Einführung in die Wissenschaftsphilosophie · Mouffe, Rawls, und der Kalte Krieg § Der Traum von...

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Einführung in die Wissenschaftsphilosophie

Prof. Dr. Martin Kusch

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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1971 1993

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Rawls I: Idealisierte Entscheidungsmethoden

§ “Original Position” / “Veil of Ignorance”:

“… no one knows his place in society, his class position or social status, nor does anyone know his fortune in the distribution of natural assets and abilities …

… I shall even assume that the parties do not know their concep-tions of the good or their special psychological propensities. The principles of justice are chosen behind a veil of ignorance.”

§ Die Parteien verwenden “Maximin” and optieren für “Justice as Fairness” …

6

Rawls I : Justice as Fairness

“ … each person is to have an equal right to the most extensive basic liberty compatible with a similar liberty for others.” (p60)

“Social and economic inequalities are to be arranged so that

(a) they are to be of the greatest benefit of the least-advantaged members of society, consistent with the just savings principle;

(b) offices and positions must be open to everyone under condi-tions of fair equality of opportunity.”

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Rawls II: Politischer Liberalismus

§ Der “fact of pluralism”: eine Pluralität von “conceptions of the good”

§ “A political conception of justice”: eine Konzeption frei von Bin-dungen an “general and comprehensive doctrines” (ibid., p426)

§ Intuitionen: “… the political culture of a reasonably stable demo-cratic society normally contains, at least implicitly, certain funda-mental intuitive ideas from which it is possible to work up a poli-tical conception of justice suitable for a constitutional regime.”

8

Rawls II: “Overlapping Consensus”

§ Eine politische Konzeption kann gestützt sein durch einen “over-lapping consensus” unter den “reasonable”.

§ “Reasonable persons … desire … a social world in which they, asfree and equal, can cooperate with others on terms all can accept. They insist that reciprocity should hold …”

§ “Reasonable people” wählen “justice as fairness”.

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Geuss: Gegen Rawls

(1) Es ist nicht klar, dass Rawls Recht hat, wenner Gerechtigkeit eine derart zentrale Positionin der politischen Philosophie einräumt; unse-re Intuitionen sind hier unklar.

Was ist mit “welfare, efficiency, democraticchoice, transparency, dignity, international competitiveness, or freedom …”

2008

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Geuss: Gegen Rawls (Forts.)

(2) Zur “Original Position”: “How can ‘I’ … be said to choose, if I have been specifically deprived of knowledge of most of what gives me grounds or reasons for making a choice …?”

(3) Rawls’ Position ist ideologisch u.a. deshalb, weil er nie prüft, ob nicht seine Intuitionen ideologisch sind.

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Geuss: Gegen Rawls (Forts.)

(4) Der Mangel eines Vorschlags, wie das Ideal zu implementierenwäre, ist ideologisch und ein fatales Problem.

(5) “To the extent … to which Rawls draws attention away from thephenomenon of power … his work is ideological.”

Rawls versucht “to reconcile Americans to an idealised versionof their own social order …”

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Rawls, der Kalte Krieg, SW-en und Schumpeter

§ Rawls’ Maschinerie von Idealisierungen und Entscheidungsmetho-den verdankt sich den SW-en des Kalten Krieges.

§ Verwundert es da, dass Rawls nichts dazu sagt, wie sich sein Idealin realen politischen Verhältnissen approximieren lässt?

§ Seine Arbeit legt nahe, dass wir es policy experts überlassen soll-ten, die Konzeption der Gerechtigkeit zu wählen. Cf. Schumpeter.

§ Gibt es einen Link zwischen einer a-historischen, kontext-freien Idee von Entscheidung und der Ideologie des Kalten Kriegs?

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Mouffe: Kritik an Rawls II

2005

2000

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Mouffe: Kritik an Rawls II (Forts.)

§ Rawls übersieht “the dimension of the political”: “Relationsof power and antagonisms are erased and we are left withthe typical liberal illusion of a pluralism without antagonism.”

§ Rawls lässt aus: Macht, Gewalt, Antagonismus, Repression, Ideologie, Ausschließung, und “undecidability”.

§ Rawls‘ Pluralismus ist einseitig: er versucht “to relegate plu-ralism to the sphere of the private.”

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Mouffe: Kritik an Rawls II (Forts.)

§ Rawls’ “reasonable person” ist die Person, die mit seiner Version des Liberalismus konform geht.

§ Rawls’ hat Recht, die “anti-liberals” auszuschließen – aber für ihn ist dies eine Angelegenheit der Moral, vor der Politik. Falsch!

