aber nicht von Grund auf vernichtet werden kann, dann
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muß es wenigstens durch die Anwendung eines Heilmittels gemildert werden. Das genau ist
unsere Aufgabe: die Wiederherstellung unserer Natur und die Beseitigung unserer Fehler.
Die Vollkommenheit der menschlichen Natur aber wird durch zweierlei Dinge erzielt,
nämlich durch Wissen und durch Tugend, und nur darin besteht unsere Ähnlichkeit mit den
höheren und den göttlichen Wesen. Denn weil der Mensch nicht von einfacher Natur, sondern
aus zweifacher Substanz zusammengesetzt ist, ist er unsterblich in bezug auf den einen,
besseren Teil, der er, um es ganz deutlich zu sagen, selbst eigentlich ist. In dem anderen Teil
aber, der vergänglich ist und der für diejenigen, die nur ihrer Sinneswahrnehmung glauben
können, der einzige ist, ist der Mensch der Sterblichkeit und der Veränderlichkeit
unterworfen; er muß also so oft sterben, wie er das verliert, was (129) er ist. Und dies ist die
geringste Kategorie von Dingen, solche die Anfang und Ende haben.
Kapitel 6: Die drei Arten von Dingen
Es gibt nämlich unter den Dingen solche, die weder Anfang noch Ende haben, und diese
nennt man ewig; andere haben zwar einen Anfang, werden aber durch kein Ende begrenzt,
diese heißen unvergänglich; wieder andere haben sowohl Anfang als auch Ende, und diese
heißen zeitlich.
Zu der ersten Kategorie zählen wir dasjenige, bei dem das eigentliche Sein und „das, was
ist“, identisch sind, das heißt, bei dem Ursache und Wirkung nicht verschieden sind und das
seine Subsistenz nicht von irgendwo anders, sondern nur aus sich selbst hat. So ist es nur beim
Schöpfer und Baumeister der Natur selbst.
Dasjenige aber, bei dem das eigentliche Sein und „das, was ist“, verschieden sind, das also
sein Dasein von anderswo hat und das aufgrund einer vorherwirkenden Ursache in die
Wirklichkeit kam, so daß seine Existenz einen Anfang nahm, das ist die Natur, welche die
ganze Welt einschließt. Es ist zweifacher Art. Das eine ist etwas, das aus seinen
uranfänglichen Ursachen seine Existenz beginnt und ohne Mitwirkung durch etwas anderes
ins Dasein getreten ist, allein nach dem Entschluß des göttlichen Willens, und das dort
unvergänglich fortbesteht, frei von jeglicher Veränderung oder Beendigung. Von solcher Art
sind die Substanzen der Dinge, von den Griechen (131) ousiai genannt. Das andere aber sind
alle Körper der superlunaren Welt, die, weil sie sich nicht verändern, göttlich genannt
worden sind.
Die dritte Ordnung von Dingen aber besteht aus denjenigen, die sowohl Anfang als auch
Ende haben und die nicht aus eigener Kraft zum Dasein gelangen, sondern Werke der Natur
sind. Diese entstehen auf der Erde, in der sublunaren Welt, durch die Einwirkung des
schöpferischen Feuers, welches mit einer bestimmten Kraft sich hinabsenkt, um die
sinnlichen Dinge hervorzubringen.
Über die zweite Art von Dingen ist gesagt worden: „Nichts in der Welt stirbt“, und zwar
deshalb, weil eine Wesenheit nicht vergehen kann. Denn nicht die Wesenheiten der Dinge
vergehen, sondern deren Formen. Wenn man sagt, die Form vergehe, so ist nicht gemeint, daß
ein existierendes Ding völlig zugrunde geht und sein Dasein verliert, sondern daß es eine
Veränderung erfährt, etwa in der Weise, daß einst Verbundenes voneinander getrennt oder
daß, was getrennt war, verbunden wird. Oder auch daß das, was hier war, jetzt dorthin geht,
oder daß, was jetzt Gewesenes ist, einst Seiendes war. Bei all diesem erleidet das Sein der
Dinge keinen Schaden. Über die dritte Art heißt es „Alles was aufsteigt, geht wieder unter,
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und alles, was zunimmt, schwindet dahin.“ Denn so wie alle Werke der Natur einen Anfang
haben, so entgehen sie auch dem Ende nicht. Über die zweite Art wiederum heißt es: „Nichts
wird aus (133) nichts, und in das Nichts kann nichts zurückkehren“, denn die gesamte Natur
hat ja uranfängliche Ursache und unvergängliche Dauer. Über die dritte aber ist gesagt
worden: „Und zum Nichts kehrt zurück, was vorher nichts war“, denn so wie jedes Werk der
Natur aus verborgenem Grund für eine bestimmte Zeit in die Wirklichkeit trat, so wird es
dorthin zurückkehren, woher es kam, wenn seine Wirklichkeit zeitweise zerstört worden ist.
Kapitel 7: Die superlunare und die sublunare Welt
Demgemäß haben die Mathematiker die Welt in zwei Teile geteilt, nämlich in den Teil,
der über der Mondbahn, und in den, der unter ihr liegt. Die superlunare Welt nannten sie,
weil in ihr alles nach uranfänglichem Gesetz existiert, „Natur“, die sublunare Welt dagegen
„Werk der Natur“, das heißt, der oberen Welt, weil alle Arten von Lebewesen, die sich hier
unten durch die Eingießung des Lebensgeistes regen, ihre Nahrung auf unsichtbaren Bahnen
von den oberen Wesen zugeführt erhalten, nicht nur, um geboren zu werden und zu wachsen,
sondern auch, um durch Ernährung fortzubestehen. Die obere Welt nannten die
Mathematiker auch „die Zeit“, wegen des Umlaufs und der Bewegung der Gestirne in ihr, und
die untere Welt „das (135) Zeitliche“, weil sie durch die Bewegungen der höheren Welt
bestimmt wird. Auch nannten sie die superlunare Welt „Elysium“ wegen ihrer
unvergänglichen Ruhe von Licht und Stille, die hiesige Welt aber nannten sie wegen der
Unbeständigkeit und Verwirrung der wechselnden Dinge „Unterwelt“.
Wir haben dies etwas eingehender verfolgt, um zu zeigen, daß der Mensch in dem Teil,
der der Vergänglichkeit angehört, auch der Notwendigkeit unterworfen ist, daß er aber,
insofern er unsterblich ist, mit der Gottheit verwandt ist. Hieraus kann gefolgert werden, was
oben bereits gesagt wurde, daß nämlich die Intention aller menschlichen Handlungen auf ein
Ziel gerichtet ist entweder die Ähnlichkeit mit dem göttlichen Bilde in uns
wiederherzustellen oder sich um die Notwendigkeiten dieses Lebens zu kümmern, welches um
so mehr der Pflege und Sorge bedarf, je leichter es durch Unglück geschädigt werden kann.
Kapitel 8: Worin der Mensch Gott ähnlich ist
Zwei Dinge sind es welche die Gottähnlichkeit im Menschen wiederherstellen, nämlich
die Erforschung der Wahrheit und die Ausübung der Tugend. Denn der Mensch ist Gott darin
ähnlich, daß er weise und gerecht ist – allerdings ist der Mensch diese nur in veränderlicher
Weise, während Gott unveränderlich weise und gerecht ist. Von den Handlungen aber, die den
Notwendigkeiten dieses Lebens dienen, gibt es drei Arten: erstens solche, die für die
Ernährung der Natur sorgen; zweitens solche, die gegen von außen kommenden Schaden
schützen; und drittens solche, die Heilmittel gegen bereits erlittenen Schaden bieten. Wenn
wir uns nun um die Wiederherstellung unserer Natur bemühen, so ist dies eine göttliche
Handlung, kümmern (137) wir uns aber um die Bedürfnisse unserer Schwächen, so ist dies eine
menschliche Handlung. Jede Handlung ist folglich entweder göttlich oder menschlich. Die
erstere können wir, da sie sich auf Höheres richtet, in angemessener Weise „Erkenntnis“
nennen, die letztere, da sie sich auf Niederes bezieht und gleichsam eines gewissen Rates
bedarf, können wir als „Wissen“ bezeichnen.
Wenn also die Weisheit, wie oben gesagt, alle vernunftgemäßen Handlungen leitet, dann
folgt daraus, daß sie diese zwei Teile enthält, die Erkenntnis und das Wissen. Die Erkenntnis
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teilen wir wiederum in zwei Arten, da sie sich sowohl um die Erforschung der Wahrheit als
auch um die Reflexion über das sittliche Verhalten bemüht: in die Theorik, das ist die
spekulative, und die Praktik, das ist die aktive Art, die auch ethische oder moralische Art
genannt wird. Das Wissen aber, da es sich nur auf menschliche Werke bezieht, wird
angemessenerweise „Mechanik“, also das unechte, genannt.
Kapitel 9: Die drei Werke
„Es gibt nämlich drei Werke: das Werk Gottes, das Werk der Natur und das Werk des
schaffenden Menschen, der die Natur nachahmt.“ Das Werk Gottes ist es, das zu schaffen, was
vorher nicht existierte. Daher heißt es: „Im Anfang (139) schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen
1,1). Das Werk der Natur ist es, das, was verborgen lag, in die Wirklichkeit zu überführen.
Daher heißt es: „die Erde bringe Grünes hervor“ (Gen 1,11). Das Werk des schaffenden
Menschen ist es, Getrenntes zu verbinden und Verbundenes zu trennen. Daher heißt es: „Sie
hefteten sich einen Schurz zusammen“ (vgl. Gen 3,7). Denn die Erde kann nicht den Himmel
erschaffen, und der Mensch, der nicht eine Handbreit seiner Körpergröße hinzufügen kann
(vgl. Lk 12,25), vermag nichts Grünes hervorzubringen.
Unter diesen drei Werken wird das Werk des Menschen, welches nicht Natur ist, sondern
sie nur nachahmt, zu Recht „mechanisch“, das heißt unecht, genannt, geradeso wie ein
heimlich nachgemachter Schlüssel „mechanisch“ heißt. Auf welche Weise aber das Werk des
schaffenden Menschen jeweils die Natur nachahmt, ist langwierig und schwer im Detail
darzustellen. Wir können es aber dennoch an einigen wenigen Beispielen vorführen: Wer ein
Standbild gegossen hat, der hat dafür einen Menschen als sein Modell studiert. Wer ein Haus
gebaut hat, hat vorher einen Berg betrachtet. Denn, wie der Prophet sagt: „Du läßt Quellen
hervorsprudeln in den Tälern, mitten zwischen den Bergen laufen die Wasser dahin“ (Ps
104,10: Vg. Ps 103,10). Die Kuppen der Berge halten kein Wasser zurück, und genauso muß
auch die Spitze eines Hauses sich bis zu einer gewissen Höhe erheben, damit es den Ansturm
hereinstürzender Regenwetter sicher ableiten kann. Wer als erster den Gebrauch von
Kleidung erfand, hat beobachtet, daß die einzelnen Lebewesen jeweils ihren eigenen Schutz
haben, durch welchen sie ihre Natur gegen Widrigkeiten abschirmen. Rinde umgibt den
Baum, Federn bedecken den Vogel, Schuppen umhüllen den Fisch, Wolle bekleidet das Schaf,
Haare gewanden Vieh und wilde Tiere, eine Muschel schützt das Weichtier, und Elfenbein
läßt den Elefanten die Speere nicht fürchten. Aber es ist nicht ohne Grund, daß, während
alle Lebewesen mit der ihrer Natur eigenen Bewaffnung (141) auf die Welt kommen, der
Mensch allein nackt und schutzlos geboren wird. Es war nämlich nötig, daß denjenigen, die
nicht für sich selbst sorgen können, die Natur beistehe. Dem Menschen aber sollte gerade
dadurch noch mehr Gelegenheit gegeben werden, Erfahrungen zu machen, weil er aus eigener
Verstandeskraft erfinden mußte, was den anderen Lebewesen von Natur aus gegeben wurde.
In der Erfindung dieser Dinge erstrahlt nämlich die Vernunft des Menschen in viel hellerem
Lichte, als sie es bei deren naturgegebenem Besitz getan hätte. Und das Sprichwort sagt nicht
ohne Grund: „Der erfinderische Hunger hat alle Künste hervorgebracht.“ Auf diese Weise
nämlich ist all das erfunden worden, was du heute als das Herausragende in den
menschlichen Bemühungen siehst. So sind die unzähligen Arten des Malens, Webens, des
Bildhauens und Gießens entstanden, so daß wir neben der Natur nicht minder auch den
schaffenden Menschen mit Bewunderung betrachten.
12
Kapitel 10: Was Natur ist
Da wir nun schon so oft von „Natur“ gesprochen haben, dürfen wir die Frage der
Bedeutung diese Wortes nicht gänzlich mit Stillschweigen übergehen, wenn auch gilt, was
Cicero sagt: „Natur ist schwer zu definieren“. Außerdem dürfen wir nicht verschweigen, was
wir sagen können, nur weil wir nicht alles sagen können, was wir sagen wollen.
Die Alten, so stellen wir fest, haben viel über die Natur gesagt, aber doch keineswegs so,
daß nicht noch manches zu bemerken wäre. Soviel ich aus ihren Worten erschließen kann,
pflegten sie diesen Begriff in dreierlei Bedeutung zu gebrauchen, wobei sie für jede eine
spezielle Definition gaben. (143)
Als erstes wollten sie mit diesem Wort jenes ursprüngliche Muster aller Dinge
bezeichnen, das im göttlichen Geist existiert und nach dessen Vorbild alles geschaffen wurde.
Sie sagten, die Natur sei die uranfängliche Ursache eines jeden Dings, von der es nicht nur
sein Sein, sondern auch seine Beschaffenheit habe. Dieser Bedeutung schrieben sie die
folgende Definition zu: „Die Natur ist das, was jedem Ding sein Sein verleiht.“
Als zweites sagten sie, daß „Natur“ das spezifische Wesen eines jeden Dings sei, und für
diese Bedeutung stellten sie die folgende Definition auf: „Natur nennt man den spezifischen
Unterschied, der jedem Ding seine Form gibt.“ Diese Bedeutung ist gemeint, wenn wir etwa
sagen: „Es ist die Natur aller schweren Körper, zur Erde zu sinken, der leichten, nach oben zu
steigen, die Natur des Feuers ist es zu brennen, die des Wassers, naß zu machen.“
Die dritte Definition ist diese: „Natur ist ein schöpferisches Feuer, das aus einer gewissen
Kraft hervorgeht, um die sinnlichen Dinge zu erschaffen.“ Denn die Naturforscher sagen, daß
alles aus Wärme und Feuchtigkeit entsteht. Deshalb nennt Vergil Oceanus „Vater“, und
Valerius Soranus spricht in einem bestimmten Vers von Jupiter im Sinne eines ätherischen
Feuers:
„Jupiter, allmächtiger Urheber der Dinge und Könige, Erzeuger
und Gebärerin der Götter, wahrhaft ein und derselbe.“ (145)
Kapitel 11: Der Ursprung der Logik
Nachdem wir nun also den Ursprung der Theorik, der Praktik und der Mechanik
nachgewiesen haben, bleibt jetzt noch der Ursprung der Logik zu erforschen. Diese erwähne
ich an letzter Stelle, weil sie zuletzt erfunden worden ist. Die anderen Wissenschaften sind
vorher entwickelt worden, aber es war unbedingt nötig, auch die Logik zu erfinden, weil
niemand in angemessener Weise Dinge erörtern kann, wenn er sich nicht vorher die
Grundlage der richtigen und zutreffenden Rede angeeignet hat. Denn, wie Boethius sagt, als
die Alten sich zuerst um die Erforschung der Naturen der Dinge und der Eigenschaften der
Sitten bemühten, mußten sie notwendig in zahlreiche Irrtümer fallen, da sie die rechte
Unterscheidung von Wörtern und Begriffen nicht einzuhalten wußten : „So ist es häufig der
Fall bei Epikur, der glaubt, daß die Welt aus Atomen bestehe, und der fälschlich behauptet,
daß das Vergnügen eine sittliche Tugend sei. Es ist offensichtlich, daß solches dem Epikur
und anderen deshalb widerfahren ist, weil sie in ihrer Unkenntnis des Argumentierens alle
Ergebnisse ihrer rationalen Schlußfolgerungen auf die Realität selbst übertragen zu können
glaubten. Aber das ist ein großer Irrtum, denn die realen Dinge stimmen mit unseren
Schlußfolgerungen nicht immer so überein, wie sie es mit den Zahlen tun. Was man nämlich
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bei den Zahlen an den Fingern richtig abzählt, das erhält man zweifellos auch bei den realen
Dingen zum Ergebnis, so daß, wenn man bei der Zählung ‚hundert‘ zum Ergebnis hat, sich
notwendigerweise auch hundert Dinge als Grundlage dieser Zählung finden müssen. Dies ist
aber bei logischen Schlußfolgerungen nicht in gleicher Weise der Fall. Denn nicht alles, was
der Verlauf einer Erörterung ergibt, hat sein tatsächliches Äquivalent in der Natur. Wer
daher die Natur der Dinge erforschen will, aber die Wissenschaft des Argumentierens
ignoriert, verfällt notwendigerweise dem Irrtum. Wer nämlich (147) vorher nicht sichere
Kenntnis darüber erlangt hat, welche Art der logischen Überlegung den wahren Weg des
Argumentierens einhält und welche nur den wahrscheinlichen, wer nicht gelernt hat, welche
Art zuverlässig und welche zweifelhaft ist, der kann nicht durch Vernunftüberlegung zur
unverfälschten Wahrheit gelangen.
Da nun also die Alten, die immer wieder auf diverse Irrwege geraten waren, in ihren
Untersuchungen zu falschen und widersprüchlichen Ergebnissen kamen und da es unmöglich
schien, daß von zwei über dieselbe Sache aufgestellten entgegengesetzten Behauptungen, die
durch gegensätzliche Schlußfolgerungen zustande gekommen waren, beide wahr sein sollten,
man aber ebenso unmöglich im Zweifel lassen konnte, welcher Schlußfolgerung zu glauben
sei: Aus diesen Gründen wurde es offensichtlich, daß man zuerst die wahre und unverfälschte
Natur des logischen Argumentierens zu prüfen habe. Hatte man diese erkannt, war nämlich
ebenso erwiesen, ob die Ergebnisse der Argumentation korrekt erfaßt waren. Von da nahm die
Kenntnis in der Logik ihren Ausgang, derjenigen Wissenschaft, welche die Wege zur
Unterscheidung von Argumentationsweisen und Schlußfolgerungen bereitet, so daß man
erkennen kann, welche Schlußfolgerung bald wahr und bald flasch, welche immer falsch und
welche nie falsch ist.“
So kam also die Logik der Zeit nach als die letzte, der Reihenfolge nach aber ist sie die
erste. Denn die Logik muß von den Anfängern in der Philosophie als erstes studiert werden,
weil in ihr die Natur der Wörter und Begriffe gelehrt wird, ohne die kein philosophischer
Text vernunftgerecht erklärt werden kann.
Die Logik hat ihren Namen von dem griechischen Wort logos, das eine doppelte
Bedeutung hat. Denn logos heißt einerseits „Wort“, andererseits auch „Vernunft“, und deshalb
kann die Logik entweder „Wissenschaft vom Wort“ oder „Wissenschaft von der Vernunft“
genannt werden. (149) Die Logik als Vernunft-Wissenschaft, die auch „erörternde
Wissenschaft“ genannt wird, umfaßt die Dialektik und die Rhetorik. Die Logik als Wort-
Wissenschaft gehört der Gattung nach zu Grammatik, Rhetorik und Dialektik und schließt
daher auch die erörternde Logik mit ein. Diese Logik als Wissenschaft vom Wort nennen wir
als vierten Bereich nach Theorik, Praktik und Mechanik.
Man soll aber nur nicht glauben, daß diese Wissenschaft „die logische“, also „Wort-
Wissenschaft“ genannt wird, weil es vor ihrer Erfindung keine Wörter gegeben hätte oder als
ob die Menschen sich vorher nicht miteinander unterhalten hätten. Vielmehr gab es vorher
schon sowohl gesprochene wie geschriebene Wörter, allerdings aber waren die Prinzipien von
gesprochener und geschriebener Rede noch nicht in die Regeln einer Wissenschaft gefaßt
worden; es gab noch keine Regeln für das richtige Sprechen und Argumentieren. Alle
Wissensbereiche bestanden nämlich zuerst in der praktischen Anwendung, bevor sie zu
Wissenschaften wurden. Aber als dann die Menschen sahen, daß Praxis in Wissenschaft
überführt werden und das, was zuvor unbestimmt und willkürlich war, durch sichere Regeln
und Vorschriften festgelegt werden könne, begannen sie, wie es heißt, die teils durch Zufall,
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teils von Natur aus entstandene Gewohnheit in die Regeln einer Wissenschaft zu fassen. Sie
korrigierten, was im praktischen Gebrauch verkehrt gewesen war, ergänzten, was fehlte,
stutzten zurück, was überflüssig war, und gaben überhaupt für jede Anwendung sichere
Regeln und Vorschriften.
Auf diese Weise sind alle Wissenschaften entstanden, wir finden dies in jedem einzelnen
Fall bestätigt: Bevor es eine Grammatik gab, haben die Menschen geschrieben und
gesprochen; bevor es eine Dialektik gab, haben sie durch logische Überlegung Wahr und
Falsch unterschieden; bevor es eine Rhetorik gab, haben sie über Rechtsfälle verhandelt.
Bevor es eine Arithmetik gab, wußten sie zu zählen; bevor es eine Musik gab, haben sie
gesungen; bevor es eine (151) Geometrie gab, haben sie Felder vermessen; bevor es eine
Astronomie gab, haben sie nach dem Lauf der Sterne die Zeiten unterschieden. Dann aber
kamen die Wissenschaften; sie hatten ihren Ursprung zwar im praktischen Gebrauch, sind
diesem aber doch weit überlegen.
An dieser Stelle wäre nun eigentlich darzulegen, wer die Erfinder der einzelnen
Wissenschaften gewesen sind, wann und wo sie gelebt haben und wie die jeweiligen
Disziplinen durch ihr Wirken begründet worden sind. Zuvor aber möchte ich die einzelnen
Wissenschaften voneinander abgrenzen, indem ich eine Art Einteilung der Philosophie gebe.
Daher soll das oben gesagte nun noch einmal kurz rekapituliert werden, so daß der Übergang
zum folgenden erleichtert wird.
Wir haben gesagt, daß es nur vier Wissensbereiche gibt, welche alle übigen
Wissenschaften umfassen, nämlich die Theorik, die sich um die Erforschung der Wahrheit
bemüht, die Praktik, welche die Normen des Verhaltens behandelt, die Mechanik, die die
Tätigkeiten dieses Lebens ordnet, und die Logik, welche die Kenntnis des richtigen Sprechens
und genauen Argumentierens lehrt. Es ist wohl kaum abwegig, hierbei an jene Vierzahl der
Seele zu denken, welche die Alten aus Ehrfurcht vor ihr in ihre Eide aufnahmen:
„Bei dem, der unserer Seele die Vierzahl gab!“
Wir wollen nun zeigen, in welcher Weise diese Wissensbereiche in der Philosophie
enthalten sind und welche anderen Wissenschaften sie wiederum selbst enthalten. Dabei soll
zuerst kurz die Definition von Philosophie wiederholt werden. (153)
ZWEITES BUCH
Kapitel 1: Die Unterscheidung der Wissenschaften
„Philosophie ist die Liebe zu jener Weisheit, die in jeder Beziehung vollkommen ist, die
ein lebendiger Geist und die alleinige Grundursache der Dinge ist.“ Diese Definition beachtet
besonders die Etymologie des Wortes. Denn das griechische philos heißt auf lateinisch amor
(„Liebe“), und sophia bedeutet sapientia („Weisheit“); daraus wurde „Philosophie“ gebildet, das
heißt „Liebe zur Weisheit“. Die hinzugefügten Worte „die in jeder Beziehung vollkommen ist,
die ein lebendiger Geist und die alleinige Grundursache der Dinge ist“ bezeichnen die
göttliche Weisheit, die „in jeder Beziehung vollkommen“ genannt wird, weil sie alles in
gleicher Weise enthält und alles, das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige, in
einer Einheit und zu gleicher Zeit erschaut. „Lebendiger Geist“ wird sie genannt, weil, was
einmal im göttlichen Geist existiert hat, niemals dem Vergessen anheimfällt. „Alleinige
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Grundursache der Dinge“ ist sie deshalb, weil alles nach ihrer Ähnlichkeit gestaltet worden
ist.
Einige sagen, daß das, womit die Wissenschaften sich beschäftigen, immer bleibe. Dies
aber ist, womit alle Wissenschaften sich beschäftigen, und dies ist was sie anstreben: daß die
göttliche Ähnlichkeit in uns wiederhergestellt werde, die Ähnlichkeit, die für uns eine Form,
für Gott aber seine Natur ist. Je ähnlicher wir der göttlichen Natur werden, um so mehr
Anteil haben wir an der Weisheit. Dann nämlich beginnt in uns wieder zu erstrahlen, was in
Gottes Geist immer existiert hat, was in uns vergänglich ist, bei ihm aber unveränderlich
fortbesteht.
Eine andere Definition ist: „Philosophie ist die Kunst der Künste und die Wissenschaft
der Wissenschaften“, also das, worauf alle Künste und Wissenschaften sich ausrichten. (155)
„Kunst“ kann dasjenige Wissensgebiet genannt werden, „das auf Regeln und Vorschriften
einer Kunst beruht“, wie es zum Beispiel beim Schreiben der Fall ist; „‚Wissenschaft‘ aber
dasjenige, welches ‚vollständig‘ genannt wird“, wie es in der Lehre nach mathematischer
Methodik der Fall ist. Von Kunst kann man auch sprechen, „wenn Wahrscheinliches oder von
Meinungen Abhängiges behandelt wird“, von Wissenschaft aber, „wenn in
wahrheitsbezogenen Argumentationen etwas erörtert wird, das nur so und nicht anders sein
kann. Dies ist der Unterschied, den Plato und Aristoteles zwischen Kunst und Wissenschaft
machen wollten.“ Weiterhin kann das „Kunst“ genannt werden, was sich in der zugrunde
gelegten Materie realisiert und in praktischer Ausführung entfaltet, wie zum Beispiel die
Architektur; „Wissenschaft“ aber ist das zu nennen, was im reinen Gedanken besteht und sich
in der bloßen rationalen Überlegung entfaltet, wie zum Beispiel die Logik.
Eine weitere Definition „Philosophie ist die Wissenschaft, welche die Prinzipien aller
menschlichen und göttlichen Dinge auf überzeugende Weise erforscht.“ So gehört also das
theoretische Prinzip aller Bemühungen zur Philosophie, die praktische Ausübung aber ist
nicht unbedingt philosophisch. Deshalb heißt es von der Philosophie, sie erstrecke sich in
gewisser Weise auf alle Dinge.
Die Philosophie wird eingeteilt in Theorik, Praktik, Mechanik und Logik. Diese vier
enthalten alles Wissen. Theorik bedeutet spekulative, Praktik aktive Wissenschaft. (157)
Letztere wird mit anderem Namen auch ethische, das heißt moralische Wissenschaft genannt,
und zwar deshalb, weil Moralität in guten Taten besteht. Mechanik bedeutet unechte
Wissenschaft, weil sie sich mit menschlichen Werken beschäftigt; Logik heißt Wort-
Wissenschaft, weil sie von Wörtern handelt. Die Theorik wird eingeteilt in Theologie,
Mathematik und Physik. Boethius macht diese Unterscheidung mit anderen Wörtern, indem
er die Theorik aufteilt in die intellektible, die intelligible und die natürliche Theorik, wobei
die intellektible der Theologie entspricht, die intelligible der Mathematik und die natürliche
der Physik. Und die intellektible definiert Boethius folgendermaßen.
Kapitel 2: Die Theologie
„Das Intellektible ist das, was immerwährend als ein und dasselbe in eigener Göttlichkeit
durch sich selbst fortbesteht und nie von den Sinnen, sondern nur von Geist und
Vernunfterkenntnis allein erreicht werden kann. Die Erforschung dieses Gegenstandes
besteht darin, die Betrachtung Gottes, die Unkörperlichkeit der Seele und die Reflexion über
die wahre Philosophie zu studieren. Dies“, so sagt Boethius, „nennen die Griechen Theologie.“
Es wurde „Theologie“ genannt in der Bedeutung als „Rede über göttliche Dinge“, denn theos
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bedeutet „Gott“, und logos bedeutet „Wort“ oder „Vernunft“. Es ist also Theologie „wenn wir,
gleich unter welchem Aspekt, die unaussprechliche Natur Gottes oder die geistigen Wesen auf
tiefgründigste Weise erörtern“. (159)
Kapitel 3: Die Mathematik
Die lehrhafte Wissenschaft wird Mathematik genannt. Mathesis heißt, wenn das „t“ ohne
Hauchlaut ist, „leerer Schein“ und bedeutet den Aberglauben derjenigen, die die Schicksale
der Menschen von den Sternkonstellationen abhängig machen. Daher werden solche Leute
auch „Mathematiker“ genannt. Wenn aber das „t“ den Hauchlaut hat, bezeichnet mathesis die
lehrhafte Wissenschaft.
Die Mathematik ist die Lehre, „welche abstrakte Quantität als Gegenstand ihrer
Betrachtung hat. Als ‚abstrakt‘ wird die Quantität dann bezeichnet, wenn wir sie gedanklich
von der Materie oder anderen Akzidentien trennen und in rein rationaler Überlegung
behandeln als paar, unpaar und anderes dieser Art.“ Solche Trennung vollzieht nur die
mathematische Wissenschaft, nicht die Natur. Boethius nennt diese Wissenschaft die
„intelligible“: „Durch Reflexion und Vernunfterkenntnis begreift sie den ersten, intellektiblen
Teil, begreift also, was alles zu den himmlischen Werken der erhabenen Gottheit gehört, und
was in der sublunaren Welt sich glücklicheren Geistes und reinerer Substanz erfreut und
schließlich auch den Bereich der menschlichen Seelen. All diese Dinge bestanden einst aus
jener ersten, intellektiblen Substanz, sind aber durch die Berührung mit Körpern von
intellektiblen zum intelligiblen Zustand degeneriert, so daß sie jetzt nicht mehr Objekte der
Erkenntnis sind, sondern vielmehr selbst erkennen wollen; und sie finden in der Reinheit
ihres Erkennens um so mehr Glück, je mehr sie sich den intellektiblen Dingen zuwenden.“
Denn die Natur der Geister und der Seelen hat, da sie ja unkörperlich und einfach ist,
Anteil an der intellektiblen (161) Substanz. Aber weil sie auch durch den Gebrauch der
Sinnesorgane auf verschiedene Weise zur Wahrnehmung des Sinnlichen hinabsteigt und
dessen Ähnlichkeit durch ihre Einbildungskraft in sich aufnimmt, so gibt sie ihre
Einfachheit in gewisser Weise auf und gibt dadurch einem Prinzip der Zusammensetzung
Raum. Denn nichts, was einem Zusammengesetzten ähnlich ist, kann „einfach“ genannt
werden.
Ein und dieselbe Sache ist also unter je verschiedenem Aspekt gleichzeitig intellektibel
und intelligibel. Intellektibel ist sie insofern, als sie unkörperlicher Natur ist und von den
Sinnen nicht wahrgenommen werden kann; intelligibel aber insofern, als sie eine Ähnlichkeit
mit dem Sinnlichen darstellt, wenn auch nicht selbst sinnlich ist. Intellektibel ist nämlich,
was weder sinnlich noch eine Ähnlichkeit des Sinnlichen ist. Intelligibel aber ist, was selber
nur durch den Verstand erkannt werden kann, aber nicht seinerseits nur durch den Verstand
erkennt. Denn es besitzt auch die Einbildungskraft und die Sinnesempfindung und erfaßt
dadurch das, was der sinnlichen Wahrnehmung unterliegt. Durch den Kontakt mit
Körperlichem aber degeneriert das Intelligible, denn während es durch die Sinneseindrücke
zu den sichtbaren Formen der Körper hinausgeht und diese nach erfolgtem Kontakt durch die
Einbildungskraft in sich aufnimmt, wird es jedesmal von seiner Einfachheit abgetrennt, sooft
sich ihm die Eigenschaften gegensätzlicher Empfindungen einprägen. Wenn es sich aber von
solcher Zerstreuung hinweg zur reinen Erkenntnis erhebt und sich selbst zur Einheit
sammelt, so findet es durch die Teilhabe an der intellektiblen Substanz wieder höheres Glück.
(163)
17
Kapitel 4: Die Vierzahl der Seele
Über das Prinzip dieses Hinausgehens und Zurückkehrens der Seele werden wir auch
durch die Zahl selbst belehrt. Denn: drei mal eins macht drei; drei mal drei macht neun; drei
mal neun macht siebenundzwanzig; drei mal siebenundzwanzig mach einundachtzig. Nun
sieh, wie auf der vierten Stufe das ursprüngliche Eine wieder zum Vorschein kommt. Und du
wirst sehen, daß genau dasselbe sich immer wieder ereignet, auch wenn du die Multiplikation
bis zur Unendlichkeit fortführst, daß nämlich bei jeder vierten Stufe wieder das Eine
hervortritt. Die einfache Wesenheit der Seele wird durch dieses Eine, das ja ebenfalls etwas
Unkörperliches ist, aufs zutreffendste zum Ausdruck gebracht. Und auch die Dreizahl bezieht
sich in passender Weise auf die Seele, da sie ja durch das Eine als Bestandteil unteilbar
zusammengebunden ist; wie auf der anderen Seite die Vierzahl, da sie ja zwei Bestandteile hat
und daher teilbar ist, sich ihrem Wesen gemäß auf den Körper bezieht.
Das erste Fortschreiten der Seele besteht also darin, daß sie sich von ihrem einfachen
Wesen, welches durch die Einheit dargestellt wird, zu einer der Möglichkeit nach
existierenden Dreiheit ausdehnt, in welcher sie durch Verlangen das eine erstrebt, durch Zorn
das andere verwirft und kraft der Vernunft zwischen beiden die Entscheidung trifft. Und mit
Recht heißt es, sie schreite von der Einheit zur Dreiheit fort, denn jede Wesenheit ist ja von
Natur aus früher als ihre Kraftentfaltung. Die Tatsache, daß dieselbe Einzahl sich in der
Dreizahl verdreifacht wiederfindet, bedeutet weiterhin, daß die Seele nicht in Teilen besteht,
sondern in jeder ihrer Kräfte als Ganzes existiert. Denn wir können nicht sagen, daß die
Vernunft, der Zorn oder das Verlangen für sich genommen jeweils den dritten Teil der (165)
Seele bilden, da der Substanz nach die Vernunft weder etwas anderes noch weniger als die
Seele ist, der Zorn nichts anderes und nicht weniger als die Seele ist und auch das Verlangen
nichts anderes und nicht weniger als die Seele ist. Vielmehr erhält ein und dieselbe Substanz,
die Seele, verschiedene Namen gemäß ihren verschiedenen Manifestationen.
Dann schreitet die Seele in einer zweiten Progression von ihrer potentiellen Dreiheit zur
Regelung der Musik des menschlichen Körpers hinab. Diese Musik ist durch die Neunzahl
bestimmt, denn es gibt neun Öffnungen im menschlichen Körper, durch die nach natürlicher
Einrichtung alles ein- und ausfließt, was den Körper ernährt und lenkt. Auch unter den
Progressionen besteht also eine Reihenfolge, denn die Seele besitzt ja von Natur aus ihre
Kräfte schon bevor sie eine Verbindung mit dem Körper eingeht.
Als nächstes aber tritt die Seele in einer dritten Progression bereits durch die Sinne aus
sich heraus, befaßt sich mit den sichtbaren Dingen – welche durch die Zahl
siebenundzwanzig gekennzeichnet sind, eine Kubikzahl, in ihrer Dreidimensionalität dem
Körper ähnlich – und zerstreut sich so in zahllosen Tätigkeiten.
