Post on 08-Sep-2019
Jean-Michel Basquiat.Der afro-amerikanische Kontext seines Werkes
DISSERTATIONzur Erlangung der Würde des Doktors der
Philosophie
der Universität Hamburg
vorgelegt von
Susanne Reichling
aus Mannheim
Hamburg 1998
1. Gutachter: Prof. Dr. Wolfgang Kemp
2. Gutachterin: Prof. Dr. Monika Wagner
Tag des Vollzugs der Promotion: 20. Januar 1999
INHALT
1. Einleitung
1.1 Forschungsstand und Ausstellungsgeschichte 1
1.2 Zur bisherigen kunsthistorischen Einordnung Basquiats 6
1.3 Das "Phänomen Basquiat" 11
1.3.1 Biographie: Version A 11
1.3.2 Julian Schnabels Film "Basquiat" 17
1.3.3 Biographie: Version B 20
1.4 Basquiats Rezeption in der (artistic) "black community" oder 27
"Nobody Loves a Genius Child"
2. Basquiats Collage-, Zitat- und Codierverfahren
2.1 Einführung in Basquiats Werk 33
2.2 Collage 34
2.3 Schrift im Bild 36
2.4 Basquiats Collageverfahren als visuelle Umsetzung der 37
musikalischen Strategie des "Sampling"
2.5 Basquiats Zitatverfahren 41
2.6 Basquiats Codierverfahren als visuelle Anwendung der 43
afro-amerikanischen Rhetorik des "Signifying"
2.6.1 Der Ursprung des "Signifying": Bildlektüre "Moses and the Egyptians" 46
2.6.2 Superman ist Dambala: Bildlektüre "Ascent" 48
3. Basquiats als Erforscher, Archivar und Vermittler
afro-amerikanischer Kultur und Geschichte
3.1 Neo-Expressionismus oder Kontext-Kunst? 53
3.2 Basquiat als "Griot" 56
3.3 "Droppin' Science": Basquiat als Vermittler afro-amerikanischen Wissens 57
3.4 Europäische vs. afrikanische Schriftkonzeptionen im Werk Basquiats 58
3.4.1 Lateinische Schrift: Bildlektüre "Jesse" 58
3.4.2 Afrikanische Piktogramme: Bildlektüre "Grillo" 62
4. Afrikanische Kultur und Geschichte im Werk Basquiats
4.1 Die Problematik des "Primitivismus" 69
4.2 Basquiats Bildvokabular im Kontext der afro-amerikanischen Kunst 75
des 20. Jahrhunderts
4.3 Afrika als Zentrum der kulturellen Selbstdefinition Basquiats 82
4.4 Afrika vs. Amerika 89
4.5 Ägypten als Ursprung afro-amerikanischer Kultur: eine 91
afrozentrische Lesart afrikanischer Geschichte
4.6 Karthago vs. Rom: afrikanische oder europäische Hegemonie? 96
5. Afro-amerikanische Geschichte im Werk Basquiats
5.1 "Prelude to Our Age. A Negro History Poem" 99
5.2 Sklavenhandel und Sklaverei 102
5.3 Liberty? 105
5.4 Die Flucht aus der Sklaverei 111
5.5 Die haitianische Revolution 112
5.6 Der amerikanische Bürgerkrieg 114
5.7 Die "Reconstruction Era" 115
5.8 "Back to Africa": Marcus Garvey 115
5.9 Afro-amerikanische Sportler als Volkshelden 118
5.10 Die Sechziger Jahre 121
6. Die Repräsentation des "Schwarzen" im Werk Basquiats
6.1 Die Parallelität von Identitäts- und Signaturproblematik 123
6.2 Basquiats Selbstportraits: "Invisible Men" 127
6.3 Stereotype Repräsentationsformen der Afro-Amerikaner 131
6.3.1 Das "nigger"-image: Sambo, "blackface minstrels" & Co. 131
6.3.2 "Whitewashing Action": Das Leitmotiv Seife 139
6.4 Basquiats Gegenlesen der amerikanischen Populärkultur 144
6.5 Der Topos der Anatomie und die Geschichte des 146
wissenschaftlichen Rassismus
6.5.1 Bildlektüre "Leonardo da Vinci's Greatest Hits" 151
6.6 Basquiats Kritik der weißen Repräsentation schwarzer Sexualität 157
6.6.1 "King Kong und die weiße Frau" 157
6.6.2 Die "Hottentottenvenus" 159
6.7 Anatomische Profilvergleiche: "Cäsar" vs. "The Negro" 161
7. Ausblick 167
Vorwort
Jean-Michel Basquiat (1960-1988) verkörpert durch sein Leben und Werk die Synthese
von afrikanischer, karibischer, afro-amerikanischer, weißer amerikanischer und euro-
päischer Kultur.
Ein angemessenes Studium von Basquiats Arbeiten bewegt sich zwischen dem Situie-
ren seines Lebens und Werks innerhalb der New Yorker Subkulturszene der frühen
Achtziger Jahre und einem "akademischen" Lesen seiner Bildinhalte, wie Greg Tate in
seinem Katalogessay Black Like B. 1992 feststellt:
Basquiat was ... a populist postmodernist. He belongs to a black tradition, wellestablished by our musicians, of making work that is heady enough to confoundacademics and hip enough to capture the attention span of the hip-hop nation.1
Gleichzeitig muß man, so die afro-amerikanische Feministin bell hooks, für ein tieferes
Verständnis der Arbeiten Basquiats die "tragische Dimension" des Lebens der Afro-
Amerikaner in den Vereinigten Staaten begreifen:
To see and to understand these paintings, one must be willing to accept the tra-gic dimension of black life. In The Fire Next Time, James Baldwin declared that"for the horrors" of black life "there has been almost no language" .... Basquiat'swork gives that private anguish artistic expression.2
Die anfängliche Motivation der vorliegenden Arbeit bildete 1991 meine Annahme, daß
in Basquiats Bildtexte Subtexte eingewebt sind, die sich einer schnellen, an westlichem
Bildungsgut orientierten Betrachtung und Interpretation entziehen. Bei der Beschäfti-
gung mit der vor 1992 publizierten Sekundärliteratur stellte sich bald ein Unbehagen
über deren völliges Ignorieren der afro-amerikanischen Elemente in Basquiats Arbeiten
ein. Wichtiger schien den meisten weißen Interpreten Basquiats seine Etablierung im
Kanon anerkannter europäischer und amerikanischer Künstler zu sein - seine kulturelle
Identität als Afro-Amerikaner karibischer Abstammung wurde dadurch entweder ver-
sucht zu kaschieren oder aber in die Bahnen stereotyper Muster wie "Graffitikünstler"
und "authentischer Primitiver" gelenkt.