§ Nur wenn wir das Ausschließen als politische Handlung sehen, wird es eine Handlung, die man in Frage stellen kann.

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Mouffe: Kritik an Rawls II (Forts.)

§ Rawls will Kontext-unabhängige Argumente für die LD. Aber esgibt kein “vor” dem “Politischen”.

§ Es gibt nicht “a rational definite solution to the question of jus-tice in a democratic society”.

§ Und es kann keinen voll-rationalen Konsensus geben, “one thatwould not be based on any form of exclusion.”

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Mouffe, Rawls, und der Kalte Krieg

§ Der Traum von der “rational definite solution” in Fragen der Politik ist die Ideologie derjenigen, die Angst haben, die politischen Ent-scheidungen der “irrationalen vulgären” Wählerschaft zu überlassen.

§ Eben dies ist zentral in der Ideologie des Kalten Krieges und SW-en in ihrem Sinne.

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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§ Philip Kitcher (2001, 2011a, b): ideale Deliberation über Wissenschaftspolitik

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Kitcher: “Well-Ordered Social Science”

§ Ich lese dies als ein Programm, wie Wissenschaftspolitik für die SW-en– ihre Funktionen – aussehen soll.

§ “… science is well-ordered when its specification of the problems to be pursued would be endorsed by an ideal conversation, embodying all human points of view, under conditions of mutual engagement.”

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Kitcher: Well-Ordered Social Science (Forts.)

§ Epistemische Bedingungen: keine falschen Ü-en, korrekte Einschät-zungen der Handlungsfolgen und der Wünsche anderer.

§ Affektive Bedingungen: Den angenommenen Verlangen andererwird soviel Gewicht gegeben, wie den eigenen.

§ Im Falle von Spannungen zwischen Verlangen, streben alle Teilneh-merInnen die “best balance” zwischen “ethically permissible andfactually well-grounded desires present in the population” an.

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Kitcher: Well-Ordered Social Science (Forts.)

(Phase 1) RepräsentantInnen (=R) versch. Perspektiven treffen sich.

(Phase 2) Unterricht durch WissenschaftlerInnen: was ist möglich.

(Phase 3) Die R-en formulieren ihre Präferenzen, und modifizierensie in Antwort auf anderer R-en.

(Phase 4) ExpertInnen evaluieren die möglichen Ergebnisse der ge-wünschten Forschungsprojekte.

(Phase 5) Wenn sich nicht ohnehin alle einig sind, wird abgestimmt.

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Kitcher: Well-Ordered Social Science (Forts.)

§ Die fragliche Gesellschaft umfasst alle Menschen.

§ Wir wissen z.Z. nicht, welche Prozeduren das Ideal am besten approximieren.

§ Vielleicht “citizen juries” oder “deliberative polling”?

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Kitcher: Well-Ordered Social Science (Forts.)

§ Wir brauchen “an atlas of research possibilities” für 2.

§ Wir brauchen “an index of human needs” für 3. (“… tutoring to clear away common misapprehensions …”)

§ Wir brauchen “scientifically literate citizenry” … “happy consumers”der Bücher von Gould, Sagan or Dawkins.

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Gegen Kitcher

(1) Die zwei Listen

§ Hoffnung auf Konsensus bzgl. “atlas of scientific significance”oder “index of human needs” ist naiv im Lichte wiss. Kontro-versen und der Rolle von Werten in der Wissenschaft.

§ Diese sind nicht jenseits “the political”, sie sind seine Teile.

§ Es gibt also nicht die Möglichkeit auf diese Weise die Funk-tionen der SW-en konsensuell festzulegen.

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Gegen Kitcher (Forts.)

(2) Noch einmal der Kalte Krieg

§ Welche Listen hätten wohl die SW-er der Zeit präsentiert?

§ Kitcher hat nichts, wodurch er sie in Frage stellen könnte.

§ Kitcher teilt das Misstrauen der Kalten Krieger gegenüber den gewöhnlichen BürgerInnen: Sie müssen erst “happy consumers” von Dawkins werden, bevor sie mitreden dürfen.

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Gegen Kitcher (Forts.)

(3) Approximationen?

§ Kitcher betont, uns fehle das SW-sche Wissen um das Ideal zuapproximieren.

§ Problem der Kalibrierung. Es ist schwer zu sagen, was die ide-ale Deliberation für unsere LD ergeben würde.

§ Wie bei Rawls beruht alles auf Intuitionen. Ideologisch?

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Schlussfolgerung

§ Es gibt keine politisch neutrale, a-historische oder kontext-freie Antwort auf die Eingangsfrage.

§ Kitchers Philosophie der Wissenschaftspolitik ist festgelegt auf neu-trale und a-historische und Kontext-freie Antworten.