In einer vierten Progression aber löst sich die Seele vom Körper und kehrt zur Reinheit
ihres ein-fachen Seins zurück. Deshalb erscheint auch in der vierten Multiplikation, in
welcher aus drei mal siebenundzwanzig die einundachtzig entsteht, als Schlußergebnis die
Eins, damit ganz offenkundig klar werde, daß die Seele nach dem Ende dieses Lebens,
welches durch die achtzig bezeichnet wird, zur Einheit ihres einfachen Seins zurückkehrt,
von der sie ja ausgegangen war, als sie niederstieg, um die Herrschaft über einen
menschlichen Körper zu übernehmen. Daß aber das Ende des menschlichen Lebens von
Natur aus auf achtzig festgesetzt ist, verkündet der Prophet, wenn er sagt: „Bei kräftiger
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Gesundheit achtzig Jahre, darüber aber nur Mühsal und Schmerz“ (vgl. Ps 90,10: Vg. 89,10).
(167)
Einige glauben, diese vierfache Progression sei als die Vierzahl der Seele zu deuten, die
wir oben angesprochen haben, und sie nennen diese die Vierzahl der Seele im Unterschied zu
der Vierzahl des Körpers.
Kapitel 5: Die Vierzahl des Körpers
Denn auch dem Körper schreiben sie eine Vierzahl zu. Wie der Seele die Einheit, so
kommt dem Körper die Zweiheit zu. Denn: Zwei mal zwei macht vier; zwei mal vier macht
acht; zwei mal acht macht sechzehn; und zwei mal sechzehn macht zweiunddreißig. Auch
hier finden sich auf der vierten Stufe dieselbe Zahl, mit der die Multiplikation begann,
nämlich die Zweizahl; und wenn du die Rechnung bis zur Unendlichkeit fortsetzt, wirst du
zweifellos feststellen, daß stets auf der vierten Stufe die Zweizahl zum Vorschein kommt. Und
dies ist die Vierzahl des Körpers, aus welcher zu ersehen ist, daß alles, was aus Teilbarem
zusammengesetzt ist, auch selbst teilbar ist.
Und nun siehst du deutlich genug, meine ich, wie die Seelen von intellektiblen zu
intelligiblen Wesenheiten degenerieren, wenn sie von der Reinheit einfacher
Vernunfterkenntnis, die durch kein Abbild körperlicher Dinge getrübt ist, zur Vorstellung
von sichtbaren Dingen hinabsteigen; und wie sie wieder glücklicher werden, wenn sie sich aus
dieser Zerstreuung wieder zum einfachen Ursprung ihrer Natur sammeln und gleichsam das
Zeichen in sich tragen, das die vollkommene Gestalt ihnen eingeprägt hat. Es ist also, um
mich deutlicher auszudrücken, das Intellektible in uns soviel wie die Vernunfterkenntnis, das
Intelligible aber soviel wie das Vorstellungsvermögen. Vernunfterkenntnis aber ist das
unverfälschte und sichere Wissen von den alleinigen Urgründen der Dinge, das heißt von
Gott, von den Ideen, der Ur-Materie und den unkörperlichen (169) Substanzen.
Vorstellungsvermögen aber ist die Erinnerung an Sinneswahrnehmungen aufgrund der im
Geist haftenden Spuren der wahrgenommenen körperlichen Dinge; es besitzt aus sich selbst
nichts Gewisses als Grund seiner Erkenntnis. Sinneswahrnehmung aber ist, was die Seele im
Körper durch die Eigenschaften der Dinge der Außenwelt an Eindrücken aufnimmt.
Kapitel 6: Das Quadrivium
Da also, wie oben gesagt, der eigentliche Gegenstand der Mathematik die abstrakte
Quantität ist, so sind nun die Unterteilungen der Mathematik gemäß den verschiedenen Arten
von Quantität zu ermitteln. Abstrakte Quantität ist nichts anderes als eine in ihrer linearen
Dimension sichtbare, dem Geist eingeprägte Form, die in der Vorstellung existiert. Sie besteht
aus zwei Arten: Die eine ist zusammenhängende Quantität, wie etwa ein Baum oder ein Stein,
und wird „Größe“ genannt; die andere ist getrennte Quantität, wie etwa eine Herde oder ein
Volk, und wird „Menge“ genannt. Was die Menge angeht, so bestehen einige Quantitäten ganz
durch sich selbst, wie zum Beispiel die Drei, die Vier oder jede andere Zahl; andere aber
bestehen in Relation zu anderen, wie etwa das Doppelte, die Hälfte, Anderthalb, Eineindrittel
und so weiter. Bezüglich der Größe aber gibt es das Bewegliche, wie die himmlischen
Sphären, und das Unbewegliche, wie die Erde. Die Menge, die durch sich selbst besteht, ist der
Gegenstand der Arithmetik, die in Relation zu anderem bestehende Menge aber der der
Musik. Die Kenntnis der unbeweglichen Größe vermittelt die Geometrie; das Wissen von der
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beweglichen (171) Größe beansprucht die Wissenschaft der Astronomie. Die Mathematik
gliedert sich demgemäß also in Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie.
Kapitel 7: Der Begriff „Arithmetik“
Das griechische Wort ares bedeutet im Lateinischen virtus („Kraft“); und rithmus
bedeutet numerus („Zahl“). Die Kraft der Zahl aber besteht darin, daß alles nach ihrer
Ähnlichkeit gebildet worden ist.
Kapitel 8: Der Begriff „Musik“
Musik hat ihren Namen von dem Wort „Wasser“, und zwar weil keine Euphonie, das
heißt Wohlklang, ohne Feuchtigkeit möglich ist.
Kapitel 9: Der Begriff „Geometrie“
Geometrie bedeutet „Messung der Erde“, denn diese Wissenschaft wurde zuerst von den
Ägyptern erfunden, deren Land der Nil in seinen Überschwemmungen mit Schlamm bedeckte
und dadurch alle Grenzlinien verwischte und die daher begannen, das Land mit Stangen und
Schnüren zu vermessen. Später wurde dies von weisen Männern auch auf die Messung der
Räume des Meeres, des Himmels, der Atmosphäre und aller möglichen Körper angewandt und
ausgedehnt. (173)
Kapitel 10: Der Begriff „Astronomie“
Astronomie und Astrologie unterscheiden sich, wie es scheint, dadurch, daß die
Astronomie ihren Namen vom „Gesetz der Sterne“ hat, während Astrologie gewissermaßen
„Rede von den Sternen“ bedeutet. Denn nomia heißt „Gesetz“, und logos bedeutet „Rede“. Es ist
also offensichtlich die Astronomie, die über das Gesetz der Gestirne und die Umdrehung des
Himmels handelt und die die Zonen, Umläufe, Bahnen, Auf- und Untergang der Sterne sowie
die Bedeutung ihrer Namen untersucht. Die Astrologie aber betrachtet die Sterne in ihrem
Einfluß auf Geburt und Tod und alle anderen Geschehnisse; sie ist nur zum Teil natürlich,
zum anderen Teil abergläubisch. Natürlich ist sie insofern, als sie sich mit physischen
Beschaffenheiten beschäftigt, die sich je nach der Stellung der Himmelskörper verändern, wie
etwa Gesundheit und Krankheit, schlechtes und gutes Wetter, Fruchtbarkeit und
Unfruchtbarkeit. Abergläubisch aber ist sie insofern, als sie Dinge behandelt, die sich rein
zufällig ereignen oder die von freier Entscheidung abhängig sind; dies ist das Metier der
„Mathematiker“.
Kapitel 11: Die Arithmetik
Die Arithmetik hat zum Gegenstand die gerade und die ungerade Zahl. Die gerade Zahl
ist entweder paar-paar, paar-unpaar oder unpaar-paar. Auch von der ungeraden Zahl gibt es
drei Arten. Die erste Art sind Primzahlen und nicht zusammengesetzt; die zweite sind
„Sekundzahlen“ (175) und zusammengesetzt; die dritte sind Zahlen, die für sich genommen
Sekundzahlen und zusammengesetzt, im Vergleich zu anderen jedoch Primzahlen und nicht
zusammengesetzt sind.
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Kapitel 12: Die Musik
Es gibt drei Arten von Musik: die Musik des Universums, die des Menschen und die der
Instrumente.
Die Musik des Universums existiert in den Elementen, in den Planeten und in den Zeiten;
bei den Elementen besteht sie in deren Gewicht, Zahl und Maß; bei den Planeten in deren
Stellung, Bewegung und Beschaffenheit; bei den Zeiten in Tagen, durch den Wechsel von
Licht und Nacht, in Monaten, durch das Zu- und Abnehmen des Mondes, und in Jahren,
durch die Folge von Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Die Musik des Menschen existiert im Körper, in der Seele und in der Verbindung von
beiden. Die Musik des Körpers besteht zum einen in der Lebensaktivität, durch welche der
Körper wächst und die allen Lebewesen eigen ist, zum anderen in den Säften, durch deren
Mischung der menschliche Körper fortbesteht und die allen sinnesbegabten Wesen zukommt,
und sie besteht schließlich in den Tätigkeiten, die den vernunftbegabten Wesen zu eigen sind
und die von der Mechanik geleitet werden. Solange sie nicht das Maß überschreiten, sind
diese Tätigkeiten gut, so daß nicht die Begehrlichkeit durch genau die Mittel gefördert wird,
die eigentlich unserer Schwäche abhelfen sollten. Wie Lukan in seiner Lobrede auf Cato sagt:
„Für ihn ist ein Festmahl, wenn der Hunger gestillt ist; eine
glanzvolle Wohnung, wenn ein Dach ihn vor Unwetter schützt;
kostbare Kleidung, wenn er sich die grobe Toga über die Glieder zieht,
nach dem Brauch der römischen Quiriten.“ (177)
Die Musik der Seele besteht zum einen in ihren Tugenden, wie Gerechtigkeit,
Frömmigkeit, Mäßigkeit, zum anderen in ihren Kräften, wie Vernunft, Zorn und Verlangen.
Die Musik zwischen Körper und Seele ist jene natürliche Freundschaft, durch welche die
Seele mit dem Körper verbunden ist, nicht durch körperliche Bande, sondern durch gewisse
Gefühle der Zuneigung, und zu dem Zweck, dem Körper Bewegung und Sinneswahrnehmung
zu verleihen. Diese Freundschaft ist es, aufgrund deren „niemand sein eigenes Fleisch haßt“
(Eph 5,29). Diese Musik besteht darin, sein Fleisch zu lieben, noch mehr aber seinen Geist,
damit der Körper versorgt werde, aber die Tugend nicht zugrunde gehe.
Die Instrumentalmusik besteht teils im Schlagen, wie auf Trommeln und Saiten, teils im
Blasen, wie von Flöten und Orgeln, und teils in der Stimme, wie bei Gesängen und Liedern.
„Es gibt auch drei Arten von Musikern: Die einen erfinden Lieder, andere spielen die
Instrumente, und wieder andere beurteilen Lied und instrumentale Ausführung.“
Kapitel 13: Die Geometrie
Die Geometrie hat drei Teile: Planimetrie, Altimetrie und Kosmimetrie. Die Planimetrie
mißt das Ebene, also die Länge und die Breite, sie erstreckt sich auf das Vorn und Hinten
und auf das Links und Rechts. Die Altimetrie mißt die Höhe, sie erstreckt sich auf das Oben
und Unten. Denn „hoch“ werden ja sowohl das Meer, im Sinne von „tief“, als auch der Baum,
im Sinne von „hochaufragend“, genannt. Kosmos heißt übersetzt „Welt“, und daher kommt der
Name Kosmimetrie, „Ausmessung der Welt“. Diese mißt das Sphärische, das heißt das Kugel-
und Kreisförmige, wie einen Ball oder ein Ei. Aufgrund der Kugelgestalt der Welt (179) und
wegen deren hervorragender Bedeutung wird die Kosmimetrie so genannt – nicht weil sie nur
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mit der Ausmessung der Welt befaßt ist, sondern weil die Weltkugel unter allen
kugelförmigen Körpern die bedeutendste ist.
Kapitel 14: Die Astronomie
Das eben Gesagte steht nicht im Widerspruch dazu, daß wir oben die unbewegliche Größe
der Geometrie und die bewegliche der Astronomie zugeschrieben haben, denn wir haben dies
mit Bezug auf die erste Erfindung der Geometrie gemeint, aufgrund deren sie „Landmessung“
genannt wird. Wir können auch sagen, daß dasjenige an der Weltkugel, was die Geometrie
erforscht, nämlich die Ausdehnung der himmlischen Zonen und Kreise, unbeweglich ist, was
den Aspekt geometrischer Betrachtung betrifft. Denn die Geometrie betrachtet nicht die
Bewegung, sondern den Raum. Was aber die Astronomie erforscht, ist das Bewegliche,
nämlich die Bahn der Sterne und die Abschnitte der Zeiten. Daher können wir also ganz
allgemein sagen, daß unbewegliche Größe der Gegenstand der Geometrie, bewegliche Größe
der Gegenstand der Astronomie ist, denn obwohl sich beide mit demselben Objekt
beschäftigen, so betrachtet doch die eine an ihm das Bleibende, die andere das
Vorübergehende.
Kapitel 15: Definition des Quadriviums
Arithemtik ist also die Wissenschaft von den Zahlen. Musik ist die Unterscheidung der
Klänge und die Verschiedenheit der Stimmen. Oder auch: Musik oder Harmonie ist der
Einklang von mehreren untereinander verschiedenen, aber zu einer Einheit
zusammengefaßten Dingen. Geometrie ist die Wissenschaft von der unbeweglichen Größe und
die betrachtende Beschreibung der Formen, wodurch die Abgrenzungen eines jeden Dings
aufgezeigt werden. Anders gesagt: die Geometrie ist „die Quelle der Sinneswahrnehmung (181)
und der Ursprung der Wortbezeichnungen“. Astronomie ist die Wissenschaft, die die Räume,
Bewegungen und Kreisläufe der Himmelskörper in ihren festen Zeiten erforscht.
Kapitel 16: Die Physik
Die Physik erforscht und betrachtet die Ursachen der Dinge in ihren Wirkungen und
diese Wirkungen als Ergebnisse ihrer Ursachen.
„Woher Erdbeben kommen, durch welche Kraft tiefe Meere
emporschwellen, Welches die Kräfte der Pflanzen, die Gemüter und
das Wüten der Tiere sind, Jede Art von Buschwerk, von Steinen und
kriechenden Wesen.“
Das Wort physis heißt übersetzt „Natur“, und deshalb hat auch Boethius in der oben
erwähnten Einteilung der Theorik die Physik als Natur-Wissenschaft aufgeführt. Sie wird
auch „Physiologie“ genannt, das heißt „Rede von der Natur der Dinge“, was aber denselben
Gegenstand meint. Mitunter gebraucht man den Begriff Physik im weiteren Sinne, etwa
gleichbedeutend mit Theorik. Gemäß diesem Gebrauch teilen einige die Philosophie in drei
Teile ein, nämlich in Physik, Ethik und Logik. In dieser Einteilung ist die Mechanik nicht
enthalten, vielmehr wird die Philosophie hier auf Physik, Ethik und Logik beschränkt.
22
Kapitel 17: Das Spezifische der einzelnen Wissenschaften
Wenn auch alle Wissenschaften auf das eine Ziel der Philosophie zustreben, so verfolgen
sie doch nicht alle denselben Weg; vielmehr hat jede einzelne ihr eigenes Forschungsgebiet,
(183) durch welches sie sich von den anderen unterscheidet.
Gegenstand der Logik sind die Dinge, und zwar wendet sie sich den Begriffen von Dingen
zu: entweder durch die Erkenntnis, so daß die Begriffe weder die Dinge noch deren
Ähnlichkeiten sind, oder durch die Vernunft, so daß die Begriffe zwar nicht die Dinge selbst
sind, wohl aber deren Ähnlichkeiten. Die Logik befaßt sich also mit den Gattungen und
Arten von Dingen.
Die spezifische Aufgabe der Mathematik aber ist es, Dinge, die in der Wirklichkeit
vermischt sind, durch die Vernunft als unvermischt zu zeigen. In der Wirklichkeit findet
man zum Beispiel keine Linie ohne Oberfläche und Volumen. Denn kein Körper besitzt pure
Länge, das heißt ohne Breite und Höhe; vielmehr besitzt jeder Körper diese drei zusammen.
Die Vernunft aber erfaßt die reine Länge an sich, ohne Oberfläche und Dicke, und dies ist
das mathematische Verfahren. Nicht, weil es in der Wirklichkeit so ist oder so sein könnte,
sondern weil die Vernunft oft die Eigenschaften der Dinge nicht so betrachtet, wie sie sind,
sondern so, wie sie sein können, nicht wie sie an sich sondern wie sie im Verhältnis zur
Vernunft sind, das heißt, wie die Vernunft ihnen zu sein gestattet. Dieser Überlegung folgend
hat man gesagt, daß zusammenhängende Größe in eine unendliche Zahl von Teilen geteilt
und getrennte Größe ins Unendliche multipliziert werden kann. Denn darin besteht die
Tätigkeit der Vernunft, daß sie jede Länge in Längen und jede Breite in Breiten teilen kann
und ähnliches mehr und daß sie, wenn sie auch selbst keiner Unterteilung bedarf, allein
durch sich selbst Unterteilungen erzeugt.
Das der Physik eigene Gebiet ist es, die vermischten Wirklichkeiten der Dinge als
unvermischte zu betrachten. Denn die Wirklichkeiten der körperlichen Dinge der Welt sind
nicht rein, sondern aus reinen Wirklichkeiten zusammengesetzt. Diese existieren als solche
eigentlich nirgends, werden aber dennoch von der Physik als reine und absolute (185)
untersucht. So betrachtet die Physik die reine Wirklichkeit des Feuers oder der Erde, der
Luft oder des Wassers, und aus der Betrachtung von deren jeweiliger Natur beurteilt sie die
Zusammensetzung und die Wirkungsweise des aus ihnen zusammengesetzten Ganzen.
Es darf auch nicht übergangen werden, daß allein die Physik sich im eigentlichen Sinne
mit Dingen beschäftigt, die anderen Wissenschaften aber mit Begriffen von Dingen. Die
Logik behandelt die Begriffe selbst, und zwar im Rahmen des Systems von Kategorien,
während die Mathematik sie in ihrer zahlenmäßigen Zusammenstellung behandelt. Die
Logik gebraucht also mitunter die reine Vernunfterkenntnis, während die Mathematik
niemals ohne Vorstellungskraft auskommt und daher nichts wirklich Einfaches erfaßt. Da
nun Logik und Mathematik im Lehrplan der Physik vorangehen und ihr sozusagen als
Hilfsmittel dienen, die jeder sich aneignen muß, bevor er sich der physikalischen Forschung
zuwendet, war es nötig, daß diese Wissenschaften ihre Betrachtung nicht auf die
Wirklichkeiten der Dinge stützen, wo die Erfahrung trügerisch ist, sondern allein auf die
Vernunft, wo die Wahrheit unerschütterlich bleibt, und daß sie dann erst, unter der Führung
der Vernunft, zur erfahrungsmäßigen Untersuchung der Dinge hinabsteigen.
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Nachdem wir also gezeigt haben ,wie die von Boethius aufgestellte Einteilung der Theorik
mit der oben gegebenen übereinstimmt, wollen wir nun kurz beide wiederholen, um so die
einzelnen Benennungen der beiden Einteilungen direkt miteinander zu vergleichen.
Kapitel 18: Zusammenfassung des oben Gesagten
Die Theorik wird eingeteilt in Theologie, Mathematik und Physik, oder anders gesagt:
Die Theorik wird eingeteilt in die intellektible, die intelligible und die natürliche oder noch
anders: Die Theorik wird eingeteilt in die göttliche, (187) die lehrhafte und die Philologie.
Theologie ist also das gleiche wie die intellektible und die göttliche Theorik; Mathematik ist
das gleiche wie die intelligible und die lehrhafte Theorik; und Physik ist das gleiche wie die
Philologie und die natürliche Theorik.
Es gibt solche, die glauben, daß diese drei Teile der Theorik im Namen der Pallas
Athene, die ja für die Göttin der Weisheit gehalten wird, auf geheimnisvolle Weise
angedeutet seien. Denn sie wird „Tritona“ genannt, also „tritoona“, das heißt „dreifache
Kenntnis“, und zwar die Kenntnis Gottes, welche wir die intellektible genannt haben, die
Kenntnis der Seelen, die wir als die intelligible bezeichnet haben, und die Kenntnis der
körperlichen Dinge, welche wir als die natürliche aufgeführt haben. Und mit Recht kommt
der Name „Weisheit“ nur diesen dreien zu. Denn wir können zwar auch die übrigen drei
Wissensbereiche also Ethik, Mechanik und Logik, in nicht unzutreffender Weise der
Weisheit zuordnen, aber in genauerer Definition nennen wir jene doch eigentlich eher
Klugheit oder Wissen – die Logik wegen ihrer Beschäftigung mit der Beredtheit des Wortes,
die Mechanik und Ethik wegen ihrer Beschäftigung mit der Moral und mit den Werken. Die
Theorik allein nennen wir, da sie die Wahrheit der Dinge betrachtet, „Weisheit“.
Kapitel 19: Fortsetzung
Die Praktik wird eingeteilt in die persönliche, die private und die öffentliche oder, anders
gesagt, in die ethische, die ökonomische und die politische oder, wieder anders, in die (189)
moralische, die wirtschaftliche und die staatliche. Dabei sind persönliche, ethische und
sittliche Praktik das gleiche, ebenso private, ökonomische und wirtschaftliche und auch
öffentliche, politische und staatliche. Oeconomus heißt übersetzt Wirtschafter, deshalb wird
die ökonomische Praktik auch „wirtschaftliche Praktik“ genannt. Polis ist das griechische
Wort für das lateinische civitas („Staat“), und daher hat die politische oder staatliche Praktik
ihren Namen. Und wenn wir die Ethik als einen Teil der Praktik definieren, so ist Ethik hier
strikt im Sinne des sittlichen Verhaltens einer jeden Einzelperson zu verstehen, so daß sie
dasselbe bedeutet wie die persönliche Praktik.
Persönliche Praktik also „ist die, welche für sich selbst Sorge trägt und sich mittels
sämtlicher Tugenden erhebt, schmückt und ausweitet, die nichts im Leben zuläßt, an dem sie
sich nicht freuen könnte, und nichts tut, das sie bereuen würde“. Private Praktik ist die,
„welche die Pflichten des Haushaltes regelt und in ausgewogener Anordnung zuteilt“.
Öffentliche Praktik ist die, „welche die Sorge für staatliche Angelegenheiten auf sich nimmt
und dem Wohlergehen aller dient durch die Klugheit ihrer Umsicht, die Ausgewogenheit
ihrer Gerechtigkeit, die Stärke ihrer Tapferkeit und die Geduld ihrer Mäßigung.“
Die persönliche Praktik betrifft also jeden einzelnen, die private die Oberhäupter der
Familien, die politische die Leiter der Städte. Die Praktik selbst „wird ‚die tätige‘ genannt,
weil sie ihre Projekte in ihren Tätigkeiten realisiert. Die moralische Praktik hat ihren
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Namen daher, daß sie eine ehrenhafte Lebensführung anstrebt und Regeln aufstellt, die zur
Tugend anleiten sollen. Die wirtschaftliche Praktik heißt deshalb so, weil sie eine weise
Ordnung für die häuslichen Angelegenheiten einrichtet und die staatliche, weil sie für das
Wohl des ganzen Staates sorgt.“ (191)
Kapitel 20: Die Einteilung der Mechanik in sieben Wissenschaften
Die Mechanik umfaßt sieben Wissenschaften: die Tuchherstellung, die
Waffenschmiedekunst, die Handelsschiffahrt, die Landwirtschaft, die Jagd, die Medizin und
die Theaterkunst. Drei davon beziehen sich auf äußeren Schutz für die menschliche Natur,
wodurch sie sich gegen Widrigkeiten abschirmt, und vier beziehen sich auf die innere
Ausstattung, wodurch sie sich ernährt und für ihren Unterhalt sorgt. In dieser Einteilung
besteht eine Ähnlichkeit zum Trivium und Quadrivium, denn das Trivium befaßt sich ja mit
Worten, die etwas Äußerliches sind, und das Quadrivium mit Begriffen, die innerlich
gebildet werden. Die mechanischen Wissenschaften sind die sieben Dienerinnen, die Merkur
von der Philologie als Mitgift erhielt, denn wenn die Beredsamkeit sich mit der Weisheit
verbindet, ist ihr wahrhaftig jede menschliche Tätigkeit dienstbar. Wie Cicero in seinem
Buch über die Rhetorik vom Studium der Beredsamkeit sagt: „Durch sie wird das Leben
sicher und ehrenhaft, glanzvoll und angenehm. Denn aus der Beredsamkeit erwachsen dem
Gemeinwesen zahlreiche Vorteile, vorausgesetzt, die Weisheit, die Lenkerin aller Dinge, ist
auch mit dabei; aus der Beredsamkeit fließen für diejenigen, die sie erworben haben, Lob,
Ehre und Würde; aus der Beredsamkeit gewinnen sogar noch die Freunde jener Beredten
sichersten und verläßlichsten Beistand.“
Diese Wissenschaften heißen „die mechanischen“, das heißt die unechten, weil sie sich
mit dem Werk des schaffenden Menschen befassen, der seine Form der Natur entlehnt.
Ebenso heißen die anderen sieben die freien, weil sie einen freien, das heißt ungebundenen,
und geübten Geist erfordern – denn diese Wissenschaften behandeln ja auf subtile Weise die
Ursachen der Dinge – oder weil im Altertum nur die Freien, also die Adligen, sich ihnen zu
widmen pflegten, während die gewöhnlichen Leute und die (193) Söhne aus unfreien Familien
sich der Mechanik zuwandten, wegen ihrer Erfahrung in körperlicher Arbeit. In all diesem
sieht man die große Sorgfalt der Alten, die keinen Bereich unberührt lassen, sondern alles
unter bestimmte Regeln und Vorschriften zusammenfassen wollten. Und die Mechanik
definierten sie als die Wissenschaft, welche die Herstellung aller Dinge umfaßt.
Kapitel 21: Erstens: Die Tuchherstellung
Die Tuchherstellung umfaßt alle Arten des Webens, Nähens und Spinnens, sei es mit der
Hand, der Nadel, der Spindel, der Ahle, der Spule, dem Kamm, der Haspel, dem Brenneisen,
der Rolle oder irgendwelchen anderen Werkzeugen; aus irgendeinem Leinen- oder Wollstoff,
aus jeglicher Art von geschabten oder behaarten Häuten, auch aus Hanf oder Kork, Binsen,
Haaren, Wollflocken oder irgendeinem anderen Stoff dieser Art; zum Gebrauch als Kleidung,
Decken, Leinenzeug, Mäntel, Sättel, Teppiche, Vorhänge, Servietten, Filze, Schnüre, Netze,
Seile; auch Stroh verwenden die Menschen, um Hüte und Körbe zu flechten. Alle diese
Beschäftigungen gehören zur Tuchherstellung.
Kapitel 22: Zweitens: Die Waffenschmiedekunst
Als zweites folgt die Waffenschmiedekunst. Als „Waffen“ werden mitunter alle möglichen
Werkzeuge bezeichnet, so wie wir etwa von den Waffen des Krieges oder den Waffen eines
25
Schiffes sprechen und damit das in einem Krieg oder auf einem Schiff verwendete Gerät
meinen. Ansonsten sind Waffen im eigentlichen Sinne aber das, womit wir uns schützen, wie
zum Beispiel der Schild, der Brustpanzer und der Helm, oder das, womit wir schlagen, wie
das Schwert, die Streitaxt und der Spieß. Geschosse aber sind Waffen, die wir schleudern
können, wie Speer und Pfeil.
Das Wort arma („Waffen“) kommt von armus („Arm“), weil sie den Arm schützen, den
wir meist den Schlägen (195) entgegenhalten. Das Wort tela („Geschosse“) aber kommt von dem
griechischen telon, das bedeutet „lang“, denn diese Waffen sind lang; daher verwendet man
auch das Wort protelare im Sinne von prolongare („verlängern“).
Die Waffenschmiedekunst wird also gleichsam als Werkzeugkunde bezeichnet, nicht so
sehr, weil sie bei ihrer Tätigkeit Werkzeuge verwendet, sondern weil sie aus einem
vorgegebenen formlosen Stoff etwas sozusagen zu einem Werkzeug macht. Als solch ein Stoff
dienen alle Arten von Stein, Holz, Metall, Sand und Ton.
Diese Wissenschaft besteht aus zwei Arten, der architektonischen und der
handwerklichen. Die architektonische wird eingeteilt in die Steinarbeit also das Metier des
Mauerers und des Steinhauers, und die Holzarbeit, die Tätigkeit des Schreiners und des
Zimmermanns, aber auch anderer Handwerker dieser Art, die mit Äxten und Beilen, Feile
und Brett, Säge und Bohrer, Hobeln, Messern, Kelle, Richtscheit ihre Arbeit tun, indem sie
glätten, behauen, schnitzen, feilen, schaben,, zusammenfügen und anstreichen, und zwar mit
allem möglichen Material, Lehm, Ziegeln, Stein Holz, Knochen, Kies, Kalk, Gips und
ähnlichem mehr. Die handwerkliche Art wird eingeteilt in Hammerarbeit, welche das
Material durch Schläge zu einer bestimmten Form ausweitet, und Gußarbeit, welche das
Material durch Gießen in eine bestimmte Form zurückdrängt. Deshalb „werden diejenigen,
die aus der Gestaltlosigkeit des Materials die Form eines Gerätes herzustellen verstehen,
Gießer genannt“.
Kapitel 23: Drittens: Die Handelsschiffahrt
Die Handelsschiffahrt umfaßt allen Handel mit heimischen oder fremden Waren in
Kauf, Verkauf und Tausch. Sie ist für ihren Bereich zweifellos eine besondere Art der
Rhetorik, (197) denn Beredsamkeit ist für diese Beschäftigung in ganz besonderem Maße
vonnöten. Deshalb wird auch jemand, der über hervorragende Redegabe verfügt, „Mercurius“
genannt, gleichsam als kirrius, also „Herr“ der Kaufleute. Die Handelsschiffahrt erforscht die
entlegenen Teile der Welt, sie erreicht bisher nie gesehene Küsten, durchzieht furchtbare
Wüstenregionen und treibt selbst mit barbarischen Völkerschaften und in unbekannten
Sprachen menschenfreundlichen Handel. Ihr Wirken versöhnt Völker und beschwichtigt
Kriege, es festigt den Frieden und verwandelt den privaten Vorteil des einzelnen in den
gemeinsamen Nutzen aller.
Kapitel 24: Viertens: Die Landwirtschaft
Die Landwirtschaft hat vier Unterarten: die des Ackerlandes, das für die Saat vorgesehen
ist; die des Pflanzlandes, zur Anpflanzung mit Bäumen bestimmt wie zum Beispiel in
Weinbergen, Obstgärten und Forsten; die es Weidelandes wie bei Wiesen, Matten oder
Heideland; und die der Blumenzucht wie bei Gärten und Rosenhecken.
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Kapitel 25: Fünftens: Die Jagd
Die Jagd wird eingeteilt in die Wildjagd, die Vogeljagd und den Fischfang. Die Wildjagd
wird auf viele verschiedene Weisen betrieben: mit Netzen, Schlingen, Fallstricken,
Fallgruben, dem Bogen, mit Speeren, der Lanze, mit Einkreisung, Ausräucherung, mit
Hunden und Falken. Die Vogeljagd geschieht mit Fallstricken, Schlingen, Netzen, mit dem
Bogen, der Leimrute und der Angel. Fischfang geschieht mit Schleppnetzen, Garnen, Reusen,
Angeln und Spießen.
Zu dieser Wissenschaft gehört auch die Zubereitung aller Speisen, Delikatessen und
Getränke. Ihren Namen hat sie von einer ihrer Unterarten erhalten, weil man sich im
Altertum nur durch die Jagd zu ernähren pflegte, wie man (199) auch heute noch in
bestimmten Gegenden, wo der Verzehr von Broten etwas sehr Seltenes ist, als Speise nur
Fleisch und als Getränk nur Wasser oder Honigwein zu sich nimmt.
Bei der Speise unterscheidet man Brot und Zukost. Das Brot hat seinen Namen panis oder
auch ponis daher, daß es auf allen Tischen aufgetragen wird (apponitur), oder aber von dem
griechischen Wort pan, was „alles“ bedeutet, weil kein gutes Mahl ohne Brot auskommt. Es
gibt viele Arten von Brot: ungesäuertes und gesäuertes, unter der Asche gebackenes, braunes
und lockeres Brot, Kuchen, Fladenbrot, süßes Brot, Weizenbrot, Stärkebrot, Weißbrot und
viele andere mehr. Zubrot ist das, was man zusammen mit dem Brot ißt, wir können dies auch
ganz allgemein als Speise bezeichnen. Auch davon gibt es viele Arten: Fleischsorten,
Fleischtöpfe, Breie, Gemüse und Früchte. Von den Fleischspeisen sind manche geröstet,
manche gebraten, manche gekocht, roh oder gesalzen. Andere Arten sind die Speckseite,
Rauchspeck und verschiedene Schinken, Schmer, Fett, Schmalz und Talg. Auch von den
Fleischtöpfen gibt es verschiedene Arten: lukanische Wurst, Hackfleisch, Pastete, galatische
Torte und all die anderen, die nur ein wahrer Fürst der Küchenmeister erfinden konnte. Die
Breie enthalten Milch, Kolostrum, Butter, Käse und Molke. Und wer könnte die Namen all
der Gemüse und Früchte aufzählen?
Von den Delikatessen sind manche heiß, andere kalt, manche bitter, andere süß, manche
trocken, andere feucht.
Von den Getränken sind manche nur Getränk, das heißt, sie befeuchten, ohne zu nähren,
wie zum Beispiel Wasser; andere sind sowohl Getränk als auch Speise, denn sie befeuchten
und nähren, wie der Wein. Von den nährenden Getränken sind wiederum einige von Natur
aus nahrhaft wie Wein und jedes andere gegorene Getränk, andere nur nebenbei wie das Bier
und die verschiedenen Metsorten. (201)
Die „Jagd“ umfaßt also alle Aufgaben der Bäcker, Metzger, Köche und Schankwirte.
Kapitel 26: Sechstens: Die Medizin
„Die Medizin wird in zwei Teile eingeteilt“: Die Ursachen und die
Behandlungsmaßnahmen. Von den Ursachen gibt es sechs: Luft, Bewegung und Ruhe,
Entleerung und Füllung, Speise und Trank, Schlafen und Wachen und die Befindlichkeit des
Seelenlebens. Man nennt diese die „Ursachen“, weil sie die Gesundheit herstellen und
bewahren, wenn sie im richtigen Maß gebraucht werden, und Krankheit verursachen, wenn
dies nicht geschieht. Die Seelenbefindlichkeiten werden deshalb als Ursachen für Gesundheit
oder Krankheit bezeichnet, weil sie mitunter zur Erhitzung führen, entweder auf stürmische
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Weise, wie beim Zorn, oder auch sanft, wie bei Freude, und weil sie auch andererseits die
Körperwärme an sich ziehen und geradezu verschwinden lassen, wiederum entweder
stürmisch, wie bei Schrecken und Furcht, oder eher sanft, wie bei Besorgnis. Andere
Seelenregungen beeinflussen die natürliche Lebenskraft sowohl auf innerliche wie auch auf
äußerliche Weise, wie zum Beispiel die Traurigkeit.
Jede medizinische Behandlung ist entweder innerlich oder äußerlich. Innerlich sind
diejenigen, die durch den Mund, die Nasenlöcher, die Ohren oder den After eingeführt
werden, wie zum Beispiel Heiltränke, Brechmittel, Pulver und ähnliche Dinge, die durch
Trinken, Kauen oder Aufsaugen eingenommen werden. Äußerliche Behandlungen sind etwa
Binden, Umschläge, Pflaster und die Chirurgie, die zweigeteilt ist: die am Fleisch arbeitende,
wie Schneiden, Nähen und Brennen, und die am Knochen arbeitende, wie Einrichten und
Zusammenfügen.