Wolfgang Kemp gab mir in 1993/94 am Kunstgeschichtlichen Institut der Philipps-
Universität in Marburg die Möglichkeit, meine Magisterarbeit über Basquiat frei zu
1 Tate In: Marshall, 56.2 hooks In: Art in America, 72.
gestalten. Meine daran anschließende Doktorarbeit führte mich nach New York, wo ich
den Großteil meiner Forschungen im Schomburg Institute for Research in Black Cultu-
re, einer Bibliothek der Public Library und weltweit größten Sammlung zum Thema
Afro-Amerika, tätigte. Auch die Bibliotheken des Museums of Modern Art, des Whit-
ney Museums of American Art, der Midtown Public Library und des Caribbean Cultu-
ral Institutes waren sehr hilfreich.
Richard Marshall, Kurator der 1992 ausgerichteten Basquiat-Retrospektive im New
Yorker Whitney Museum of American Art, unterstützte mich durch die Zurverfügung-
stellung seines gesamten Bild- und Informationsmaterial, der Beschaffung von Kon-
takten zu Freunden Basquiats sowie der Sichtung von Orginalwerken. Basquiats Vater
und Erbe Gerard Basquiat hingegen zeigte sich weniger kooperationsbereit. Er hätte
mir den Zugang zu Basquiats Sammlung afrikanischer, amerikanischer, afro-
amerikanischer und europäischer Kunst sowie seiner Bibliothek, Platten- und Video-
sammlung ermöglichen und damit wertvolle Hinweise auf Basquiats Zitierweisen lie-
fern können. Doch Gerard Basquiat steht jeglicher Beschäftigung mit dem Werk seines
Sohnes mit äußerster Skepsis und Widerwillen gegenüber. Hier wird eine wissen-
schaftliche Erforschung des Nachlasses in den nächsten Jahren wahrscheinlich über-
haupt nicht möglich sein.
Die Sammlerin Leonore Schorr zeigte mir viele Arbeiten Basquiats im Orginal und gab
mir wichtige Hinweise zu seinem Bildvokabular. Die Interviews mit Basquiats frühen
Freunden Michael Holman und Maripol haben mir Aufschluß über seine Situierung
innerhalb der New Yorker Subkultur der frühen Achtziger Jahre sowie über die Hinter-
gründe von Julian Schnabels Film Basquiat gegeben. Ein Gespräch sowie die daran
anschließende Korrespondenz mit Robert Farris Thompson, Professor für afrikanische
und afro-amerikanische Kunst in Yale, bestätigte viele meiner Annahmen und ermu-
tigte mich, in die bereits eingeschlagene Richtung weiterzuforschen. Basquiats später
Freund Ouattara, ein in New York lebender Künstler aus Abidjan, war im Bezug auf
die afrikanische Ikonographie in Basquiats Arbeiten hilfreich. Basquiats Galerist Bruno
Bischofsberger und der Schweizer Botschafter in Budapest Claudio Caratsch waren mit
Informationen zu der von ihnen organisierten Ausstellung Basquiats 1986 in Abidjan
behilflich. Dem afro-amerikanischen Künstler Michael Richards und dem afro-
amerikanischen Kunsthistoriker Franklin Sirmans danke ich für die aufschlußreichen
Gespräche über Basquiat und die Probleme des afro-amerikanischen Künstlerdaseins.
Die Beschäftigung mit Basquiats Werk im Kontext der afro-amerikanischen Problema-
tik hat mich gelehrt, viele Fakten der europäischen und amerikanischen Geschichte und
Kunstgeschichte von einer anderen Seite und einer neuen Fragestellung zu betrachten.
Insofern hat, so denke ich, Basquiat sein Ziel einer "Subversion" der weißen Kunstwelt
erreicht, nämlich auch auf der "weißen Seite" zu einem Informieren und Umdenken
über die "black experience" der Afro-Amerikaner aufzufordern.
Daß die vorliegende Arbeit in dieser Form geschrieben werden konnte, verdanke ich
der akademischen Nachwuchsförderung der Stadt Hamburg und dem Deutschen Aka-
demischen Austauschdienst. Der größte Dank jedoch gilt meiner Familie, die mich in
meiner Arbeit von Anfang an unterstützt hat. Meinem Bruder Stefan danke ich für die
vielen Anregungen, Ermutigungen und das kritische Korrekturlesen der Arbeit.
1
1. Einleitung
1.1 Forschungsstand und Ausstellungsgeschichte
Das Interesse an Leben und Werk Jean-Michel Basquiats beginnt - zehn Jahre nach sei-
nem Tod - in diesem Jahr erneut zu erwachen. Basquiat wurde von vielen seiner New
Yorker Zeitgenossen als ein "Genie", das seiner Zeit voraus und daher in seinem Leben
unverstanden blieb, angesehen. So äußerte sich Basquiats Freund Fred Braithwaite a.k.a.
Fab Five Freddy 1992 in einem Interview mit Sigrid Sischy: "Jean-Michel was the future,
basically, and he still is".1 Auch Ouattara sagte in Interviews zu mir mehrmals "Jean-
Michel was the future. If you want to understand his work, you have to go very deep".2
Nun aber scheint die "Zukunft" langsam eingetreten zu sein. 1998 sind zwei neue Bücher
über Basquiats Leben auf dem amerikanischen Markt erschienen. Die New Yorker Jour-
nalistin Phoebe Hoban hat eine Biographie über Basquiat geschrieben - Basquiat. A
Quick Killing in Art - die allerdings zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Arbeit noch
nicht erhältlich war. Ein ebenfalls 1998 in Japan von Taka Kawachi publiziertes Buch
über Basquiat mit dem Titel King for a Decade ist eine Sammlung von Interviews und
zeigt bislang unpublizierte Zeichnungen Basquiats.
Die bislang jüngste Museumsausstellung Basquiats ist 1997 Jean-Michel Basquiat.
