Institut für Erziehungswissenschaft © Prof. Dr. Lucien Criblez, Historische Bildungsforschung und...

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Institut für Erziehungswissenschaft

© Prof. Dr. Lucien Criblez, Historische Bildungsforschung und Steuerung des Bildungssystems12.07.2011Seite 1

Schulaufsicht, öffentliche Finanzierung und Rechenschaftslegung – Zur Veränderung von checks and balances im Volksschulbereich

Referat am KKV-SymposiumDienstag, 12. Juli 2011, Grindelwald

Prof. Dr. Lucien Criblez, Universität Zürich

“Die Entwicklung der Erziehung und der Schule ist durch viele Unsicherheiten gekennzeichnet. Diese Unsicherheiten verstärken die Kritik an den Massnahmen der Bildungspolitik, an der Gestaltung der Schule und an der Tätigkeit der Schulleitungen und Lehrpersonen.”

(Dubs, R. [2010]. Bildungspolitik und Schule wohin? Altsätten: Tobler, S. 9)

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1. Vorbemerkungen

- Notwendiger Versuch, Komplexität zu reduzieren:- Abstraktion von Alltagsgeschäften- Abstraktion von kantonalen Unterschieden- Konzentration auf Grundfragen

- “Historischer” Zugang:- vor 1995 – Reformen seit 1995- Blick auf Veränderungsdynamik

- im Fokus: Zusammenhang zwischen öffentlicher Bildung, öffentlicher Finanzierung öfffentlicher Aufsicht

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Übersicht

1. Vorbemerkungen

2. Grundprinzipien der öffentlichen Schule

3. Merkmale des öffentlichen Bildungssystems

4. „checks and balances“ vor 1995

5. „Neuordnung“ seit 1995

6. Offene Fragen und Ausblick

12.07.2011 © Prof. Dr. Lucien Criblez Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft Seite 4

2.Grundprinzipien der öffentlichen Schule

- öffentlicher Zugang

“Die Volkssouveränität ist ohne Volksbildung ein leerer Schall” (Siegwart-Müller, 1832, S. 39).

Bildung für alle: keine Vorrechte (Geburt und Stand, Familie, Herkunft, Finanzkraft, Geschlecht …)

- -> Besuch weiterführender Schulen ausschliesslich aufgrund des Leistungsprinzips(vs. Gleichheitsprinzip, Bedürfnisprinzip [Heckhausen, 1981])

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- öffentliche Aufsicht (Souverän, Parlamente, Bildungs-/Erziehungsräte, Schulkommissionen/-pflegen/-räte)

- öffentliche Finanzierung

- staatliche Organisation

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Öffentliche Finanzierung:einige Hinweise (alle Angaben für 2007)

- Ausgaben der öffentlichen Hand für Bildung (Bund, Kantone, Gemeinden): 27 Milliarden CHF

- 18,5% der Gesamtausgaben (relativ konstant: 17,5% bis 19% 1995-2007)

- Varianz der Ausgaben von Kantonen und Gemeinden zwischen 15% und 40%

- Bildungsausgaben entsprechen 5,5% des Bruttoinlandproduktes

- Hauptausgabenbereich: Lehrerlöhne: 55,2%

- Vorschule und obligatorischer Schulbereich: 53% -> rund 14 Milliarden CHF

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Quelle für alle Grafiken: BfS, 2010

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3. Merkmale des öffentlichen Schulsystems in der Schweiz

- Das Bildungssystem ist Teil des demokratischen, sozialen und liberalen Rechtsstaats und folgt dessen Grundsätzen (Legalitätsprinzip, Rechtsgleichheit, Verhältnismässigkeit, Verbot von Willkür, Anspruch auf rechtliches Gehör …) (Bildungsdirektion ZH, 2010, S. 44ff.).

- Die Bildungspolitik folgt den Grundregeln der halbdirekten Demokratie (Mitwirkung des Souveräns über Wahlen und Volksabstimmungen).

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- Prägende “beliefs” der staatlichen Organisation: Föderalismus, Subsidiaritätsprinzip-> Schule als Mehrebenensystem-> viele Akteure, komplexe Akteurskonstellationen

- checks and balances: Kompetenzzuordnung und Machtkontrolle (Hamilton, Madison & Jay (1787/1993)- zwischen Ebenen (Bund – Kantone – Gemeinden)- zwischen den Akteuren

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4. “Checks and balances” vor 1995

- Entwicklung der kantonalen Bildungssysteme über mehr als 150 Jahre -> relativ stabiles “Gleichgewicht” (balance) zwischen den einzelnen Instanzen und Akteuren

- relativ klare und stabile Rollenteilung

- Checks: Jede Zuordnung von Kompetenzen (Macht) an Akteure/Instanzen wird mit Kontrollmechanismus durch andere Akteure/Instanzen versehen

- (Vermeintlich?) hohe Qualität -> kein fundamentaler Reformbedarf

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Wesentliche Akteure

- Schulpflege, Schulkommission, Schulrat

- Schulinspektorat

- Bildungsverwaltung

- Bildungsrat/Erziehungsrat

- (Regierung)

- (Parlament)

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Schulpflege, Schulkommission,Schulrat- Laienbehörde

- meist direktdemokratisch gewählt

- lokale Aufsicht vor Ort

- zuständig insbesondere für organisatorisch-administrativen Belange der Schulen

- Ort der Mitsprache der lokalen Bevölkerung

- sorgt für Legitimation der Schule vor Ort (Finanzierung via Kantons- und Gemeindesteuern!)