Es soll sich nun aber niemand wundern, daß ich Speise und Trank unter die Merkmale
der Medizin zähle, obwohl (203) ich sie doch oben der Jagd zugeschrieben habe. Dies ist
nämlich unter jeweils verschiedenen Gesichtspunkten geschehen. Der Wein etwa gehört in der
Traube zum Bereich der Landwirtschaft, im Faß zum Gebiet des Kellermeisters und im
Genuß zu dem des Arztes. In ähnlicher Weise gehört die Zubereitung von Speisen zu
Bäckerei, Metzgerei und Küche, die Auswirkungen ihres Verzehrs aber sind Gegenstand der
Medizin.
Kapitel 27: Siebtens: Die Theaterkunst
Die Wissenschaft von der Unterhaltung nennt man „Theaterkunst“, und sie hat ihren
Namen vom Theater, wo das Volk gewöhnlich zu unterhaltsamen Vorführungen
zusammenkam. Dies geschah nicht, weil das Theater der einzige Platz war, wo solche
Vorführungen stattfanden, sondern weil es der beliebteste Ort dafür war. Manche
Vorführungen fanden in Theatern statt, andere in Vorhallen von Häusern, in Gymnasien,
Amphitheatern, Kampfplätzen, bei Gastmählern und an Heiligtümern. Im Theater wurden
die großen Tatenberichte rezitiert, in Form von vorgetragenen Dichtungen oder in
dramatischer Darstellung oder durch Masken oder Puppen. In den Vorhallen führte man
Chöre und Tänze auf; in den Gymnasien wurde gerungen; in den Amphitheatern fanden
Wettrennen zu Fuß, zu Pferd und mit Wagen statt; auf den Kampfplätzen traten die
Faustkämpfer auf. Bei den Gastmählern machte man Musik mit Liedern, Instrumenten und
Gesängen und spielte Würfel; in den Heiligtümern sang man zu den Festzeiten den Göttern
Lobgesänge. Man zählte diese Unterhaltsamkeiten aber deshalb zu den erlaubten
Handlungen, weil durch maßvolle Bewegung die natürliche Wärme des Körpers erhalten und
durch Frohsinn der Geist erfrischt wird. Ein anderer, noch wahrscheinlicherer Grund war
dies: Da es notwendig war, daß das Volk gelegentlich zu Vergnügungen zusammenkam, wollte
man, daß bestimmte (205) Plätze für diese Vergnügungen vorhanden seien, damit die Menschen
sich nicht in Wirtshäusern versammelten und irgendwelche Schändlichkeiten oder
Verbrechen begingen.
Kapitel 28: Die Logik als der viere Teil der Philosophie
Die Logik wird eingeteilt in Grammatik und Argumentationslehre. Das griechische Wort
gramma bedeutet auf lateinisch littera („Buchstabe“), und daher spricht man von Grammatik,
also der „Lehre von den Buchstaben“ (litteralis scientia). Buchstabe im eigentlichen Sinne
28
meint das geschriebene Zeichen, der Begriff „Element“ dagegen steht für den gesprochenen
Laut. Hier allerdings muß „Buchstabe“ im weiteren Sinne verstanden werden, in der
Bedeutung „Laut“ ebenso wie in der von „Schriftzeichen“, denn beides gehört zur Grammatik.
Einige sagen, die Grammatik sei kein Bestandteil, sondern sozusagen nur ein Anhängsel
oder ein Hilfsmittel der Philosophie. Über die Argumentationslehre aber sagt Boethius, diese
könne sowohl Bestanteil als auch Hilfsmittel der Philosophie sein, ebenso wie der Fuß, die
Hand, die Zunge, die Augen und ähnliches sowohl Bestandteile als auch Hilfsmittel des
Körpers sind.
Einfach gesagt, handelt die Grammatik von den Wörtern, das heißt von ihrer Erfindung,
Bildung, Zusammensetzung, (207) Beugung, Aussprache und anderem mehr, das sich auf die
lautliche Äußerung bezieht. Die Argumentationslehre aber handelt von den Wörtern im
Hinblick auf ihren begrifflichen Inhalt.
Kapitel 29: Die Grammatik
Die Grammatik wird eingeteilt in die Lehre von den Buchstaben, von den Silben, den
Wörtern und den Sätzen. Auf eine andere Weise wird sie eingeteilt in Buchstaben, also das,
was man schreibt, und Wörter, also das, was man ausspricht. Wiederum anders wird die
Grammatik eingeteilt in Substantiv, Verb, Partizip, Pronomen, Adverb, Präposition,
Konjunktion, Interjektion, in das gesprochene Wort, den Buchstaben, die Silbe, Versfuß,
Betonung und Länge, Interpunktion, Rechtschreibung, Analogie, Etymologie, Glossen,
Abweichungen, Barbarismus, Solözismus, Fehler, Metaplasma, Redewendungen, Tropen,
Prosa, Versdichtung, Fabeln, Geschichten. Die Erklärung all dieser Begriffe übergehe ich
aber hier, weil das viel mehr Platz erfordern würde, als es die Kürze dieses Büchleins erlaubt,
und weil ich es in diesem kleinen Werk lediglich unternommen habe, den Einteilungen und
den Namen der Dinge nachzuspüren, um so für den Leser eine gewisse Grundlage der Bildung
bereitzustellen. Wer aber all diese Dinge wissen möchte der soll den Donat und den Servius
lesen, von Piscian die Werke „Über die Akzente“ und „Über zwölf Verse des Vergil“, außerdem
„Der Barbarismus“ und von Isidor die „Etymologien“. (209)
Kapitel 30: Die Argumentationslehre
Die Argumentationslehre umfaßt als integrale Bestandteile die Erfindung und die
Beurteilung, als separate Unterabteilungen aber die Beweisführung, die Überzeugung und die
Überredung. Die Beweisführung besteht aus zwingenden Argumenten und obliegt den
Philosophen; die Überzeugung ist Sache der Dialektiker und Rhetoriker; die Überredung aber
die der Sophisten und Schwätzer. Die Überzeugung gliedert sich in Dialektik und Rhetorik,
die beide als integraler Bestandteile die Erfindung und die Beurteilung enthalten. Denn da
diese beiden für die ganze Gattung der Argumentationslehre konstitutiv sind, finden sie sich
notwendigerweise in allen ihren Unterarten. Die Erfindung lehrt das Ermitteln von
Argumenten und das Ausarbeiten von Argumentationslinien. Die Wissenschaft von der
Beurteilung lehrt das Beurteilen von Argumenten und Argumentationslinien.
Man könnte nun die Frage stellen, ob Erfindung und Beurteilung wirklich zur
Philosophie gehören, denn sie scheinen weder in der Theorik noch in der Praktik oder der
Mechanik enthalten zu sein und auch nicht in der Logik, wo man sie doch am ehesten
erwarten sollte. Sie sind in der Logik nicht enthalten, da sie weder ein Bereich der
Grammatik noch der argumentierenden Logik sind. Sie sind aber kein Bereich der
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argumentierenden Logik, weil sie diese insgesamt umfassen; und nichts kann ja gleichzeitig
integraler und separater Teil ein und derselben Gattung sein. So gesehen scheint also die
Philosophie nicht das gesamte Wissen zu umfassen.
Man muß jedoch wissen, daß das Wort scientia („Wissen[schaft]“) üblicherweise in
zweierlei Bedeutung gebraucht wird, nämlich einerseits für eine bestimmte
Wissenschaftsdisziplin, wie wenn ich sage, daß die Dialektik (211) ein „Wissen“ ist, also eine
Kunst oder Wissenschaft, und andererseits für eine beliebige Art von Kenntnis, wie wenn ich
sage, daß einer, der etwas weiß, Wissen hat. Wenn ich also zum Beispiel etwas von der
Dialektik weiß, habe ich wissen; wenn ich zu schwimmen weiß, habe ich Wissen; wenn ich
weiß, daß Sokrates der Sohn des Sophroniskus war, habe ich Wissen. Und so kann man ganz
allgemein von jemand, der etwas weiß, sagen, er habe Wissen. Aber es ist eine Sache, wenn ich
sage: „Die Dialektik ist ein Wissen, also eine Kunst oder Wissenschaft“, und eine andere,
wenn ich sage: „Zu wissen, daß Sokrates der Sohn des Sophroniskus war, ist Wissen, also eine
Kenntnis von etwas.“ Von jedem Wissen, das eine Kunst oder Wissenschaft ist, läßt sich mit
Recht sagen, daß es eine separate Abteilung der Philosophie darstellt; aber es kann nicht
generell gesagt werden, daß jedes Wissen, das eine Kenntnis von etwas ist, eine separate
Abteilung der Philosophie darstellt. Jedoch ist durchaus jedes Wissen ob es nun eine
Wissenschaftsdisziplin oder irgendeine Kenntnis von etwas ist, Teil der Philosophie, entweder
als ihr integraler Bestandteil oder als eine separate Unterabteilung.
Eine Wissenschaft aber ist ein Wissen, das einen eigenständigen Endzweck hat, in
welchem sich das Vorhaben dieses Wissensbereiches vollständig verwirklicht. Bei dem Wissen
von der Erfindung und der Beurteilung trifft dies jedoch nicht zu, denn keines von diesen
beiden existiert selbständig in sich. Deshalb können sie nicht „Wissenschaften“ genannt
werden, sondern sind (integrale) Teile einer Wissenschaft, nämlich der argumentierenden
Logik.
Weiterhin stellt sich die Frage, ob Erfindung und Beurteilung zugleich Teile der
Dialektik und der Rhetorik sind. Dies scheint nicht möglich zu sein, da ja dann zwei
unterschiedliche Gattungen aus identischen Teilen bestünden. Es kann jedoch gesagt werden,
daß diese zwei Wörter gleichlautend für die Teile der Dialektik und der Rhetorik gebraucht
werden. Oder vielleicht kann man noch zutreffender (213) sagen, daß Erfindung und
Beurteilung eigentlich Teile der argumentierenden Logik sind und unter diesen
Bezeichnungen mit jeweils einem Namen benannt werden können, daß sie aber in den
Unterabteilungen dieser Gattung durch bestimmte Eigenschaften voneinander unterschieden
sind. Diese Unterschiede werden durch die Benennungen „Erfindung“ und „Beurteilung“
jedoch nicht zum Ausdruck gebracht, weil diese Namen sie nicht in ihrer Eigenschaft als
separate Arten bezeichnen, sondern nur in ihrer Eigenschaft als Teile einer Gattung.
Grammatik ist die Wissenschaft vom fehlerfreien Sprechen; Dialektik ist die
scharfsinnige Untersuchung, die das Wahre vom Falschen unterscheidet; Rhetorik ist die
Wissenschaft, von allem Rechten zu überzeugen. (215)
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DRITTES BUCH
Kapitel 1: Ordnung und Methode in Studium und Wissenschaft
Die Philosophie ist eingeteilt in Theorik, Praktik, Mechanik und Logik. Die Theorik ist
eingeteilt in Theologie, Physik und Mathematik; die Mathematik wiederum in Arithmetik,
Musik, Geometrie und Astronomie. Die Praktik ist eingeteilt in die persönliche, die private
und die öffentliche. Die Mechanik ist eingeteilt in Tuchherstellung, Waffenschmiedekunst,
Handelsschiffahrt, Landwirtschaft, Jagd, Medizin und Theaterkunst. Die Logik ist eingeteilt
in Grammatik und Argumentation; die Argumentation wiederum in Beweisführung,
Überzeugung und Überredung; die Überzeugung ist eingeteilt in Dialektik und Rhetorik.
In dieser Einteilung sind nur die separaten Abteilungen der Philosophie enthalten; es
gibt noch weitere Unterteilungen dieser Abteilungen, aber die obigen können für jetzt
genügen. Wenn man nur die Anzahl der einzelnen Wissenschaften nimmt, kommt man auf
einundzwanzig; will man aber jeden erwähnten Bereich zählen, so erhält man
achtundzwanzig.
Verschiedene Männer sind nach der Überlieferung die Urheber dieser Wissenschaften
gewesen. Sie haben die Wissenschaften entwickelt, die einen durch Begründen, die anderen
durch Erweitern, wieder andere durch Vervollkommnen. Deshalb werden oft für ein und
dieselbe Wissenschaft mehrere Urheber angegeben. Im folgenden werde ich die Namen einiger
von diesen aufzählen.
Kapitel 2: Die Urheber der Wissenschaften
Ein Theologe bei den Griechen war Linus, bei den Lateiner Varro und in unserer Zeit
Johannes Scotus, mit seinen (217) „Zehn Kategorien im Verhältnis zu Gott“. Die Natur-Physik
wurde bei den Griechen von Thales von Milet, einem der sieben Weisen, erfunden, während
bei den Lateinern Plinius darüber geschrieben hat. Pythagoras von Samos erfand die
Arithmetik, und Nikomachus verfaßte ein Werk darüber. „Dies haben bei den Lateinern erst
Apuleius und dann Boethius übersetzt.“ Eben dieser Pythagoras schrieb auch Matentetradem,
ein Buch über die Unterweisung im Quadrivium, und fand heraus, daß der Buchstabe Y eine
Ähnlichkeit mit dem menschlichen Leben darstellt. Der Erfinder der Musik war, wie Mose
sagt (vgl. Gen 4,21), Jubal, der aus dem Geschlecht Kains stammte; die Griechen allerdings
sagen, es sei Pythagoras gewesen, andere nennen Merkur, der als erster das Tetrachord
einführte; wieder andere nennen Linus, Zethos oder Amphion. Von der Geometrie heißt es,
sie sei zuerst in Ägypten erfunden worden; bei den Griechen war Euklid ihr bedeutendster
Vertreter; sein Werk hat Boethius übersetzt. (219) Auch Eratosthenes war außerordentlich
fähig auf dem Gebiet der Geometrie, er berechnete als erster den Erdumfang. Manche sagen,
daß Ham, der Sohn des Noach, der Erfinder der Astronomie war. Die Chaldäer lehrten als
erste die Astrologie, wobei sie besonders den Zeitpunkt der Geburt beachteten; Josephus
versichert allerdings, Abraham habe als erster die Ägypter in der Astrologie unterwiesen. „Die
Astronomie hat Ptolemäus, der König von Ägypten, wiederhergestellt, er stellte auch die
Richttafeln auf, nach denen man den Lauf der Sterne berechnet.“ Manche sagen, daß Nimrod
der Riese der größte Astrologe gewesen sei, auch die Begründung der Astronomie wird ihm
zugeschrieben. „Die Griechen sagen, diese Wissenschaft sei zuerst von Atlas erdacht worden,
und deshalb sagt man auch, daß er den Himmel getragen habe.“
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Der Erfinder der Ethik war Sokrates, er schrieb darüber vierundzwanzig Bücher unter
dem Aspekt des positiven Rechts. Dann schrieb sein Schüler Plato zahlreiche Bücher Über
den Staat, unter dem Aspekt sowohl des natürlichen wie auch des positiven Rechts. Später hat
Cicero in lateinischer Sprache Bücher Über den Staat verfaßt. Und weiterhin schrieb der
Philosoph Fronto das Buch Strategematon, das heißt „Kriegslisten“.
Die Mechanik hat verschiedene Urheber gehabt. Hesiod von Askra war bei den Griechen
der erste, der sich der Beschreibung ländlicher Verhältnisse widmete, und „nach (221) ihm
Demokrit. Auch ein großer Karthager schrieb Studien zur Landwirtschaft in
achtundzwanzig Bänden. Bei den Römern schrieb Cato als erster ein Werk Über die
Landwirtschaft, das später Marcus Terentius Varro noch verbessert hat. In diesen Bereich
gehören auch Vergil mit seinen Georgica, dann Cornelius und Julius Atticus, Ämilianus oder
auch Columella, der berühmte Redner, der den gesamten Bereich dieser Wissenschaft
umfaßte.“ Weiterhin schrieb Vitruv ein Buch Über die Architektur, Palladius ein Buch Über
die Landwirtschaft.
Die Praxis der Tuchherstellung soll den Griechen zuerst Minerva gezeigt haben, und man
glaubt auch, daß sie als erste einen Webstuhl einrichtete, Wolle färbte sowie den Olivenanbau
und das Handwerk erfand. Von ihr lernte Dädalus, und er soll nach ihr das Handwerk
betrieben haben. In Ägypten erfand jedoch Isis, die Tochter des Inachus, die Praxis des
Leinewebens und zeigte, wie man daraus Kleidung herstellt. Außerdem führte sie dort den
Gebrauch der Wolle ein. In Libyen entwickelte sich der Gebrauch des Leinens zuerst am
Tempel des Ammon.
Ninus, der König der Assyrer, war der erste, der Kriege auslöste. Vulkan soll der erste
Schmied gewesen sein, nach der Heiligen Schrift aber war es Tubal. (Gen 4,22) Prometheus
preßte als erster einen Stein in einen Eisenreifen und erfand so den Gebrauch des
Fingerrings.
Die Pelasger erfanden als erste die Schifffahrt. In Griechenland erfand Ceres bei Eleusis
zuerst den Gebrauch des Getreides, in Ägypten Isis. In Italien erfand Pilumnus den Gebrauch
von Weizen und Dinkel und die Weise des Mahlens und Stampfens, während Tagus in
Spanien das Säen (223) erfand. Osiris führte bei den Ägyptern den Weinanbau ein, Liber bei
den Indern. „Dädalus verfertigte als erster einen Tisch und einen Stuhl. Ein gewisser Apicius
stellte als erster das ganze Zubehör für die Küche zusammen, und eben dort starb er
schließlich nachdem er all sein Gut verbraucht hatte, eines freiwilligen Todes.“
Der Urheber der Medizin war bei den Griechen Apollo, und sein Sohn Äskulap erhöhte
sie noch in ihrem Ruhm und in ihrer Wirksamkeit; später starb er durch einen Blitz. Danach
verfiel die Heilkunde und blieb fast fünfhundert Jahre lang unbekannt, bis in die Zeit des
Königs Artaxerxes. Dann brachte sie Hippokrates wieder zurück ans Licht, der als Sohn des
Asklepius auf der Insel Kos geboren worden war.
Die Spiele sollen von den Lydern ihren Ausgang genommen haben, die, aus Asien
kommend, sich unter ihrem Führer Tyrrhenus in Etrurien niederließen und dort, unter all
den anderen Riten ihres Aberglaubens, Schauspiele aufführten. Diesen Brauch imitierten die
Römer und holten sich von dort die Künstler; und deshalb haben die Spiele (ludi) von den
Lydern ihren Namen erhalten.
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Die Buchstaben der Hebräer sollen von Mose und seinem Gesetz ihren Anfang genommen
haben, die der Chaldäer und Syrer von Abraham. Die Buchstaben der Ägypter erfand Isis, die
der Griechen erfanden die Phönizier, Kadmus brachte sie von Phönizien nach Griechenland.
Carmentis, die Mutter des Evander, die mit ihrem eigentlichen Namen Nikostrata hieß,
erfand die lateinischen Buchstaben.
„Die heilige Geschichte hat als erster Mose geschrieben. Bei den Heiden hat zuerst Dares
der Phrygier die Geschichte Trojas herausgegeben, sie soll auf Palmblättern geschrieben
worden sein. Nach Dares galt Herodot als der (225) erste Geschichtsschreiber in Griechenland,
und nach ihm glänzte Pherekydes, zu der Zeit, als Esra das Gesetz schrieb.“ Die Fabeln soll
als erster Alkman aus Kroton erfunden haben.
Ägypten ist die Mutter der Wissenschaften, von dort kamen sie nach Griechenland und
dann nach Italien. In Ägypten wurde die Grammatik erfunden zur Zeit des Osiris, des
Gemahls der Isis. Und auch die Dialektik wurde dort erfunden, und zwar von Parmenides,
der die Städte und die Gesellschaft der Menschen floh und sich lange Zeit auf einem Felsen
aufhielt und so die Dialektik ersann, seitdem wird dieser Felsen der Fels des Parmenides
genannt. „Auch Plato emigrierte nach dem Tod seines Lehrers Sokrates nach Ägypten, und
nachdem er dort die freien Künste kennengelernt hatte, kehrte er nach Athen zurück,
versammelte Schüler um sich an der Akademie, seinem Hause, und widmete sich dort
philosophischen Studien.“ Er lehrte als erster die Griechen die wissenschaftliche Logik, die
später sein Schüler Aristoteles erweiterte, vervollkommnete und zu einer Wissenschaft
ausarbeitete. Marcus Terentius Varro übertrug als erster die Dialektik ins Lateinische. Später
fügte Cicero die Topik hinzu. Demosthenes, (227) der Sohn eines Handwerkers, gilt als
Erfinder der Rhetorik bei den Griechen, Tisias bei den Lateinern, Corax bei den
Syrakusanern. Die Rhetorik wurde in griechischer Sprache behandelt durch Aristoteles,
Gorgias und Hermagoras und ins Lateinische übertragen durch Cicero, Quintilian und Titian.
Kapitel 3: Welche Wissenschaften vornehmlich zu studieren sind
Aus all den Wissenschaften, die oben aufgezählt wurden, haben die Alten in ihren
Studien sieben in besonderer Weise für den Unterricht ausgewählt. In diesen sahen sie eine
im Vergleich zu allen anderen Wissenschaften so überragende Nützlichkeit, daß jeder, der
darin gründlich ausgebildet würde, die Kenntnis der anderen Fächer später eher durch
eigenes Forschen und Üben als durch das Hören von Vorlesungen erlangen könne. Denn diese
Wissenschaften sind sozusagen die besten Werkzeuge und die besten Grundlagen, durch
welche dem Geist der Weg bereitet wird zur vollständigen Erkenntnis der philosophischen
Wahrheit. Deshalb haben sie die Namen Trivium und Quadrivium erhalten, weil der
lebendige Geist durch sie, wie auf bestimmten Wegen (viae), zu den Geheimnissen der
Weisheit gelangt.
Zu dieser Zeit wurde niemand für würdig gehalten, den Namen eines Lehrers zu führen,
der nicht öffentlich die Kenntnis dieser Wissenschaften für sich beanspruchen konnte. Und
auch von Pythagoras heißt es, er sei bei seinem Unterricht so verfahren, daß während der
ersten sieben Jahre in Analogie zur Zahl der sieben freien Künste, keiner seiner Schüler eine
Erklärung über das zu fordern wagte, was von Pythagoras gelehrt wurde; statt dessen glaubte
man den Worten des Lehrers, bis man alles zu Ende gehört hatte und so schließlich selbst die
Begründung für das Gelehrte finden konnte. Manche sollen diese sieben Wissenschaften mit
solchem Eifer gelernt haben, daß sie dieselben (229) vollständig im Gedächtnis hatten. Auf
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diese Weise brauchten sie nie, welche Fragen auch immer sie zur Lösung oder zur Bestätigung
sich vorlegten, in den Büchern hin und her zu blättern um nach den Regeln und Gründen zur
Erklärung des umstrittenen Themas zu suchen, sondern hatten jeden einzelnen Punkt sofort
auswendig bereit. Daher kommt es offensichtlich, daß es in jener Zeit so viele Gelehrte gab,
daß allein diese mehr schrieben, als wir heute lesen können. Die Studenten unserer Zeit aber
können oder wollen keine rechte Methode im Studium einhalten, und deshalb finden wir
viele, die studieren, aber wenige, die weise sind. Mir aber scheint es, der Student sollte nicht
weniger darauf achten, seine Mühe nicht für nutzlose Studien zu verschwenden, als darauf,
bei guten und nützlichen Vorhaben nicht gleichgültig zu bleiben. Es ist schlecht, etwas Gutes
nur nachlässig zu betreiben; schlimmer aber ist es, viel Mühe auf etwas Nichtiges zu
verwenden. Da jedoch nicht alle genügend Urteilskraft besitzen können, um einzusehen, was
ihnen nützt, werde ich nun für den Studenten in knapper Form darlegen, welche Schriften
meiner Meinung nach die nützlicheren sind, und anschließend werde ich noch einige Wort
über die Methode beim Studieren hinzufügen.
Kapitel 4: Die zwei Arten von Schriften
Es gibt zwei Arten von Schriften. Die erste Art umfaßt das, was man im engeren Sinne
Wissenschaften nennt; die zweite aber das, was als Anhang zu den Wissenschaften gilt. Die
Wissenschaften sind der Philosophie untergeordnet, das heißt, sie haben einen bestimmten
und in sich abgeschlossenen Teil der Philosophie zum Gegenstand, wie zum Beispiel die
Grammatik, die Dialektik und ähnliches mehr. Den Anhang zu den Wissenschaften bildet
dasjenige, was zur Philosophie lediglich in irgendeiner Beziehung steht, sich also eigentlich
mit einem nicht-philosophischen Gegenstand (231) beschäftigt. Sicher berührt auch manches
davon gelegentlich in einer unklaren und zusammenhanglosen Weise Themen, die den
Wissenschaften entnommen sind, oder bereitet, wenn die Erzählweise schlicht ist, den Weg
zur Philosophie. Von dieser Art sind alle Werke der Dichter wie etwa Tragödien, Komödien,
Satiren, Heldendichtungen und Lyrik, jambische Gedichte, gewisse didaktische Werke, auch
Fabeln und Geschichtserzählungen und ebenso die Schriften jener, die wir heute
üblicherweise „Philosophen“ nennen, nämlich Leute, deren Gewohnheit es ist, einen ganz
geringfügigen Gegenstand durch wortreiche Weitschweifigkeiten auszudehnen und selbst
einen simplen Gedanken durch verworrene Redewendungen zu verdunkeln. Sie werfen sogar
die verschiedensten Dinge in eins zusammen und machen so gewissermaßen aus einer Menge
von Farben und Formen ein einziges Bild. Merk dir die Unterscheidung die ich für dich
gemacht habe: Wissenschaften und Anhang zu den Wissenschaften sind zwei verschiedene
Dinge. Zwischen diesen beiden scheint mir ein ebensolcher Unterschied zu bestehen, wie ihn
der Dichter beschreibt:
„So viel, wie die biegsame Weide hinter der blaßgrünen Olive
zurücksteht oder die bescheidene Narde hinter den purpurnen
Rosenhecken.“
Deshalb würde derjenige, der zur Wissenschaft gelangen will, dabei aber die wahren
wissenschaftlichen Disziplinen beiseite läßt, um sich in die anderen zu vertiefen, enorme, um
nicht zu sagen unendliche Mühe darin finden und nur ein mageres Ergebnis. Und schließlich
können die Wissenschaften auch ohne jeden Anhang den Studenten zur Vollkommenheit (233)
führen, der Anhang aber, nimmt man ihn ohne die Wissenschaften, bringt keine
Vervollkommnung. Dies trifft um so mehr zu, als diese Anhängsel nichts Erstrebenswertes
haben, das den Studenten anziehen könnte, außer dem, was sie von den Wissenschaften
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übernommen und sich angeeignet haben. Man sollte daher nichts bei ihnen suchen außer
dem, was zu den Wissenschaften gehört. Deshalb ist es meine Auffassung, daß man seine
Mühe vor allem auf die Wissenschaften konzentrieren muß, denn in ihnen liegt die
Grundlage für alles, und in ihnen enthüllt sich die reine und einfache Wahrheit. Im
besonderen ist dies der Fall bei den sieben Wissenschaften, die ich oben erwähnt habe, welche
die Werkzeuge für die gesamte Philosophie sind. Nachher dann, wenn noch freie Zeit übrig
sein sollte, mag man diese anderen Dinge lesen, denn manchmal macht es mehr Freude, wenn
man das Ernste mit dem Vergnüglichen mischt, und Seltenheit erhöht ja noch den Wert des
Guten. So halten wir mitunter einen Gedanken mit größerem Interesse fest, wenn wir mitten
in einer Erzählung auf ihn stoßen. Doch die Grundlage aller Bildung liegt in den sieben
freien Künsten. Vor allen anderen sollte man diese sich aneignen, denn ohne sie kann und
wird die philosophische Wissenschaft überhaupt nichts erklären oder definieren. Diese
hängen so miteinander zusammen und sind in ihren Inhalten wechselseitig so aufeinander
angewiesen, daß, wenn auch nur eine fehlen sollte, all die anderen nicht ausreichen, um
jemanden zum Philosophen zu bilden. Deshalb scheinen mir jene im Irrtum zu sein, die
diesen Zusammenhang unter den Künsten nicht beachten, sich nur einige davon aussuchen
und glauben, sie könnten in diesen vollkommen werden, obwohl sie die anderen ganz
unberührt lassen. (235)
Kapitel 5: Jeder Wissenschaft muß man das Ihre zukommen lassen
Es gibt noch einen weiteren Irrtum, der kaum weniger schwerwiegend ist und den man
unbedingt vermeiden sollte. Gewisse Leute nämlich lassen zwar nichts von dem, was man
lesen muß, aus, verstehen es aber nicht, jeder Wissenschaft das Ihre zukommen zu lassen,
sondern behandeln bei jeder einzelnen Wissenschaft alle anderen gleich mit. In der
Grammatik diskutieren sie über die Theorie der logischen Schlüsse, in der Dialektik
erforschen sie die Kasusflektionen, und, was besonders lächerlich ist, bei der Besprechung
eines Buchtitels behandeln sie fast das ganze Buch und werden mit dem Incipit in der dritten
Unterrichtsstunde noch nicht fertig. Auf diese Weise unterrichten sie nicht andere, sondern
demonstrieren lediglich ihre eigene Gelehrtheit. Wenn sie doch nur auf alle so wirkten, wie
sie auf mich wirken! Sieh doch nur, wie widersinnig diese Praxis ist: Je mehr Überflüssiges
du ansammelst, um so weniger Nützliches kannst du aufnehmen und behalten.
In jeder Wissenschaft sind also zwei Dinge vor allem zu unterscheiden und
auseinanderzuhalten: erstens, wie man die Wissenschaft selbst betreiben soll; zweitens, wie
man die Prinzipien dieser Wissenschaft auf andere Bereiche anwenden soll. Denn Handeln
über eine Wissenschaft und Handeln gemäß einer Wissenschaft sind zweierlei. Handeln über
eine Wissenschaft ist beispielsweise das Behandeln der Grammatik, Handeln gemäß einer
Wissenschaft ist eine Sache auf grammatikalische Weise zu behandeln. Unterscheide diese
beiden wohl: „Handeln über die Grammatik“ und „etwas grammatikalisch behandeln“. Über
die Grammatik handelt, wer sich mit den Regeln für die Wörter und mit den dieser
Wissenschaft eigenen Lehrsätzen befaßt. Grammatikalisch aber handelt jeder, der
regelgerecht spricht oder schreibt. Über die Grammatik zu handeln ist also nur Sache
bestimmter Autoren wie (237) Priscian, Donat, Servius; grammatikalisch zu handeln aber ist
Sache aller.
Wenn wir also über irgendeine Wissenschaft handeln – insbesondere in der Lehre, wo
alles auf eine Kurzfassung reduziert werden und zu leichterem Verständnis bestimmt sein
sollte –, dann muß es genügen, den fraglichen Stoff so kurz und deutlich wie möglich zu
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erklären, damit wir nicht durch das Anhäufen sachfremder Überlegungen den Studenten eher
verwirren als ihn bilden. Wir sollten nicht alles sagen, was wir sagen können, damit nicht
das, was wir sagen müssen, mit geringerer Wirkung gesagt wird. Suche also in jeder
Wissenschaft das, was anerkanntermaßen ganz speziell zu dieser Wissenschaft gehört. Später
dann, wenn du die Wissenschaften studiert und durch Diskussion und Vergleich ihren jeweils
spezifischen Inhalt erkannt hast, dann steht es dir auch frei, die jeweiligen Prinzipien
miteinander in Beziehung zu setzen und aus dieser wechselseitig vergleichenden Betrachtung
heraus dem nachzuforschen, was du bisher nicht so recht verstanden hast. Mach nicht so viele
Umwege, bevor du nicht die direkten Wege kennengelernt hast. Du wirst um so sicherer
gehen, wenn du nicht befürchten mußt, dich zu verirren.
Kapitel 6: Was für das Studium nötig ist
Drei Dinge sind für die Studierenden nötig: natürliche Begabung, Übung und sittliche
Disziplin. Unter natürlicher Begabung ist zu verstehen, daß der Student leicht auf nimmt,
was er hört, und verläßlich behält, was er aufgenommen hat; unter Übung ist zu verstehen,
daß er sein natürliches Talent durch Arbeit und Fleiß ausbildet; und mit sittlicher Disziplin
ist gemeint, daß er ein lobenswertes (239) Leben führt, indem er moralisches Verhalten und
Wissenschaftlichkeit vereint. Wir wollen nun über diese drei Dinge im einzelnen noch einige
einführende Bemerkungen machen.
Kapitel 7: Die natürliche Auffassungsgabe
Diejenigen, welche sich um die Wissenschaft bemühen, müssen sowohl über
Auffassungsgabe als auch über Gedächtniskraft verfügen, denn diese beiden sind bei jedem
Studium und in jedem Fach so miteinander verbunden, daß, wenn das eine fehlt, das andere
niemanden zur Vollendung führen kann, ganz so wie alle Reichtümer nichts nützen, wenn die
Bewachung fehlt, und wie derjenige vergeblich den Behälter verschließt, der nichts
aufzubewahren hat. Die Auffassungsgabe findet die Weisheit, das Gedächtnis bewahrt sie.
Die Auffassungsgabe ist ein dem Geist von Natur aus eingepflanztes Vermögen, das aus
sich selbst heraus wirksam wird. Ihren Ursprung hat sie in der Natur, durch Betätigung wird
sie gefördert, durch übermäßige Arbeit stumpft sie ab, durch maßvolle Übung aber wird sie
geschärft. Wie jemand sehr zutreffend gesagt hat: „Ich will, daß du dich endlich schonst. In
den Büchern steckt doch nur Mühsal – lauf hinaus an die frische Luft!“
Durch zwei Dinge wird die Auffassungsgabe geübt: Lesen und Meditation. Lesen bedeutet,
daß wir uns an Regeln und Vorschriften aus geschriebenen Texten bilden. Es gibt drei Arten
des Lesens: das des Lehrenden, das des Lernenden und das des für sich Lesenden. Denn wir
sagen ja „ich lese jenem ein Buch vor“; „ich lese ein Buch unter ihm“ und (241) „ich lese ein
Buch“. Was man beim Lesen aber besonders beachten muß, sind Ordnung und Methode.
Kapitel 8: Die Ordnung beim Lesen
Eine Art der Ordnung bezieht sich auf die Wissenschaftsdisziplinen, wie wenn ich sage,
die Grammatik sei älter als die Dialektik oder die Arithmetik komme vor der Musik. Eine
andere bezieht sich auf die Bücher, wie wenn ich sage, die Catilinarische Verschwörung gehe
dem Jugurthinischen Krieg voran; wieder eine andere auf die Erzählung, wo es eine
kontinuierliche Abfolge gibt; noch eine andere aber auf die Auslegung.
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Die Ordnung bei den Wissenschaftsdisziplinen folgt einfach ihrer Natur. Die bei den
Büchern folgt der Person des jeweiligen Autors oder dem behandelten Stoff; die bei der
Erzählung folgt der Disposition, von der es zweierlei gibt: die natürliche, wenn also Dinge in
der Reihenfolge ihres Vorkommens berichtet werden und die künstliche, wenn also das, was
später geschehen ist, früher erzählt wird, und das, was früher geschah, später. Bei der
Auslegung richtet sich die Ordnung nach der Untersuchung.
Die Auslegung umfaßt drei Elemente: den Wortlaut, den Sinn und die tiefere Bedeutung.
Der Wortlaut ist die angemessene Anordnung der Wörter, die wir auch Konstruktion nennen.