OEuvres sur papier im Pariser Musée Maillol gewesen. 1996 hat die Pariser Galerie En-
rico Navarra, die sich des seltenen Vertrauens von Basquiats Vater und Alleinerben
Gerard Basquiat erfreut, eine Monographie Basquiats publiziert, die fast einem Werk-
verzeichnis seiner Gemälde gleichkommt.3 Im gleichen Jahr publizierte Navarra zusam-
men mit der Pariser Galerie Lucien Durand das Buch Jean-Michel Basquiat. OEuvres
sur Papier. Works on Paper, das Richard Marshall zufolge die "Vorstufe" für ein Werk-
verzeichnis der Zeichnungen Basquiats sein soll.4 1996 gab es in London in der Serpen-
tine Gallery eine große Basquiat-Ausstellung und in Malaga im Palacio Episcopal eine
kleinere Show, während in New York Basquiats Siebdruckserie der Blue Ribbon Pain-
tings im Studio Museum in Harlem gezeigt wurde.5 Im August 1996 ist Julian Schnabels
Film Basquiat in New York angelaufen. Während die New Yorker des "Phänomens
1 Sischy In: Interview, 123.2 Interview mit Ouattara am 25. Oktober 1997 in New York.3 Navarra, Enrico (Hrsg.): Jean-Michel Basquiat. Paris 1996.4 Gespräch mit Richard Marshall im Januar 1996 in New York.5 Serpentine Gallery, London: "Jean-Michel Basquiat." 6. März - 21. April 1996 (ohne Katalog). Jean-Michel Basquiat. Malaga: Palacio Episcopal de Malaga 1996. Jean-Michel Basquiat. The Blue RibbonPaintings. South Hadley, MA: Mount Holyoke College Art Museum 1996.
2
Basquiat" jedoch eher überdrüssig sind, da sie mit Basquiat viele unangenehme Erinne-
rungen an die gierige New Yorker Kunstwelt der Achtziger Jahre verbinden, stieg in
Deutschland das öffentliche Interesse an Basquiat durch den im Dezember 1996 ange-
laufenen Film sprunghaft an. Vorbereitet wurde dieses Interesse durch die im Sommer
1996 in Kassel und München gezeigte Ausstellung Collaborations. Warhol, Basquiat,
Clemente.
In den Jahren 1992 bis 1996 wurden Basquiats Arbeiten fast jedes Jahr in Frankreich
gezeigt, wo er neben Japan und Korea den wohl größten Bekanntheitsgrad besitzt.6 1992
ist mit der von Richard Marshall ausgerichteten Basquiat-Retrospektive im Whitney Mu-
seum of American Art in New York das Jahr der "institutionellen Adelung" Basquiats.
Denn obwohl Basquiats Werk seit 1992 durch Ausstellungen in amerikanischen, franzö-
sischen und asiatischen Kunstinstutionen ständig präsent ist, erfolgte bislang nur eine
geringe wissenschaftliche Aufarbeitung seiner Arbeiten. Die meisten Ausstellungskatalo-
ge nach der Retrospektive des New Yorker Whitney Museums of American Art von
1992 enthalten entweder Wiederabdrucke alter Essays oder neue Essays, die im wesent-
lichen in einem allgemeinen "Feiern" von Basquiats "künstlerischem Genie" bestehen.
Allein der Katalog der Whitney-Retrospektive besticht durch seine interessanten Essays.
So beleuchten die Texte des afro-amerikanischen Kulturkritikers Greg Tate, des weißen
amerikanischen Professors für afrikanische und afro-amerikanische Kunst Robert Farris
Thompson und des englischen (Sub)-kulturtheoretikers Dick Hebdige den afro-
amerikanischen Kontext von Basquiats Werk. Dieser Ausstellungskatalog ist daher zur
Grundlage der vorliegenden Arbeit geworden.7
Zu Basquiat sind bislang insgesamt ca. dreißig Kataloge von Einzelausstellungen und
fünfzig Kataloge von Gruppenaustellungen erschienen. Über sein Leben und Werk exi-
stieren rund zweihundert Zeitschriftenartikel. Während die Katalogessays mit Ausnahme
des Whitney-Kataloges zumeist Basquiats außergewöhnlichem Talent huldigen, fokus-
sieren die Zeitschriftenartikel auf die Begebenheiten seines turbulenten Lebens. Bas-
quiats zahlreiche Affären, seine Freundschaft mit Andy Warhol, seine Drogensucht und
seine unberechenbaren Ausfälle wurden jahrelang zum Lieblingsthema von Lifestyle- und
6 Musée Cantini, Marseille: "Jean-Michel Basquiat", 3. Juli - 21. September 1992; Musée-Galerie de laSeita, Paris: "Jean-Michel Basquiat. Peinture, dessin, écriture." 17. Dezember 1993 - 26. Februar 1994,Galerie Enrico Navarra, Paris: "Jean-Michel Basquiat. Peintures. 2. April - 12. Juni 1996.7 Robert Farris Thompson hat bereits 1985 einen Essay über Basquiat in dem Austellungskatalog Jean-Michel Basquiat der New Yorker Mary Boone Gallery geschrieben, in dem er Basquiats Werk erstmalsin einem afro-amerikanischen Zusammenhang diskutiert.Die deutsche (gekürzte) Übersetzung "DenHimmel zum Sprechen bringen - Jean-Michel Basquiats Kunst der Beschwörung" ist in Haenlein, Carl(Hrsg.): Jean-Michel Basquiat. Hannover: Kestner-Gesellschaft 1986 abgedruckt.
3
Frauenmagazinen wie Interview, Domus, Vogue oder Vanity Fair.8 Die Kunstkritiken in
Zeitschriften wie Artforum, Art in America, Flash Art oder The New Yorker taten sich
da schwerer. Sie mußten über das Werk Basquiats berichten, das zuweilen wie ein lästi-
ges "Abfallprodukt" eines interessanteren Lebens erschien. Das New Yorker Kritikerla-
ger war in die euphorischen (linken) Anhänger und die zumeist konservativen Feinde
Basquiats aufgeteilt. Während Basquiats Leben und nach der Whitney-Retrospektive gab
es so viele Diskussionen um Basquiats Werk und den künstlerischen Wert seiner Arbei-
ten, daß ich bei meinen Forschungen in New York auf eine allgemeine Müdigkeit gegen-
über dem Thema Basquiat gestoßen bin. Nicht von ungefähr ist schon seit langem keine
größere Basquiat-Ausstellung mehr in den Vereinigten Staaten ausgerichtet oder ein
Artikel in einem amerikanischen Kunstmagazin erschienen.