Aber diese Festlegung beruht auf “wishful thinking” bzgl. Konsen-sus in der Wissenschaft, Expertentum und ein unreflektives Sich-verlassen auf Intuitionen.

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Burawoy: “Organic Public Sociology”

§ Public sociology ≠ policy sociology

Ø die letztere hat einen Kunden, der die Agenda bestimmt;

Ø die erstere involviert Dialog, durch den die Agenden der Sozio-logIn und der Öffentlichkeit aufeinander abgestimmt werden.

33

Burawoy: Organic Public Sociology (Forts.)

§ Public sociology ≠ professional sociology

Ø die letztere entwickelt Methoden und begriffl. Rahmen;

Ø sie hat viele research programmes.

Ø Die beiden sollten sein: “like Siamese twins”.

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Burawoy: Organic Public Sociology (Forts.)

§ Public sociology ≠ critical sociology

Ø die letztere prüft die Grundlagen der professional sociology (vgl. Z.B. die feministische Kritik …)

Ø Er verlangt: “critically disposed public sociology”.

35

Burawoy: Organic Public Sociology (Forts.)

§ „Organic public sociology” tritt in einen Dialog ein mit verschie-denen „Öffentlichkeiten“ (publics).

§ Sie „works in close connection with a visible, thick, active, localand often counter-public”.

§ Sie kann auch „define human categories—[e.g] people with AIDS … if we do so with their collaboration we create publics.”

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Burawoy: Organic Public Sociology (Forts.)

§ “… no intrinsic normative valence”.

§ “In times of market tyranny and state despotism, sociology—and in particular its public face—defends the interests of humanity.”

§ “… promoting … participatory democracy.”

§ “knitting together a global civil society [on the basis of] alternative values …”

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Burawoy: Organic Public Sociology (Forts.)

§ “Public sociologies march to the tune of dialogic engagement rather than a correspondence theory of truth, norms of relevance rather than norms of science, accountable to publics rather than peers.”

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Turner, „Public Sociology and Democratic Theory” (2009)

§ Die klassische LD-Theorie besteht darauf, der Staat müsse neutralgegenüber versch. politischen Meinungen sein. Aber zugleich mussder Staat die Entdeckung und Lehre von Fakten unterstützen.

§ Die SW-en sind hier problematisch: offerieren sie bloß Meinungen,dann sollten sie nicht durch den Staat finanziert werden. Offerierensie aber Fakten, dann ersetzen sie potenziell den politischen Prozess.

39

Turner, „Public Sociology and Democratic Theory” (Forts.)

§ Das Problem kann auch in Rawls‘ Begriffen gefasst werden:

“What status do sociological claims have? Are these claims merelyanother contribution to the debate that makes up ‘public reason’?

Or are they properly understood as claims that serve to take issuesout of the realm of the public discussion and into the category offact or expertise proper?”

40

Turner, „Public Sociology and Democratic Theory” (Forts.)

§ Burawoy hat die Lösung:

“… a novel approach to the problem of neutrality. … there is ‘no in-trinsic normative valence’ to the idea of public sociology.”

§ Einzelne SoziologInnen verbinden sich mit Öffentlichkeiten ihrer Wahl. Soziologie als Disziplin „is neutral between the kinds of com-mitments that individual sociologists choose to make.”

41

Turner, “Public Sociology and Democratic Theory” (Forts.)

§ “… the task of providing the self-understanding … no longer for so-ciety as whole, but for a society made up of different standpoints.”

§ “The central political implication involves the place of sociologyin relation to liberal democracy. The kind of sociological scholar-ship that Buroway is legitimating … is advocacy scholarship …”

§ “This kind of scholarship is … a means of improving the quality of public discussion through the subsidization of opinion diversity.”

42

Turner, „Public Sociology and Democratic Theory” (Forts.)

§ Burawoys Vorschlag ist bereits die dominante Zugangsweise in den U.S.A. „Women’s Studies“ zeigen dies z.B.

§ Wissenschaftliche Standards sind nicht gefährdet:

„The advocacy studies … are valuable only if they are … up toprofessional standards.”

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

44

Struktur meiner Kritik

Ich will zeigen, dass …

(1) Es Gründe gibt bzgl. Burawoys Vorschlag skeptisch zu sein;

(2) Turners Lesart von Burawoys Position ist fehlerhaft;

(3) Turners Ansicht der Funktion der Soziologie ist zweifelhaft; und

(4) Burawoy versteht Soziologie und Politik besser als Turner.

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Rawls, Burawoy, Turner

§ Sie teilen die Betonung auf dem „fact of pluralism”.