Der Sinn ist eine gewisse leicht faßbare und offensichtliche Bedeutung, welche der Wortlaut
an der Oberfläche zeigt. Die tiefere Bedeutung ist ein tiefgründiges Verständnis, das man nur
durch die Auslegung und Erläuterung erlangen kann. Hierbei ist die Ordnung die, daß zuerst
der Wortlaut, dann der Sinn und schließlich die (243) tiefere Bedeutung untersucht wird.
Wenn dies geschehen ist, ist die Auslegung vollendet.
Kapitel 9: Die Methode beim Lesen
Die Methode beim Lesen besteht in der Aufgliederung. Jede Aufgliederung beginnt mit
dem Begrenzten und schreitet zum Unbegrenzten fort. Alles Begrenzte aber ist uns besser
bekannt und unserem Verständnis leichter zugänglich. So beginnt die Unterweisung mit dem,
was besser bekannt ist, und führt dann durch dessen Kenntnis zum Wissen von dem, was
verborgen liegt. Außerdem forschen wir vermittels unserer Vernunft, deren eigentliche
Funktion das Aufgliedern ist, wenn wir durch die Aufgliederung und die Erforschung der
Naturen der einzelnen Dinge vom Allgemeinen zum Besonderen hinabsteigen. Denn jedes
Allgemeine ist deutlicher definiert als seine Besonderheiten. Wenn wir lernen, sollten wir
also mit dem beginnen, was besser bekannt, deutlicher definiert und umfassender ist, und
sollten dann, in allmählichem Hinabsteigen und aufgliederndem Unterscheiden der einzelnen
Dinge, die Natur dessen erforschen, was in jenem Allgemeinen enthalten ist.
Kapitel 10: Die Meditation
Meditation ist wohlüberlegtes und anhaltendes Nachdenken, das auf verständige Weise
den Grund, den Ursprung, die Art und den Nutzen jeder Sache erforscht. Die Meditation
nimmt ihren Anfang mit dem Lesen, doch bindet sie (245) sich keineswegs an die Regeln und
Vorschriften des Lesens. Vielmehr freut sie sich daran, durch offenen Raum zu eilen, wo sie
nach freiem Ermessen ihren Blick auf die Betrachtung der Wahrheit richtet, sie freut sich,
bald diese, bald jene Ursachen der Dinge zu erforschen, dann aber ins Tiefgründige
vorzudringen und nichts zweifelhaft, nichts unklar zu lassen. Seinen Anfang nimmt das
Studium also im Lesen, seine Vollendung aber liegt in der Meditation. Wenn einer sie erst auf
vertraute Weise lieben gelernt hat und sich ihr häufig genug willig gewidmet hat, dann wird
sie sein Leben wahrhaftig angenehm gestalten und ihm in der Not reichen Trost bieten. Die
Meditation nämlich ist es vor allem, welche die Seele vom Lärm des irdischen Tuns ablöst
und sie schon in diesem Leben eine Art Vorgeschmack von der Süße der ewigen Ruhe spüren
läßt. Und wenn jemand es gelernt hat, durch das, was geschaffen wurde, Ihn, der alles
geschaffen hat, zu suchen und zu erkennen, dann bildet er seinen Geist mit Wissen und füllt
ihn gleichermaßen mit Freude. Daher kommt es, daß in der Meditation die größte
Beglückung zu finden ist.
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Es gibt drei Arten der Meditation: die eine besteht in der Betrachtung des sittlichen
Verhaltens, die zweite in der Ergründung der Gebote, die dritte in der Erforschung der
göttlichen Werke. Das sittliche Verhalten bezieht sich auf Tugenden und Laster. Das
göttliche Gebot ist entweder Weisung oder Versprechung oder Drohung. Das Werk Gottes ist
alles, was seine Allmacht schafft, was seine Weisheit lenkt und seine Gnade bewirkt. Welche
Bewunderung dies alles verdient, wird ein jeder um so mehr erkenne, je intensiver er sich der
Meditation über Gottes Wunderwerke gewidmet hat.
Kapitel 11: Das Gedächtnis
Was das Gedächtnis angeht, so muß ich meiner Auffassung nach an dieser Stelle vor
allem das folgende erwähnen Wie die Auffassungsgabe durch Aufgliedern erforscht und
findet, (247) so bewahrt das Gedächtnis durch Zusammenfassen. Was wir im Verlauf des
Lernprozesses aufgegliedert haben, müssen wir daher zusammenfassen, um es dem Gedächtnis
anzuvertrauen. Zusammenfassen bedeutet, dasjenige, was ausführlicher beschrieben oder
besprochen worden ist, auf einen kurzen und gedrängten Abriß zu reduzieren. Die Alten
nannten einen solchen Abriß „Epilog“, das heißt, eine kurze Rekapitulation des vorher
Gesagten. Denn jede Abhandlung hat einen Grundgedanken, auf dem die ganze Wahrheit des
Anliegens und die Kraft der Argumentation beruht und auf den sich alles andere bezieht.
Diesen Grundgedanken zu suchen und zu prüfen heißt „zusammenfassen“.
Eine Quelle ist es, aber viele Bächlein – warum solltest du den Windungen des Flusses
folgen? Halte dich an die Quelle und du hast das Ganze. Ich sage dies, weil das Gedächtnis des
Menschen schwach ist und die Kürze liebt, und wenn es sich auf vieles verteilt, so bleibt wenig
für das einzelne übrig. Wir sollten deshalb bei jeder Unterweisung etwas kurz und verläßlich
zusammenfassen, um es in dem kleinen Kasten des Gedächtnisses abzulegen, so daß wir
später, wenn es die Sache erfordert, alles Weitere wieder daraus entwickeln können. Man
muß dies auch häufig im Geist hin und her wenden und aus dem Magen des Gedächtnisses
wieder zur Zunge hervorholen, damit es nicht durch lange Unterbrechung verkümmert.
Deshalb fordere ich dich, mein Student, auf, dich nicht so sehr zu freuen, wenn du vieles
gelesen hast, sondern wenn du vieles verstanden, und nicht nur verstanden, sondern auch
behalten hast. Denn sonst nützt das viele Lesen nichts, und auch nicht das Verstehen. Deshalb
wiederhole ich, was ich oben gesagt habe, daß nämlich diejenigen, die sich um die
Wissenschaft bemühen, Auffassungsgabe und Gedächtniskraft brauchen. (249)
Kapitel 12: Die sittliche Disziplin
Ein weiser Mann, über Methode und Form des Lernens befragt, gab zur Antwort:
„Demut im Sinn und eifriges Forschen und ruhiges Leben;
Schweigsam und zäh untersuchen und arm sein, weit in der Fremde;
Diese erhellen für viele das dunkle Gebiet des Studierens.“
Er hatte wohl, denke ich, den Spruch gehört: „Sittliches Verhalten ist eine Zierde der
Wissenschaft.“ Deshalb fügte er den Vorschriften für das Studium auch solche für das Leben
hinzu, damit der Student sowohl die Art und Weise seines Lebens als auch das Wesen seines
Studiums erkenne. Wissenschaft, die durch ein schamloses Leben befleckt wird, verdient
keinerlei Anerkennung. Wer nach der Wissenschaft strebt, muß deshalb vor allem darauf
achten, die sittliche Disziplin nicht zu vernachlässigen.
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Kapitel 13: Die Demut
Der Anfang der sittlichen Disziplin ist die Demut. Deren Lehren sind zahlreich, für den
Studenten aber sind besonders diese drei wichtig: erstens, daß er kein Wissen und kein
Schriftwerk geringschätzen soll; zweitens, daß er sich bei niemandem schämen soll, von ihm
zu lernen; drittens, daß er, wenn er selbst Gelehrtheit erreicht hat, die anderen nicht
verachten soll.
Viele lassen sich dadurch täuschen, daß sie schon vor der Zeit als Weise erscheinen
wollen. Dadurch geraten sie in eine aufgeblasene Selbstüberhebung und fangen an,
vorzutäuschen, was sie nicht sind, und sich dessen zu schämen, (251) was sie sind. Und sie
entfernen sich dadurch um so weiter von der Weisheit, als sie nicht weise sein, sondern für
weise gelten wollen.
Ich kenne viele solche, die, obwohl es ihnen selbst noch an den einfachsten Grundlagen
des Wissens mangelt, sich dennoch nur mit dem Schwierigsten beschäftigen wollen und die
glauben, Geistesgrößen zu werden allein dadurch, daß sie die Schriften der Großen und
Weisen lesen oder ihre Worte hören. „Wir haben sie gesehen!“ sagen sie. „Wir haben bei ihnen
studiert! Sie haben oft mit uns gesprochen! Diese Gewaltigen, diese Berühmten, sie kennen
uns!“ O wenn doch niemand mich kennen, aber ich dafür alles wissen würde! Plato gesehen,
nicht ihn verstanden zu haben, rühmt ihr euch. Dann ist es euer wohl unwürdig, scheint mir,
mich noch weiter zu hören! Ich bin nicht Plato. Ich habe es nicht einmal verdient, ihn zu
sehen. Für euch genügt es offenbar, daß ihr an der Quelle der Philosophie selbst getrunken
habt – aber wenn ihr doch nur weiter durstig wäret! Auch ein König trinkt nach goldenen
Pokalen wieder aus einem irdenen Gefäß. Was schämt ihr euch? Ihr habt Plato gehört –
dann hört auch den Chrysippus! Im Sprichwort heißt es: „Was du nicht weißt, weiß vielleicht
Ofellus.“ Niemandem ist es gegeben, alles zu wissen, aber es gibt auch niemanden, der nicht
von der Natur irgendeine besondere Gabe empfangen hätte. Der kluge Student hört deshalb
alle gern, liest alles und verachtet keine Schrift, keine Person, keine Lehre. Ohne
Unterschiede zu machen, sucht er bei allen das, was ihm selbst fehlt, und er achtet nicht
darauf, wieviel er weiß, sondern darauf, wieviel er nicht weiß. In diesem Sinn wird auch
jener Ausspruch Platos zitiert: „Lieber will ich bescheiden (253) von anderen lernen, als ihnen
unverschämt das Meine aufzudrängen.“
Warum schämst du dich zu lernen, scheust dich aber nicht unwissend zu sein? Das
letztere ist eine größere Schande als das erstere. Oder warum strebst du nach dem Höchsten,
während du noch ganz unten liegst? Bedenke lieber, was deine Kräfte zu leisten vermögen.
Am sichersten schreitet derjenige voran, der nach der Ordnung vorgeht. Manche wollen einen
großen Sprung tun und stürzen so in den Abgrund. Eile also nicht allzusehr, auf diese Weise
gelangst du schneller zur Weisheit. Lerne bereitwillig von allen, was du nicht weißt, denn die
Demut kann dich an dem teilhaben lassen, was die Natur einem jeden zu eigen gegeben hat.
Du wirst weiser als alle sein, wenn du bereit bist, von allen zu lernen. Die von allen
empfangen, sind reicher als alle.
Und schließlich: Schätze kein Wissen gering denn alles Wissen ist gut. Wenigstens
verschmähe es bei keiner Schrift, sie zu lesen, wenn du Zeit hast. Selbst wenn du keinen
Gewinn daraus ziehst, so verlierst du doch auch nichts, zumal es meiner Einschätzung nach
keine Schrift gibt, die nicht irgend etwas der Bemühung Wertes enthielte, sofern sie an der
richtigen Stelle und in der richtigen Weise behandelt wird, oder die nicht sogar etwas ganz
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Besonderes enthielte, welches der aufmerksame Erforscher des Inhalts, da er es nirgends
anders gefunden hat, um so freudiger aufnimmt, je seltener es ist.
Nichts jedoch ist gut, wenn es etwas Besseres beseitigt. Wenn du nicht alles lesen kannst,
so lies das, was nützlicher ist. Aber selbst wenn du in der Lage sein solltest, alles zu lesen, so
solltest du dennoch nicht auf alles dieselbe Mühe verwenden. Vielmehr müssen wir manche
Dinge so lesen, daß wir sie kennen, andere aber nur so, daß wir wenigstens davon gehört
haben. Denn manchmal halten wir Dinge, von denen wir noch nichts gehört haben, für
wertvoller, als sie wirklich sind, und eine Sache, deren Nutzen man kennt, läßt sich leichter
beurteilen. (255)
Du siehst also jetzt, wie notwendig diese Demut für dich ist, damit du kein Wissen
geringschätzt und bereitwillig von allen lernst. Ebenso ist es für dich von Vorteil, daß du,
wenn du begonnen hast, etwas zu wissen, die anderen nicht verachtest. Denn dieser Fehler der
Aufgeblasenheit rührt bei einigen daher, daß sie allzu andächtig ihr eigenes Wissen
betrachten, und sobald sie selbst der Meinung sind, etwas geworden zu sein, glauben sie, daß
andere, die sie nicht einmal kennen, so etwas nicht sein oder auch nur werden könnten. Daher
kommt es auch, daß heutzutage gewisse Kleinigkeitskrämer sich wichtig machen – ich weiß
nicht aus welchem Grund –, die alten Väter der Einfältigkeit beschuldigen und glauben, die
Weisheit sei mit ihnen geboren und werde mit ihnen sterben. Sie behaupten, die
Ausdrucksweise der heiligen Schriften sei so einfach, daß man dafür keine Lehrmeister zu
hören brauche, vielmehr könne jeder durchaus nur mit Hilfe seiner eigenen Geisteskraft zu
den Geheimnissen der Wahrheit vordringen. Sie rümpfen die Nase und verziehen den Mund
über die Lehrer der Theologie und sehen nicht ein, daß sie Gott beleidigen, wenn sie seine
einfachen Worte zwar in brillanten Formulierungen verkünden, dabei aber ihre Bedeutung so
verdrehen, daß sie ganz unsinnig werden. Es ist nicht mein Rat, solchen Leuten
nachzueifern.
Der gute Student sollte also bescheiden und sanftmütig sein, eitlen Beschäftigungen und
begehrlichen Verlockungen gänzlich abgeneigt, aufmerksam und eifrig, auf daß er von allen
bereitwillig lerne, sich nichts auf sein Wissen (257) einbilde, die Verfasser falscher Lehren
meide wie Gift, er sollte lernen, eine Sache lange zu überdenken, bevor er darüber urteilt;
nicht gelehrt zu scheinen, sondern gelehrt zu sein sollte er sich bemühen; die
wohlverstandenen Aussprüche der Weisen sollte er lieben und versuchen, sie sich stets wie
einen Spiegel seiner selbst vor Augen zu halten. Und wenn zufällig einige schwierigere Stellen
sich seinem Verständnis verweigern, soll er nicht gleich in Schimpfreden ausbrechen und
meinen, nur das sei gut, was er selbst verstehen kann. All dies macht die Demut aus, die zur
sittlichen Disziplin der Studierenden gehört.
Kapitel 14: Der Eifer im Forschen
Der Eifer im Forschen gehört in den Bereich der Übung, und darin bedarf der Student
eher der Ermutigung als der Unterweisung. Denn wer ernsthaft betrachten will, was die Alten
aus Liebe zur Weisheit erduldet haben und welch erinnerungswürdige Zeugnisse ihrer
Vortrefflichkeit sie der Nachwelt überlassen haben, der wird erkennen, wie weit seine
Ernsthaftigkeit der ihren unterlegen ist. Manche haben Ehrenstellen ausgeschlagen, andere
haben Reichtümer zurückgewiesen, manche freuten sich über erlittenes Unrecht, andere
verachteten Bedrückungen, wieder andere flohen die Gesellschaft der Menschen und zogen in
die entlegensten Schlupfwinkel, in die Einsamkeit der Wüste, um sich allein der Philosophie
40
zu widmen und sich der Kontemplation um so ungestörter hinzugeben, als sie ihren Geist
keiner der Begierden unterwarfen, die sonst immer den Weg zur Tugend verstellen. Von dem
Philosophen Parmenides ist überliefert, daß er fünfzehn Jahre auf einem Felsen in Ägypten
gelebt hat. Und von Prometheus wird erzählt, daß er wegen seiner grenzenlosen Vorliebe für
das Denken im Kaukasusgebirge einem Geier ausgesetzt worden sei. Denn die Alten wußten,
daß das wahre Gute nicht in der Geltung bei den Menschen liegt, sondern in einem reinen
Gewissen verborgen ist, und daß diejenigen nicht (259) wirklich Menschen sind, die ihr Herz
an vergängliche Dinge hängen und ihr wahres Gut nicht erkennen. Deshalb machten sie
durch die räumliche Entfernung deutlich, wie sehr sie sich in Geisteshaltung und Erkenntnis
von den anderen Menschen unterschieden, damit nicht in ein und derselben Wohnstätte Leute
gemeinsam lebten, die nicht durch ein gemeinsames Vorhaben miteinander verbunden seien.
Es sagte jemand einmal zu einem Philosophen: „Siehst du nicht, daß die Leute über dich
lachen?“ Darauf antwortete jener: „Sie lachen über mich, und über sie lachen die Esel.“ Nun
überlege dir, wenn du kannst, wie wenig ihm daran lag, gelobt zu werden von Leuten, von
denen er nicht einmal die Spottreden fürchtete. Von einem anderen Mann wird berichtet, daß
er, nachdem er alle Wissenschaften studiert und die Gipfel aller Künste erreicht hatte, zur
Ausübung des Töpferhandwerks hinabstieg. Und als wiederum einen anderen Lehrer seine
Schüler mit vielen Lobreden erhoben, rühmten sie unter all den anderen Dingen auch die
Tatsache, daß er die Kunst eines Schuhmachers verstehe.
Ich wünschte, unsere Studenten zeigten solche Hingabe, daß die Weisheit in ihnen
niemals altern würde. Den greisen David wärmte allein Abischag, die Schunemiterin, weil die
Liebe zur Weisheit ihren Liebhaber auch bei erschlaffendem Körper nicht verläßt. „Nahezu
alle Kräfte des Körpers wandeln sich bei alten Menschen; dabei wächst nur die Weisheit
allein, alle anderen nehmen ab.“ „Das Alter derjenigen, die ihre Jugend mit ehrenhaften
Tätigkeiten verbracht haben, wird mit den Jahren noch gelehrter, durch Übung noch
erfahrener, im Lauf der Zeit noch weiser und erntet die süßesten Früchte der früheren
Studien. Deshalb soll auch Themistokles, jener weise Mann aus Griechenland, als er sein
einhundertsiebtes Lebensjahr erreicht hatte und den Tod kommen sah, erklärt haben, er sei
traurig, aus dem Leben zu scheiden zu einer Zeit, wo er gerade begonnen habe, weise zu sein.
Plato starb schreibend in seinem (261) 81. Jahr. Sokrates füllte 99 Jahre in Mühsal und Arbeit
mit Lehren und Schreiben. Ich übergehe mit Schweigen all die anderen Philosophen,
Pythagoras, Demokrit, Xenokrates, Zeno und den Eleaten, die sich alle noch in hohem Alter
im Streben nach der Weisheit auszeichneten.
Ich komme nun zu den Dichtern, Homer, Hesiod, Simonides, Tersichorus, die hochbetagt,
im Angesicht des Todes, einen Schwanengesang sangen, ich weiß nicht wie, doch schöner als
je zuvor. Als Sophokles, der ein überaus hohes Alter erreicht hatte und sich nicht mehr um
seine Familienangelegenheiten kümmerte, von seinen Söhnen der Geistesschwäche
beschuldigt wurde, rezitierte er vor dem Richter die Geschichte von Ödipus, die er gerade erst
verfaßt hatte, und erbrachte damit in schon gebrochenem Alter einen solchen Beweis seiner
Weisheit, daß er die Strenge des Gerichtshofes in den Beifall eines Theaters verwandeltet.
Und es ist auch nicht verwunderlich, daß selbst Cato der Zensor, der beredteste der Römer,
noch als alter Mann sich nicht schämte und nicht daran verzweifelte, Griechisch zu lernen.
In der Tat berichtet auch Homer, daß von der Zunge Nestors, auch als dieser schon uralt und
hinfällig war, die Rede noch süßer als Honig floß.“
Beachte also, wie sehr diese die Weisheit liebten, wenn nicht einmal das hohe Alter sie
von deren Erforschung abhalten konnte. Diese so große Liebe zur Weisheit und diese Fülle
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an Klugheit bei alten Menschen kann nun sinnvollerweise auch aus der Erklärung des
Namens hergeleitet werden, der oben genannt wurde. „Denn Abischag bedeutet ‚mein
überströmender Vater‘ oder ‚das Brüllen meines Vater‘, wodurch gezeigt wird, daß in alten
Menschen der gewaltige und die menschliche Stimme übertönende Donner des göttlichen
Wortes fortdauert. Denn das Wort ‚überströmend‘ bedeutet an dieser Stelle ‚Fülle‘, nicht
‚Übermaß‘. Und in der Tat heißt ‚Schunemiterin‘ in unserer Sprache ‚die Scharlachfarbene‘“,
was sehr passend die Glut des Eifers nach Weisheit bezeichnet. (263)
Kapitel 15: Die vier übrigen Vorschriften
Die folgenden vier Vorschriften sind so angeordnet, daß sie sich jeweils immer
abwechselnd auf die sittliche Disziplin und dann wieder auf die Übung beziehen.
Kapitel 16: Ruhe
Die Ruhe des Lebens, sei sie nun eine innerliche, so daß der Geist sich nicht durch
verbotene Wünsche ablenkt, oder eine äußerliche, so daß Muße und Gelegenheit zu
ehrenhaften und nützlichen Studien zur Verfügung stehen, gehört in beiderlei Hinsicht zur
sittlichen Disziplin.
Kapitel 17: Untersuchung
Die Untersuchung aber, das heißt, die Meditation, gehört zum Bereich der Übung. Es
scheint zwar, daß die Untersuchung unter den Forschungseifer gehört, und wenn das der Fall
ist, wäre es eine überflüssige Wiederholung, weil dies ja oben schon erwähnt wurde. Man muß
jedoch wissen, daß es einen Unterschied zwischen diesen beiden gibt. Forschungseifer
bedeutet nämlich Beharrlichkeit bei der Arbeit, Untersuchung meint aber die
Gewissenhaftigkeit beim Nachdenken. Anstrengung und Liebe bringen ein Werk zustande;
Sorge und Wachsamkeit erbringen den guten Rat. Durch die Anstrengung handelst du, durch
die Liebe vollendest du. Durch die Sorge siehst du voraus, durch die Wachsamkeit bist du
aufmerksam. Diese sind die vier Diener, welche die Sänfte der Philologie tragen, denn sie
üben den Geist, welchen die Weisheit beherrscht. Der Lehrstuhl der Philologie ist nämlich
der Sitz der Weisheit, und man sagt von ihr, daß sie von diesen vier als Stützen getragen
werde, weil sie durch deren Ausübung gefördert wird. Und weiter heißt es sehr schön, daß
aufgrund ihrer Stärke zwei Jünglinge die Sänfte an der Stirnseite tragen, dies sind Philos und
Kophos, das heißt Liebe und Anstrengung, denn sie bringen das Werk in äußerlicher
Hinsicht (265) zustande; an der Rückseite sind zwei Mädchen, nämlich Philemia und
Agrimnia, das bedeutet Sorge und Wachsamkeit, weil sie innerlich im geheimen guten Rat
hervorbringen. Manche meinen, mit dem Lehrstuhl der Philologie sei der menschliche
Körper gemeint über den die vernünftige Seele gebietet und den vier Diener tragen, das
bedeutet, die vier Elemente, aus denen er zusammengesetzt ist. Von diesen sind die zwei
oberen, nämlich Feuer und Luft, nach Namen und Wirkung männlich, die zwei unteren aber,
Erde und Wasser, weiblich.
Kapitel 18: Anspruchslosigkeit
Man war stets bestrebt, den Studierenden auch zur Armut zu raten, das heißt, daß sie
nicht überflüssigen Dingen nachjagen. Dies gehört in ganz besonderem Maß zu ihrer
sittlichen Disziplin. „Ein fetter Bauch“, so heißt es, „führt nicht zu scharfem Verstand.“ Aber
was werden die Studenten unserer Zeit dazu sagen können? Verschmähen sie es doch im Lauf
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ihres Studiums nicht nur, in Genügsamkeit zu leben, sondern bemühen sich sogar, reicher zu
erscheinen, als sie es wirklich sind. Jeder prahlt nicht mit dem, was er gelernt sondern mit
dem, was er ausgegeben hat. Aber vielleicht wollen sie ja einfach nur ihren Lehrern
nacheifern – was die betrifft, so weiß ich wirklich nichts über sie zu sagen, was ihnen gerecht
würde. (267)
Kapitel 19: Fremde
Als letztes wurde „ein fremdes Land“ angeführt, denn auch dies ist für den Menschen eine
Übung. Für diejenigen, die philosophieren, ist die ganze Welt eine Fremde. Dennoch, wie ein
Dichter sagt:
„Durch ein eigentümliches Gefühl der Süße zieht der heimatliche
Boden alle an und läßt sie nie seiner vergessen.“
Es ist daher eine wichtige Grundlage für die Tugend, daß der Geist in allmählicher
Übung zunächst lernt, die sichtbaren und vergänglichen Dinge zu vertauschen, um sie dann
später sogar ganz aufgeben zu können. Wem sein Heimatland lieb ist, der ist noch zu
verwöhnt; wem jedes Land Heimat ist, der ist schon stark; wem aber die ganze Welt Fremde
ist, der ist vollkommen. Der erste hat seine Liebe an eine bestimmte Stelle der Welt geheftet,
der zweite hat sie auf die ganze Welt ausgedehnt, der dritte hat sie ganz ausgetilgt. Ich selbst
habe schon seit meiner Kindheit in der Fremde gelebt, und ich weiß, mit welchem Kummer
die Seele mitunter den kärglichen Fleck einer armen Hütte verläßt, ich weiß aber auch, mit
welcher Freiheit sie später die marmornen Wohnsitze und die getäfelten Säle verachtet. (269)
VIERTES BUCH
Kapitel 1: Das Studium der heiligen Schriften
Weder alle noch nur die Schriften, die von Gott oder von den unsichtbaren Gütern
handeln, sind „heilig“ zu nennen. Auch in den Büchern der Heiden finden wir viele durchaus
plausibel verfaßte Texte über die Ewigkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seelen, über
den ewigen Lohn für die Tugenden und die ewigen Strafen für die schlechten Menschen, und
dennoch bezweifelt niemand, daß diese die Bezeichnung „heilig“ nicht verdienen. Und weiter,
wenn wir die Reihe der Schriften des Alten und des Neuen Testamentes durchgehen, so sehen
wir, daß diese Zusammenstellung beinahe zur Gänze vom Zustand des gegenwärtigen Lebens
und den in der Zeit geschehenen Dingen handelt und nur selten aus ihr etwas über die Süße
der ewigen Güter und die Freuden des himmlischen Lebens zu entnehmen ist. Und dennoch
pflegt der katholische Glaube diese die „heiligen Schriften“ zu nennen.
Die Schriften der Philosophen erstrahlen, einer weiß übertünchten Lehmwand
vergleichbar, von außen betrachtet im Glanz ihrer Beredsamkeit; wenn sie aber mitunter den
Anschein von Wahrheit vortäuschen, dann verdecken sie damit nur, da sie Falschheiten
dazumischen, wie durch einen Farbanstrich den Lehm des Irrtums. Die göttlichen Worte
dagegen sind am passendsten mit einer Honigwabe zu vergleichen, denn in der Einfachheit
ihrer Rede erscheinen sie zunächst trocken, doch innen sind sie voller Süße. Deshalb steht es
fest, daß sie die Bezeichnung „heilig“ mit Recht erhalten haben, denn sie allein erweisen sich
als so frei von der Ansteckung mit der Falschheit, daß in ihnen erwiesenermaßen nichts der
Wahrheit Widersprechendes enthalten ist.
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Heilige Schriften sind diejenigen, welche von Verehrern des katholischen Glaubens
verfaßt wurden und welche die Autorität der allgemeinen Kirche, um eben diesen Glauben
(271) zu stärken, zur Einreihung unter die heiligen Bücher aufgenommen und als lesenswert
beibehalten hat. Außerdem gibt es noch eine sehr große Anzahl kleinerer Werke, die von
frommen und weisen Männern zu verschiedenen Zeiten geschrieben worden sind und die,
wenn sie auch von der Autorität der allgemeinen Kirche nicht anerkannt worden sind,
dennoch unter die heiligen Worte gerechnet werden; den sie wichen nicht vom katholischen
Glauben ab und enthalten zahlreiche nützliche Lehren. Doch legen wir dies wohl besser
durch eine Auflistung als durch eine Definition dar.
Kapitel 2: Ordnung und Zahl der Bücher
Die gesamte Heilige Schrift ist in den zwei Testamenten enthalten, dem Alten und dem
Neuen. Jedes der beiden Testamente gliedert sich in drei Teile. Das Alte Testament enthält das
Gesetz, die Propheten und die Hagiographen; das Neue seinerseits enthält das Evangelium,
die Apostel und die Väter.
Die erste Gruppe im Alten Testament, das heißt das Gesetz, welche die Hebräer Thorah
nennen, enthält den Pentateuch, das heißt die fünf Bücher Mose. Das erste in dieser Gruppe
ist Bresith oder Genesis; das zweite ist Hellesmoth oder Exodus; das dritte Vaiecra oder
Levitikus; das vierte Vaiedaber oder Numeri das fünfte Adabarim oder Deuteronomium.
Die zweite Gruppe ist die der Propheten. Sie enthält acht Bücher. Das erste ist Josue ben
Nun, das heißt Sohn des Nun; es wird auch Josua oder Jesus oder Jesus Nave genannt. Das
zweite ist Sophtim, das ist das Buch der Richter; das dritte Samuel, dies ist das erste und das
zweite Buch der (273) Könige; das vierte Malachim, das ist das dritte und das vierte Buch der
Könige; das fünfte Jesaja; das sechste Jeremia; das siebte Ezechiel; das achte Thareasra, das
ist das Buch der zwölf Propheten.
Die dritte Gruppe dann besteht aus neun Büchern. Das erste ist Ijob; das zweite David;
das dritte Masloth, welches auf griechisch Parabolae und auf lateinisch Proverbia
(„Sprichwörter“) heißt; das vierte Coeleth, das ist Ecclesiastes; das fünfte Sira Syrin, das heißt
Canticus canticorum („das Hohelied“); das sechste Daniel; das siebte Dabrehiamin, das heißt
Paralipomenon; das achte Esra; das neunte Ester. Alle zusammen sind 22 an der Zahl.
Außer diesen gibt es noch einige andere Bücher wie die „Weisheit des Salomo“, das Buch
Jesus Sirach, das Buch Judit, das Buch Tobit oder die Bücher der Makkabäer, die alle zwar
gelesen werden, aber nicht in den Kanon aufgenommen worden sind.
Die erste Gruppe des Neuen Testaments besteht aus vier Büchern: Matthäus, Markus,
Lukas, Johannes. Die zweite enthält ebenfalls vier: die vierzehn in einem Buch
zusammengefaßten Briefe des Paulus, die kanonischen Briefe, die Apokalypse und die
Apostelgeschichte. In der dritten Gruppe stehen an erster Stelle die Dekretalien, welche wir
canones, das heißt Regeln, nennen; dann folgen die Schriften der heiligen Kirchenväter und
Kirchenlehrer: des Hieronymus, Augustinus, Gregor, Ambrosius, Isidor, Origenes, Beda und
vieler anderer rechtgläubiger Männer. Diese Schriften sind so endlos zahlreich, daß sie nicht
aufgezählt werden können. Daraus wird ganz offenkundig deutlich, welche Hingabe diese
Männer für den christlichen Glauben aufbrachten, für dessen Bekräftigung sie so viele und so
hervorragende erinnerungswürdige Werke der Nachwelt hinterlassen haben. Im Vergleich
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dazu zeigt sich unsere (275) ganze Trägheit, können wird doch nicht einmal alles lesen, was
diese zu diktieren vermochten.
In diesen Gruppierungen zeigt sich aufs deutlichste die Übereinstimmung zwischen den
beiden Testamenten. Denn wie nach dem Gesetz die Propheten und nach den Propheten die
Hagiographen kommen, so folgen nach dem Evangelium die Apostel, und nach den Aposteln
die Reihe der Kirchenlehrer. Und ein wunderbares Prinzip der göttlichen Anordnung hat
bewirkt, daß, obwohl in jedem einzelnen Buch die Wahrheit vollständig und vollkommen
enthalten ist, dennoch kein Buch überflüssig ist. Dies haben wir in aller Kürze über die
Ordnung und die Zahl der heiligen Bücher zusammengefaßt, damit der Studierende seinen
vorgeschriebenen Lesestoff kennt.
Kapitel 3: Die Verfasser der heiligen Bücher
Die fünf Bücher des Gesetzes hat Mose geschrieben. Der Verfasser des Buches Josua soll
eben jener Josua gewesen sein, dessen Namen das Buch trägt. Das Buch der Richter ist, wie es
heißt, von Samuel herausgegeben worden. „Den ersten Teil des Buches Samuel schrieb Samuel
selbst, das Folgende aber bis zum Ende schrieb David. Das Buch Malachim hat zuerst
Jeremia in einem Band vereinigt; denn vorher stand dieser Text verstreut in den Geschichten
der einzelnen Könige.“ Jesaja, Jeremia und Ezechiel haben alle die Bücher selbst geschrieben,
die ihre Namen tragen. „Das Buch der zwölf Propheten wird mit den Namen seiner Verfasser
bezeichnet, und diese Namen sind Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum,
Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi. Diese werden die ‚kleinen Propheten‘
genannt, weil ihre Texte kurz sind und daher in einem Band zusammengefaßt werden.“ Jesaja
aber und Jeremia und Ezechiel und Daniel sind die vier großen Propheten, jeder von ihnen
füllt einen eigenen Band. (277)
„Das Buch Ijob hat nach Meinung einiger Mose geschrieben, andere nennen einen der
Propheten, wieder andere Ijob selbst.“ Das Buch der Psalmen hat David herausgegeben,
allerdings hat später Esra die Psalmen so angeordnet, wie sie heute vorliegen, und hat die
Titel hinzugefügt. Die Sprichwörter aber und Kohelet und das Hohelied hat Salomo verfaßt.
Daniel war der Verfasser des nach ihm benannten Buches. „Das Buch Esra trägt den Namen
seines Verfassers im Titel; es enthält seinem Inhalt nach die Werke sowohl des Esra wie auch
des Nehemia. Das Buch Ester soll von Esra geschrieben worden sein. Das Buch der Weisheit
findet sich bei den Hebräern nirgends und auch der Titel selbst deutet ja eher auf griechische
Beredsamkeit. Manche Juden versichern, das Buch stamme von Philo. Das Buch Kohelet hat
mit Sicherheit Jesus, der Sohn des Sirach aus Jerusalem, verfaßt, der Neffe des
Hohenpriesters Jesus, den Sacharja erwähnt. Dieses Buch findet sich bei den Hebräern, wird
aber zu den Apokryphen gezählt. Auch wer die Bücher Judit und Tobit und die Bücher der
Makkabäer geschrieben hat, steht keineswegs fest.“ Von den letzteren, wird wie Hieronymus
bezeugt, das zweite eher für ein griechisches Buch gehalten.