Von den amerikanischen Zeitschriftenartikeln sind die wenigen Artikel afro-amerikani-
scher Intellektueller für das Ziel der vorliegenden Arbeit die interessantesten. Während
Basquiat zu seinen Lebzeiten von afro-amerikanischen Kulturkritikern überhaupt nicht
beachtet, ja sogar gemieden wurde, hat sein tragischer Tod zu einem Umdenken beige-
tragen. So schrieb Greg Tate anläßlich einer Ausstellung von Arbeiten Basquiats in der
New Yorker Vrej Baghoomian Gallery 1989 den grundlegenden Essay Flyboy in the
Buttermilk. The Crisis of the Black Artist in White America, in dem er Basquiats Leben
und Werk in die Geschichte der afro-amerikanischen Literatur und Musik einreiht.9 Die
afro-amerikanische Feministin bell hooks nahm in ihrem Essay Altars of Sacrifice. Re-
membering Basquiat 1993 zu der Basquiat-Retrospektive im Whitney Museum von
1992 Stellung und kritisierte vor allem die mißverstandene Rezeption Basquiats unter
weißen Kunstkritikern.10Die Performancekünstlerin Lorraine O'Grady beleuchtet in ih-
rem Artikel A Day at the Races. Lorraine O'Grady on Basquiat and the Black Art
World Basquiats komplizierte Beziehung zu der New Yorker institutionalisierten
"schwarzen Kunstwelt".11 Der Kunsthistoriker Franklin Sirmans schließlich faßt in Tip-
Tapping on a Tightrope die von Tate und hooks aufgezeigten Probleme in der Rezeption
8 Beispiele hierfür sind Cortez, Diego: "Black Picasso and the Lie Detector." Domus. 1982. Alhadeff,Gini: "Arte Piu Moda". Uomo Vogue. Oktober 1984, 388. Rosenblatt, Roger: "The Faith of the YoungArtist." Esquire. Dezember 1985, 159-160. Schaper, Michael: "Ein Twen im Trend." Stern. Nr. 36,August 1985, 29. Taylor, Paul: "A New Avenue for Art .... Madison." Vogue. Februar 1985, 80. Hoban,Phoebe: "SAMO ... is Dead. The Fall of Jean-Michel Basquiat." New York. 26. September 1988, 36-44.Keith Haring: "Remembering Basquiat." Vogue. November 1988, 230-234. Haden-Guest, Anthony:"Burning Out." Vanity Fair. Vol. 51, Nr. 11, November 1988. Bourriand, Nicolas: "Black Picasso."Decoration Internationale, Februar 1988, 22.9 In: The Village Voice. Vo. XXXIV, Nr. 46, 14. November 1989, 31-36. Wiederabdruck in Tate, Greg:Flyboy in the Buttermilk. Essays on Contemporary America. An eye-opening Look at Race, Politics,Literature and Music. New York: Fireside 1992.10 In: Art In America. Juni 1993, 68-75.11 In: Artforum. April 1993, 9-12.
4
von Basquiats Arbeiten zusammen.12 Schließlich ist das Interview von Sigrid Sischy mit
Fred Braithwaite, Jean-Michel Basquiat as told by Fred Braithwaite a.k.a. Fab 5 Fred-
dy, zu erwähnen.13 Der ehemalige Graffitimaler und Partypromoter Fred Braithwaite war
ein früher Freund Basquiats und beleuchtet in diesem Interview den Kontext von Bas-
quiats frühen Arbeiten.
Als schriftliche Quelle für Basquiats Biographie dienen das von Patt Hackett herausge-
gebene Tagebuch Andy Warhols sowie die von Franklin Sirmans im Katalog der Whit-
ney-Retrospektive zusammengestellten Lebensdaten. Von Basquiat selbst gibt es kaum
Selbstäußerungen, die meisten davon sind in privaten Interviews aufgezeichnet. Ledig-
lich die sehr gute Dokumention von Geof Dunlop, Jean-Michel Basquiat. Shooting Star,
und das haarsträubende Interview von Paul Tschinkel mit Basquiat, Jean-Michel Bas-
quiat, geben einen Einblick in die Persönlichkeit Basquiats.14
Von der weißen Kunstkritik und den Katalogtexten wurde Basquiats Werk in einen wei-
ßen amerikanisch/europäischen kunsthistorischen Kontext eingeordnet, der bei Leonardo
da Vinci beginnt und mit Andy Warhol endet. Zudem wurden rekurrente Bildmotive
Basquiats wie die Worte "salt," "cotton", "tobacco", "tar" entschlüsselt und wichtige
Topoi wie Anatomie, Sport, Jazz und Populärkultur interpretiert. Besonders Basquiats
offensichtlicheren Bezüge zur afro-amerikanischen Kultur sowie seine Nennung von
Jazzmusikern und Boxern sind bereits ausführlich diskutiert worden. Die Einordnung in
einen afro-amerikanischen Kontext, der über die Wahrnehmung dieser spezifisch
"schwarzen Domänen" hinausgeht, ist bisher allerdings kaum erfolgt, wie bell hooks in
ihrer Besprechung der Whitney-Retrospektive von 1992 bemerkt:
Rarely does anyone connect Basquiat's work to traditions in African-Americanart history. While it is obvious that he was influenced and inspired by the worksof established white male artists, the content of his work does not neatly con-verge with theirs. [...] Basquiat was in no way secretive about the fact that hewas influenced and inspired by the work of white artists. It is the multiple othersources of inspiration and influence that are submerged, lost, when critics are ob-sessed with seeing him as solely connected to a white Western artistic continuum.These other elements are lost precisely because they are often not seen, or ifseen, not understood.15
12 In: Acme Journal. Bd. 1. Nr.3. 1994, 94 -101.13 In: Interview. Oktober 1992, 119-123.14 Tschinkels legendäres Interview mit Basquiat wird in Julian Schnabels Film Basquiat von Christo-pher Walken als "Interviewer" und Jeffrey Wright als "Basquiat" fast wortwörtlich nachgespielt.15 hooks In: Art in America, 70.
5
Eine Ausnahme von dieser einseitigen Rezeption Basquiats bilden lediglich die vier oben
erwähnten Zeitschriftenartikel und die Katalogessays der Whitney-Retrospektive. Aus-
gehend von der dort geleisteten Forschung möchte ich in meiner Arbeit diese gemachten
Ansätze erweitern und vertiefen. Da man Basquiats komplexe und vielschichtige Bildin-
halte nur anhand detallierter Bildlektüren aufzeigen kann, habe ich mich im folgenden zu
einem "close reading" seiner Arbeiten entschlossen. Diese Werkinterpretationen wech-
seln zwischen dem ausführlichen Lesen von "Schlüsselbildern" Basquiats und dem zu-
sammengefaßten Vorstellen von Leitmotiven und übergreifenden Topoi in seinen Arbei-
ten. Das Ziel der vorliegenden Dissertation ist es, anhand der Bildlektüren und ihrer
Kontextualisierung in der afro-amerikanischen Kultur und Geschichte die bis auf wenige
Ausnahmen noch unbearbeitete afro-amerikanische Ikonographie im Werk Basquiats zu
erschließen.