§ Turners Auffassung von der problematischen Position der SW-en als zwischen public and private reason ist Rawlsianisch.

§ Für Turner ist die Soziologie als Disziplin neutral im gleichen Sinn wie der Staat und public reason bei Rawls.

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Gegen Burawoy

(1) Neutralität? Pluralismus?

§ Das „no intrinsic normative valence” widerspricht zahlreichenanderen Behauptungen bei Burawoy.

§ Aber diese Ansicht ist auch so zweifelhaft.

§ Was ist mit „undemocractic, pro-market, antichoice, whitesupremacist, heterosexist, promilitary interventionist publics”?

(Goldberg and van den Berg 2009)

47

Gegen Burawoy (Forts.)

(2) Relevanz?

§ Burawoys Ruf nach Relevanz trifft sich mit Forderungen von Geld-gebern nach “societal benefits” or "dissemination strategies”.

§ Aber wenn staatliche Institutionen dies ohnehin fordern, wo liegtdas Radikale von Burawoys Forderungen?

48

Gegen Burawoy (Forts.)

(3) Wahrheit, Relevanz, Fürsprache

§ Soziologie hat bisher nicht die Vorhersagen geliefert, die die pub-lic sociology verspricht. (Smith-Lovin 2007; Stinchcombe 2007).

§ Der politische Einfluss der SW-en war zumeist dann am größten, wenn ihre Studien nicht als ‘advocacy’ galten. (Massey 2007)

§ Burawoy stellt die Arbeit der policy sociology falsch da: sie ist oftkritisch – auch ihren Auftragsgebern gegenüber. (Patterson 2007)

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Gegen Burawoy (Forts.)

(3) Wahrheit, Relevanz, Fürsprache (Forts.)

§ “Public sociologies march to the tune of dialogic engagement rather than a correspondence theory of truth, norms of relevance rather than norms of science, accountable to publics rather than peers.”

§ Es ist schwer zu sehen, wie solches Wissen in der politischen Arenabesonders Gewicht bekommen kann.

50

Gegen Turner

(1) Neutralität? Pluralismus?

§ Für Turner verhält sich die Soziologie (qua Disziplin) zu den ein-zelnen SoziologInnen wie für Rawls der Staat zum Bürger.

§ Aber er sagt uns nicht, wie die Soziologie diese Neutralität be-wahren kann im Rekrutieren, Ausbilden, … von SoziologInnen.

51

Gegen Turner (Forts.)

(1) Neutralität? Pluralismus? (Forts.)

§ Das “no intrinsic normative valence” passt mit vielen anderenAussagen nicht zusammen: z.B. Soziologie kämpft gegen:

“the erosion of civil liberties, the violation of human rights, thedegradation of the environment, the impoverishment of wor-king classes …” (Burawoy et al. 2004)

52

Gegen Turner (Forts.)

(1) Neutralität? Pluralismus? (Forts.)

§ Turners Position kohäriert nicht mit Burawoys eigenen Aus-sagen und Handlungen.

§ Z.B. setzte sich Burawoy für eine Resolution der ASA gegen den Irak-Krieg ein.

§ Die politische Kontroverse um Burawoys Ansatz untergräbtdie Hoffnung auf eine politisch neutrale Disziplin der S-wen.

53

Gegen Turner (Forts.)

(2) “…. pluralism without antagonism”

§ Turner sucht das agonistische Element in der sw-schaftlichenWissenschaftspolitik zu vermeiden: kein Kampf um Ressourcen.

§ The “typical liberal illusion of a pluralism without antagonism”.

§ Der Ruf nach politischer Neutralität ist nicht immer neutral!

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Gegen Turner (Forts.)

(2) “…. pluralism without antagonism” (Forts.)

§ Turner will eine SW-schaft die “improv[es] the quality of publicdiscussion through the subsidization of opinion diversity”.

§ Aber warum ist dies ein sinnvolles Ziel?

§ Zunächst einmal ist dies nur eine vage liberale Intuition.

55

Gegen Turner (Forts.)

(3) Wahrheit und Standards

§ Turner: “… advocacy studies … are valuable only if they are … upto professional standards.” (176)

§ Vgl. Burawoy:

“Public sociologies march to the tune of dialogic engagement ratherthan a correspondence theory of truth, norms of relevance ratherthan norms of science, accountable to publics rather than peers.”

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Noch einmal: Politischer Kontextualismus

§ Es gibt keine politisch neutrale, a-historische oder kontextfreie Ant-wort auf die Frage nach den Funktionen der SW-en in der LD.

§ Jede Antwort muss bestimmte politische Werte wiederspiegeln und historisch spezifisch sein.