Kapitel 4: Was eine Bibliothek ist
„Das Wort Bibliothek kommt aus dem Griechischen, weil in ihr Bücher aufbewahrt
werden. Denn biblio bedeutet ‚von Büchern‘, und teca bedeutet ‚Verwahrungsort‘. Die
Bibliothek des Alten Testamentes hat der Schreiber Esra, nachdem die Chaldäer das Gesetz
verbrannt hatten und die Juden nach Jerusalem zurückgekehrt waren, in göttlicher
Inspiration wiederhergestellt; er hat alle Bücher des Gesetzes und der Propheten, die durch
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die Heiden verfälscht worden waren, wieder berichtigt und das gesamte Alte (279) Testament in
22 Büchern angeordnet, so daß es ebenso viele Bücher des Gesetzes gab wie Buchstaben im
Alphabet.“ „Doch gibt es im hebräischen Alphabet fünf Doppelbuchstaben: Caph, Mem, Nun,
Phe und Sade. Diese werden nämlich am Anfang oder in der Mitte eines Wortes anders
geschrieben als am Ende. Daher gelten bei den meisten auch fünf Bücher als Doppelbücher:
Samuel, Malachim, Dabrehiamin, Esra und Jeremia mit dem Cynoth, das heißt seinen
Klageliedern.“
Kapitel 5: Die Übersetzer
Die Übersetzer des Alten Testaments sind an erster Stelle die 70 Übersetzer, die Ptolemäus
mit dem Beinamen Philadelphus, König von Ägypten, das Alte Testament aus der
hebräischen Sprache ins Griechische übersetzen ließ. Ptolemäus war auf dem gesamten Gebiet
des Schriftwesens außerordentlich scharfsichtig und eiferte in seinem Bemühen um
Bibliotheken Peisistratos, dem Tyrannen der Athener, nach, der als erster bei den Griechen
eine Bibliothek einrichtete, außerdem auch dem Seleukos Nikanor, Alexander und den
anderen Alten, die sich der Weisheit widmeten. „Er trug in seiner Bibliothek nicht nur die
Schriften der Heiden zusammen, sondern auch die heiligen Schriften, so daß zu seiner Zeit in
Alexandria siebzigtausend Bücher vorhanden waren. Die Schriften des Alten Testaments
erbat er sich von dem Hohenpriester Eleasar. Obwohl die Übersetzer alle in Einzelzellen
voneinander getrennt worden waren, haben sie doch auf Einwirkung des Heiligen Geistes so
übersetzt, daß in dem Manuskript keines einzigen von ihnen etwas gefunden wurde, das von
dem Ergebnis der anderen, und sei es auch nur in der Anordnung der Wörter, irgendwie
abwich.“ Ihre Übersetzung ist daher geradezu eine einzige. Hieronymus allerdings sagt, man
solle dieser Geschichte keinen Glauben schenken. (281)
Die zweite, die dritte und die vierte Übersetzung erstellten Aquila, Symmachus und
Theodotion. Der erste von diesen, Aquila, war ein Jude, Symmachus und Theodotion aber
waren ebionitische Häretiker. In den griechischen Kirchen hat sich die Praxis eingebürgert,
die Texte in der Version der 70 Übersetzer zu übernehmen und zu lesen. Die fünfte
Übersetzung ist die allgemein verbreitete, ihr Autor ist unbekannt, deshalb muß sie als
Sonderfall einfach „die fünfte“ genannt werden. Die sechste und die siebte Übersetzung
stammen von Origenes, dessen Bücher von Eusebius und Pamphilus allgemein
bekanntgemacht wurden. Die achte ist die des Hieronymus, „die anderen mit Recht vorgezogen
wird, denn sie hält sich enger an den Wortlaut und ist klarer in ihrer Einsicht in die
Bedeutungen“.
Kapitel 6: Die Verfasser des Neuen Testamentes
Verschiedene Autoren haben Evangelien geschrieben, aber einige davon, die ohne den
Beistand des Heiligen Geistes waren, haben sich eher bemüht, eine Erzählung
zusammenzustellen, als die eigentliche Wahrheit des geschichtlichen Berichtes darzulegen.
Aus diesem Grund haben die heiligen Väter unter der Belehrung des Heiligen Geistes nur vier
Evangelien als maßgebend anerkannt und die anderen zurückgewiesen. Diese vier sind die
Evangelien des Matthäus, des Markus, des Lukas und des Johannes, in Analogie zu den vier
Flüssen des Paradieses (vgl. Gen 2,11-14), den vier Tragestangen der Bundeslade (vgl. Ex
25,12-15) und den vier Tieren bei Ezechiel (vgl. Ez 1,5). Der erste, Matthäus, schrieb sein
Evangelium auf hebräisch, der zweite, Markus, schrieb auf griechisch. „Der dritte, Lukas, der
unter allen Evangelisten die griechische Sprache am besten beherrschte, er war ja Arzt in
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Griechenland, schrieb sein Evangelium für den Bischof Theophilus“, für den er auch die
Apostelgeschichte schrieb. Als vierter und letzter schrieb Johannes sein Evangelium. (283)
Paulus schrieb vierzehn Briefe, zehn an die Kirchengemeinden, vier an einzelne
Personen. Die meisten sagen allerdings, der letzte Brief, der an die Hebräer, stamme nicht
von Paulus, „manche vermuten, Barnabas habe ihn geschrieben, andere denken an Clemens“.
Die kanonischen Briefe sind sieben an der Zahl: einer von Jakobus, zwei von Petrus, drei von
Johannes, einer von Judas. Die Apokalypse schrieb der Apostel Johannes im Exil auf der
Insel Patmos.
Kapitel 7: Die übrigen sind Apokryphen – Was sind Apokryphen?
„Dies sind also die Verfasser der heiligen Bücher, die durch den Heiligen Geist zu unserer
Belehrung gesprochen und Anweisungen und Regeln zum Leben niedergeschrieben haben. Es
gibt neben diesen noch andere Bücher, die Apokryphen genannt werden. Sie werden
‚Apokryphen‘, das heißt ‚geheime‘, genannt, weil sie zweifelhaft sind. Denn ihre Herkunft ist
verborgen und auch den Vätern nicht bekannt, von welchen die Autorität der wahren
Schriften in überaus zuverlässiger und ganz offenkundiger Sukzession bis auf uns überliefert
worden ist. Wenn sich auch in diesen Apokryphen manche Wahrheit findet, so verdienen sie
dennoch wegen der zahlreichen Irrtümer keine kanonische Gültigkeit; und man hält sie mit
Recht nicht für Werke derer, denen sie zugeschrieben werden. Denn vieles ist von Häretikern
unter den Namen der Propheten, bei Neuerem unter den Namen der Apostel vorgebracht
worden. All diesem, zusammengefaßt unter dem Namen ‚Apokryphen‘, ist nach sorgfältiger
Prüfung die kanonische Gültigkeit abgesprochen worden.“ (285)
Kapitel 8: Die Bedeutung der Namen der heiligen Bücher
„Der Pentateuch hat seinen Namen von seinen fünf Büchern, denn penta heißt auf
griechisch ‚fünf‘, und teucus ‚Buch‘. Das Buch Genesis hat seinen Namen daher, daß in ihm
die Erschaffung (generatio) der Welt behandelt wird; das Buch Exodus hat seinen Namen von
dem Auszug der Söhne Israels aus Ägypten; das Buch Levitikus heißt so, weil es den Dienst
der Leviten und die Verschiedenheit der Opfer beschreibt. Das Buch Numeri wird so genannt,
weil in ihm die aus Ägypten ausgezogenen Stämme aufgezählt werden (enumerantur) und
auch die 42 Lagerplätze in der Wüste.“ Deutrus ist ein griechisches Wort von zwei Silben und
bedeutet „der zweite“, nomia aber bedeutet „Gesetz“. Das Buch heißt deshalb Deuteronomium,
also „zweites Gesetz“, weil in ihm das wiederholt wird, was in den vorangehenden drei
Büchern ausführlicher gesagt worden ist.
Im Buch Josua, das die Hebräer Josue ben Nun nennen, wird das Land der Verheißung
unter dem Volk verteilt. Das Buch der Richter hat seinen Namen von den Führern, die im
Volk Israel Recht sprachen, bevor es Könige bei diesem Volk gab. Dieses Buch fügen einige
mit der Geschichte von Rut zu einem einzigen Band zusammen. „Das Buch Samuel wird so
genannt, weil es dessen Geburt, sein Priestertum und seine Taten beschreibt. Es enthält
allerdings auch die Geschichte von Saul und von David; beide stehen ja mit Samuel in
Zusammenhang, da er sie beide gesalbt hat. Das hebräische malach bedeutet auf lateinisch
regum, (‚von Königen‘). Daher wird das Buch Malachim genannt, denn es berichtet der
Reihenfolge nach von den Königen von Juda und von Israel und ihren Taten.“
„Jesaja, eher ein Evangelist als ein Prophet, verfaßte selbst das nach ihm benannte Buch,
dessen gesamter Text in beredsamer Prosa einherschreitet. Seine Lieder aber bewegen sich im
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Versmaß von Hexameter und Pentameter. Auch Jeremia verfaßte selbst das ihm
zugeschriebene Buch, (287) zusammen mit den Threni die wir ‚Klagelieder‘ nennen, weil sie bei
traurigen Gelegenheiten und bei Leichenbegängnissen gesungen werden. Er hat diese Lieder
in wechselndem Versmaß geschrieben, viermal dem Alphabet folgend: Die ersten zwei
Alphabetlieder sind in einer Art sapphischem Vers geschrieben, weil je drei kleinere Verse,
die untereinander verbunden sind und mit demselben Buchstaben beginnen, in einen
heroischen Abschluß münden. Das dritte Alphabetlied ist in Trimetern geschrieben, in ihm
beginnen jeweils drei Verse mit demselben Buchstaben. Das vierte Alphabetlied verläuft
ähnlich wie das erste und zweite.“ Im Buch Ezechiel sind der Anfang und das Ende besonders
schwer verständlich. Die Schriften der zwölf Propheten bilden ein einziges Buch.
„Die Anfangs- und Endpartien des Buches Ijob sind im Hebräischen in Prosaform
geschrieben, der Mittelteil aber, beginnend mit der Stelle ‚Nieder mit dem Tag, an dem ich
geboren wurde‘ (Ijob 3,3) bis hin zu ‚Deshalb tadele ich mich selbst und tue Buße‘ (Ijob 42,6),
bewegt sich ganz in heroischem Versmaß. Das Buch der Psalmen heißt auf griechisch
Psalterium, auf hebräisch Nabla, auf lateinisch Organum (‚Musikinstrument‘). Psalterium
wird es aber genannt, weil ein Prophet zum Psalterspiel zu singen pflegte, worauf dann der
Chor einstimmig antwortete.“ „Man teilt dieses Buch in fünf Abschnitte ein, faßt es aber in
einem Buch der Psalmen zusammen.“ Die Psalmen hat David geschrieben, doch Esra hat
ihnen später ihre Anordnung gegeben. „Alle Psalmen und die Klagelieder des Jeremia und
fast alle Lieder der Schriften sind im Hebräischen in Versmaß verfaßt, wie Hieronymus,
Origenes, Josephus und Eusebius von Cäsarea bezeugen. Denn ähnlich wie bei dem Römer
Horaz und bei dem Griechen Pindar verlaufen sie einmal im Jambus und erglänzen dann im
sapphischen Versmaß, im Wechsel zwischen Trimeter und Tetrameter.“ (289)
„Die Schrift lehrt uns ganz eindeutig, daß Salomo mit drei Namen bezeichnet worden ist:
Idida, das heißt Geliebter des Herrn, weil der Herr ihn liebte; sodann Coeleth, das heißt
Ecclesiastes. Ecclesiastes wird in griechischer Sprache jemand genannt, der eine
Versammlung oder Gemeinde (ecclesia) einberuft, jemand, den wir einen ‚Prediger‘ nennen
können, der also nicht speziell zu einer einzelnen Person, sondern zu einer ganzen
Versammlung von Leuten spricht. Und zuletzt wird Salomo schließlich ‚der
Friedenschaffende‘ genannt, weil in seinem Reich Frieden herrschte (vgl. 1 Chr 22,9). Gemäß
der Anzahl seiner Namen hat er drei Bücher verfaßt. Das erste heißt auf hebräisch Masloth,
auf griechisch Proverbia (‚Sprichwörter‘), denn in ihm stellt er durch den Vergleich der
Ähnlichkeiten die Sinnbilder der Wörter und die Abbilder der Wahrheit dar. Diese
Parabolae sind am Ende, ab der Stelle, wo es heißt ‚Wer wird eine starke Frau finden?‘ (Spr
31,10), nach dem Alphabet verfaßt, ebenso wie die Klagelieder des Jeremia und einige andere
Lieder der Schrift. Das zweite Buch wird auf hebräisch Coeleth, auf griechisch Ecclesiastes,
auf Lateinisch Contionator (‚Prediger‘) genannt, weil seine Rede sich nicht speziell an eine
Person richtet, wie es in den Sprichwörtern der Fall ist, sondern ganz allgemein an alle,
gleichsam an eine ganze Versammlung oder Gemeinde. Das dritte Buch ist das Sira Syrin, das
heißt Cantica canticorum (‚das Hohelied‘). Dies ist gewissermaßen das Epithalamium oder
Hochzeitslied auf Christus und die Kirche. In den Sprichwörtern belehrt Salomo ein Kind
und unterweist es sozusagen durch Spruchweisheiten in seinen Pflichten; die Lehre wird
deshalb auch öfter wiederholt, als spräche er zu einem Sohn. Im Ecclesiastes aber lehrt er
einen Mann reifen Alters, daß er nichts in der Welt für beständig halten soll, daß vielmehr
alles, was wir sehen hinfällig und von kurzer Dauer ist. Im Hohenlied schließlich führt er
einen schon zur Vollendung gelangten und durch die Verachtung der Welt bereiten Mann in
die Umarmungen der himmlischen (291) Braut. Von dieser Anordnung des Lehrens sind auch
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die Philosophen, die ihren Schülern Unterricht erteilen, nicht weit entfernt, wenn sie zuerst
die Ethik unterrichten, dann die Physik erklären und schließlich diejenigen, bei denen sie
Fortschritte in diesen Fächern erkannt haben, bis zur Theologie führen.“
Daniel wird bei den Hebräern nicht zu den Propheten, sondern zu den Hagiographen
gezählt. Sein Buch liest die katholische Kirche nicht in der Fassung der 70 Übersetzer, weil
diese Fassung erheblich von der Wahrheit abweicht. Das Buch Daniel ist zum größten Teil,
das Buch des Propheten Esra ganz und das Buch Jeremia zum Teil in chaldäischer Sprache
geschrieben, wenn auch in hebräischen Buchstaben. Das Buch Ijob zeigt eine deutliche
Verwandtschaft mit der arabischen Sprache. Im hebräischen Text enthält das Buch Daniel
weder die Geschichte von Susanna noch das Lied der drei Jünglinge, noch die Erzählungen
von Bel und dem Drachen.
„Paralipomenon heißt im Griechischen, was wir ‚vom Übergangenen‘ oder ‚vom
Übriggebliebenen‘ nennen würden. Denn was im Gesetz oder in den Büchern der Könige
übergangen oder nicht vollständig geschildert worden ist, wird in diesem Buch summarisch
und in Kürze dargestellt.“ „Auf hebräisch heißt es Dabrehiamin, was übersetzt heißt ‚Worte
der Tage‘ oder, wie man sinnvoller sagen würde, ‚Chronik der gesamten heiligen Geschichte‘.“
Es gibt nur ein Buch Esra, und es enthält in einem Band die Schriften eben dieses Esra
und des Nehemia. Das zweite, dritte und vierte Buch Esra sind Apokryphen.
Das Buch mit dem Titel „Weisheit des Salomo“ wird „Weisheit“ genannt, „weil in ihm
offensichtlich die Ankunft und das Leiden Christi, welcher die Weisheit des Vaters ist,
dargestellt werden“. Das Buch Jesus Sirach wird Ecclesiasticus genannt, „weil es über die
Disziplin der gesamten (293) Kirche handelt und sich mit großer Fürsorge und Klugheit der
gottgefälligen Lebensführung widmet“.
Von diesen beiden Büchern sagt Hieronymus: „Es gibt auch das Buch Panaretus oder
Jesus Sirach und ein anderes unechtes Buch mit dem Titel ‚Weisheit des Salomo‘. Von dem
ersteren habe ich einen hebräischen Text gefunden, mit der Bezeichnung Parabolae, nicht
Ecclesiasticus, wie es bei den Lateinern heißt. Diesem waren das Buch Kohelet und das
Hohelied hinzugefügt worden, um die Angleichung an Salomo nicht nur durch die Anzahl
der Bücher, sondern auch durch die Art des behandelten Stoffes herzustellen. Das zweite aber
findet sich bei den Hebräern nirgends, wie ja auch der Stil griechische Beredsamkeit spüren
läßt. Einige der alten Schriftkundigen versichern, es sei ein Werk des Juden Philo. Wie nun
die Kirche die Bücher Judit, Tobit und die Makkabäerbücher zwar durchaus liest, sie aber
nicht unter die kanonischen Schriften aufnimmt, so mag sie auch diese beiden Bücher lesen
zur Erbauung des Volkes, nicht jedoch zur Bestätigung der Autorität der kirchlichen
Dogmen.“
„Wie es zweiundzwanzig Grundzeichen gibt, mit welchen wir im Hebräischen alles
schreiben, was wir sagen wollen, und deren Anfangslaute den Bereich der menschlichen
Stimme ausmachen, so zählt man auch zweiundzwanzig Bücher, durch die, als seien sie
Buchstaben und Anfänge der Lehre Gottes, die zarte Säuglingskindheit des gerechten Mannes
ihre Bildung erhält.“
Manche zählen die Geschichte von Rut und die Klagelieder des Jeremia als eigene Bücher
unter die Hagiographen. Indem sie diese beiden zu den erwähnten 22 Büchern hinzurechnen,
49
kommen sie auf 24 Bücher des Alten Gesetzes, nach dem Sinnbild und der Zahl der 24
Ältesten, die in der Apokalypse das Lamm anbeten (vgl. Offb 4,4). (295)
Kapitel 9: Das Neue Testament
Wie die gesamte Schrift des Alten Testamentes im weiteren Sinne „das Gesetz“ genannt
werden kann, obwohl im engeren Sinne die fünf Bücher Mose „Gesetz“ heißen, so kann das
gesamte Neue Testament, allgemein gesprochen, „Evangelium“ genannt werden, doch im
besonderen verdienen diese Bezeichnung jene vier Bücher – nämlich Matthäus, Markus,
Lukas und Johannes –, in denen ausdrücklich die Taten und Worte des Erlösers dargestellt
werden. „Evangelium“ bedeutet „gute Nachricht“, weil es ewige Güter verheißt, nicht irdisches
Glück wie das Alte Testament, jedenfalls in seiner wörtlichen Bedeutung.
Kapitel 10: Die Kanontafeln
„Ammonius von Alexandria hat als erster Kanontafeln erstellt; ihm ist später Eusebius
von Cäsarea gefolgt und hat sie vollständiger ausgearbeitet. Diese Tafeln sind zu dem Zweck
aufgestellt worden, damit wir anhand ihrer ausfindig machen und wissen können, welche der
jeweils anderen Evangelisten etwas Ähnliches oder etwas ganz Eigenes gesagt haben. Es gibt
zehn solcher Tafeln: die erste enthält die Stellen, in denen die vier dasselbe gesagt haben, also
Matthäus, Markus, Lukas und Johannes; die zweite enthält die Stellen, wo drei, und zwar
Matthäus, Markus und Lukas, dasselbe gesagt haben; die dritte, wo drei, und zwar Matthäus,
Lukas und Johannes; die vierte, wo drei, und zwar Matthäus, Markus und Johannes; die
fünfte, wo zwei, und zwar Markus und Lukas; die sechste, wo zwei, und zwar Matthäus und
Markus; die siebte, wo zwei, und zwar Matthäus und Johannes; die achte, wo zwei, und zwar
Lukas und Markus; die neunte, wo zwei, und zwar Lukas und Johannes, dasselbe gesagt
haben; die zehnte schließlich enthält die Stellen, wo die einzelnen Evangelisten jeweils etwas
Eigenes gesagt haben. (297)
Die Anordnung dieser Tabellen ist die folgende: bei jedem Evangelisten ist den einzelnen
Abschnitten am Rand eine Nummer beigegeben und unter diesen Nummern befindet sich ein
rot markiertes Feld, das anzeigt, in welcher Tafel die Nummer eingetragen ist, unter der das
Feld sich befindet. Wenn zum Beispiel das Feld das erste ist, findet die Nummer sich in der
ersten Tafel; wenn es das zweite ist, in der zweiten; wenn es das dritte ist, in der dritten, und
so weiter der Reihe nach bis man zur zehn gelangt. Wenn man also ein Evangelium
aufschlägt und wissen will, welcher der anderen Evangelisten etwas Ähnliches gesagt hat, so
nimmt man die dem Abschnitt beigefügte Zahl und sucht diese Zahl auf der angezeigten
Kanontafel; dort findet man dann, welcher Evangelist was gesagt hat. Und im Text selbst
schließlich findet man auf diese Weise, daß die gesuchten und durch die Tafelnummern
angezeigten Stellen in jedem einzelnen Evangelium dieselbe Begebenheit behandeln.“
Kapitel 11: Die Kanones der Konzilien
„Das griechische Wort canon heißt auf lateinisch regula (‚Regel‘). Die Regel heißt so,
weil sie ganz geradeaus (recte) führt, ohne jemals in andere Richtungen zu ziehen. Andere
sagen, die Regel heiße so, weil sie leite (regat) oder weil sie eine Norm für das rechte Leben
(recte vivendi) biete oder weil sie das Verdrehte und Verkehrte berichtige (corrigat).
Die Kanones der allgemeinen Konzilien jedoch nahmen ihren Anfang in den Zeiten
Konstantins. Denn in den Jahren zuvor, in der Hitze der Verfolgung, gab es kaum einmal die
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Möglichkeit, das Volk zu lehren. Deshalb war die Christenheit in verschiedene Häresien
zerrissen, weil es den Bischöfen nicht erlaubt war, sich zu einer Versammlung
zusammenzufinden, bis zu der Zeit des eben erwähnten Kaisers. Dieser nämlich gab den
Christen die Möglichkeit, sich ungehindert zu versammeln. Unter ihm kamen (299) auch die
heiligen Väter aus allen Ländern der Erde zu dem Konzil von Nizäa zusammen und
formulierten ein mit dem evangelischen und apostolischen Glauben übereinstimmendes
Glaubensbekenntnis, das zweite Glaubensbekenntnis nach dem der Apostel.“
Kapitel 12: Es gibt vier Hauptsynoden
„Unter all den andern Konzilien aber gibt es vier ehrwürdige Synoden, welche den
gesamten Glauben in besonderer Weise umfassen, vier wie die Evangelien oder die Flüsse des
Paradieses. Das erste dieser Konzilien, die Synode von Nizäa mit dreihundertachtzehn
Bischöfen, wurde zur Zeit der Herrschaft des Kaisers Konstantin abgehalten. Auf diesem
Konzil wurde die Blasphemie der arianischen Häresie verurteilt, die eben jener Arius über
die Ungleichheit in der heiligen Trinität aufgestellt hat. Dieselbe heilige Synode definierte
durch das Glaubensbekenntnis die Wesensgleichheit zwischen Gottvater und Gottsohn.
Die zweite Synode von 150 Vätern wurde unter Theodosius dem Älteren nach
Konstantinopel einberufen. Indem sie den Macedonius verdammte, der die Gottheit des
Heiligen Geistes geleugnet hatte, legte sie die Wesensgleichheit des Heiligen Geistes mit dem
Vater und dem Sohn dar und gab dem Glaubensbekenntnis die Gestalt, welche die gesamte
Christenheit von Griechen und Lateinern in den Kirchen verkündet.
Die dritte Synode, die erste von Ephesus, fand mit 200 Bischöfen unter Kaiser Theodosius
dem Jüngeren statt. Sie verdammte mit gerechtem Bahn Nestorius, der behauptet hatte, daß
in Christus zwei Personen existiert hätten, und legte dar, daß in der einen Person des Herrn
Jesus Christus zwei Naturen bestanden.
Die vierte Synode, die von Chalcedon, wurde mit 630 Priestern unter dem Kaiser Markian
abgehalten. Auf dieser Synode verdammte das einstimmige Urteil der Väter den Abt Eutyches
aus Konstantinopel, der lehrte, daß das Wort (301) Gottes und das Fleisch eine Natur gebildet
hätten, und ebenso dessen Verteidiger, einen gewissen Dioscorus, Bischof von Alexandria, und
auch noch einmal jenen Nestorius mit all den andern Häretikern. Diese selbe Synode erklärte
auch, daß Christus als Gott von der Jungfrau in einer solchen Weise geboren wurde, daß wir
in ihm eine Substanz von sowohl göttlicher wie auch menschlicher Natur bekennen.
Dies sind die vier Hauptsynoden, welche die Lehre des Glaubens aufs vollständigste
verkünden. Wenn es noch weitere Konzilien gibt, welche die heiligen Väter, vom Geiste Gottes
erfüllt, anerkannt haben, so erhalten sie all ihren überdauernden Wert doch aus der Autorität
jener vier, deren Beschlüsse im vorliegenden Werk festgehalten sind.
Das Wort ‚Synode‘ aber stammt aus dem Griechischen und bedeutet ‚Begleitung‘ oder
‚Versammlung‘. Der Name ‚Konzil‘ ist aus einem römischen Gebrauch übernommen. Denn zu
der Zeit des Jahres, wo Gerichtsverhandlungen geführt wurden, pflegten alle
zusammenzukommen, um in gemeinsamer Absicht Beratungen anzustellen. Ausgehend von
diesem Gedanken der gemeinsam Absicht sprechen wir von Konzil (concilium) gleichsam als
von einer Beratung (consilium), denn cilia, Lider, sind etwas, das zu den Augen gehört. Dem
consilium verwandt ist auch, considium, ‚Sitzung‘, wobei das d sich zum l wandelt. Coetus
(‚Zusammentreffen‘) ist eine Zusammenkunft oder eine Versammlung, es leitet sich ab von
51
dem Verb coire (‚zusammengehen‘), das meint ‚an einem Ort zusammenkommen‘. Deshalb
heißt es auch conventus (‚Zusammenkunft‘) – ‚Zusammenkunft‘, ‚Versammlung‘ und
‚Beratung‘ leiten sich also alle ab von der Vereinigung vieler zu einer Gesamtheit.“
Das griechische Wort epistola („Brief“) heißt auf lateinisch übersetzt missa („Botschaft“).
Die kanonischen, das heißt die regelgemäßen, Briefe werden auch „die katholischen“, (303) das
heißt „die allgemeinen“ genannt, „weil sie nicht nur an ein bestimmtes Volk oder an eine
bestimmte Stadt, sondern an alle Völker insgesamt gerichtet sind“. „Die Apostelgeschichte
schildert die Anfänge des christlichen Glaubens bei dem Völkern und die Geschichte der
entstehenden Kirche, und sie erzählt die Taten der Apostel, weshalb sie auch
‚Apostelgeschichte‘ genannt wird. Apocalypse bedeutet, aus dem Griechischen ins Lateinische
übersetzt, revelatio (‚Offenbarung‘), nach den Worten des Johannes selbst: ‚Die Apokalypse
Jesu Christi, welche Gott ihm gegeben hat, um sie seinem Diener Johannes kundzutun‘ (vgl.
Offb 1,1).“
Kapitel 13: Die Begründer von Bibliotheken
„Bei uns hat Pamphilus der Märtyrer, dessen Lebensgeschichte Eusebius von Cäsarea
geschrieben hat, Anstrengungen unternommen, um es in dem Bemühen um eine heilige
Bibliothek dem Peisistratos gleichzutun. Pamphilus hatte nämlich in seiner Bibliothek fast
dreißigtausend Bände. Auch Hieronymus und Gennadius haben auf der ganzen Welt nach
Kirchenschriftstellern gesucht, methodische Nachforschungen angestellt und deren Werke
schließlich in einem einbändigen Verzeichnis aufgeführt.“
Kapitel 14: Welche Schriften authentisch sind
„Von unseren Mitchristen bei den Griechen hat Origenes in seiner schriftstellerischen
Arbeit sowohl die Griechen wie auch die Lateiner in der Zahl seiner Werke übertroffen. Es
genügt wohl zu erwähnen, daß Hieronymus erklärt, er habe sechstausend seiner Bücher
gelesen. Und doch hat Augustinus die Bemühungen all dieser durch seine geistige Begabung
und durch sein Wissen noch überboten. Er hat so viel geschrieben, daß niemand genug Tage
und Nächte (305) hat, um seine Bücher abzuschreiben oder auch nur zu lesen.“ Auch andere
katholische Männer haben zahlreiche und ausgezeichnete Werke geschrieben: Athanasius,
Bischof von Alexandria; Hilarius, Bischof von Poitiers; Basilius, Bischof von Kappadokien;
Gregor der Theologe; Gregor, Bischof von Nazianz; Ambrosius, Bischof von Mailand;
Theophilus, Bischof von Alexandria; Johannes, Bischof von Konstantinopel; Kyrillus von
Alexandria, Papst Leo; Proculus; Isidor von Spanien; Beda; Cyprian, Märtyrer und Bischof
von Karthago; Hieronymus der Priester; Prosper; Origenes, dessen Schriften die Kirche weder
gänzlich verwirft noch zur Gänze anerkennt; Orosius; Sedulius; Prudentius; Juvencus; Arator.
Auch Rufinus veröffentlichte viele Bücher und übersetzte einige Schriften, „weil aber der
heilige Hieronymus ihn in einigen Punkten bezüglich der Freiheit des Willens getadelt hat,
sollten wir uns darin der Lehre des Hieronymus anschließen“. „Auch Gelasius verfaßte fünf
Bücher gegen Nestorius und Eutyches und Abhandlungen nach der Weise des Ambrosius. Er
schrieb auch zwei Bücher gegen Arius sowie liturgische Präfationen, Reden und Briefe über
den Glauben.“ Dionysius Areopagita, ordinierter Bischof von Korinth, hat zahlreiche Bände
als Ergebnis seiner geistigen Begabung hinterlassen. „Was nun die Chronik des Eusebius von
Cäsarea angeht und die Bücher seiner Kirchengeschichte, obwohl er sich im ersten Buch
seiner Erzählung eher lauwarm gezeigt hat und später ein Buch zum Lob und zur
Verteidigung des Schismatikers Origenes schrieb, so verwirft die katholische Kirche dennoch
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sein Werk nicht vollkommen, und zwar aufgrund der einzigartigen Kenntnisse, die er auf
dem Gebiet der Bildung besitzt.“ Auch Cassiodor ist noch (307) zu nennen, der ein durchaus
nützliches Werk zur Erklärung der Psalmen geschrieben hat. Es gibt darüber hinaus auch
noch andere, deren Namen ich hier aber nicht mehr erwähne.
Kapitel 15: Welche Schriften apokryph sind
„Das Itinerar unter dem Namen des Apostels Petrus, das dem heiligen Clemens
zugeschrieben wird, in acht Büchern: apokryph.
Die Geschichte unter dem Namen des Apostels Andreas: apokryph.
Die Geschichte unter dem Namen des Thomas: apokryph.
Das Evangelium unter dem Namen des Thaddäus: apokryph.
Das Evangelium unter dem Namen des Apostels Barnabas: apokryph.
Das Evangelium unter dem Namen des Apostels Thomas: apokryph.
Das Evangelium unter dem Namen des Apostels Andreas: apokryph.
Das Evangelium, das Lucianus fälschte: apokryph.
Das Evangelium, das Ytius fälschte: apokryph.
Das Buch über die Kindheit des Erlösers: apokryph.
Das Buch über die Geburt des Erlösers und die heilige Maria oder Über die
Hebamme des Erlösers: apokryph.
Das Buch, welches ‚Buch des Hirten‘ genannt wird: apokryph.
Alle Bücher, die Leucius, der Schüler des Teufels, geschrieben hat: apokryph.
Die Bücher, die ‚Die Grundlage‘ genannt werden: apokryph.
Das Buch, das ‚Der Schatz‘ genannt wird: apokryph.
Das Buch, das ‚Von den Töchtern Adams oder Genesis‘ genannt wird: apokryph.
(309)
Das hundertzeilige Gedicht über Christus, zusammengestellt aus Versen Vergils:
apokryph.
Das Buch, das ‚Die Geschichte von Thekla und Paulus‘ genannt wird: apokryph.
Das Buch, welches ‚Buch des Neffen‘ genannt wird: apokryph.
Das Buch der Sprichwörter, das von Häretikern geschrieben wurde und den
Namen des heiligen Sixtus trägt: apokryph.
Die Offenbarung, welche die des Paulus genannt wird: apokryph.
Die Offenbarung, welche die des Apostels Thomas genannt wird: apokryph.
Die Offenbarung, welche die des Stephanus genannt wird: apokryph.
Das Buch, das ‚Der Tod der heiligen Maria‘ genannt wird: apokryph.
Das Buch, das ‚Die Buße Adams‘ genannt wird: apokryph.
Das Buch des Diogias, genannt der Riese, der laut den Häretikern nach der
Sintflut mit dem Drachen gekämpft hat: apokryph.
Das Buch, das ‚Testament des Ijob‘ genannt wird: apokryph.
Das Buch, das ‚Die Buße des Origenes‘ genannt wird: apokryph.
Das Buch, das ‚Die Buße des Cyprian‘ genannt wird: apokryph.
Das Buch, das ‚Iamne und Mambre‘ genannt wird: apokryph.
Das Buch, das ‚Das Schicksal der Apostel‘ genannt wird: apokryph.
Das Buch Lusan: apokryph.
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Das Buch der Kanones der Apostel: apokryph.
Das Buch ‚Physiologus‘, das von Häretikern geschrieben wurde und den Namen
des heiligen Ambrosius trägt: apokryph. (311)
Die Geschichte des Eusebius Pamphilus: apokryph.
Die Werke des Tertullian oder Africanus: apokryph.
Die Werke des Posthumianus und des Gallus: apokryph.
Die Werke des Montanus, der Priscilla und der Maximilla: apokryph.
Alle Werke des Manichäers Faustus: apokryph.
Die Werke Clemens‘ des Zweiten von Alexandria: apokryph.
Die Werke des Cassianus, des Priesters der Gallier: apokryph.
Die Werke des Viktorinus von Poitiers: apokryph.
Die Werke des Faustus von Reji in Gallien: apokryph.
Die Werke des Frumentus: apokryph.
Der Brief Jesu an Abgar: apokryph.
Die Passion des Cyricus und der Julitta: apokryph.
Die Passion Georgs: apokryph.
Die Schriften, die ‚Der Widerspruch des Salomo‘ genannt werden: apokryph.
Alle Talismanzettel ,welche nicht, wie manche behaupten, von einem Engel,
sondern eher von einem Dämon geschrieben wurden: apokryph.
Diese Werke und alle, die ihnen ähnlich sind – von Simon Magus, Nikolaus, Cerinthus,
Marcion, Basilides, Ebion, auch von Paulus von Samosata, von Photinus und Bonosus, die in
denselben Irrtum verfielen, ebenso von Montanus und seinen maßlos abscheulichen
Gefolgsleuten, von Apollinaris, Valentinus oder Manichäus, Faustus, Sabellius, Arius,
Macedonius, Eunomius, Novatus, Sabbatius, Calixtus, Donat und Eustachius, Nibianus,
Pelagius, Julianus und Laciensis, Coelestinus, Maximianus, Priscillianus von Spanien,
Lampedius, Dioscorius, Euticius, von Petrus und einem zweiten Petrus, von denen der eine
Alexandria, der andere Antiochia befleckte, von Achatius von Konstantinopel und seinen
Genossen –, und in der Tat auch alle Häresien, die eben diese Leute und ihre Schüler oder
Schismatiker (313) gelehrt oder geschrieben haben, Leute, deren Namen wir keinesfalls
festhalten wollen – all diese erklären wir nicht nur für zurückgewiesen, sondern auch für von
der gesamten katholischen und römischen Kirche ausgeschlossen und zusammen mit ihren
Urhebern durch einen in Ewigkeit unauflöslichen Bannfluch verdammt.“
Kapitel 16: Einige Worterklärungen, die sich auf das Lesen beziehen
„Ein ‚Codex‘ umfaßt viele Bücher, ein Buch umfaßt einen Band. Man spricht von ‚Codex‘,
indem man die Bezeichnung übernimmt von den ‚Stämmen‘ (codicibus) der Bäume oder der
Weinreben, als sei er gleichsam ein caudex (‚Stamm‘), denn er umfaßt ja eine Menge von
Büchern, wie Äste, die aus ihm herauskommen. Die Bezeichnung volumen (‚Band‘) kommt
von volvere (‚rollen‘). Liber (‚Buch‘) bezeichnet die innere Rinde des Baumes, auf welche die
Alten vor dem Gebrauch des Papyrus oder Pergaments zu schreiben pflegten. Deshalb nannten
sie die Schreiber librarii und das Buch liber.“
Scheda („Papyrusblatt“), dessen Verkleinerungsform schedula lautet, „ist ein griechisches
Wort. Scheda nennt man im eigentlichen Sinne etwas, an dem noch Verbesserungen
angebracht werden und das noch nicht in Bücher zusammengefaßt worden ist.“ „Der
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Gebrauch des Papyrus ist zuerst in Memphis, einer Stadt in Ägypten, erfunden worden.