Die in der vorliegenden Arbeit zitierten Werke Basquiats sind in den folgenden Ausstel-
lungskatalogen publiziert, die die Basis meiner Recherchen gebildet haben. Bislang un-
veröffentlichtes Abbildungsmaterial ist als solches gekennzeichnet.
• Navarra, Enrico (Hrsg.): Jean-Michel Basquiat. Paris 1996 (Zweibändige Monogra-phie).
• Jean-Michel Basquiat. OEuvres sur papier. Works on Paper. Paris: Fondation DinaVierny Musée Maillol 1997 (Ausstellungskatalog mit vielen der Zeichnungen, dieBasquiat als Farbkopien in seine großen Arbeiten "gesamplet" hat).
• Jean-Michel Basquiat. The Blue Ribbon Paintings. South Hadley, MA: Mount Ho-lyoke College Art Museum 1996 (kleiner Ausstellungskatalog der Blue Ribbon Sieb-druckserie, mit der Basquiat im Studio Museum in Harlem erstmals in einem afro-amerikanischen Kontext gezeigt wurde).
• Jean-Michel Basquiat. Malaga: Palacio Episcopal de Malaga 1996. (Ausstellungska-talog).
• Jean-Michel Basquiat. Peinture, dessin, écriture. Paris: Musée-Galerie de la Seita1993. (Ausstellungskatalog mit einem kleinen Glossar zu Basquiats Bildvokabular).
• Jean-Michel Basquiat. Paris: Musée d'art contemporain 1993 (Ausstellungskatalog).
• Marshall, Richard (Hrsg.): Jean-Michel Basquiat. New York: Whitney Museum ofAmerican Art 1992.
• Jean-Michel Basquiat. Une rétrospective. Marseille: Musées de Marseille 1992 (Aus-stellungskatalog).
6
• Tsuzuki, Kyoichi: Jean Michel Basquiat. Kyoto, Japan: Kyoto Shoin International1992.
• Cheim, Robert (Hrsg.): Jean-Michel Basquiat. Drawings. New York: Robert MillerGallery 1990 (Ausstellungskatalog).
• Pellizzi, Francesco (Hrsg.): Jean-Michel Basquiat. New York: Vrej BaghoomianGallery 1989 (Ausstellungskatalog, der Essay von Pellizzi versucht der besonderenÄsthetik von Basquiats Arbeiten gerecht zu werden).
• Haenlein, Carl (Hrsg.): Jean-Michel Basquiat. Das zeichnerische Werk. Hannover:Kestner Gesellschaft 1989 (Ausstellungskatalog mit einer Zeichnungsserie aus derSammlung Thomas Ammann).
• Jean-Michel Basquiat, Julian Schnabel. Malmö, Schweden: Roseeum 1989 (Ausstel-lungskatalog).
• Haenlein, Carl (Hrsg.): Jean-Michel Basquiat. Hannover: Kestner-Gesellschaft 1986(Ausstellungskatalog).
• Jean-Michel Basquiat. Drawings. Zürich: Edition Bischofsberger und Boone 1985(Katalog der Zeichnungsserie von 1982/83 aus der Sammlung Thomas Ammann).
1.2 Zur bisherigen kunsthistorischen Einordnung Basquiats
..., the critical literature on his work has been rather uncritical. Emphasizing theanectotal, the elegiac, and the sacramental, many writers drift from analyses ofhis art into personal recollections of the artist, and seem at times to vie for the di-stinction of having known him best. Little arthistorical comparison is offered;there is a widespread reluctance to venture outside the sphere of black cultureheroes such as Charlie Parker, Joe Louis, and Thelonius Monk, who dominatediscussions of his work .... Surely the work of few other important contemporaryartists is more consistently talked about in terms from outside the visual arts.16
Treffender läßt sich die bisherige kunstkritische/kunsthistorische Einordnung Basquiats
kaum beschreiben, denn eine größere Polarisierung in der Bewertung eines Künstlers,
eine größere Entfernung von der eigentlichen Beschreibung des Werkes hin zu den end-
losen Diskussionen über die Qualität von Basquiats Arbeiten, seine steile Karriere, seinen
hohen Marktwert und seine Drogensucht ist kaum vorstellbar.
Die Rezeption von Basquiats Werk durch die weiße Kunstkritik kann in vier zeitlich auf-
einanderfolgende Stufen gegliedert werden: 1980 bis 1981 die euphorische "Entdek-