§ Rawls, Kitcher und Turner unterscheiden sind. Aber ihre Ansichten sind allesamt problematisch.

10. Die Soziologie wissen-schaftlichen Wissens

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(I) Shapin über Interessen und die Phrenologie

(I) Collins zum Regress der ExperimentatorInnenund den Gravitationswellen

(III) Bloor über Konventionen und 2+2 = 4

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(I) Shapin über Interessen und die Phrenologie

(I) Collins zum Regress der ExperimentatorInnenund den Gravitationswellen

(III) Bloor über Konventionen und 2+2 = 4

61

Steven Shapin (1943 -)

‘Homo Phrenologicus’ (1979)

(with S. Schaffer), Leviathan and the Air-pump, 1985

A Social History of Truth, 1994

The Scientific Revolution, 1996

The Scientific Life: A Moral History of a Late Modern Vocation, 2008

62

(1) Interessen in der Anthropologie

(a) Wie verhält sich wissenschaftliches Wissen zur Gesellschaft und zu sozialen Interessen?

(b) AnthropologInnen haben drei Arten von Interessen identifiziert, welche im Erwerb und der Benutzung von Wissen wichtig sind:

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(i) Interesse an Vorhersage und Kontrolle

§ Vorschriftliche Kosmologien lassen sich als analog zu unseren wis-senschaftlichen Theorien verstehen.

§ Kosmologien dienen technisch-instrumentellen Interessen.

§ Soziale Begriffe und Analogien sind in solchen Kosmologien zentral. Die soziale Ordnung wird als ein Modell und Ressource genommen.

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(ii) Zwei Arten von sozialen Interessen:

(a) Ein Interesse an sozialem Management und sozialerKontrolle:

Kosmologien werden benutzt, um die soziale Ordnung zu legitimieren, zu rechtfertigen, oder zu schwächen.

65

(b) Ein Interesse, die eigene Lebenserfahrung und -situation zu verstehen und mit ihr fertig zu werden:

D.h. ein Interesse, für die eigene (soziale und nicht-soziale)Lebenssituation einen symbolischen Ausdruck zu finden.

Das Ziel ist eine Repräsentation der sozialen Welt, die „psy-chischen Balsam” liefert.

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(2) Anwendung dieser Ideen auf die Phrenologie in Edinburgh 19. Jh.

(A) Allgemeines zur Phrenologie

Franz Joseph Gall (1758-1828) Johann Caspar Spurzheim (1776-1832)

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§ Sie waren in Frankreich am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts tätig.

§ Ihre Ideen waren insbes. in den U.S.A. und in Grossbritannien erfolgreich.

68

§ Wichtig: der Edinburgher Rechtsanwalt: George Combe (1788-1858)

§ In Edinburgh gab es in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts viele Kontroversen um die Phrenologie.

69

(B) Grundannahmen der Phrenologie

§ Menschen haben 27-35 separate und angeborene geistige Fähigkei-ten (z.B. Sprachvermögen, Liebesdrang, musikalisches Verständnis).

§ Jede dieser Fähigkeiten ist in einem anderen Gehirnorgan lokalisiert.

70

§ Der Grad, zu dem man eine Fähigkeit besitzt, korreliert mit der Grösse des jeweiligen Gehirnorgans.

§ Man kann am Schädel einer Person „ablesen”, welche Fähig-keiten sie zu welchem Grad besitzt.

§ D.h. die Form des Schädels folgt der Form der Grosshirnrinde.

71

§ Die Umwelt kann das Wachstum der verschiedenen Fähigkeiten modifizieren und stimulieren.

§ Soziale Werte und Gefühle sind bestimmt durch die Interaktion der z.T. angeborenen psychischen Fähigkeiten ...

§ ... und den Institutionen einer bestimmten Gesellschaft.

72

73

74

(C) Wie die Phrenologie in Edinburgh benutzt wurde

§ Zur Erklärung von Persönlichkeitsunterschieden ...

§ Zum Verständnis und Stabilisierung der sozialen Ordnung ...

§ Die Phrenologie versprach Arbeitgebern geeignete Arbeitskräftezu finden, und bei der Suche von passenden GattInnen zu helfen.

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(D) Interesse an Vorhersage und Kontrolle

§ Sehr detailliertes Wissen über die Windungen des Grosshirns

§ Graue & weiße Gehirnmaterie haben verschiedene Funktionen.

§ Die Hauptmasse des Gehirns besteht aus Fasern.

77

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(E) Soziale Interessen

§ Die Edinburgher Phrenologen kamen aus der Bourgeoisieund dem Kleinbürgertum.