Papyrus (charta) hat daher seinen Namen, daß man die Faser der Papyruspflanze abzieht
(decerptum) und sie stückweise (carptim) zusammenklebt. Auf diese Weise wird Papyrus
hergestellt, von dem es viele Sorten gibt.
Pergament hat seinen Namen von der Stadt Pergamon, wo es erfunden wurde. Man
spricht auch von ‚Häuten‘ (membrana), weil man sie von den Gliedern (membra) des Viehs
nimmt. Die Häute wurden zunächst in gelblicher Farbe hergestellt, erst später in Rom erfand
man die Erzeugung weißer Häute.“ (315)
„Das Wort ‚Homilie‘ (homilia) bedeutet gleichsam eine Volkspredigt, wobei das Wort an
das Volk gerichtet wird. Eine ‚Abhandlung‘ (tractatus) ist die Darlegung eines einzigen
Themas in seinen verschiedenen Aspekten. ‚Dialog‘ (dialogus) ist das Gespräch zwischen zwei
oder mehreren Personen, was die Lateiner sermo nennen. Sermo (‚Gespräch‘) hat seinen
Namen daher, weil es zwischen den einzelnen Gesprächsteilnehmern geknüpft wird (seritur).
‚Kommentare‘ (commentaria) leiten sich ab von cum mente (‚mit dem Geist‘) oder von
comminiscor (‚ich ersinne‘), denn Kommentare sind Interpretationen, wie zum Beispiel
Kommentare zum Recht oder zu den Evangelien.“ Manche sagen, das Wort „Kommentare“
solle nur bei Büchern der Heiden verwendet werden, bei heiligen Schriften dagegen solle man
von „Auslegungen“ (expositiones) sprechen. „Glosse“ (glossa) ist ein griechisches Wort und
heißt übersetzt lingua („Zunge“), weil die Glosse gewissermaßen die Bedeutung des
betreffenden Wortes ausspricht (loquitur). „Die Philosophen nennen dies ein adverbium (‚zum
Wort‘), weil es mit einem einzige Wort den in Frage stehenden Ausdruck erklärt, wie wenn
beispielsweise gesagt wird: conticescere (‚verstummen‘) ist gleichbedeutend mit tacere
(‚schweigen‘).“ (317)
FÜNFTES BUCH
Kapitel 1: Einige Besonderheiten der Schrift – Die Art, sie zu lesen
Für den eifrigen Leser sollte es keine Last sein, daß wir in so mannigfaltiger und
vielseitiger Weise die Zahl, die Anordnung und die Namen der heiligen Bücher behandeln,
denn es geschieht oft, daß die mangelnde Kenntnis in diesen geringen Dingen die Erkenntnis
der großen und wichtigen Dinge beeinträchtigt. Deshalb soll sich der Student ein für allemal
bereit machen, damit er, nachdem er gleich zu Beginn sozusagen bestimmte Schlösser geöffnet
hat, sodann freien Schrittes den geplanten Weg zurücklegen kann und nicht immer neu nach
elementaren Wissensstoff suchen muß, sobald er zu einzelnen Büchern gelangt. Nachdem
diese Fragen also abgehandelt sind, werden wir nun anschließend das übrige behandeln, was
für unsere Aufgabe von Bedeutung zu sein scheint.
Kapitel 2: Der dreifache Wortsinn
In erster Linie muß man wissen, daß die Heilige Schrift auf dreierlei Weise verstanden
werden kann: historisch, allegorisch und tropologisch. Natürlich muß nicht alles, was sich in
der Heiligen Schrift findet, so zur Erklärung gedreht werden, daß man den Eindruck erhält,
jede Stelle enthalte gleichzeitig den historischen, den allegorischen und den tropologischen
Sinn. Zwar kann man diese dreifache Bedeutung an vielen Stellen nachweisen, doch sie
überall zu sehen ist schwer oder sogar unmöglich. „So klingen ja auch bei der Zither und
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ähnlichen Musikinstrumenten nicht alle Bereiche, die man berührt, sondern nur die Saiten.
Alles (319) andere am gesamten Bau der Zither ist nur zu dem Zweck gemacht worden, daß die
Saiten, welche der Künstler spielt, um die Süße des Liedes hervorzubringen, gehalten und
gespannt werden.“ Ebenso finden sich auch in den göttlichen Worten solche Stellen, die nur
im spirituellen Sinne zu erstehen sind, andere wiederum verweisen auf den Wert sittlichen
Verhaltens, und wieder andere sind im einfachen historischen Sinn ausgesprochen worden.
Einige Stellen jedoch können sinnvollerweise sowohl im historischen wie auch im
allegorischen und tropologischen Sinn erklärt werden. Daher ist die gesamte Heilige Schrift
in wunderbarer Weise durch Gottes Weisheit in ihren einzelnen Teilen so passend angeordnet
worden, daß alles, was in ihr enthalten ist, entweder nach Art der Saiten in der Süße des
spirituellen Sinns ertönt oder aber die hier und da in den Verlauf der geschichtlichen
Darstellung und in die Beständigkeit des Buchstabens eingestreuten geheimnisvollen
Aussprüche festhält, sie gewissermaßen zu einem Ganzen zusammenfaßt und so nach Art des
gewölbten Holzes die darüber gespannten Saiten miteinander verbindet, ihren Klang in sich
aufnimmt und ihn unseren Ohren noch wohlklingender wiedergibt, einen Klang, den dann
nicht nur die Saite erzeugt hat, sondern den auch das Holz je nach der Form seines Baues
mitgebildet hat.
Ebenso verhält es sich auch mit dem Honig, der süßer ist, wenn er noch in der Wabe
steckt, und was man mit größerer Anstrengung sucht, das findet man auch mit größerer
Sehnsucht. Die Heilige Schrift ist deshalb so zu behandeln, daß wir nicht überall den
historischen Sinn suchen, nicht überall den allegorischen und nicht überall den
tropologischen, sondern daß wir vielmehr den einzelnen Stellen entsprechend die jeweilige
Deutung zuweisen, wie die Vernunft es erfordert. Allerdings können sich auch oft alle
Deutungen gleichzeitig in ein und demselben Wortlaut finden, wie wenn die Wahrheit des
geschichtlichen Sinns, durch die allegorische Deutung, auf einen mystischen (321) Sinn
hinweist und ebenso durch die tropologische Deutung, aufzeigt, wie wir handeln sollen.
Kapitel 3: Auch Dinge haben in der Heiligen Schrift eine Bedeutung
Man muß weiterhin wissen, daß in der Rede Gottes nicht nur die Wörter, sondern auch
die Dinge eine Bedeutung haben, eine Besonderheit, die man in anderen Schriften nicht in
dieser Weise findet. Der Philosoph kennt lediglich die Bedeutung der Wörter, doch ist die
Bedeutung der Dinge weit wichtiger als die der Wörter, denn während diese durch den
Gebrauch bestimmt wird, ist jene durch die Natur festgesetzt worden. Diese ist die Stimme von
Menschen, jene ist die Stimme Gottes, der zu den Menschen spricht. Diese verschwindet,
nachdem sie ausgesprochen worden ist, jene aber, einmal geschaffen, besteht fort. Das Wort ist
eine schwache Andeutung der Sinne; das Ding aber ist ein Abbild der göttlichen Idee. Was
also der Laut des Mundes, der in einem einzigen Moment entsteht und vergeht, im Vergleich
zur Idee des Geistes ist, das ist jedes Zeitmaß im Vergleich zur Ewigkeit. Die Idee des Geistes
ist ein innerliches Wort, welches sich äußert durch den Laut der Stimme, also das äußerliche
Wort. Und die göttliche Weisheit, welche der Vater aus seinem Herzen hervorströmen ließ,
wird, obwohl in sich selbst unsichtbar, durch die Geschöpfe und in den Geschöpfen erkannt.
Hieraus ergibt sich eindeutig, welch tiefe Deutung in den heiligen Schriften zu suchen ist, wo
wir durch das Wort zum Verständnis gelangen, durch das Verständnis zum Ding, durch das
Ding zur Idee und durch die Idee zur Wahrheit. Weil einige weniger Gebildete dies nicht
beachten, so glauben sie, in diesen Schriften gebe es nichts Subtiles, an dem sie ihren
Scharfsinn üben könnten, und sie wenden sich deshalb den Schriften der Philosophen zu,
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weil sie eben die Kraft der Wahrheit verkennen und in der Heiligen Schrift nichts als die
bloße Oberfläche des Wortlauts sehen. (323)
Daß aber die Heilige Schrift sich der Bedeutung der Dinge bedient, wollen wir anhand
eines kurzen und eindeutigen Beispiels demonstrieren. Die Schrift sagt: „Wachet, denn euer
Widersacher, der Teufel, geht wie ein brüllender Löwe umher“ (1 Petr 5,8). Wenn wir hier
also sagen, daß der Löwe für den Teufel steht, so müssen wir damit nicht das Wort, sondern
das Ding „Löwe“ meinen. Wenn nämlich die beiden Wörter, also „Teufel“ und „Löwe“, für ein
und dieselbe Sache stünden, dann ergäbe dies eine logisch unzulässige Beziehung zwischen
einem Ding und sich selbst. Es bleibt also dabei, daß das Wort „Löwe“ das Tier bezeichnet,
das Tier wiederum aber den Teufel. Und in derselben Weise muß man es auch bei allem
anderen verstehen, wie wenn wir sagen, daß der Wurm, das Kalb, der Stein, die Schlange und
ähnliches mehr Christus bezeichnen.
Kapitel 4: Die sieben Regeln
Sorgfältig zu beachten ist auch, daß „einige weise Männer unter all den anderen Regeln
über die Redeweise der Heiligen Schrift sieben besonders herausgestellt haben.“
Die erste Regel betrifft den Herrn und seinen Leib, insofern das eine von beiden durch
das andere ausgedrückt wird und in ein und derselben Person bald das Haupt, bald der Leib
angedeutet wird. So sagt Jesaja: ‚Der Herr hat mir die Kleider des Heils angelegt wie einem
kranzgeschmückten Bräutigam und wie einer juwelengezierten Braut‘ (Jes 61,10). Denn in
der einen Person, die mit zwei Namen benannt wird, hat er sowohl das Haupt, nämlich den
Bräutigam, als auch die Kirche, nämlich die Braut, dargestellt. Man muß deshalb in den
heiligen Schriften genau darauf achten, wann speziell das Haupt gemeint ist, wann sowohl
Haupt als auch Leib, wann ein wechselseitiger Austausch zwischen beiden Begriffen vorliegt
und wann nur ein Wechsel vom einen zum anderen. Auf diese Weise erkennt der verständige
Leser, was sich auf das Haupt bezieht und was auf den Leib. (325)
Die zweite Regel betrifft den wahren und den gemischten Leib des Herrn. Denn es
scheinen sich Aussagen auf einzelne Personen zu beziehen, die gar nicht auf Einzelpersonen
passen, wie etwa in dem folgenden Beispiel: ‚Du bist mein Knecht Israel; siehe, ich habe deine
Missetaten weggefegt wie eine Wolke und deine Sünden wie einen Nebel. Kehre um zu mir,
und ich werde dich erlösen‘ (vgl. Jes 44,21 f). Diese Aussage kann sich nicht auf ein Einzelnes
beziehen, denn der erste Teil gilt demjenigen, dessen Sünden Gott weggefegt hat und zu dem er
sagt: ‚Du bist mein‘; der zweite Teil gilt dem, zu dem er sagt: ‚Kehre um zu mir, und ich werde
dich erlösen.‘ Nur wenn diese umkehren, werden ihre Sünden ausgelöscht. Nach dieser Regel
wendet sich die Schrift also in einer solchen Weise an alle, daß die Guten mit den Schlechten
beschuldigt und die Schlechten mit den Guten gelobt werden. Wer aber auf verständige Weise
liest, der wird erkennen, was sich auf welche bezieht.
Die dritte Regel betrifft den Buchstaben und den Geist, das heißt das Gesetz und die
Gnade: das Gesetz, durch welches wir ermahnt werden, Weisungen zu befolgen; die Gnade,
welche uns hilft zu handeln. Anders gesagt, sollte das Gesetz nicht ausschließlich im
historischen, sondern auch im spirituellen Sinn verstanden werden, denn es ist beides
notwendig, sowohl treu am historischen Sinn festzuhalten als auch das Gesetz im spirituellen
Sinn zu verstehen.
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Die vierte Regel betrifft ‚Art‘ und ‚Gattung‘, wenn also der Teil für das Ganze und das
Ganze für den Teil genommen wird. Zum Beispiel spricht der Herr mitunter zu einem Volk
oder zu einer Stadt, doch muß man dies so verstehen, daß er sich an die ganze Welt richtet.
Denn zwar bedroht der Herr durch den Propheten Jesaja nur die eine Stadt Babylon, doch
indem er gegen diese redet, geht er von der ‚Art‘ zur ‚Gattung‘ über und richtet seine Rede
gegen die ganze Welt. Denn hätte er nicht gegen die ganze Welt gesprochen, so hätte er gewiß
nicht später den allgemeinen (327) Zusatz gemacht: ‚Und ich werde die ganze Erde verwüsten
und den Erdkreis für seine Verbrechen bestrafen‘ (vgl. Jes 13,5.11) und die anderen noch
folgenden Äußerungen über die Zerstörung der Welt. Aus diesem Grund fügt er auch hinzu:
‚Dies ist das Urteil, das ich über die ganze Erde beschlossen haben, und dies ist die Hand, die
über alle Völker ausgestreckt ist‘ (Jes 14,26). Und nachdem er in der Person Babylons die
ganze Welt angeklagt hat, kehrt er in der gleichen Weise wieder zu dieser Stadt zurück, also
gleichsam von der Gattung wieder zur Art, und sagt etwas, das speziell auf diese Stadt bezogen
ist: ‚Siehe, ich werde die Meder gegen sie aufstacheln‘ (Jes 13,17). Denn unter der Herrschaft
des Baltasar wurde Babylon von den Medern eingenommen. Und in der gleichen Weise soll
unter der Person des einen Ägypten die ganze Welt verstanden werden, wenn er sagt: ‚Und ich
werde Ägypter gegen Ägypter kämpfen lassen, Königreich gegen Königreich‘ (vgl. Jes 19,2),
denn laut der Beschreibung bestand Ägypten nicht aus mehreren sondern nur aus einem
Königreich.
Die fünfte Regel betrifft die Zeitabschnitte: Ihr zufolge steht entweder der kleinere
Zeitabschnitt für den besonders großen, oder aber unter dem größeren ist der besonders kleine
zu verstehen. So verhält es sich mit den drei Tagen der Grabesruhe des Herrn, denn obwohl er
nicht drei volle Tage und Nächte im Grab lag, versteht man dennoch unter dem kleineren Teil
das Ganze von drei Tagen. Und ebenso verhält es sich damit, daß Gott vorhergesagt hatte, die
Söhne Israels würden vierhundert Jahre lang in Ägypten geknechtet und dann von dort
ausziehen. Doch unter der Führung des Josef hatten die Israeliten die Macht in Ägypten, und
sie zogen auch nicht nach vierhundert Jahren von dort aus, wie es verheißen worden war,
sondern erst nachdem vierhundertdreißig Jahre vergangen waren, sind sie aus Ägypten
ausgezogen.
In bezug auf Zeitangaben gibt es auch noch eine andere übertragene Redeweise, durch
welche zukünftige Ereignisse (329) so dargestellt werden, als seien sie bereits geschehen. Zum
Beispiel: ‚Sie haben meine Hände und meine Füße durchbohrt, sie haben alle meine Knochen
gezählt und haben meine Kleider unter sich aufgeteilt‘ (vgl. Ps 22,17-19: Vg. Ps 21,17-19 G),
und ähnliche Stellen, in denen von Zukünftigem gesprochen wird wie von bereits
Geschehenem. Aber warum wird von etwas, das noch geschehen soll, gesprochen, als sei es
bereits geschehen? Weil das, was für uns der Zukunft angehört, für Gott in seiner Ewigkeit
bereits geschehen ist. Wenn also etwas als ‚künftig zu geschehen‘ angekündigt wird, wird dies
von unserem Standpunkt aus gesagt. Wenn aber von Zukünftigem als von schon Geschehenem
gesprochen wird, so ist dies vom Standpunkt der Ewigkeit Gottes aus zu sehen, bei welchem
alles Zukünftige als bereits geschehen gilt.
Die sechste Regel betrifft die Wiederholung. Eine Wiederholung liegt vor, wenn die
Schrift zu etwas zurückkehrt, dessen Darstellung bereits vorher erfolgt ist. Zum Beispiel sagt
die Schrift, nachdem sie die Söhne der Söhne Noachs erwähnt hat, daß diese sich aufteilten je
nach ihren Sprachen und Stämmen (vgl. Gen 10,20.31), und dennoch heißt es später so als
fände sich dies in derselben Zeitfolge: ‚Es gab auf der ganzen Erde nur eine Sprache und nur
eine Rede bei allen‘ (Gen 11,1). Aber wie konnten dann jene sich je nach ihren Stämmen und
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Sprachen aufteilen, wenn es doch nur eine Sprache für alle gab? Doch wohl nur wenn man
voraussetzt, daß hier die Darstellung durch Wiederholung zu dem bereits Erwähnten
zurückkehrt.
Die siebte Regel betrifft den Teufel und seinen Leib, und ihr zufolge wird oft über dessen
Haupt gesagt, was sich eher auf seinen Leib bezieht. Umgekehrt scheinen oft Äußerungen, die
über seine Glieder gemacht werden, ausschließlich auf sein Haupt zuzutreffen. Unter dem
Namen des Leibes ist in der Tat das Haupt zu verstehen, wenn etwa in dem Evangelium vom
Unkraut unter dem Weizen der Herr sagt: ‚Das hat ein feindlicher Mensch getan‘ (Mt 13,28).
(331) Damit nennt er den Teufel selbst einen Menschen und bezeichnet so unter dem Namen des
Leibes das Haupt. Ebenso wird unter dem Namen des Hauptes der Leib bezeichnet, wenn es
im Evangelium heißt: ‚Euch zwölf habe ich erwählt, und doch ist einer von euch der Teufel‘
(Joh 6,70). Damit war Judas gemeint, denn er gehörte zum Körper des Teufels. Der
abgefallene Engel ist nämlich das Haupt aller Ungerechten, und alle Ungerechten sind der
Leib dieses Hauptes. Er ist in einer solchen Weise eins mit seinen Gliedern, daß oft das, was
von seinem Leib gesagt wird, sich eher auf ihn selbst bezieht, und umgekehrt, was von ihm
gesagt wird, sich eher auf ihn selbst bezieht und umgekehrt, was von ihm gesagt wird, ebenso
auf seine Glieder zu beziehen ist. So ist es bei Jesaja, wo, nachdem die prophetische Rede
vieles gegen Babylon gesagt hat, also gegen den Leib des Teufels, sich anschließend der Sinn
der Prophezeiung wieder gegen das Haupt, also den Teufel, wendet und sagt: ‚Wie bist du vom
Himmel gefallen, Luzifer, der du am Morgen aufgingst‘ (Jes 14,12) und ähnliches mehr.“
Kapitel 5: Was das Studium behindert
Nachdem wir nun dem Studierenden einen fest umrissenen Stoff vorgegeben und die
Schriften, welche in besonderer Weise zur geistlichen Lektüre gehören, durch die Nennung
ihrer Namen festgelegt haben, scheint es folgerichtig, auch etwas über die Methode und den
Fortgang der Lektüre zu sagen. Somit soll aus dem bereits Gesagten zu erkennen sein,
welchem Gegenstand man seine Studien zu widmen hat, während aus dem künftig noch zu
Sagenden die Methode und der Plan des Studiums zu erschließen sein soll. Weil wir aber
leichter einsehen, was wir tun sollen, wenn wir vorher erkennen, was wir nicht tun sollen, so
sollte der Student erst darüber unterrichtet werden, was er vermeiden (333) soll, und dann darin
unterwiesen werden, wie er das, was er tun soll, zur Vollendung bringen kann.
Außerdem muß auch gesagt werden, woran es liegt, daß unter einer solch großen Menge
von Studierenden, von denen sich viele sowohl durch Veranlagung als auch durch Fleiß
auszeichnen, sich nur so wenige finden – leicht sind sie zu zählen –, denen es wirklich
gelingt, Wissen zu erlangen. Um gar nicht von denjenigen zu sprechen, die von Natur aus
stumpf und schwer von Begriff sind, so bleibt doch vor allem dieser Punkt wichtig und der
Nachfrage wert, wie es kommt, daß zwei Leute, die sich mit gleich großer Begabung und
gleich großem Fleiß dem gleichen Studium widmen, dennoch nicht in gleichem Grade zur
Erkenntnis in diesem Wissensgebiet gelangen. Der eine durchschaut die Sache schnell und
erfaßt sogleich, wonach er sucht; der andere müht sich lange ab und erreicht wenig. Man muß
dazu aber wissen, daß bei jeder Art von Betätigung zwei Dinge notwendig sind, nämlich die
Arbeit selbst und die Methode bei dieser Arbeit. Diese beiden sind so miteinander verbunden,
daß das eine ohne das andere entweder nutzlos oder jedenfalls weniger wirksam ist. Doch
heißt es ja: „Klugheit ist besser als Kraft“ (vgl. Weish 6,1 Vg.), denn Gewichte, die wir mit
unseren Körperkräften nicht einmal verschieben können, vermögen wir mitunter durch
Einsatz unserer Kenntnisse sogar zu heben. Genau so ist es auch bei jedem Studium. Wer
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ohne kluge Unterscheidung arbeitet, der arbeitet zwar, aber er macht keine Fortschritte, und
er vergeudet sinnlos seine Kräfte, als würde er die Luft schlagen. Stell dir zwei Leute vor, die
beide einen Wald durchqueren; der eine müht sich auf Umwegen ab, der andere wählt die
Abkürzungen des geraden Weges: Beide schreiten mit dem gleichen Aufwand an Bewegung
fort, aber sie erreichen nicht zu gleicher Zeit das Ziel. Wie soll ich aber die Schrift anders als
einen „Wald“ nennen? Im Lesen pflücken wir ihre Inhalte wie die süßesten Früchte, und im
Überdenken käuen wir sie gleichsam (335) wieder. Wer also beim Lesen einer solchen Menge
von Büchern nicht auf Methode und Ordnung achtet, der verliert die Spur des geraden Weges,
als verirrte er sich im Dickicht eines Waldes, und er gehört zu denen, die, wie es heißt,
„immerzu lernen, aber niemals Wissen erlangen“ (2 Tim 3,7). Denn die kluge Unterscheidung
ist von solcher Bedeutung, daß ohne sie jede Muße verwerflich und jede Arbeit nutzlos ist.
Daß wir dies doch ganz und gar begreifen würden!
Drei Dinge sind es vor allem, die den Studien der Studierenden im Wege stehen: die
Nachlässigkeit, die Unbedachtheit und die Laune des Schicksals. Nachlässigkeit ist es, wenn
wir das, was wir lernen müssen, entweder ganz auslassen oder aber wenig sorgfältig lernen.
Unbedachtheit ist es, wenn wir uns beim Lernen nicht an die entsprechende Methode und
Ordnung halten. Die Schicksalslaune macht sich bemerkbar durch ein Ereignis, durch Zufall
oder durch etwas, das natürlicherweise passiert, so zum Beispiel, wenn wir durch Armut,
Krankheit oder eine ungewöhnliche Verzögerung von unserem Vorhaben ferngehalten
werden, oder auch durch Mangel an Lehrern, wenn niemand zu finden ist, der uns lehren,
oder jedenfalls niemand, der uns gut lehren kann. Was diese drei Dinge angeht, so muß man
beim ersten, der Nachlässigkeit, den Studenten ermahnen, beim zweiten, der Unbedachtheit,
ihn belehren, beim dritten, der Laune des Schicksals, muß man ihm helfen.
Kapitel 6: Die Früchte der geistlichen Lektüre
Wer immer es unternimmt, sich in der geistlichen Lektüre zu bilden, sollte als erstes
wissen, welche Frucht dies bringen kann. Denn man sollte nichts ohne Grund anstreben; und
was keinen Nutzen verspricht, zieht nicht unsere Wünsche auf sich. Zweifach ist die Frucht
des geistlichen Lesens, denn entweder bildet es den Geist durch Wissen, oder es erfüllt ihn mit
sittlicher Gesinnung. Es lehrt, was (337) man sich freut zu wissen und was nachzuahmen
vorteilhaft ist. Von dem Erwähnten hat das eine, nämlich das Wissen, mehr Bezug zur
historischen und allegorischen Deutung, das andere, die Unterrichtung im sittlichen
Verhalten, bezieht sich eher auf den tropologischen Sinn. Die gesamte Heilige Schrift ist auf
dieses Ziel gerichtet. Obwohl gerecht zu sein sicherlich wichtiger ist als weise zu sein, weiß
ich dennoch, daß viele im Studium der Heiligen Schrift eher Wissen als Tugend suchen. Da
ich selbst aber der Meinung bin, daß keines von beiden mißbilligt werden sollte, vielmehr
beide für notwendig und lobenswert halte, will ich kurz darlegen, was der Absicht jedes der
beiden entspricht. Und als erstes werde ich von demjenigen handeln, der die „Gnade der
Sittlichkeit“ umarmt.
Kapitel 7: Wie man die Heilige Schrift studieren soll, um sein sittliches
Verhalten zu verbessern
Wer in der Heiligen Schrift die Kenntnis der Tugenden und eine Lebensregel sucht, der
sollte vor allem diejenigen Bücher lesen, die zur Abkehr von dieser Welt raten und die den
Geist mit der Liebe zu seinem Schöpfer entflammen, Bücher, die den rechen Lebensweg
finden lehren und die zeigen, wie Tugenden erworben und Laster abgewehrt werden können.
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„Zuerst suchet das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit!“ (vgl. Mt 6,33), heißt es in der
Schrift, so als wenn sie offen sagen würde: „Verlangt nach den Freuden des himmlischen
Vaterlandes, aber erkundet auch möglichst geschickt, durch welche Verdienste der
Gerechtigkeit man zu diesen Freuden gelangt. Liebt und sucht alles Gute, alles Notwendige.
Wenn die Liebe dabei ist, kann keiner untätig bleiben. Verlangt ihr danach, das Ziel zu
erreichen? So lernt, wie ihr erreichen könnt, wonach ihr strebt!“
Dieses Wissen jedoch erlangt man auf zweierlei Weise, nämlich durch Beispiel und
durch Belehrung: durch Beispiel, wenn wir die Taten der Heiligen lesen; durch Belehrung,
wenn wir lernen, was diese bezüglich unserer sittlichen (339) Disziplin gesagt haben. Unter
diesen Taten und Aussprüchen der Heiligen soll man sich meines Erachtens vor allem die
Schriften des heiligen Gregor vornehmen, die ich hier nicht mit Schweigen übergehen wollte,
denn diese erschienen mir vor allen anderen süß und voll der Liebe zum ewigen Leben.
Es ist aber vonnöten, daß derjenige, der diesen Weg eingeschlagen hat, lernt, sich beim
Lesen der Bücher nicht nur durch den farbigen Glanz des Stils anregen zu lassen, sondern
auch durch den Wunsch, die dort dargestellten Tugenden nachzuahmen, so daß er sich nicht
so sehr an der Pracht oder der Komposition der Sprache freut, sondern vielmehr an der
Schönheit der Wahrheit. Er soll auch wissen, daß es seinem Vorhaben nicht förderlich ist,
wenn er sich vom leeren Verlangen nach Wissen fortreißen läßt und unverständliche oder
tiefschürfende Werke liest, die den Geist eher anstrengen als ihn erbauen, damit nicht das
bloße Studieren ihn so fesselt, daß er sich gezwungen sieht, die Ausübung guter Werke zu
unterlassen. Für den christlichen Philosophen sollte das Lesen eine Ermunterung sein, keine
ausfüllende Beschäftigung; es sollte seine sinnvollen Anliegen nähren, nicht sie töten. Ich
erinnere mich, daß mir einmal von einem Mann von wirklich lobenswertem Lebenswandel
erzählt wurde, der so sehr in Liebe zu den heiligen Schriften entbrannt war, daß er sie
ununterbrochen studierte. Und als Tag für Tag sein Wissen wuchs, ebenso aber auch sein
Verlangen nach Wissen, begann er schließlich, voll unbedachten Eifers nach der Weisheit,
die einfacheren Schriften zu verachten und alles Tiefsinnige und Unklare zu durchforschen,
und er drang mit allem Nachdruck darauf, die Rätselsprüche der Propheten und die
mystischen Bedeutungen der Sakramente aufzuschlüsseln. (341) Aber der menschliche Geist ist
nicht in der Lage, eine solche Last zu tragen; bald begann er, unter der Gewaltigkeit dieser
Aufgabe und der andauernden Anspannung zu erlahmen und durch die Sorge um diese
unangemessene Beschäftigung so verwirrt zu werden, daß er am Ende nicht nur die
nützlichen, sondern auch die notwendigen Tätigkeiten gänzlich einstellte. Nachdem sich die
Sache so in ihr Gegenteil verkehrt hatte, waren die heiligen Schriften für den Mann, der ihre
Lektüre um der Erbauung seines Lebens willen begonnen hatte, der aber den mäßigenden
Einfluß der klugen Unterscheidung nicht zu gebrauchen wußte, nun zu einer Quelle des
Irrtums geworden. Aber dank des göttlichen Erbarmens wurde er in einer Offenbarung
ermahnt, sich nicht weiter dem Studium dieser Schriften hinzugeben, sondern es sich zur
Gewohnheit zu machen, die Lebensbeschreibungen der heiligen Väter, die Triumphe der
Märtyrer und ähnliche in einfachem Stil verfaßte Schriften häufig zu lesen. Auf diese Weise
fand er in kurzer Zeit zu seinem früheren Zustand zurück und wurde der Gnade innerer Ruhe
in einem solchen Maße für würdig befunden, daß man in ihm wahrhaftig das Wort des
Herrn erfüllt sehen konnte, das Wort, mit welchem er, eingedenk unserer Mühe und unseres
Schmerzes, uns gütig trösten wollte: „Kommt zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid;
ich will euch erquicken“, und dann: „Ihr werdet für eure Seele Ruhe finden“ (Mt 11,28 f).
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Ich habe dieses Beispiel angeführt, um denjenigen, die sich in den Dienst nicht der
Bücher, sondern der Tugend gestellt haben, vor Augen zu halten, daß ihr Studium ihnen
nicht Überdruß, sondern Freude bereiten sollte. Denn selbst der Prophet sagt ja „Ich kenne
keine Bücherweisheit“, das heißt keine Geschäfte; „ich werde eingehen in die Macht des
Herrn; Herr, deiner Gerechtigkeit allein will ich gedenken. Gott, von Jugend auf hast du
mich gelehrt“ (Vg. Ps 70,15-17 G). Denn wer die Schriften studiert, um seinen Geist zu
beschäftigen oder gar sozusagen in Betrübnis zu (343) versetzen, der treibt nicht Philosophie,
sondern Geschäfte; und ein solch heftiges und unbedachtes Vorhaben entgeht nicht leicht dem
Übel des Hochmuts. Was soll ich aber von der Studierweise Paulus‘ des Einfältigen sagen,
dem es wichtiger war, das Gesetz zu erfüllen als es zu erlernen? Dies kann gewiß ein gutes
Beispiel für uns sein, nicht Hörer oder Studierer, sondern vielmehr gerechte Verwirklicher
des Gesetzes (vgl. Jak 1,22; Röm 2,13) zu sein vor Gott.
Es ist weiterhin zu berücksichtigen, daß das Studium üblicherweise auf zweierlei Art das
Gemüt mit Unmut erfüllt und dem Geist zur Last wird, nämlich durch seine Beschaffenheit
wenn also die Materie zu unverständlich und durch seine Menge, wenn der Stoff zu
umfangreich gewesen ist. In beiden Fällen ist große Mäßigung angebracht, damit nicht, was
zu unserer Speisung dienen sollte, beim Genuß zur Erstickung führt. Es gibt Leute die alles
lesen wollen; mit diesen solltest du dich nicht messen. Für dich laß es genug sein. Es ist nicht
wichtig für dich, ob du alle Bücher liest oder nicht. Die Zahl der Bücher ist unbegrenzt;
trachte nicht nach Unbegrenztem! Wo kein Ende ist, da kann es keine Ruhe geben; wo keine
Ruhe ist, da gibt es keinen Frieden; wo kein Friede ist, da kann Gott nicht wohnen. „Im
Frieden“, sagt der Prophet, „ist ihm sein Platz bereitet worden und seine Wohnung auf Zion“
(Vg. Ps 75,3 G). „Auf Zion“, aber „im Frieden“; Zion muß es geben aber ohne den Frieden zu
verlieren. Du sollst Betrachtungen anstellen, nicht dich Beschäftigungen hingeben. Sei nicht
geizig, sonst wirst du vielleicht immer Mangel leiden. Höre auf Salomo, höre auf den Weisen
und lerne Klugheit. „Mein Sohn“, so sagt er, „verlange nicht mehr als diese. Des vielen
Bücherschreibens ist kein Ende, und das andauernde Nachdenken ist eine Belastung für den
Körper“ (Koh 12,12). Wo ist also das Ende? „Laßt uns alle zusammen das Ende der Rede
hören: Fürchte Gott, und befolge seine Gebote; das allein macht den Menschen vollkommen“
(Koh 12,13). (345)
Kapitel 8: Studieren ist die Sache der Anfänger, Handeln Sache der
Vollkommenen
Es möge aber nun niemand aus dem, was ich oben gesagt habe, schließen, ich wolle es
verurteilen, wenn Studierende Gründlichkeit an den Tag legen. Meine Absicht ist es vielmehr
im Gegenteil die gründlichen Studenten zu ihrem Vorhaben zu ermuntern und diejenigen, die
gerne lernen, als lobenswert vor Augen zu stellen. Oben habe ich nämlich mit Bezug auf die
Gelehrten gesprochen, jetzt jedoch meine ich die, die noch belehrt werden müssen und noch
am Anfang der Unterweisung stehen, welche die Grundlage der sittlichen Disziplin ist. Ziel
der Fortgeschrittenen ist das Bemühen um Tugend, Ziel der Anfänger aber zunächst noch die
Ausübung ihres Studiums. Beides jedoch sollte so betrieben werden, daß weder die ersteren
das Studium vernachlässigen noch die letzteren die Tugend außer acht lassen. Denn oft
erweist sich ein Handeln, dem kein Studium vorausgegangen ist, als wenig vorbedacht, und
umgekehrt eine Belehrung, der keine gute Praxisanwendung folgt, als wenig nützlich.
Unbedingt notwendig ist es jedoch, daß die Fortgeschrittenen sich hüten, auf das, was hinter
ihnen liegt, zurückzublicken, und daß andererseits die Anfänger sich zu trösten wissen, wenn
sie sich manchmal danach sehen, dorthin zu gelangen, wo die Fortgeschrittenen bereits sind.
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Beide Gruppen müssen sich weiter übern, beide Gruppen müssen weiter voranschreiten.
Niemand darf sich wieder nach rückwärts wenden; nur aufwärts zu steigen ist erlaubt, nicht
abwärts. Wenn du aber noch nicht in der Lage bist hinaufzusteigen, dann bleib auf deinem
Platz.
Wer die Aufgabe eines anderen für sich selbst übernimmt, ist nicht frei von Schuld.