16 McEvilley In: Artforum, 94.
7
kung" durch Jeffrey Deitch und Rene Ricard,17 1982 bis 1984 der Versuch einer positi-
ven Beschreibung und Kategorisierung durch Lisa Liebmann, Jeanne Silverthorne, Flo-
rence Isaacs und Vivien Raynor,18 ab 1984 die Debatten um die Qualität seiner Arbeiten
von Kate Linker, Eleanor Heartney, Hilton Kramer und Robert Hughes19 und schließlich
die nach seinem Tod beginnende Diskussion über die "politischen Inhalte" seiner Arbei-
ten durch Peter Schjeldahl und Greg Tate.20
Während Basquiats frühe Graffitiarbeiten durchaus als politische Statements betrachtet
werden,21 nimmt das Interesse an den politischen Inhalten seiner Arbeiten zunächst pro-
portional zu seinem Erfolg ab. Die Kunstkritiker sind seit Rene Ricards Initialkategori-
sierung
If Cy Twombly and Jean Dubuffet had a baby and gave it up for adoption, itwould be Jean-Michel. The elegance of Twombly is there but from the samesource (graffiti) and so is the brut of the young Dubuffet.22
größtenteils bemüht, ihn durch die Vergleiche mit Cy Twombly und Jean Dubuffet, mit
Jackson Pollock und Robert Rauschenberg, mit Franz Kline und Andy Warhol im Kon-
text einer europäisch/amerikanischen high art Tradition zu etablieren, den schwarzen
low art "Graffitikünstler" für die weiße Kunstwelt salonfähig zu machen. So schreibt
Lisa Liebmann in ihrer Rezension von Basquiats erster New Yorker Einzelausstellung
bei Annina Nosei 1982:
Basquiat's art, on the whole, looks French; more specifically it suggests that par-ticular French esthetic that is rooted in language and linguistic signs. It is an
17 Deitch, Jeffrey: "Report from Times Square." Art in America. Nr. 68. September 1980, 58-63. Ri-card, Rene: "The Radiant Child." Artforum. Dezember 1981, Nr. 20, 35-43.18 Liebmann, Lisa: "Jean-Michel Basquiat at Annina Nosei." Art in America. Nr. 70, Oktober 1982,130. Silverthorne, Jeanne: "Jean-Michel Basquiat." Art in America. Nr. 20, Oktober 1982, 82/83.Isaacs, Florence: "Jean-Michel Basquiat. Young Rising Star in Contemporary Art." Visions. Vol. 2, Nr.1, 36-39. Raynor, Vivien: "Art. Paintings by Jean-Michel Basquiat at Boone." The New York Times.11. Mai 1984, C25.19 Linker, Kate: "Jean-Michel Basquiat." Artforum. Oktober 1984, 91. Heartney, Eleanor: "Bas-quiat/Warhol. Tony Shafrazi." Flashart International. Nr. 125. Dezember/Januar 1985/86. Kramer,Hilton: "Will the Death of Basquiat Awaken The Art World to its Slimier Side?" The New York Obser-ver. 31. August 1988, 1, 10. Hughes, Robert: "Jean-Michel Basquiat. Requiem for a Featherweight."The New Republic. 21. November 1988, 34-36.20 Schjeldahl, Peter: "Paint the Right Thing." Elle. November 1989, Nr. 51, 214-215. Tate, Greg: "Fly-boy in the Buttermilk. The Crisis of the Black Artist in White America." The Village Voice. Vo.XXXIV, Nr. 46, 14. November 1989, 31-36. Wiederabdruck in Tate, Greg: Flyboy in the Buttermilk.Essays on Contemporary America. An eye-opening Look at Race, Politics, Literature and Music. NewYork: Fireside 1992.21 So Faflick, Philip: "SAMO Graffiti. Boosh-Wah or CIA?" The Village Voice. 11. Dezember 1978.Ricard, Rene: "The Radiant Child." Artforum. Dezember 1981, Nr. 20, 35-43. Hager, 99.22 Ricard In: Artforum, 43.
8
esthetic that the Surrealists codified, that later artists such as Dubuffet improvi-sed upon, and that the French then largely abandoned insofar as painting wasconcerned, leaving its development to foreigners like Twombly and Penck. Bas-quiat is not French, but it is to this highly cultivated, expatriated, and often self-conscious tradition that his work pertains ..... 23
Die augenscheinliche "Primitivität" sowie die Schrift in Basquiats Arbeiten wird in diesen
Interpretationen zu einer Verlängerung von Jean Dubuffets Art Brut und Cy Twomblys
Schreiben, sämtliche Aspekte einer möglichen Bedeutung im afro-amerikanischen Kon-
text werden dadurch jedoch ausgeblendet.
Neben dieser Etablierung einer europäisch/amerikanischen "Ahnenreihe" wird zwischen
1982 und 1984 von der Kunstkritik vor allem die zeichnerische und malerische "Raffi-
nesse" Basquiats betont. So schreibt Vivien Raynor in ihrer Rezension der ersten Einze-
lausstellung Basquiats bei der Mary Boone Gallery 1984:
The young artist uses color well, applying it flatly, as in a composition of a ver-tical brown pickax, with Africa on the right in green, and, on the left, a prismlikeshape and the word "eye" drawn in white, all on a black ground. Elsewhere, thepaint is used more expressionistically in bright impastoed blocks. But more re-markable is the educated quality of Basquiat's line and the stateliness of his com-positions, both of which bespeak of a formal training that, in fact, he never had.24
Gleichzeitig jedoch setzt 1984 mit Kate Linkers Rezension der gleichen Ausstellung die
später immer lauter werdende Kritik an Basquiats Wiederholung der Bildelemente ein,
die so gar nicht zum Bild des "authentischen" Neo-Expressionisten passen :25
.... the problem with these works lies less in their elasticity of means than in thedecorative function they're increasingly forced to serve. There was too much he-re; often it seemed as though Basquiat had been required to churn out canvasespurely through permutations and combinations of the code. At his best the artistis quirky and whimsical, but how can you wax in some twenty-plus variations?26
23 Liebmann In: Art in America, 130.24 Raynor In: The New York Times, C25.25 Siehe dazu auch Heartney, Eleanor: "Basquiat/Warhol. Tony Shafrazi." Flashart International. Nr.125. Dezember/Januar 1985/86. Kramer, Hilton: "Will the Death of Basquiat Awaken The Art World toits Slimier Side?" The New York Observer. 31. August 1988, 1, 10. Hughes, Robert: "Jean-Michel Bas-quiat. Requiem for a Featherweight." The New Republic. 21. November 1988, 34-36 (dt. Übersetzung inHughes, Robert: Denn ich bin nichts, wenn ich nicht lästern darf. Kritische Anmerkungen zu Kunst,Künstlern und Kunstmarkt. München 1995).26 Linker In: Artforum, 91
9
Diese Kritik an der Wiederholung von Basquiats Bildelementen setzt sich auch ein Jahr
nach Basquiats Tod 1988 in einem Artikel des konservativen Kunstkritikers Robert
Hughes fort:
Es war die Geschichte eines kleinen ungeschulten Talents, das in die Kreissägeder Kunstbetriebspromotion geraten war, absurd überschätzt von den Händlern,Sammlern, Kritikern und nicht zuletzt von sich selbst. Das lag zum einen daran,daß Basquiat schwarz war, die ansonsten monochrome Kunstindustrie verspürtedas Bedürfnis, sich mit einem "primitiven" Touch zu erneuern. Weitaus bessereschwarze Künstler als Basquiat, wie der Bildhauer Martin Puryear, mußten sichnicht mit dieser Art von kurzfristigem Hype-Erfolg herumschlagen. Er zwangBasquiat dazu, sich ständig zu wiederholen, ohne daß er die Gelegenheit bekam,sich weiterzuentwickeln.27
Während Basquiats Werk zu seinen Lebzeiten bis auf die Ausnahme des 1985 für die
zweite Einzelausstellung Basquiats in der Mary Boone Gallery geschriebenen Essays von
Robert Farris Thompson nicht im Kontext afro-amerikanischer Kultur diskutiert wurde,
wird seit seinem Tod auch von weißen Kunstkritikern verstärkt auf seine "political and
social concerns" verwiesen - auf die zur Disposition stehende malerische Qualität soll
nun ein inhaltlicher Qualitätsbeweis folgen.28 Im Kontext dieser veränderten Sichtweise
auf das Werk Basquiats werden 1990 Arbeiten von ihm in der New Yorker Ausstellung
The Decade Show. Frameworks of Identity in the 1980s und 1991 in der kalifornischen
Ausstellung Compassion and Protest. Recent Social and Political Art from the Eli
Broad Family Foundation gezeigt.29
Die große Basquiat-Retrospektive des Whitney Museum of American Art in New York
von 1992, das solche Ausstellungen normalerweise nur etablierten, kunsthistorisch längst
abgesicherten Künstlern widmet, zeigte Basquiat im Anschluß an dieses neue Klima des
Multikulturalismus in der amerikanischen Kunstwelt daher als einen kritischen, eher kon-
zeptuell arbeitenden Künstler. Besonders seine Thematisierung von Jazzmusik und
schwarzen Boxern, von Kolonialisierung, Sklaverei und Rassismus werden nun von Ri-
chard Marshall, dem Kurator der Ausstellung, ins Zentrum der Diskussion gestellt.30 Die
Retrospektive wird jedoch bereits im Vorfeld von konservativen Kritikern wie Hilton
Kramer und David D'Arcy als ein Mittel zur Stabilisierung der hohen Preise Basquiats
27 Hughes, 402.28 Schjeldahl, Peter: "Paint the Right Thing." Elle. November 1989, Nr. 51, 214-215.29 Museum of Contemporary Hispanic Art, The New Museum of Contemporary Art, The Studio Muse-um in Harlem: "The Decade Show. Frameworks of Identity in the 1980s." 12. Mai - 19. August 1990.San Jose Museum of Art: "Compassion and Protest. Recent Social and Political Art from the Eli BroadFamily Foundation." 1. Juni - 25. August 1991.30 Marshall, Richard: "Repelling Ghosts." In: Marshall, 15-27.