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§ Zunehmende Arbeitsteilung und Spezialisierung der Produktion.

§ Traditionelle soziale Hierarchien und Formen der sozialen Kon-trolle begannen sich aufzulösen.

§ Wirtschaftliche Interessen wurden stärker.

§ Die traditionelle Elite verlor ihre Machtstellung und die Mittel-schicht war auf dem Vormarsch.

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(a) Interesse an symbolischem Ausdruck

§ Die Phrenologie erhöhte die Anzahl der Fähigkeiten.

§ Die sechs Fähigkeiten der alten Philosophie konnten nicht die neue Vielfalt der Berufe erklären.

§ Die Phrenologie zeigte, dass die neue Arbeitsteilung natürlich war.

§ Und sie erklärte die neue soziale Realität von Wettbewerb und Aus-einandersetzung: die Fähigkeit der „Gewissenhaftigkeit”.

81

§ Die Phrenologie machte auch die Erfahrung der zusammenbrechen-den Hierarchien verständlich.

§ Der phrenologische Kosmos kannte keine strengen Grenzen zwischen Geist und Körper. Das Gehirn was das Organ des Geistes.

82

(b) Interesse an Manipulation und Kontrolle

§ Die Phrenologie erlaubte es der aufstrebenden Bourgeoisie, sichvon der Hegemonie der traditionellen Eliten zu befreien.

83

(I) Shapin über Interessen und die Phrenologie

(I) Collins zum Regress der ExperimentatorInnenund den Gravitationswellen

(III) Bloor über Konventionen und 2+2 = 4

84

Harry Collins (1943 -)

Changing Order: Replication and Induction in Scientific Practice, 1985

(& T. Pinch), The Golem: What Everyone Should Know about Science, 1993

(& M. Kusch), The Shape of Actions: What Humans and Machines Can Do, 1998

(& R. Evans), Rethinking Expertise, 2009

Tacit and Explicit Knowledge, 2010

Gravity's Shadow: The Search for Gravitational Waves, 2004

Gravity’s Kiss: The Detection of Gravitational Waves, 2017

85

(a) Lernexperiment:

§ Ergebnis bekannt§ Handfertigkeit oder Instrument unbekannt

(b) Experiment in der normalen Wissenschaft:

§ Ergebnis unbekannt§ Handfertigkeit und Instrument bekannt

(c) Experiment in der „cutting-edge“ Wissenschaft:

§ Ergebnis und Handfertigkeit unbekannt

86

Soziale Variante des Regresses

A B

X?

87

Soziale Variante des Regresses

A B

X?

X-Detektor

T+

D+

88

Soziale Variante des Regresses

A B

X?

“X-Detektor”

T-

D-

89

Soziale Variante des Regresses

A B

X?

X-Detektor “X-Detektor”

T+ T-

D+ D-

Replikation??

90

§ Der Regress

Die beiden Seiten können sich nicht auf die Detektoren einigen, denn sie können sich nicht auf die Existenzannahme einigen; …

und sie können sich nicht auf die Existenzannahme einigen, denn sie können sich nicht auf die Detektoren einigen.

91

Empirische Be-obachtungen

Empirische Be-obachtungen

Theorie T1 Theorie T2

iden-tisch

Unterbestimmtheit

T1 und T2 postulieren verschiedene theoreti-sche (nicht beobacht-bare) Entitäten.

inkom-patibel

92

Daten undInstrumente

Daten und Instrumente

Theorie T1 Theorie T2

Regress der Experimentatoren

T1 und T2 postulieren verschiedene theoreti-sche (nicht beobacht-bare) und verschie-dene beobachtbare und messbare Enti-täten.

inkom-patibel

inkom-patibel

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Die Fallstudie

(a) Gravitationswellen

§ Einsteins GTR / ART sagt vorher, dass massive Körper Gravitationswellen produzieren.

§ Explodierende Supernovae, Schwarze Löcher, Zwillingssterne sollten erheb-liche Mengen solche Wellen hervorrufen.

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(b) The Standardverfahren um 1970

§ Prof. Joseph Weber (1919-2000) von der University of Maryland

§ Er suchte nach Veränderungen in der Länge eines massiven Alu-minium-Barrens, ...

§ ... Veränderungen, die auf die Schwankungen in der Gravitationsan-ziehung zwischen den Bestandteilen des Barrens zurückgehen.

§ Der Weber-Barren:

95

96

97

§ Das Problem des Signal/Rausch Verhältnisses:

§ Auf dem Diagrammblatt ständig Wellen und Wellenberge.

§ Entscheidung: Wann ist ein Wellenberg ein Signal?