Wenn du ein Mönch bist, was machst du dann in der Menge? Wenn du die Stille liebst,
warum freust du dich daran, ständig in der Gesellschaft von Redekünstlern zu sein? Du
solltest dich beständig dem (347) Fasten und Beten widmen, und willst doch als Philosoph
auftreten? Die Philosophie des Mönchs ist die Einfachheit. „Aber ich will doch andere
lehren“, sagst du. Nicht das Lehren ist deine Aufgabe, sondern das Trauern. Wenn du dennoch
ein Lehrer sein willst, so höre, was du tun sollst. Die Dürftigkeit deines Kleides und die
Bescheidenheit in deinem Gesichtsausdruck, die Lauterkeit deiner Lebensführung und die
Heiligkeit in deinem Verhalten sollen es sein, die die Menschen lehren. Du bist ein besserer
Lehrer, wenn du die Welt fliehst, als wenn du ihr nachfolgst. Vielleicht bleibst du aber weiter
hartnäckig und sagst: „Ist es mir denn nicht wenigstens erlaubt zu lernen, wenn ich es doch
gerne möchte?“ Ich habe oben schon gesagt „Studiere, doch laß dich nicht gänzlich dadurch
ausfüllen.“ Studium kann eine Übung für dich sein, nicht aber ein Endzweck. Belehrung ist
gut, aber sie ist für Anfänger. Du jedoch hast versprochen, vollkommen zu werden, und
deshalb ist es für dich nicht ausreichend auf gleicher Ebene mit Anfängern zu sein. Du mußt
mehr zuwege bringen! Überlege dir also, wo du stehst, und du wirst ohne Mühe erkennen, was
du zu tun hast.
Kapitel 9: Vier Stufen
Vier Dinge sind es, durch die nun das Leben der Gerechten zur Ausübung gelangt und
sich gleichsam auf vier Stufen zur zukünftigen Vollkommenheit erhebt, nämlich das Studium
oder die Belehrung, die Meditation, das Gebet und das Handeln. Darauf folgt noch eine
fünfte Stufe, die Kontemplation, in welcher man, gewissermaßen als Frucht der
vorangehenden vier, schon in diesem Leben einen Vorgeschmack dessen hat, was im
zukünftigen Leben der Lohn des guten Werkes sein wird. Daher fügt auch der Psalmist, (349)
als er von den Ratschlüssen Gottes spricht, sogleich zu ihrem Lob hinzu: „Wenn man jene
beachtet, ist der Lohn reichlich“ (Ps 19,12: Vg. Ps 18,12 G).
Von diesen fünf Stufen ist die erste, das Studium, Sache der Anfänger, die letzte Stufe, die
Kontemplation, Sache der Vollkommenen. Und was die mittleren Stufen betrifft, so ist man
um so vollkommener je mehr Stufen man hinaufgeschritten ist. Zum Beispiel: Die erste Stufe,
das Studium, verleiht Erkenntnis; die zweite, die Meditation, gewährt Rat; die dritte, das
Gebet, erbittet; die vierte, das Handeln, sucht; die fünfte, die Kontemplation, findet. Wenn du
also studierst und du hast Erkenntnis erlangt und weißt bereits, was zu tun ist, dann ist dies
der Anfang des Guten, aber es ist noch nicht genug für dich, du bist noch nicht vollkommen.
Ersteige also die Höhe der Überlegung, und denk darüber nach, wie du das erreichen kannst,
von dem du gelernt hast, daß es getan werden muß. Es gibt nämlich viele, die Wissen
besitzen, aber nur wenige, die erkannt haben, wie man mit diesem Wissen umgehen muß. Und
da außerdem die menschliche Überlegung ohne göttliche Hilfe schwach und wirkungslos ist,
so erhebe dich zum Gebet und bitte um den Beistand desjenigen, ohne den du nichts Gutes zu
tun vermagst, so daß seine Gnade, die durch ihr Vorangehen dich erleuchtet hat, auch durch
ihre Begleitung deine Füße auf den Weg des Friedens lenke und das, was bisher nur im
Vorsatz existierte, zur Verwirklichung guten Handelns führe. Was dir dann noch bleibt, ist,
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dich zur Ausführung des guten Werkes zu rüsten, damit du würdig bist, durch dein Handeln
zu erreichen, was du durch dein Gebet erbeten hast. Gott will zusammen mit dir wirken; nicht
gezwungen wirst du, sondern unterstützt. Wenn du alleine handelst, erreichst du nichts; wenn
Gott alleine handelt, hast du kein Verdienst. Es möge also Gott handeln, damit du in die Lage
versetzt wirst zu handeln; und du mögest handeln, damit du dir Verdienst erwirbst. Das gute
Handeln ist die Straße, auf der man zum Leben (351) gelangt. Wer auf dieser Straße geht, der
sucht das Leben. „Sei nur mutig, und handle wie ein Mann!“ (Jos 1,18; 1 Chr 22,13; vgl. 1 Kor
16,13). Diese Straße hat ihren Lohn. Sooft wir auch durch die Mühen dieses Weges ermatten,
wir werden durch die Gnade des göttlichen Erbarmens erleuchtet, und wir „kosten und sehen,
wie süß der Herr ist“ (Ps 34,9: Vg. Ps 33,9). Und so geschieht was oben gesagt wurde: was das
Handeln sucht, findet die Kontemplation.
Du siehst also, wie diejenigen Vollkommenheit erlangen, die auf diesen Stufen
emporsteigen, so daß derjenige, der unten verbleibt, nicht vollkommen sein kann. Unser Ziel
sollte es deshalb sein, immer emporzusteigen; da aber die Wechselhaftigkeit unseres Lebens so
groß ist, daß wir nicht beständig auf einem Punkte bleiben können, sind wir oft gezwungen,
uns noch einmal dem bereits Behandelten zuzuwenden, und um nicht den erreichten Stand
wieder zu verlieren, wiederholen wir bisweilen, was wir schon hinter uns gelassen haben. Um
ein Beispiel zu geben: Wer stark im Handeln ist, der betet, damit er nicht in seiner Stärke
nachläßt; wer beständig im Beten ist, der meditiert darüber, worum man beten soll, damit er
nicht in seinem Beten Anstoß erregt; und wer mitunter wenig Vertrauen in sein eigenes Urteil
hat, der sucht Rat im Studieren. Und so geschieht es, daß wir, obwohl es unser Wille ist, stets
emporzusteigen, dennoch mitunter durch Notwendigkeit gezwungen werden hinabzusteigen;
doch liegt unser Ziel in diesem Willen, nicht in der Notwendigkeit. Daß wir emporsteigen, ist
unser Ziel; daß wir hinabsteigen, geschieht um unseres Zieles willen. Nicht das letztere,
sondern das erstere also sollte für uns die Hauptsache sein. (353)
Kapitel 10: Die drei Arten von Studierenden
Ich meine, es ist deutlich genug dargelegt worden, daß Fortgeschrittene und solche, die
etwas mehr versprechen, nicht dieselbe Aufgabe haben wie die, die gerade erst anfangen. Aber
so wie den ersteren etwas erlaubt wird, das die letzteren keineswegs tun dürfen, ohne einen
schweren Fehler zu begehen, so wird auch von den letzteren etwas gefordert, zu dem die
ersteren nicht länger mehr verpflichtet sind. Ich komme daher jetzt zu der Einlösung meines
Versprechens, nämlich zu zeigen, wie die Heilige Schrift von denjenigen gelesen werden soll,
die in ihr ausschließlich Wissen suchen.
Es gibt einige, die aus der Heiligen Schrift Wissen zu erlangen suchen, um Reichtümer
anzusammeln oder Ehrungen zu erhalten oder Reputation zu erwerben. Die Absicht dieser
Leute ist ebenso widersinnig wie bemitleidenswert. Es gibt außerdem andere, die sich daran
freuen, die Worte Gottes zu hören und Wissen über seine Werke zu erwerben, nicht weil diese
heilbringend, sondern weil sie voller Wunder sind. Geheimnisvolles wollen sie erforschen und
Unerhörtes kennenlernen; vieles wollen sie wissen, tun aber wollen sie nichts. Sie bestaunen
vergeblich die Macht Gottes, wenn sie nicht auch sein Erbarmen lieben. Wie könnte ich ihr
Verhalten anders nennen, als daß sie göttliche Verkündigungen in bloße Fabelgeschichten
verkehren? Für solche Zwecke pflegen wir Theatervorführungen und szenische Darstellungen
zu besuchen, nämlich um unser Ohr zu nähren, nicht unseren Geist. Doch glaube ich, daß
Leute solcher Art nicht so sehr in Verlegenheit gebracht als vielmehr durch Hilfe unterstützt
werden sollten, denn ihr Wille ist nicht schlecht, sondern nur unbedacht. Wieder andere
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jedoch studieren die Heilige Schrift, um gemäß der Weisung des Apostels bereit zu sein
„jedem Fragenden Rechenschaft über ihren Glauben zu geben“, so daß sie die Feinde der
Wahrheit machtvoll zerstören, die Ungebildeten (355) belehren, für sich selbst den Weg der
Wahrheit besser erkennen und durch ihr tieferes Verständnis die Geheimnisse Gottes
inständiger lieben können. Die Hingabe dieser Leute ist wahrhaft lobenswert und verdient,
nachgeahmt zu werden.
Es gibt also drei Arten von Menschen, die die Heilige Schrift studieren, und von diesen
sind die ersten zu bedauern, den zweiten muß man helfen, die dritten kann man rühmen. Wir
aber, da wir ja für alle Rat geben wollen, haben den Wunsch, daß bei allen das gute vermehrt
und das Verkehrte berichtigt werden möge. Was wir wollen, ist, daß alle einsehen, was wir
sagen, und daß alle tun, wozu wir mahnen. (357)
SECHSTES BUCH
Kapitel 1: Wie diejenigen die Heilige Schrift studieren sollen, die darin Wissen
suchen
Zwei Dinge empfehle ich dir mein Student, nämlich Ordnung und Methode. Wenn du
diese gewissenhaft beachtest, wird dir der Weg des Studierens ohne große Mühe offenstehen.
Bei der Erwägung dieser beiden Dinge werde ich aber weder alles deiner eigenen Geisteskraft
überlassen, noch werde ich versprechen, daß meine Gewissenhaftigkeit alles für dich
erledigen wird. Statt dessen werde ich, um dir eine Art Vorgeschmack zu geben, einiges kurz
berühren, so daß du manches ausgeführt finden wirst, an dem du dich bilden kannst, und
manches übergangen findest, das deiner eigenen Übung überlassen bleibt.
Ich habe oben schon erwähnt, daß Ordnung im Studium eine vierfache Angelegenheit ist:
es gibt eine Ordnung in bezug auf die Wissenschaftsdisziplinen, eine bei den Büchern, eine
bei der Erzählweise und eine bei der Auslegung. Wie diese Ordnungsbegriffe jedoch auf die
Heilige Schrift anzuwenden sind, habe ich noch nicht gezeigt.
Kapitel 2: Die Ordnung bei den Wissenschaftsdisziplinen
Bezüglich der gesuchten Ordnung unter den Wissenschaftsdisziplinen sollte der
Studierende der Heiligen Schrift als erstes die historische, die allegorische und die
tropologische Deutung beachten; das heißt, welche von ihnen den anderen in der Ordnung des
Studierens vorangeht. Dabei ist es nicht ohne Nutzen, sich ins Gedächtnis zu rufen, was man
bei der Errichtung von Gebäuden sehen kann, wo erst das Fundament gelegt wird, dann der
Bau darüber aufgeführt und schließlich, wenn dies Werk vollendet (359) ist, das Haus durch
einen Farbanstrich bekleidet wird.
Kapitel 3: Geschichte
Auf eben diese Weise muß man auch bei der Unterweisung vorgehen. Als erstes lernst du
die Geschichte und prägst deinem Gedächtnis sorgfältig die Wahrheit der Ereignisse ein, vom
Anbeginn anfangend bis hin zum Ende, was geschehen ist, wann es geschehen ist, wo es
geschehen ist und durch wen es geschehen ist. Denn dies sind die vier Dinge, die in der
Geschichte vor allem festzustellen sind: die Person, die Handlung, die Zeit und der Ort. Ich
glaube nämlich nicht, daß du in der allegorischen Deutung wirklich feinsinnig werden
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kannst, wenn du nicht vorher die Grundlage in der Geschichte gelegt hast. Du solltest diese
minderen Dinge nicht geringschätzen. Wer das Mindere geringschätzt, der gleitet nach und
nach abwärts. Wenn du es zu Beginn verschmäht hättest, das Alphabet zu lernen, würdest du
dich heute nicht einmal dem Namen nach unter den Studierenden der Grammatik erwähnt
finden. Ich weiß, daß es Leute gibt, die sogleich als Philosophen auftreten wollen. Sie sagen,
daß man die Geschichten den Pseudo-Aposteln überlassen sollte. Die Wissenschaft dieser
Personen ist der Gestalt eines Esels ähnlich. Ahme solche Leute nicht nach.
„Bist du einmal mit Kleinem vertraut, so wirst du auch Großes
erfolgreich anstreben.“ (361)
Was mich selbst betrifft, so kann ich dir versichern, daß ich nichts von all dem, was zur
Bildung gehört, je geringgeschätzt habe; vielmehr habe ich oft Dinge gelernt, die für andere
eine Art Scherz oder Unsinn zu sein schienen. Ich erinnere mich, daß ich als Schuljunge
angestrengt bemüht war, von allen Dingen, die mir zufällig unter die Augen oder in die
Hände kamen, die Namen zu lernen, denn ich dachte bei mir, daß man wohl kaum ohne
weiteres das Wesen der Dinge erfassen könne, wenn man nicht einmal ihre Namen kenne.
Und was meine kleinen Lehrsätze angeht, die ich mir der Kürze wegen mit ein oder zwei
Worten auf einem Blatt notiert hatte, wie oft habe ich nicht damit die mir selbst täglich
auferlegte Arbeitsschuld beglichen, um so schließlich von fast allen gelernten Behauptungen,
Fragen und Einwendungen die Lösungen und sogar die Anzahl meinem Gedächtnis
einzuprägen. Oft habe ich mir Rechtsstreitigkeiten ausgedacht, die widerstreitenden
Argumente einander gegenübergestellt und dann sorgsam unterschieden, welches die Aufgabe
des Rhetorikers, welches die des Redners und welches die des Sophisten wäre. Mit Steinchen
habe ich Zahlen dargestellt mit schwarzer Kohle habe ich auf dem Fußboden Zeichnungen
gemacht, und nachdem ich mir so ein Modell vor Augen geführt hatte, habe ich ganz
offenkundig den Unterschied zwischen einem stumpfen Winkel, einem rechten Winkel und
einem spitzen Winkel demonstriert. Ob man den Flächeninhalt eines Quadrates erhält, wenn
man zwei seiner Seiten miteinander multipliziert habe ich gelernt, indem ich es nach beiden
Seiten hin abschritt. Oft habe ich bei der Beobachtung der Sterne die Winternächte im Freien
durchwacht. Oft habe ich nach bestimmtem Zahlenmaß Saiten über einen Holzrahmen
gespannt und auf der dadurch hergestellten Magadis gespielt, sowohl um den Unterschied der
Töne mit dem Ohr wahrzunehmen, als auch um mich an der Süße des Liedes zu erfreuen.
Natürlich waren dies Kindereien, aber doch nicht ohne Nutzen, und daß ich (363) mich heute
in diesen Dingen auskenne, bedeutet auch keine Last für meinen Magen. Das alles erzähle ich
dir aber nicht, um mit meinem Wissen zu prahlen, das ohnehin ein Nichts oder nur sehr
bescheiden ist, sondern um dir zu zeigen, daß derjenige am besten voranschreitet, der planvoll
vorgeht, nicht wie jene, die einen großen Sprung tun wollen und dann jäh in den Abgrund
stürzen.
Wie bei den Tugenden so gibt es auch in den Wissenschaften bestimmte Stufen. Doch
sagst du: „In den Geschichtswerken finde ich vieles, das ganz ohne Nutzen zu sein scheint;
warum soll ich mich mit so etwas beschäftigen?“ Das sagst du durchaus mit Recht. Es gibt
wirklich viele Stellen in den Schriften, die für sich betrachtet nichts Erstrebenswertes zu
enthalten scheinen. Doch wenn du diese mit anderen Stellen, auf die sie Bezug nehmen, in
Zusammenhang bringst, und wenn du anfängst, sie in ihrem gesamten Kontext zu erwägen,
dann wist du sehen, daß sie ebenso notwendig wie sinnvoll sind. Manche Dinge muß man um
ihrer selbst willen wissen, andere aber, wenn sie auch für sich genommen kaum unserer
Bemühung wert erscheinen, dürfen keinesfalls mit Nichtachtung übergangen werden, denn
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ohne sie können jene ersten Dinge nicht vollständig verstanden werden. Lerne alles, du wirst
später sehen, daß nichts überflüssig ist. Verkürztes Wissen ist jedenfalls nicht erfreulich.
Nun fragst du, ob ich eine bestimmte Ansicht habe hinsichtlich der Bücher, die für dieses
Studium nützlich sind. Meiner Meinung nach sollten vor allem diese Bücher studiert werden:
Genesis, Exodus, Josua, das Buch der Richter, das der Könige und die Chronik; aus dem
Neuen Testament zuerst die vier Evangelien, dann die Apostelgeschichte. Diese elf scheinen
mir den meisten Bezug zur Geschichte zu haben, abgesehen von denjenigen, welche wir im
eigentlichen Sinn „Geschichtswerke“ nennen.
Wenn wir jedoch dies Wort im weiteren Sinne gebrauchen, dann ist es durchaus
angemessen, nicht nur den Bericht (365) von Ereignissen als „Geschichte“ zu bezeichnen,
sondern auch jene erste Bedeutungsebene einer jeden Erzählung, die sich der eigentlichen
Beschaffenheit der Wörter bedient. Und wenn man das Wort so auffaßt, gehören nach meiner
Meinung alle Bücher beider Testamente, in der Anordnung, wie wir sie oben aufgezählt
haben, mit Bezug auf ihre wörtliche Bedeutung zu diesem Studium.
An dieser Stelle sollte ich vielleicht, wenn es nicht kindisch erschiene, einige
Anweisungen über die Art und Weise der Satzkonstruktion einfügen, weil ich weiß, daß die
Heilige Schrift in höherem Maße als alle anderen Werke eine gedrängte Textgestalt aufweist.
Doch will ich davon hier absehen, um mein Vorhaben nicht durch allzu lange Abschweifung
auszudehnen. Es gibt bestimmte Stellen in der Heiligen Schrift, die nicht im wörtlichen Sinn
gelesen werden können und die man mit kluger Unterscheidung sorgfältig untersuchen muß,
damit man nicht einerseits durch Nachlässigkeit etwas übersieht und andererseits nicht durch
unangebrachten Eifer den Text gewaltsam in Richtung einer Deutung dreht, für die er nicht
geschrieben worden ist.
Dies also, mein Student, ist es, was wir dir empfehlen; dies Feld deiner Arbeit wird dir,
sofern du es gründlich mit dem Pflug bearbeitet hast, reiche Frucht bringen. Alles ist nach
einer bestimmten Ordnung geschehen: Geh auch du nach bestimmter Ordnung vor. Wenn man
dem Schatten folgt, gelangt man zum Körper: Lerne das Sinnbild, und du wirst die Wahrheit
finden. Damit meine ich jetzt nicht, daß du dich zuerst bemühen solltest, die Sinnbilder des
Alten Testamentes zu entschlüsseln und dessen geheimnisvolle Wort zu ergründen, bevor du
dazu kommst, von den Wassern des Evangeliums zu trinken. Aber ebenso wie du siehst, daß
kein Gebäude ohne Fundament dauerhaft sein kann, so verhält es sich auch im Studium. Das
Fundament und der Anfang des geistlichen Studiums ist die Geschichte, aus welcher dann,
wie Honig aus der Wabe die Wahrheit (367) der Allegorie gewonnen wird. Wenn du also bauen
willst „so leg erst das Fundament der Geschichte, dann errichte, durch die sinnbildliche
Bedeutung, das Gebäude des Geistes als eine Burg des Glaubens. Als letztes jedoch bemale das
Gebäude, kraft der Gnade der Sittlichkeit, wie mit dem herrlichsten Farbanstrich.“
In der Geschichte findest du Veranlassung die Taten Gottes zu bewundern, in der
Allegorie, an seine Geheimnisse zu glauben, in der Tropologie, seine Vollkommenheit
nachzuahmen. Lies also und lerne dies: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1).
Lies, daß er am Anfang pflanzte „einen Paradiesgarten der Freude, in welchen er den
Menschen setzte, den er gebildet hatte“ (Gen 2,8). Da dieser sündigte, vertrieb er ihn und warf
ihn hinaus in die Mühsal dieser Welt. Lies, wie von dem einen Menschen der gesamte Sproß
des Menschengeschlechtes abstammte (vgl. Gen 1,27 f); wie dann die Flut die Sünder
vernichtete (vgl. Gen 7,17-24); wie der gerechte Noach mit seinen Söhnen inmitten der Wasser
durch die göttliche Milde gerettet wurde (vgl. Gen 8); wie dann Abraham das Zeichen des
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Glaubens empfing (vgl. Gen 17,10 f), später aber Israel nach Ägypten hinabzog (vgl. Gen 46,6
f); wie dann Gott durch die Hand Moses‘ und Aarons die Söhne Israels aus Ägypten durch das
Rote Meer hinausführte (vgl. Ex 14), wie er sie in der Wüste ernährte (vgl. Ex 16), ihnen das
Gesetz gab (vgl. Ex 19 f), sie ins Land der Verheißung brachte (vgl. Jos 1-12); wie er sie, als
sie immer wieder sündigten, in die Hände der Feinde auslieferte, und wie er sie, als sie wieder
bereuten, befreite (vgl. Jos 7 f); wie er zuerst durch Richter, dann durch Könige das Volk
lenkte (vgl. Ri 1-3; 1 Sam 8 f). Seinen Diener David holte er von den Mutterschafen weg (vgl.
Ps 78,70: Vg. Ps 77,70 G). Salomo erleuchtete er mit Weisheit. Dem weinenden Ezechiel gab
er noch 15 zusätzliche Lebensjahre. Als sich das Volk wieder ungehorsam zeigte, schickte er
es in die Gefangenschaft nach Babylon durch die Hand des Nebukadnezzar. (369) Nach 70
Jahren führte er sie durch Kyrus wieder zurück. Zuletzt aber, als die Zeit sich schon neigte,
ließ er seinen Sohn Fleisch werden, versprach den Reuigen das ewige Leben durch die
Apostel, die er in die ganze Welt hinaussandte. Er sagte voraus daß er am Ende der Zeiten
kommen werde, um uns zu richten, um einem jeden den Lohn für seine Werke zu geben:
ewiges Leben und „das Reich, das kein Ende haben wird“ (Lk 1,33). Siehe nun also, wie vom
Anbeginn der Welt bis ans Ende der Zeiten die Barmherzigkeit Gottes nicht nachläßt.
Kapitel 4: Die Allegorie
Nach dem Studium der Geschichte verbleibt dir noch, die Geheimnisse der Allegorie zu
erforschen. Hierbei, denke ich, bedarf es keiner Ermahnung von meiner Seite, da die Sache
selbst für sich genommen schon bedeutend genug erscheint. Doch möchte ich, daß du, mein
Student, weißt, daß dieses Studium langsame und stumpfe Auffassung nicht erlaubt, sondern
vielmehr ausgereifte geistige Fähigkeiten erfordert, um bei der Untersuchung den Scharfsinn
so im Griff zu haben, daß man nicht etwa dadurch an Klugheit der Beurteilung einbüßt.
Diese Speise ist wirklich kräftig; wenn man sie nicht gründlich kaut, kann man sie nicht
hinunterschlucken. Du solltest also Mäßigung an den Tag legen, so daß du dich zwar im
Forschen als feinsinnig erweist, nicht aber in deinen Hypothesen für unbesonnen befunden
wirst. Bedenke, was der Psalmist sagt: „Er hat seinen Bogen gespannt und ihn hergerichtet; er
hat das Gerät des Todes für ihn vorbereitet“ (Ps 7,13 f).
Du erinnerst dich wohl, glaube ich, daß ich oben die Heilige Schrift mit einem Gebäude
verglichen habe, wo ja zuerst das Fundament gelegt und dann der Aufbau in die Höhe geführt
wird. Die Schrift ist in der Tat mit einem Gebäude zu vergleichen, denn sie hat ebenfalls
einen Aufbau. (371) Wir sollten es uns deshalb nicht verleiden lassen, diesen Vergleich noch
etwas eingehender zu verfolgen.
Schau dir das Werk des Maurers einmal an: Nachdem das Fundament gelegt ist, spannt er
die Richtschnur in gerader Linie, läßt sein Bleilot fallen und legt dann die sorgfältig
behauenen Steine der Reihe nach hin. Dann sucht er sich weitere Steine und noch weitere,
und wenn er etwa welche findet, die seiner anfänglich geplanten Linie nicht entsprechen,
dann nimmt er seine Feile und entfernt die hervorstehenden Stellen, glättet die Unebenheiten,
bringt das Unförmige in die entsprechende Form und fügt schließlich diese Steine den
anderen, bereits der Reihe nach ausgelegten, hinzu. Findet er aber Steine von solcher Gestalt,
daß sie weder verkleinert noch in die passende Form gebracht werden können, dann nimmt er
diese Steine nicht, damit nicht etwa beim Versuch, den Stein zu brechen, seine Feile
zerbricht.
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Nun gib acht! Ich habe dir einen Vorgang vor Augen geführt, der für die bloßen Gaffer
verächtlich erscheinen mag, für Verständige aber durchaus der Nachahmung wert ist. Das
Fundament ist in der Erde, und es besteht nicht zur Gänze aus behauenen Steinen. Das
Gebäude ist über der Erde, und es erfordert ein gleichmäßiges Mauerwerk. In der gleichen
Weise enthält auch die Heilige Schrift in ihrem Wortsinn vieles, was sich gegenseitig zu
widersprechen und manchmal sogar dem Absurden oder Unmöglichen nahe zu sein scheint.
Das geistige Verständnis jedoch erlaubt keinen Widerspruch, in ihm kann wohl vieles
unterschiedlich sein, nichts aber gegensätzlich. Auch die Tatsache, daß, wie du siehst, die
erste Lage von Steinen oberhalb des Fundaments an der gespannten Richtschnur entlang
ausgelegt wird – die Steine also, auf welche der gesamte übrige Bau sich stützt und nach
denen er sich ausrichtet –, ist nicht ohne Bedeutung. Denn diese Lage ist gleichsam ein
zweites Fundament und die Basis des gesamten Aufbaus. Dieses Fundament trägt das, was
über ihm aufgebaut wird, und wird seinerseits getragen von jenem ersten Fundament. Alles
(373) also ruht auf dem ersten Fundament, aber es richtet sich nicht in jeder Beziehung nach
diesem aus. Auf dem zweiten Fundament ruht alles übrige und richtet sich auch nach ihm
aus. Das erste trägt den Aufbau und ist unter dem Aufbau. Das zweite trägt den Aufbau, ist
aber nicht nur unter dem Aufbau, sondern auch Teil des Aufbaus. Das Fundament unter der
Erde, so haben wir gesagt, bedeutet die Geschichte, der Aufbau, der darüber errichtet ist,
bezeichnet die Allegorie. Deshalb muß also auch jene Basis des Aufbaus sich auf die
Allegorie beziehen. In vielen Schichten von Steinen erhebt sich der Aufbau, und jede Schicht
hat ihre eigene Basis. So enthält auch die Heilige Schrift viele Heilszeichen, die jeweils ihre
eigene Grundlage haben. Willst du wissen, welches die Schichten sind? Die erste Schicht ist
das Heilszeichen der Dreieinigkeit, denn auch dies ist in der Schrift enthalten, weil vor jedem
Geschöpf Gott existierte, dreifaltig und einer. Er schuf aus dem Nichts alle Kreatur, die
sichtbare und die unsichtbare: Siehe, das ist die zweite Schicht. Dem vernünftigen Geschöpf
verlieh er den freien Willen und bereitete ihm seine Gnade, auf daß es in der Lage sei, die
ewige Seligkeit zu verdienen. Als sie dann aus eigenem Willen sündigten, strafte er sie, und
als sie weiter sündigten stärkte er sie, damit sie nicht weiter fortfahren konnten zu sündigen.
Was der Ursprung der Sünde, was die Sünde selbst und was die Strafe für die Sünde sei; Dies
ist die dritte Schicht. Welche Heilszeichen er zuerst unter dem natürlichen Gesetz zur
Wiederherstellung des Menschen einrichtete: Das ist die vierte Schicht. Was unter dem Gesetz
geschrieben wurde: Das ist die fünfte Schicht. Das Heilszeichen der Fleischwerdung des
Wortes: Das ist die sechste Schicht. Die Heilszeichen des Neuen Testamentes: Das ist die
siebte Schicht. Schließlich die Heilszeichen seiner Auferstehung: Das ist die achte Schicht.
Dies ist die gesamte Gotteslehre, dies ist jener geistige Aufbau, welcher sich in die Höhe
erhebt, gebaut aus ebenso vielen Schichten von Steinen, wie er Heilszeichen enthält. (375) Nun
willst du auch die Grundlagen selbst kennenlernen. Die Grundlagen der Schichten sind die
Grundlagen der Heilszeichen. Siehe, du hast dich an das Studium begeben, um das geistige
Gebäude zu errichten. Die Fundamente der Geschichte sind schon in dir gelegt: Nun bleibt
noch, daß du die Grundlagen des Aufbaus fertigstellst. Du spannst die Richtschnur, du legst
sie präzise aus, du setzt die Quadersteine in die Reihe, rundherum gehst du und bezeichnest
sozusagen die Spur der zukünftigen Mauern. Die gespannte Richtschnur ist der Weg des
wahren Glaubens. Die Grundlagen des geistigen Bauwerks sind bestimmte Grundsätze des
Glaubens, von denen du ausgehen sollst. Der umsichtige Student freilich sollte dafür Sorge
tragen, daß er, bevor er umfangreiche Bücher durcharbeitet, über die Einzelheiten, die für
sein Vorhaben und für sein Bekenntnis des wahren Glaubens besonders wichtig sind, so gut
unterrichtet ist, daß er alles, was er später vorfindet, mit Sicherheit für seinen Aufbau
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verwerten kann. Denn in einer solchen Flut von Büchern und in einem solchen Gewirr von
Lehrmeinungen, welche sowohl durch ihre Zahl als auch durch ihre Unverständlichkeit oft
den Geist des Studierenden verwirren, kann man kaum auch nur in einem einzelnen Punkt zu
einem Ergebnis kommen, wenn man nicht vorher sozusagen in jeder Kategorie summarisch
ein festes, durch unerschütterlichen Glauben getragenes Prinzip für sich festgehalten hat, das
für alle Punkte Gültigkeit besitzt.
Du willst, daß ich dich lehre, wie man solche Grundlagen legt? Schau noch einmal auf
das zurück, was ich gerade eben für dich aufgezählt habe. Da ist das Heilszeichen der
Dreieinigkeit. Zahlreiche Bücher sind darüber bereits geschrieben, zahlreiche Meinungen
formuliert worden, die schwer zu verstehen und sehr kompliziert aufzulösen sind. Es wäre
eine langwierige und sehr mühevolle Aufgabe für dich, dies alles durchzuarbeiten, zumal du
wohl auf vieles stoßen würdest, das dich eher verwirren als erbauen würde. Versteife dich
nicht darauf, du würdest nie zu einem Ende (377) kommen! Lerne als erstes in Kürze und
Klarheit, was man in bezug auf den Glauben an die Dreieinigkeit festhalten muß, was du
eindeutig bekennen und wahrheitsgetreu glauben sollst. Später aber, wenn du begonnen hast,
Bücher zu lesen, und dabei vieles unverständlich, vieles eindeutig und vieles zweifelhaft
geschrieben findest, so nimm das, was du eindeutig findest, und füge es, sofern es paßt, deiner
Ausgangsbasis hinzu. Das Zweifelhafte interpretiere so, daß es nicht im Widerspruch zu
ersterem steht. Das Unverständliche aber mach erklärlich, wenn du es vermagst. Sollte es dir
jedoch nicht gelingen, dies zu verstehen, so übergehe es, damit du nicht durch den Versuch,
etwas zu unternehmen, dem du nicht gewachsen bist, in die Gefahr des Irrtums gerätst.
Verachte es gleichwohl nicht, sondern sei vielmehr ehrfürchtig, denn du hast gehört, daß
geschrieben steht: „Er hat die Dunkelheit zu seinem Versteck gemacht“ (Ps 18,12: Vg. Ps
17,12). Aber selbst wenn du etwas findest, das im Gegensatz zu dem steht, woran gemäß
deinem bisherigen Wissen in unerschütterlichem Glauben festzuhalten ist, so ist es nicht
sinnvoll, täglich deine Meinung zu ändern, wenn du nicht vorher Leute um Rat gefragt hast,
die gelehrter sind als du selbst, und vor allem, wenn du nicht vorher erkannt hast, was der
allgemeine Glaube, der niemals fehlgehen kann, in dieser Hinsicht zu glauben vorschreibt. So
solltest du es halten in bezug auf das Altarsakrament, das Sakrament der Taufe, der Firmung,
der Ehe und alle anderen Heilszeichen, die ich oben aufgezählt habe. Du siehst, daß viele, die
die Schriften lesen, in verschiedene Irrtümer verfallen, weil sie kein Fundament der
Wahrheit besitzen, und daß sie ihre Meinung beinahe so oft ändern, wie sie sich ans Lesen
begeben. Du siehst aber auch andere, die aufgrund ihrer Kenntnis der Wahrheit, auf die sie
sich in ihrem Innern zuverlässig stützen, in der Lage sind, alle Schriftstellen zu geeigneten
Interpretationen zurechtzulegen, und die beurteilen können, was vom rechten Glauben
abweicht und was mit ihm übereinstimmt. (379)
Bei Ezechiel liest du, daß die Räder den Lebewesen folgen, und nicht die Lebewesen den
Rädern: „Wenn die Lebewesen gingen, so gingen auch die Räder neben ihnen; und wenn sich
die Lebewesen vom Boden erhoben, erhoben sich mit ihnen auch die Räder“ (Ez 1,19). Und in
der Tat, je größere Fortschritte heilige Männer in den Tugenden und im Wissen machen, um
so eher erkennen sie, daß die Geheimnisse der Heiligen Schrift tiefgründig sind, so daß die
Schriftstellen, die für die Einfältigen und noch auf der Stelle Verharrenden sozusagen am
Boden liegen scheinen, für diejenigen, die sich in die Höhe gerichtet haben, auch erhaben
wirken. Denn der Text fährt fort: „Wo auch immer der Geist hinging – ging der Geist dorthin,
so erhoben sich auch die Räder und folgten ihm. Denn der Geist des Lebens war in den
Rädern“ (Ez 1,20). Du siehst, daß die Räder den Lebewesen folgen, und sie folgen dem Geist.
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An einer anderen Stelle heißt es: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2
Kor 3,6), denn es ist sicherlich vonnöten, daß der Leser der Heiligen Schrift fest in der
Wahrheit der geistigen Deutung begründet ist und daß ihn die Züge der Buchstaben, die
ebenfalls mitunter verkehrt gedeutet werden können, nicht auf irgendwelche Seitenwege
ablenken. Warum wurde jenes alte Volk, welches das Gesetz des Lebens empfangen hatte,
verworfen, wenn nicht aus dem Grund, daß es ausschließlich dem todbringenden Buchstaben
folgte und nicht den lebendig machenden Geist besaß? Ich sage dies aber nicht, um jedem
Beliebigen Gelegenheit zu geben, die Schrift nach eigenem Gutdünken auszulegen, sondern
um zu zeigen, daß wer allein dem Buchstaben folgt, nicht lange gehen kann, ohne in Irrtum
zu verfallen. Es ist daher notwendig, daß wir einerseits in gewisser Weise dem Buchstaben
folgen, damit wir nicht unsere Auffassung über die heiligen Autoren stellen, andererseits aber
auch ihm in gewisser Weise nicht folgen, damit wir nicht zu der Ansicht gelangen, das Urteil
(381) über die Wahrheit hänge gänzlich vom Buchstaben ab. Nicht der Schriftkundige,
„sondern der Geistige urteilt über alles“ (1 Kor 2,15).