10
angegriffen, ein unverblümt rassistischer Titel wie D'Arcys "Turning Point for Basquiat.
Exposure or Stardom? The 'craving for political correctness' leads major institutions like
the Whitney to plan shows of the black junky's work when doubts are growing over the
value - and authenticy - of much of it" war keine Ausnahme.31
Die Whitney-Retrospektive selbst teilte das New Yorker Kritikerlager in die wohlwol-
lende linksliberale Einschätzung von Peter Schjedahl, Thomas McEvilley und Roberta
Smith und die konservativen Attacken von Hilton Kramer und David D'Arcy, wie Adam
Gopnik festellt:32
Now that the Basquiat show has actually opened, up on the Whitney's fourthfloor, the two camps, pro- and anti Basquiat, are right back in place. On the oneside there are the Basquiat bashers, led by the redoubtable Robert Hughes, theymaintain that Basquiat was a barely sentient graffiti marker who was picked upby the downtown art world, which, with its special mixture of condescension andsolemn cultishness, gave him paints and brushes, fed him cocaine, and told him hewas an artist .... The boosters - led, bizarrely, by that constant friend to hip-hopculture the Times .... take the position that Basquiat was a natural genius whosummoned into his paintings the previously taboo energy and vitality of thestreets and got martyred for his troubles ....33
Roberta Smith, die Kunstkritikerin der New York Times, preist Basquiat in ihrer Rezen-
sion der Whitney-Retrospektive als den quintessentiellen Künstler der Achtziger Jahre,
der durch seine politischen Inhalte jedoch auch für die Neuziger Jahre Bedeutung hat:
More than many of his white counterparts, Basquiat had a pressing subject to ex-plore in this hybrid word-image style: being black in America. [...] ... as youspend time with the show, its very intensity consumes the attention, forcing thesensationalism of Basquiat's life to the periphery. Paradoxically, this enables oneto see that his art was essentially an anatomy of himself, one that charted his pas-sion for language and knowledge, his love for popular culture and music, his am-bition and his blackness and even the possibility of his own death. His work isone of the singular achievments of the 80's and, through its insistence that thepolitical is the strongest when it is most personal, it also has great relevance forthe 90's.34
31 D'Arcy In: The Art Newspaper, o.S.32 Schjehldahl, Peter: "Drawing Blood." The Village Voice. 3. März 1992, 85. McEvilley, Thomas:"Royal Slumming. Jean-Michel Basquiat Here Below." Artforum. November 1992, 92-97. Smith, Ro-berta: "Basquiat. Man for his Decade." The New York Times. 23. Oktober 1992, C1, C20.Kramer, Hil-ton: "Whitney Beatifies Basquiat as Ross Plays the Race Card." The New York Observer. 2. November1992, 1, 23. D'Arcy, David: "Basquiat's Case." Vanity Fair. November 1992, 124-146.33 Gopnik In: The New Yorker, 137.34 Smith In: The New York Times, C20.
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Bis zu Basquiats Tod 1988 wurden die pro und contra Debatten um die Qualität und
Bedeutung von Basquiats Werk ausschließlich von weißen Kunstkritikern geführt, die
Stimme afro-amerikanischer Intellektueller sucht man vergeblich. Das liegt zum einen an
deren frustierten Desinteresse an einem Kunstbetrieb, der Schwarze kategorisch aus sei-
nen hermetischen Zirkeln ausschließt. Zum anderen lehnen aber auch viele Basquiats
vermeintliche "Prostitution" ab und werfen ihm den Ausverkauf an die weiße Kunstwelt
vor.35 Doch seit seinem Tod ist bei ihnen ein Umdenken erfolgt, hat die Flut von pro-
duzierten Mißverständnissen ihr Schweigen gebrochen. Die Artikel von Greg Tate, bell
hooks, Lorraine O`Grady und Franklin Sirmans erläutern die afro-amerikanische Pro-
blematik von Basquiats Werk und thematisieren die ambivalente Rolle Basquiats als ei-
nem schwarzen Künstler in einem weißen Kunstsystem.36
Basquiats Werk ist heute, zehn Jahre nach seinem Tod, von einer endgültigen kunsthi-
storischen Einordnung noch weit entfernt. Was bislang erfolgt ist, sind kunstkritische
Kategorisierungen, die sich in der Abfolge Graffitikünstler, Neo-Expressionist und
schließlich "Aushängeschild" des amerikanischen Multikulturalismus zusammenfassen
lassen.37
1.3 Das "Phänomen Basquiat"
1.3.1 Biographie: Version A
Jean-Michel Basquiat first became famous for his art, then he became famous forbeing famous, then he became famous for being infamous - a sucession of repu-tations that often overshadowed the seriousness and significance of the art heproduced.38
Basquiat wurde am 22. Dezember 1960 in Brooklyn als Sohn eines haitianischen Vaters
und einer puertoricanischen Mutter geboren.39 Seine Familie war eine aufstrebende Mit-
telklassefamilie, die es sich leisten konnte, ihren Sohn auf Privatschulen zu schicken.