§ Wie viele zufällige Wellenberge kann es geben, die nurauf Rauschen zurückgehen?

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(c) Webers Behauptungen und ihre Rezeption

§ 1969 behauptete Weber jeden Tag mehrere Wellenberge beobachtet zu haben, die sich nur als Gravitationswellen interpretieren ließen.

§ Seine Ergebnisse widersprachen den kosmologischen Theorien.

§ Er fand Gravitationswellen mit großer Flussdichte.

99

100

§ Was überzeugend aussah:

Ø gleichzeitige Signalrezeption auf verschiedenen Barren, mehr als 1.000 km voneinander entfernt;

Ø eine Periodizität der Signale, relativ auf die Galaxie und nicht auf die Sonne.

101

Der Regress der Experimentatoren

§ Die Wissenschaftler stritten sich, wer die guten, und wer die schlechten Detektoren hatte.

Wege, den Regress zu durchbrechen

§ Warum Wissenschaftler Weber oder seinen Gegnern glaubten:

102

§ Glaube an die experimentellen Fähigkeiten und Ehrlich-keit, beruhend auf einer früheren Zusammenarbeit

§ Persönlichkeit und Intelligenz des Experimentators

§ Ruf als Leiter eines großen Labors

§ Ob der Wissenschaftler in der Industrie oder in der Uni-versität gearbeitet hat

103

§ Geschichte der Fehlschläge

§ 'Inside information‘

§ Stil und Präsentation der Resultate

§ Psychologischer Zugang zum Experiment

§ Größe und Prestige der Herkunftsuniversität

§ Integration in verschiedene wissenschaftliche Netzwerke

§ Nationalität

104

“… the definition of what counts as a good gravity wave detector, and the resolution of the question of whether gravity waves exist, are congruent social processes. They are the social embodiment of the experimenters' regress. ..."

105

Ab 1975 wurden Webers Behauptungen nicht mehr geglaubt …

... aber aus ganz verschiedenen Gründen …

106

§ Der Fehler im Computerprogramm …

§ Die Analyse des Hintergrundrauschens …

§ Der Fehler im Vergleich der Daten der beiden Detektoren …

§ Das Signal-Rausch-Verhältnis wurde nicht besser …

§ Die ihm widersprechenden Versuche der anderen, aber mit einerAusnahme wurden diese Versuche auch von anderen kritisiert ….

107

§ Eine aggressive Intervention von Richard Garwin …

“… acted as though he did not think that the simple presenta-tion of results with only a low key comment would be sufficient to destroy the credibility of Weber’s results.”

108

§ Die Episode der Kalibrierung:

Die Barren lassen sich hinsichtlich ihrer Empfindlichkeit verglei-chen: z.B. durch elektrostatische Impulse bekannter Stärke.

Hintergrundannahme: elektrostatische Impulse und Gravitäts-wellen haben die gleiche Wirkung auf den Barren.

Als Weber schließlich einwilligte, seinen Barren derart zu kalibrie-ren, erwies sich dieser als weniger empfindlich als die anderen.

109

(I) Shapin über Interessen und die Phrenologie

(I) Collins zum Regress der ExperimentatorInnenund den Gravitationswellen

(III) Bloor über Konventionen und 2+2 = 4

110

Das radikale Programm

David Bloor (1941 -)

Knowledge and Social Imagery, 1976/1991

Wittgenstein: A Social Theory of Knowledge, 1983

Wittgenstein, Rules and Institutions, 1997

L. Laudan und 2+2 = 4 (Bloor 1994)

§ Laudan:

Bestimmte Lehren und Ideen haben keine direk-te Beziehung zur sozialen Umwelt: z.B. 2+2=4.

„Wer behauptet, dies sei sozial bestimmt, zeigt damit, dasser nicht versteht, wie solche Lehren etabliert werden.“

111

§ Bloor:

(a) Ein Soziologe der Mathematik muss nicht darauf bestehen, dass 2+2=4 an einen bestimmten sozialen Kontext gebunden ist.

(b) Verschiedene Teile unserer Kultur akzeptieren und verlangenverschiedene Formen des Beweises, dass 2+2=4.

(c) Der „naive Beweis“ im Kindergarten …

112

113

114

(d) Mathematiker würden bestreiten, dass es sich hier um einen echten Beweis handelt.

Sie würden darauf bestehen, dass dieser Vorgang aus 2+2=4 eine empirische, induktive Wahrheit macht.

Aber wir wollen einen Beweis, der zeigt, dass 2+2=4 eine Wahr-heit a priori ist.

Die mathematische (Hoch-)Kultur will einen deduktiven Beweis.