Damit du also den Buchstaben verläßlich beurteilen kannst, solltest du nicht von deiner
eigenen Auffassung ausgehen, sondern dich erst unterrichten und kundig machen und
sozusagen ein gewisses Fundament unterschütterlicher Wahrheit legen, auf welches der
gesamte Aufbau sich stützt. Du solltest dich auch nicht dazu versteigen, dir alles selbst
beizubringen, damit du nicht etwa, während du meinst, dich in die Materie einzuführen, in
Wahrheit dich auf Abwege führst. Eine solche Einführung muß man bei gelehrten und
weisen Männern suchen, die in der Lage sind, dir die Materie sowohl durch die Autorität der
heiligen Väter als auch durch die Zeugnisse der Schriften, soweit es nötig ist, darzulegen und
zu eröffnen und, wenn du schon eine solche Einführung erhalten hast, die Einzelpunkte, die
sie dich gelehrt haben, durch Lesen der Schriftzeugnisse zu bekräftigen.
Dies ist meine Ansicht dazu. Wem immer es gefällt, mir darin zu folgen, den nehme ich
gerne auf. Wem jedoch all dies nicht in der geschilderten Weise nötig zu sein scheint, der
möge tun, was ihm gefällt; ich werde nicht mit ihm streiten. Denn ich weiß ja, daß viele
Leute der dargestellten Lernmethode nicht folgen. Ich weiß aber auch sehr wohl, wie die
Fortschritte aussehen, die gewisse dieser Leute machen.
Wenn du nun fragst, welche Bücher für dieses Studium am geeignetsten sind so sind dies
meines Erachtens: der Anfang der Genesis über das Werk der sechs Tage, die drei letzten
Bücher Mose über die Heilszeichen des Gesetzes, Jesaja, den Anfang und das Ende von
Ezechiel, Ijob, die Psalmen, das Hohelied, zwei Evangelien insbesondere, nämlich Matthäus
und Johannes, die Briefe des Paulus, die kanonischen Briefe und die Apokalypse; ganz
besonders aber die Briefe des Paulus, die schon durch ihre Anzahl (383) zeigen, daß sie die
Vollkommenheit beider Testamente in sich enthalten.
Kapitel 5: Die Tropologie, das heißt die Moralität
Über die Tropologie werde ich an dieser Stelle nichts weiter sagen als das, was oben bereits
ausgeführt wurde – außer der Tatsache, daß für die Tropologie eher die Bedeutung der Dinge
als die er Wörter wichtig ist. Denn in der Bedeutung der Dinge existiert eine natürliche
Gerechtigkeit, in welcher auch die Norm unseres eigenen Verhaltens, also die positive
Gerechtigkeit, ihren Ursprung hat. Indem wir betrachten, was Gott getan hat, erkennen wir,
was wir selbst tun sollen. Die gesamte Natur spricht von Gott, sie lehrt den Menschen und
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bringt in allen ihren Erscheinungen die ursprüngliche Idee hervor, und nichts im ganzen
Universum ist unfruchtbar.
Kapitel 6: Die Reihenfolge der Bücher
Das geschichtliche und das allegorische Studium erfordern jeweils eine eigene
Reihenfolge der zu lesenden Bücher. Denn die Geschichte folgt dem Ablauf der Zeit; für die
Allegorie ist eher die Ordnung des Wissens von Bedeutung, denn die Belehrung sollte ja, wie
oben schon gesagt, ihren Anfang nicht vom Unklaren, sondern vom Offenkundigen und besser
Bekannten nehmen. Daraus folgt, daß das Neue Testament, in welchem die Wahrheit ganz
offen verkündigt wird, bei diesem Studium vor dem Alten Testament behandelt wird, denn in
diesem kommt ja dieselbe Wahrheit auf eher verborgene, in Sinnbildern verhüllte Weise zum
Ausdruck. Es ist dieselbe Wahrheit in beiden Texten, doch ist sie dort so verborgen, hier aber
offen, dort wird sie verheißen, hier wird sie offenbart. Du hast gehört, daß in der Apokalypse
(385) zu lesen ist, daß das Buch versiegelt war und niemand gefunden werden konnte, um die
Siegel zu lösen, außer dem „Löwen aus dem Stamme Juda“ (Offb 5,5). Das Gesetz war
versiegelt, versiegelt waren die Prophezeiungen, denn die Zeiten der kommenden Erlösung
wurden nur in verborgener Weise angekündigt. Oder scheint dir das Buch nicht versiegelt
gewesen zu sein, in dem es hieß: „Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn
gebären und du wirst ihm den Namen Immanuel geben“ (Jes 7,14)? Und das andere, wo es
heißt: „Du, Betlehem-Efrata, bist zwar klein unter den Tausenden Judas: Doch aus dir soll
mir der hervorgehen, der Herrscher in Israel sei wird. Sein Ursprung liegt am Anbeginn, in
den Tagen der Ewigkeit“ (Mi 5,1: Vg. Mi 5,2)? Und der Psalmist: „Wird Zion nicht sagen:
Dieser und jener Mensch ist in ihr geboren, und der Höchste selbst hat sie gegründet“? (Ps
87,5: Vg. Ps 86,5). Und wiederum heißt es: „Des Herrn, ja des Herrn sind die Auswege von
dem Tode“ (Ps 68,21: Vg. 67,21). Und weiter: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setz du dich
zu meiner Rechten“ (Ps 110,1: Vg. Ps 109,1). Und etwas später im gleichen Psalm: „Bei dir ist
die Herrschaft am Tage deiner Kraft; im Glanz der Heiligen, vor dem Morgenstern habe ich
dich aus dem Schoße gezeugt“ (Ps 110,3: Vg. Ps 109,3). Und Daniel sagt: „Ich schaute in
nächtlicher Vision, und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie ein
Menschensohn, und er kam bis zu dem Altbetagten, und er gab ihm Macht und Ehre und die
Herrschaft, und alle Völker, Stämme und Sprachen werden ihm dienen; seine Macht ist
unvergängliche Macht, die ihm niemals genommen werden wird“ (Dan 7,13 f).
Wer, glaubst du, konnte dies verstehen, bevor es erfüllt wurde? Versiegelt war dies, und
niemand konnte die Siegel lösen außer dem „Löwen aus dem Stamme Juda“. Es kam also der
Sohn Gottes und nahm unsere Natur an, wurde geboren von der Jungfrau, wurde gekreuzigt,
begraben, erstand wieder auf, fuhr auf zum Himmel, und indem er (387) erfüllte, was
verheißen worden war, machte er offenkundig, was verborgen gelegen hatte. Ich lese im
Evangelium, daß der Engel Gabriel zu Maria, der Jungfrau gesandt wurde und ihr
ankündigte, daß sie gebären würde (vgl. Lk 1,26-38): Da erinnere ich mich der Prophezeiung,
die lautet: „Siehe, eine Jungfrau wird empfangen“ (Jes 7,14). Ich lese, daß, als Josef mit seiner
schwangeren Frau Maria in Betlehem war, die Zeit herankam, da sie gebären sollte, und sie
gebar ihren erstgeborenen Sohn (vgl. Lk 2,6 f), von dem der Engel prophezeit hatte, er werde
auf dem Throne Davids, seines Vaters, herrschen (vgl. Lk 1,32): Da erinnere ich mich der
Prophezeiung, die lautet: „Betlehem-Efrata, du bist klein unter den Tausenden Judas: Doch
aus dir soll mir der hervorgehen, der Herrscher in Israel sei wird.“ (Mi 5,1: Vg. Mi 5,2). Und
weiter lese ich: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“
(Joh 1,1): Da erinnere ich mich der Prophezeiung, die lautet: „Sein Ursprung liegt am
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Anbeginn, in den Tagen der Ewigkeit“ (Mi 5,1: Vg. Mi 5,2). Ich lese: „Das Wort ist
Fleischgeworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,14): Da erinnere ich mich der
Prophezeiung, die lautet: „Du wirst ihm den Namen Immanuel geben“ (Jes 7,14), das heißt
Gott mit uns. Um dich nicht zu ermüden, will ich hier nicht jeden Punkt einzeln verfolgen:
Wenn du nicht die Geburt Christi, seine Verkündigung, sein Leiden, seine Auferstehung und
Himmelfahrt und alles, was er im Fleisch und durch das Fleisch getan hat, wenn du all das
nicht im voraus kennst, so wirst du die Geheimnisse der alten Sinnbilder nicht ergründen
können.
Kapitel 7: Die Reihenfolge der Erzählung
Bezüglich der Reihenfolge der Erzählung ist an dieser Stelle vor allem zu beachten, daß
der Text der Heiligen Schrift weder der natürlichen noch der kontinuierlichen Reihenfolge
durchgängig folgt. Es werden nämlich oft die späteren (389) Ereignisse vor den vorherigen
aufgeführt, wie etwa wenn nach der Auflistung einiger Punkte die Rede plötzlich wieder auf
das Vorangegangene zurückkommt, so als würde von nacheinander Folgendem gesprochen; oft
werden aber auch Geschehnisse, die durch einen langen Zeitraum getrennt sind, miteinander
verbunden, so als würde eins dem anderen unmittelbar folgen, so daß der Anschein entsteht,
Ereignisse die in der Erzählung nicht durch einen Zwischenraum geschieden sind, seien auch
durch keine zeitliche Distanz voneinander getrennt.
Kapitel 8: Die Reihenfolge der Auslegung
Die Auslegung besteht aus drei Elementen: Wortlaut, Sinn und tiefere Bedeutung. Der
Wortlaut kommt in jeder Erzählung vor, denn die Wörter selbst sind ja der Wortlaut; Sinn
und tiefere Bedeutung jedoch finden sich nicht in jeder Erzählung. Manche enthalten nur
Wortlaut und Sinn, manche nur Wortlaut und tiefere Bedeutung, manche enthalten alle drei
Elemente. Jede Erzählung sollte aber wenigstens zwei Elemente enthalten. Die Erzählung, in
der etwas durch die reine Darstellung so eindeutig bezeichnet wird, daß nichts anderes
darunter verstanden werden kann, enthält nur Wortlaut und Sinn. Jene Erzählung aber, bei
der der Hörer aus dem bloßen Vortrag heraus nichts verstehen kann, wenn keine Auslegung
hinzugefügt wird, enthält nur Wortlaut und tiefere Bedeutung. Und diejenige Erzählung
enthält Sinn und tiefere Bedeutung, in welcher einerseits etwas eindeutig bezeichnet wird,
andererseits aber auch etwas bleibt, unter dem noch etwas anderes zu verstehen ist, was dann
durch die Auslegung deutlich gemacht wird. (391)
Kapitel 9: Der Wortlaut
Der Wortlaut ist bisweilen vollkommen, wenn nämlich zur Bezeichnung des Gesagten
nichts weiter hinzugefügt oder weggenommen werden muß als das, was ausdrücklich dargelegt
worden ist, wie wenn es heißt: „Alle Weisheit ist von Gott dem Herrn“ (Sir 1,1). Bisweilen ist
der Wortlaut verkürzt, wenn etwas weggelassen wurde, was zu ergänzen ist, wie bei: „Der
Älteste an die auserwählte Herrin“ (2 Joh 1,1). Bisweilen enthält er Überflüssiges, wenn
entweder um der Einprägsamkeit willen oder wegen eines langen Einschubs dasselbe
wiederholt oder etwas anderes, Unnötiges hinzugefügt wird, wie etwa wenn Paulus am Ende
des Briefes an die Römer sagt: „Ihm aber“, und dann, nach allerlei dazwischengefügten
Worten, hinzufügt: „… ihm sei Ehre und Preis“ (vgl. Röm 16,25-27). Hier scheint eins von
beiden überflüssig zu sein. Ich sage „überflüssig“, das meint: nicht notwendig für die Aussage.
Mitunter ist der Wortlaut so, daß er, sofern er nicht in eine andere Form gebracht wird,
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Unpassendes oder gar nichts zu bezeichnen scheint, wie zum Beispiel im folgenden: „Der Herr
…, im Himmel sein Thron“ (Ps 114: Vg. Ps 10,4 G), das heißt „der Thron des Herrn im
Himmel“, und: „Die Söhne der Menschen, ihr Zähne sind Waffen und Pfeile“ (Ps 57,5: Vg. Ps
56,5 G), das heißt „die Zähne der Söhne der Menschen“, und: „Der Mensch, wie Gras seine
Tage“ (Ps 103,15: Vg. Ps 102,15 G), das heißt „die Tage des Menschen“. Hier sind der
Nominativ des Substantivs und der Genitiv des Pronomens anstelle des Genitivs des
Substantivs gesetzt, und es gibt viele ähnliche Beispiele. Für den Wortlaut sind Satzbau und
Zusammenhang von Belang.
Kapitel 10: Der Sinn
Mancher Sinn ist passend, mancher unpassend. Der unpassende ist manchmal
unglaubhaft, manchmal unmöglich, manchmal absurd, manchmal falsch. Von dieser Art
findest (393) du viele Stellen in den Schriften, wie das folgende: „Sie haben Jakob aufgefressen“
(Ps 79,7: Vg. Ps 78,7); und dies: „Unter ihn beugen sich, die den Erdkreis tragen“ (Vg. Ijob
9,13); und dies: „Meine Seele hat das Erhängen gewählt“ (Ijob 7,15), und viele andere.
Es gibt einige Stellen in der Heiligen Schrift, wo sich obwohl die Bedeutung der Wörter
eindeutig ist, dennoch kein Sinn zu ergeben scheint, entweder wegen einer ungewöhnlichen
Redeweise oder wegen irgendeines besonderen Umstands, der das Verständnis des Lesers
behindert. So ist es zum Beispiel in dem, was Jesaja sagt: „In jener Zeit werden sieben Frauen
einen einzigen Mann ergreifen und sagen: Wir werden unser eigenes Brot essen und uns mit
unseren eigenen Kleidern bedecken, nur laß uns nach deinem Namen heißen, nimm unsere
Schande hinweg“ (Jes 4,1). Die Wörter sind klar und eindeutig. Du verstehst durchaus:
„Sieben Frauen werden einen einzigen Mann ergreifen.“ Du verstehst: „Wir werden unser
eigenes Brot essen.“ Du verstehst: „Wir werden uns mit unseren eigenen Kleidern bedecken.“
Du verstehst: „Nur laß uns nach deinem Namen heißen.“ Du verstehst: „Nimm unsere Schande
hinweg.“ Was dies alles zusammen jedoch heißen soll, kannst du womöglich nicht verstehen.
Du weißt nicht, was der Prophet sagen wollte, ob er Gutes verheißen oder Böses angedroht
hat. So kommt es, daß du der Meinung bist, die Stelle sei nur im geistigen Sinn zu verstehen,
eben weil du nicht siehst, was der Wortlaut besagen könnte. So sagst du also, die sieben
Frauen seien die sieben Gaben des Heiligen Geistes, welche einen einzigen Mann ergreifen,
nämlich Christus, in welchem die ganze Fülle der Gnade wohnte, weil er allein den Heiligen
Geist ohne jedes Maß empfangen hat, er, der allein ihre Schande wegnimmt, so daß sie
jemanden fänden, bei dem sie ruhen könnten, weil kein anderer lebte, als sie um die Gaben
des Heiligen Geistes baten. (395)
Siehst du, nun hast du eine geistige Deutung gegeben, und was die Stelle im Wortlaut
sagt, hast du gar nicht verstanden. Doch könnte der Prophet mit diesen Worten durchaus
auch im buchstäblichen Sinne etwas gemeint haben. Denn da er ja vorher über die
Vernichtung des ungehorsamen Volkes gesprochen hatte, so fügt er nun hinzu, daß das
Unglück dieses Volkes so furchtbar sein werde und das Geschlecht der Männer so ausgetilgt
würde, daß kaum sieben Frauen einen Mann finden könnten, obwohl doch üblicherweise eine
Frau einen Mann zu haben pflegt. Und während heute normalerweise die Frauen von den
Männern gesucht werden, so würden dann im Gegenteil die Frauen die Männer suchen. Und
damit nicht der eine Mann davor zurückschrecke, sieben Frauen gleichzeitig zu heiraten, da
er nicht die Mittel hätte, diese zu ernähren und zu bekleiden, sagen diese zu ihm: „Wir werden
unser eigenes Brot essen und uns mit unseren eigenen Kleidern bedecken.“ Du brauchst dich
nicht um uns zu kümmern, „nur laß uns nach deinem Namen heißen“, so daß du unser Mann
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heißt und bist, damit wir nicht „Verschmähte“ und „Unfruchtbare“ genannt werden und ohne
Nachkommen sterben, denn dies war zu jener Zeit eine große Schande. Und das ist der Grund,
weshalb sie sagen: „Nimm unsere Schande hinweg.“
Von dieser Art findest du vieles in den Schriften, und ganz besonders im Alten Testament,
Formulierungen gemäß den Besonderheiten jener Sprache, welche in dieser Sprache ganz
eindeutig sind, für uns aber nichts zu bedeuten scheinen.
Kapitel 11: Die tiefere Bedeutung
Die göttliche tiefere Bedeutung kann niemals absurd, niemals falsch sein. Selbst wenn
sich im Sinn, wie gesagt, vieles Widersprüchliche findet, so erlaubt doch die tiefere
Bedeutung keinen Gegensatz, ist immer stimmig, immer wahr. Manchmal gibt es eine einzige
tiefere Bedeutung für einen (397) einzigen Ausdruck, dann gibt es mehrere tiefere Bedeutungen
für einen einzigen Ausdruck, dann wieder gibt es für mehrere Ausdrücke eine einzige tiefere
Bedeutung, und manchmal gibt es für mehrere Ausdrücke mehrere tiefere Bedeutungen.
„Wenn wir also die heiligen Bücher lesen, müssen wir aus der gewaltigen Menge von wahren
Deutungen, die aus wenigen Wörtern erschlossen und durch die Rechtmäßigkeit des
katholischen Glaubens bestätigt werden, uns vor allem diejenige Deutung heraussuchen, die
der Autor, den wir lesen, allem Anschein nach gemeint hat. Wenn dies aber nicht eindeutig
ist, sollten wir auf jeden Fall das wählen, was den besonderen Umständen der jeweiligen
Schrift nicht widerspricht und was mit dem rechten Glauben übereinstimmt. Wenn aber auch
die besonderen Umstände der Schrift nicht erforscht und überprüft werden können, sollten
wir wenigstens das wählen, was der rechte Glaube vorschreibt. Denn es ist eine Sache, wenn
man nicht erkennt, was der Autor in erster Linie gemeint hat, eine andere aber, wenn man
von der Richtschnur der Frömmigkeit abweicht. Wenn dies beides vermieden wird, dann ist
die Frucht des Lesers vollkommen. Wenn aber beides nicht vermieden werden kann, dann ist
es, wenn auch die Intention des Autors ungewiß bleiben muß, dennoch nicht ohne Nutzen, zu
einer Deutung gefunden zu haben, die mit dem rechten Glauben übereinstimmt.“ „Ebenso
verhält es sich mit schwer verständlichen und unserem Blick weit entrückten Dingen: Wenn
wir Schriften, auch heilige, lesen, die, ohne dem Glauben zu widersprechen, verschiedene
Deutungen zulassen, sollten wir uns nicht in voreiliger Festlegung auf eine der möglichen
Deutungen stürzen, um nicht im Falle, daß die Wahrheit durch sorgfältigere Erörterung
festgestellt wird und jener Deutung die Grundlage entzieht, selber zusammenzubrechen, denn
wir hätten dann nicht für die Deutung der heiligen Schriften, sondern für unsere eigene
gekämpft, und dies so, daß wir unsere (399) Deutung als die der heiligen Schriften sehen
wollten, während wir doch eher die Deutung der heiligen Schriften als die unsrige
übernehmen sollten.“
Kapitel 12: Die Methode beim Lesen
Die Methode beim Lesen besteht in der Aufgliederung. Das Aufgliedern geschieht durch
Aufteilung und durch Untersuchung. Wir gliedern durch Aufteilen, wenn wir das, was
verworren ist, voneinander unterscheiden. Wir gliedern durch Untersuchen, wenn wir das,
was verborgen ist, zugänglich machen.
Kapitel 13: Die Meditation wird hier nicht behandelt
Nun ist das, was sich auf das Lesen bezieht, in aller uns möglicher Klarheit und Kürze
dargelegt worden. Was den verbleibenden Teil der Unterweisung angeht, die Meditation, so
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will ich an dieser Stelle nicht davon sprechen, denn ein solches Thema erfordert eine eigene
Abhandlung, und es ist angemessener, über einen solchen Gegenstand ganz zu schweigen, als
etwas Unvollständiges darüber zu sagen. Denn es handelt sich dabei um eine außerordentlich
komplexe und zugleich angenehme Sache, welche sowohl die Anfänger bildet als auch die
Fortgeschrittenen übt. Dieses Thema hat bisher noch keine schriftliche Darstellung erfahren,
gerade deshalb verdient es um so größere Aufmerksamkeit.
Bitten wir also nun die Weisheit, daß sie in unsere Herzen scheinen und uns auf ihren
Wegen erleuchten möge und daß sie uns führe „zu dem reinen und fleischlosen Fest“. (401)
APPENDICES
Die folgenden drei Kapitel stammen mit einiger Wahrscheinlichkeit von Hugo selbst und waren vermutlich
als Zusätze oder Nachträge gedacht, die in eine eventuell neu zu erstellende Fassung des Didascalicon wohl noch
sorgfältiger eingearbeitet worden wären. Zuletzt ist allerdings auch die Vermutung geäußert worden, die ersten
beiden dieser Nachtragstexte seien erst nach Hugos Tod von Richard oder einem anderen seiner Schüler dem
Didascalicon hinzugefügt worden. Jedenfalls wurden sie schon um 1150 vielfach als authentische Bestandteile
des Werkes betrachtet. In der Edition Buttimers sind Appendix A und B als Kapitel 14 und 15 des sechsten
Buches geführt, doch da das 13. Kapitel ganz offensichtlich das Ende des gesamten Werkes bilden sollte, folgt
man heute allgemein dem Vorschlag Taylors und reiht beide Kapitel unter die Zusätze ein. Der dritte Zusatz,
Appendix C, gilt auch bei Buttimer als Nachtrag und gehört in eine andere Handschriftenklasse. Der Text
scheint obwohl er in den Handschriften als ein zusätzliches Vorwort am Anfang des Werkes steht, doch eher
eine Erläuterung zum sechsten Kapitel des ersten Buches zu sein.
Appendix A: Einteilung des Inhalts der Philosophie
Drei Dinge sind zu beachten: die Weisheit, die Tugend und die Notwendigkeit. Die
Weisheit besteht darin, die Dinge so zu erkennen, wie sie sind. „Tugend ist eine
Beschaffenheit des Geistes, die sich so in Übereinstimmung mit der Vernunft befindet, als sei
diese ihr eigenes Wesen.“ Notwendigkeit ist etwas, ohne das wir nicht leben können, ohne das
wir aber glücklicher leben würden. Diese drei sind die Heilmittel gegen die drei Übel, denen
das menschliche Leben unterworfen ist: die Weisheit gegen die Unwissenheit, die Tugend
gegen das Laster, die Notwendigkeit gegen die Schwäche. Um die drei Übel zu tilgen, hat man
die drei Heilmittel ausfindig gemacht, und um diese drei Heilmittel zu erfinden, sind alle
Künste und Wissenschaften erfunden worden. (403)
Um der Weisheit willen hat man die Theorik erfunden, um der Tugend willen hat man
die Praktik erfunden, und um der Notwendigkeit willen hat man die Mechanik erfunden.
Diese drei waren zuerst im Gebrauch, später aber wurde um der Beredsamkeit willen die
Logik erfunden. Obwohl sie als letzte erfunden wurde, sollte die Logik in der Unterweisung
dennoch als erste behandelt werden. Vier Hauptwissenschaften gibt es also, von denen alle
anderen sich ableiten: die Theorik, die Praktik, die Mechanik und die Logik.
Die Theorik wird eingeteilt in Theologie, Physik und Mathematik. Die Theologie handelt
über die unsichtbaren Substanzen, die Physik über die unsichtbaren Gründe der sichtbaren
Dinge, die Mathematik über die sichtbaren Formen der sichtbaren Dinge. Und diese
Mathematik wird in vier Einzelwissenschaften eingeteilt. Die erste ist die Arithmetik, die
über die Zahl handelt, das heißt über die getrennte Quantität an sich. Die zweite ist die
Musik, die über die Proportion handelt, das heißt über die getrennte Quantität im Verhältnis
zu etwas anderem. Die dritte ist die Geometrie, die über den Raum handelt, das heißt, über
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die unbewegliche, zusammenhängende Quantität. Die vierte ist die Astronomie, die über die
Bewegung handelt, das heißt über die bewegliche zusammenhängende Quantität. Das
Grundelement der Arithmetik ist die Ein-Zahl; das Grundelement der Musik ist der Ein-
Klang; das Grundelement der Geometrie ist der Punkt; das Grundelement der Astronomie ist
der Augenblick.
Die Praktik wird eingeteilt in die persönliche, die private und die die öffentliche. Die
persönliche Praktik lehrt, wie jeder sein eigenes Leben auf ehrenhaftes Verhalten gründen
und es durch Tugenden zieren soll. Die private Praktik lehrt, auf welche Weise die
Hausgenossen und diejenigen, denen man durch Bande des Fleisches verbunden ist,
anzuleiten sind. Die öffentliche Praktik lehrt, wie die gesamte Bevölkerung und wie ein Volk
von seinen Herrschern regiert werden sollte. Die persönliche Praktik nimmt Bezug auf den
einzelnen, die private auf die Familienoberhäupter, die öffentliche auf die Staatslenker.
Die Mechanik handelt über die handwerklichen Tätigkeiten der Menschen und wird in
sieben Bereiche eingeteilt. Der erste ist die Tuchherstellung, der zweite die
Waffenschmiedekunst, der dritte die Handelsschiffahrt, der vierte die Landwirtschaft, (405)
der fünfte die Jagd, der sechste die Medizin, der siebte die Theaterkunst.
Die Logik wird eingeteilt in Grammatik und Argumentationslehre. Die
Argumentationslehre wird eingeteilt in Überzeugung, Beweisführung und Überredung. Die
Überzeugung gliedert sich in Dialektik und Rhetorik. Die Beweisführung obliegt den
Philosophen, die Überredung den Sophisten.
Hinsichtlich dieser vier Teile der Philosophie sollte bei der Unterweisung eine solche
Reihenfolge eingehalten werden, daß zuerst die Logik, dann die Ethik, als drittes die Theorik
und als viertes die Mechanik an die Reihe kommt. Denn die Beredsamkeit sollte man als
erstes erwerben. Danach muß, wie Sokrates in der Theorik sagt, das Auge des Herzens durch
das Studium der Tugend gereinigt werden, damit er später in der Theorik, scharfsichtig bei
der Erforschung der Wahrheit sein kann. Als letztes folgt dann die Mechanik, welche für sich
allein völlig wirkungslos ist, wenn sie nicht durch den Geist der vorhergehenden
Wissenschaften unterstützt wird.
Appendix B: Die Magie und ihre Teile
Der ertse Erfinder der Magie soll Zoroaster gewesen sein, der König der Baktrier, von
dem manche sagen, er sei niemand anders als Ham, der Sohn des Noach, gewesen, nur unter
verändertem Namen. Er wurde später von Ninus, dem König der Assyrer, getötet, dem er im
Krieg unterlegen war. Auch seine Bücher, die voll von Zauberkünsten waren, ließ Ninus
verbrennen. Aristoteles schreibt über diesen Mann, daß seine Bücher bis zu zwei Millionen
zweihunderttausend von ihm selbst verfaßte Verse über die Kunst der Magie der Erinnerung
der Nachwelt überliefert hätten. Später dann erweiterte Demokrit diese Kunst, zu der Zeit, als
Hippokrates auf dem Gebiet der Medizin in großem Ansehen stand.
Die Magie wird nicht als Teil der Philosophie anerkannt, sondern steht außerhalb dieser.
Betrügerisch in ihren Äußerungen, ist sie die Lehrerin jedweder Schlechtigkeit und Bosheit,
über das Wahre verbreitet sie Lügenreden und fügt dem Geist wirklich Schaden zu, sie
bringen ihn von der wahren Religion ab, (407) überredet ihn zur Dämonenverehrung, drängt
zur Korruption der Sitten, und ihre Gefolgsleute treibt sie zu jeder Art von Verbrechen und
Untat. Nach allgemeiner Auffassung umfaßt sie fünf Arten von Zauberei: die Mantik, was
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Wahrsagerei bedeutet, die falsche Mathematik, die Weissagung, die eigentliche Zauberei
sowie Blendwerk. Die Mantik enthält aber noch fünf Unterarten. Deren erste ist die
Nekromantik, was Wahrsagerei mit Hilfe von Toten bedeutet, denn das griechische Wort
nekros bedeutet auf lateinisch mortuus („tot“), daher der Name Nekromantik: eine
Wahrsagerei, die durch Opferung von menschlichem Blut vollzogen wird, Blut, nach dem die
Dämonen dürsten und an dessen Vergießen sie sich freuen. Die zweite ist die Geomantik, das
heißt Wahrsagerei mit Hilfe von Erde. Die dritte ist die Hydromantik, das heißt
Wahrsagerei mit Hilfe von Wasser. Die vierte ist die Aeromantik, das heißt Wahrsagerei mit
Hilfe von Luft, die fünfte ist die Wahrsagerei mit Hilfe von Feuer, die „Pyromantik“ genannt
wird. Denn Varro hat erklärt, die Wahrsagerei beruhe auf vier Elementen: auf Erde, Wasser,
Feuer und Luft. Die erste Unterart die Nekromantik, scheint demnach zur Hölle Bezug zu
haben, die zweite zur Erde, die dritte zum Wasser, die vierte zur Luft die fünfte zum Feuer.
Die Mathematik wird in drei Arten eingeteilt: in die Kunst der Opferschau, in die der
Auguren und in die des Horoskops. Die Opferschauer (aruspices) werden so genannt, weil sie
gleichsam horuspices, also Stundenbeschauer (horum inspectores), sind, welche die Zeiten
beobachten, in denen Dinge getan werden sollten, oder sie werden aruspices genannt, weil sie
gleichsam Betrachter der Altäre (aras inspicientes) sind und aus den Eingeweiden und
Innereien der Opfertiere die Zukunft ersehen. Die Auguren- oder Auspizienkunst hat
einerseits Bezug auf das Auge und wird auspicium genannt, weil sie gleichsam eine
Vogelschau (avispicium) ist, richtet sie doch ihre Aufmerksamkeit auf die Bewegung und den
Flug der Vögel. Andererseits hat sie auch Bezug auf die Ohren und wird daher augurium
genannt, wegen des Geschreis der Vögel (garritus avium), das mit dem Ohr wahrgenommen
wird. Die Kunst des Horoskops, die auch „Sternenkonstellation“ (constellatio) genannt wird,
besteht darin, aus den Sternen die Schicksale der Menschen zu erforschen, wie es die
Horoskopsteller tun, die (409) Geburtszeitpunkte beobachten; diese waren es, die früher als
„Magier“ im engeren Sinne bezeichnet wurden; von solchen lesen wir ja auch im Evangelium.
Weissager sind solche, welche durch Loseziehen die Zukunft voraussagen. Zauberer sind
solche, die durch dämonische Beschwörungen oder Amulette oder irgendwelche anderen
abscheulichen Arten von Hilfsmittel auf Anstiftung und unter Mitwirkung von Dämonen
schändliche Dinge vollbringen. Blendwerk ist es, wenn die menschlichen Sinne in
dämonischer Kunst durch phantastische Illusionen über Verwandlungen von Dingen
getäuscht werden.
Insgesamt sind es also elf magische Künste: zur Mantik gehören fünf, nämlich
Nekromantik, Geomantik, Hydromantik, Aeromantik und Pyromantik; zur Mathematik
zählen drei, nämlich Opferschau, Auspizienkunst und Horoskop; und dann noch die drei
anderen, nämlich Weissagen, Zauberei und Blendwerk.
Das Blendwerk soll Merkur zuerst erfunden haben. Die Augurenkunst hat Phrygius
erfunden. Die Opferschau hat Tages als erster den Etruskern überliefert. Die Hydromantik ist
zuerst von den Persern gekommen.
Appendix C: Die drei Seinsweisen von Dingen
Auf drei verschiedene Arten können Dinge existieren: in der Wirklichkeit, im Intellekt
und im göttlichen Geist; das heißt: in der göttlichen Idee, in der menschlichen Idee und in
sich selbst. In sich selbst schwinden die Dinge dahin, ohne Bestand zu haben; im
menschlichen Intellekt haben sie zwar Bestand, sind aber nicht unveränderlich; im göttlichen
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Geist bestehen sie ohne jede Veränderung fort. Und so ist das, was in der Wirklichkeit
existiert, ein Abbild dessen, was im menschlichen Geist existiert, und was im menschlichen
Geist existiert, ist ein Abbild dessen, was im göttlichen Geist existiert. Die vernunftbegabte
Kreatur wurde in Entsprechung zum göttlichen Geist geschaffen, und die sichtbare Kreatur
wurde in Entsprechung zur vernunftbegabten Kreatur geschaffen. Die gesamte Bewegung und
Orientierung der vernunftbegabten Kreatur sollte deshalb auf den göttlichen Geist hin
gerichtet (411) sein, ebenso wie die gesamte Bewegung und Orientierung der sichtbaren Kreatur
auf die vernunftbegabte Kreatur hin gerichtet ist.
Ebenso wie der Mensch von einer Vorstellung, die er in seinem Geist entwickelt hat, ein
äußerlich wahrnehmbares Modell zeichnet, um auch anderen zugänglich zu machen, was
vorher nur ihm allein bekannt war, und ebenso wie er später dann, um es noch deutlicher zu
machen, in Worten erklärt, inwiefern das gezeichnete Modell mit der eigentlichen Idee
übereinstimmt, in eben dieser Weise zeichnete auch Gott, da er seine unsichtbare Weisheit zur
Darstellung bringen wollte, ein Modell dieser Weisheit in den Geist der vernunftbegabten
Kreatur und zeigte ihr dann, indem er die leibliche Kreatur schuf, ein äußerliches Modell
dessen, was sie selbst in ihrem Inneren enthielt. Die vernunftbegabte Kreatur wurde also an
erster Stelle, ohne irgendeine vermittelnde Instanz in Ähnlichkeit mit der göttlichen Idee
geschaffen. Die körperliche Kreatur dagegen wurde durch Vermittlung der vernunftbegabten
Kreatur in Ähnlichkeit mit der göttlichen Idee geschaffen.
Deshalb heißt es auch im Buch Genesis von den Engeln, die hier „Licht“ genannt werden:
„Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht“ (Gen 1,3). Bei allen anderen Werken
Gottes heißt es jedoch: „Gott sprach: Es werde. Und so geschah es.“ Und dann wird
hinzugefügt: „Und Gott machte“ (vgl. Gen 1,6 f oder 1,14-16). Denn das Wesen der Engel
existierte zuerst in der göttlichen Idee, als ein Plan, und später erst, durch die Schöpfung,
begann es, in sich selbst zu existieren. Die anderen Kreaturen aber existierten zuerst in der
Idee Gottes, dann wurden sie im Wissen der Engel geschaffen, und schließlich begannen sie,
in sich selbst zu existieren. Denn wenn es heißt: „Gott sprach: Es werde“, so bezieht sich dies
auf den göttlichen Geist; wenn es weiter heißt: „Und so geschah es“, bezieht sich dies auf den
Intellekt der Engel; und die Worte „Und Gott machte“ schließlich beziehen sich auf die
Wirklichkeit der Dinge.