- oftmals: Einstiegsamt in die Politik

(Criblez, 2009; Rhyn, 1998)

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Kantonale Schulaufsicht (Schulinspektorat)- 4 Formen (Caratti, 1981, Esseiva, 1958; Kloss,

1964)- Laienbehörden (Bezirksschulpflege)- Einzelpersonen (Geistliche als Schulinspektoren)- Laieninspektoren und professionelle Inspektoren- professionalisiertes Schulinspektorat

- zuständig insbesondere für pädagogisch-methodische Fragen

- Steuerungs”agentur” der Kantone: Qualitätskontrolle, Rechtsaufsicht

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Bildungsverwaltung

- weitgehend kantonale Verwaltungauf Bundesseite: BIGA -> Berufsbildung, BBW: Maturitätsanerkennung und Universitätsförderung In Städten: schlanke Schulverwaltung

- Insgesamt: schlanke Verwaltung

- wenige Personen

- primärer Auftrag: Verwaltung und Kontrolle der Rechtseinhaltung, Vorbereitung von politischen Erlassen

-> allmähliche Veränderung seit ca. 1970 (Criblez, 2011)

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Erziehungs- oder Bildungsrat

- Idee aus der französischen Revolution (Condorcet), erstmals realisiert in der helvetischen Republik ab 1798

- “Edukative”, vierte Gewalt (Brändli, 1997)

- Idee der öffentlichen Aufsicht und Steuerung

- Korrektiv zu Bildungsverwaltung

- Unterschiedliche Ausprägungen: eigene Regelungskompetenzen vs. beratendes Gremium

- Abschaffung im Zuge der Reformen: LU, SO

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Zwischenfazit

- Öffentliche Finanzierung zwingend wegen öffentlichem Zugang

- Öffentliche Finanzierung verlangt nach:- Rechenschaft- Aufsicht/Kontrolle

- Ausbalanciertes System von Verantwortungsdelegation, Rechenschaftspflicht und Aufsicht/Kontrolle

- Rollen- und Aufgabenteilung zwischen den Instanzen/Akteuren

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5. „Neuordnung“ seit 1995

Kontexte

- Neue Verwaltungsführung/New Public Management

- Finanzierungskrise der öffentlichen Hand

- Schulqualitäts-, Schulwirksamkeits- und Schuleffizienzdiskussion

- Schulentwicklung statt Bildungsplanung; bottom up statt top down

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Neue Akteure- Schulleitungen- Eltern

Neue Rollen- Schulpflegen, Schulkommissionen, - Schulinspektorate

Neue Formen der Rechenschaftslegung- Steuerung von den Resultaten her: u.a. Schulleistungsmessungen- Transparente Schule- Externe Schulevaluation

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Neue Formen der Aufsicht

- Neudefinition der Schulpflegen/-kommissionen

- Neudefinition der kantonalen Schulaufsicht

- Neue Formen des Controllings innerhalb der Bildungsverwaltung (Globalbudget und Leistungsauftrag)

Neue bildungspolitische Ansprüche

- Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung

- Evidence based policy

- Output- und outcomes-Orientierung

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Resultat

- (vorübergende) Kompetenzdiffusion

- Hierarchisierung des Lehrberufs

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6. Mögliche Problemzonen

- Permanentes Ungleichgewicht

- Reform und Reformkritik

- Partikularinteressen und Bildungsaspirationen von Eltern

- Laienaufsicht und Professionalisierung

- Betriebswirtschaftliche Rationalität und Controlling

- Bürokratisierung

- …

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Literatur

BfS [Bundesamt für Statistik] (2010). Öffentliche Bildungsausgaben 2007. Neuchâtel: BfS.

Bildungsdirektion des Kantons Zürich (2010). Handbuch für Zürcher Schulbehörden und Schulleitungen (3. Aufl.). Zürich: Pestalozzianum.

Brändli, S. (1997). Der Griff nach der vierten Gewalt. Die „Produktive“ – Leistungsgarant für die Staatstätigkeit. Neue Zürcher Zeitung, 23.8.1997, 17.

Criblez, L. (2009)

Dubs, R. (2010). Bildungspolitik und Schule wohin? Altstätten: Tobler.

Heckhausen, H. (1981).

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Rhyn, H. (1998).

Siegwart-Müller, C. (1832). Unterricht in über die Verfassung des Kantons Luzern in Gesprächen. Sursee: 1832.

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