115

(e) Betrachten wir einen formalen deduktiven Beweis (vereinfacht):

1. (∃r) (∃s) [r ε K & s ε K] & (∃t) (∃u) [t ε L & u ε L]

2. a ε K & b ε K

3. c ε L & d ε L

4. a ε M & b ε M & c ε M & d ε M

5. (∃r) (∃s) (∃t) (∃u) [r ε M & s ε M & t ε M & u ε M]

116

1. (∃r) (∃s) [r ε K & s ε K] & (∃t) (∃u) [t ε L & u ε L]

117

1. (∃r) (∃s) [r ε K & s ε K] & (∃t) (∃u) [t ε L & u ε L]

2. a ε K & b ε K

118

1. (∃r) (∃s) [r ε K & s ε K] & (∃t) (∃u) [t ε L & u ε L]

2. a ε K & b ε K

3. c ε L & d ε L

119

1. (∃r) (∃s) [r ε K & s ε K] & (∃t) (∃u) [t ε L & u ε L]

2. a ε K & b ε K

3. c ε L & d ε L

4. a ε M & b ε M & c ε M & d ε M

120

2. a b

3. c d

121

4. a b c d

122

123

124

1. (∃r) (∃s) [r ε K & s ε K] & (∃t) (∃u) [t ε L & u ε L]

2. a ε K & b ε K

3. c ε L & d ε L

4. a ε M & b ε M & c ε M & d ε M

5. (∃r) (∃s) (∃t) (∃u) [r ε M & s ε M & t ε M & u ε M]

125

John Leslie Mackie(1917–1981)

(f) Mackie behauptet, der formale Beweis bestehe aus exakt den gleichen Abläufen wie der naive Beweis.

Beide haben den gleichen empirischen Charakter.

126

(g) Bloor verfolgt diese Linie weiter: „Arithmetische Operationen sind nicht nur oder nicht rein ‘empirisch’.

Sie haben einen quasi-empirischen Charakter, der einen normativen oder konventionellen Anteil enthält:

eine sozial akzeptierte Technik. […]

Dieser Beweis erfordert die konventionellen Methoden der Arithmetik.

Deshalb transzendiert der strenge Beweis die soziologische Betrach-tung nicht: er veranschaulicht sie.“

127

(h) Aber ist es nicht notwendig, dass 2+2=4?

Betrachten wir zwei Formen der Arithmetik:

0 1 2 3 4

Es ist leicht zu sehen, wie dieser Zahlenstrahl ver-wendet werden kann, um zu zeigen, dass 2+2=4.

128

§ Es ist einfach zu sehen, wie Arithmetik auf einem Kreisverwendet werden kann, um zu zeigen, dass 2+2=0.

§ Dass 2+2=0 ist für jemanden, der zuerst die erste Methode verwendet hat und später der zweiten begegnet, eine echte Entdeckung.

129

0

1

2

3

§ Mögliche Reaktionen:

- Einordnung als triviale Kuriosität, Toleranz

- Verurteilung als Perversion des Zählens

- Widerlegung der normalen Arithmetik

- Klassifikation als neue Art des Addierens („finite Arithmetik“)

§ Es gibt hier keine ‚richtige’ Antwort. Wir müssen entscheiden.

130

§ Warum sagen wir, dass 2+2=4 eher richtig ist als 2+2=0?

§ Vielleicht weil ersteres die sozial vorherrschende Lösung ist.

§ Vgl. Imre Lakatos’ Beispiel der „schwerelosen Addition“.

§ Und Thomas Schellings „salient solutions“.

131

132

133

§ David Bloor in Knowledge and Social Imagery (1976) …

„.... Die Soziologie wissenschaftlichen Wissens sollte sich andie folgenden vier Grundsätze halten ...”

134

1. Es ist kausal, d.h. es beschäftigt sich mit den Bedingungen, die Annahmen oder Wissenszustände hervorbringen.

Natürlich gibt es auch andere Typen von Ursachen—neben den sozialen—welche ihren Beitrag zur Verursachung von Überzeugungen leisten.

135

2. Es ist unparteiisch gegenüber Wahrheit und Falschheit, Rationalität und Irrationalität, Erfolg und Misserfolg.

Beide Seiten dieser Dichotomien verlangen nach Erklärung.

136

3. Es ist symmetrisch in seinem Erklärungsstil. Die gleichen Typen von Ursachen würden z.B. wahre und falsche Überzeugungen erklären.

137

4. Es ist reflexiv. Im Prinzip wäre sein Erklärungsmuster auch auf die So-ziologie selbst anwendbar.

… sonst wäre die Soziologie die Widerlegung ihrer eigenen Theorien.