Basquiats Mutter förderte schon früh seine künstlerische Begabung, animierte ihn zum
35 Tate, 233.36 Siehe dazu Kapitel 1.4 Basquiats Rezeption in der (artistic) "black community" oder: "Nobody Lovesa Genius Child".37 Zum neuen Marktwert Basquiats als einem Repräsentanten des amerikanischen Multikulturalismussiehe O'Grady, 9.38 Marshall, 15.39 Diese Biographie hat als Quelle Sirmans In: Marshall, 233-250. Basquiats Biographie ist in denzahlreichen Zeitungsartikeln über sein Leben früh kanonisiert worden. Zu einer Biographie Basquiatsim Kontext der Subkultur New Yorks mit sehr guten Abbildungsmaterial siehe Hager, 38 - 46.
12
Zeichnen und besuchte mit ihm die Kunstmuseen New Yorks - im Brooklyn Museum
war Basquiat bereits als Sechsjähriger Mitglied.40 Trotz seiner Herkunft aus einer mit-
telständischen Familie begann Basquiat seine künstlerische Karriere jedoch nicht mit ei-
ner akademischen Ausbildung, sondern als Graffitischreiber. Zusammen mit seinem
Schulfreund Al Diaz besprühte er 1977 zuerst die U-Bahn und ab 1978 die Häuserwände
des Galerienviertels Soho mit poetischen und oft kritischen Phrasen wie "SAMO© as an
end to playing art" oder "SAMO© as an end to mindwash religion, stop running around
with the radical chic playing art with daddy's dollars", die er mit dem Pseudonym
SAMO© signierte.41 SAMO© ist eine Abkürzung für "same old shit", was in der afro-
amerikanischen Umgangssprache für die unveränderten rassistischen Verhältnisse in den
Vereinigten Staaten steht.42 SAMO© konnotiert aber auch "Sambo", die bekannteste
rassistische Bezeichnung für den Stereotyp des immer fröhlichen schwarzen Entertainers
- den für ein weißes Publikum spielenden schwarzen Künstler.43 Mit diesem selbstge-
schaffenen Alter ego thematisierte Basquiat von Anfang an ironisch-provokativ seine
Identität als afro-amerikanischer Künstler.44
Durch diese neue Art der Graffiti, die Basquiat gezielt an die Hauswände neben den Ga-
lerien Sohos plazierte, erhielt er schnell die Aufmerksamkeit der New Yorker Kunstwelt.
Zuerst hielt man Basquiats außergewöhnliche Graffiti für die eines weißen Konzept-
künstlers. Doch nachdem die Village Voice Al Diaz und Basquiat ausfindig gemacht
hatte, lüftete ein Interview in der Stadtzeitung das Geheimis um SAMO©.45 Al Diaz
kommentierte das Projekt SAMO© mit den Worten: "SAMO was like a refresher course
because there's some kind of statement being made. It's not just ego graffiti".46 Kurz
nach dem Erscheinen des Artikels hatten Basquiat und Al Diaz eine Auseinandersetzung,
die zur Beendung ihrer kollaborativen Arbeit führte - "SAMO© is dead" war daher im
Januar 1979 an den Wänden Sohos zu lesen.
40 Thompson In: Marshall, 29.41 Zu der Entstehung der SAMO© Graffiti siehe Hoban In: New York, 39; Hager, 42-46. Es wäre inter-essant, Basquiats Anfänge als Graffitischreiber und seine Differenz von den üblichen Graffitis heraus-zustellen. Viel Bildmaterial lagert hier jedoch noch in den Händen von Privatpersonen und ist schwerzugänglich.42 Sischy In: Interview, 119.43 Tate, 239; Boskin, 3-16.44 Im folgenden bezeichne ich Basquiat aus Platzgründen als einen "afro-amerikanischen Künstler",und nicht als einen "afro-amerikanischen Künstler karibischer Abstammung", was der korrekte Termi-nus wäre.45 Hager, 45. Faflick, Philip: "SAMO Graffiti. Boosh-Wah or CIA?" The Village Voice. 11. December1978.46 Hager, 47.
13
1979 begann Basquiat, seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von selbstbedruckten T-
Shirts und Postkarten zu verdienen.47 Er wurde zu einem festen Bestandteil der New
Yorker Subkultur, die Anfang der Achtziger Jahre aus zwei konträren Lebenshaltungen
und Kunstrichtungen bestand: Downtown traf sich die weiße Punk- und New Wave-
Avantgarde, deren Mitglieder die Galeristin der Fun Gallery Patti Astor, die Musiker
David Byrne, Blondie, Madonna, die B-52s und John Lurie sowie die Filmemacher Ma-
ripol, Diego Cortez, Jim Jarmusch und Eric Mitchell waren.48 In den South Bronx ent-
stand um die gleiche Zeit die afro-amerikanische und puertoricanische Jugendkultur des
HipHop, bestehend aus Graffitischreibern wie Lee Quinones, Toxic, A-One und Futura
2000, DJs wie Afrika Bambaata und Grandmaster Flash, Rappern wie Ramm-El-Zee und
Breakdancern wie der Zulu Nation. Basquiat pendelte zwischen diesen beiden Welten:
zu seinen Freunden zählten weiße Künstler und Musiker ebenso wie puertoricanische
und afro-amerikanische Graffitischreiber.
Basquiats erste Ausstellung war die Times Square Show, die 1980 programmatisch
Künstler beider Subkulturen zeigte: Jenny Holzer und Tom Otterness waren ebenso ver-
treten wie David Hammons und die Graffitikünstler Lee Quinones und Kenny Scharf:49
A patch of wall by SAMO, the omnipresent graffiti sloganeer, was a knockoutcombination of de Kooning and subway spray-paint scribbles.50
Diese erste Ausstellungsbesprechung Basquiats durch Jeffrey Deitch nimmt bereits die
spätere Rezeption seiner Arbeiten vorweg. Seine Graffiti wurde als eine Synthese aus
weißer und schwarzer Kultur, aus high und low angesehen.
Basquiats Beteiligung an der Gruppenausstellung New York/New Wave 1981 im P.S. 1 in
Queens markierte den Anfang seiner steilen Karriere. Basquiat zeigte über zwanzig Ge-
mälde und Zeichnungen, die die Aufmerksamkeit der New Yorker Galeristin Annina
Nosei und des Schweizer Galeristen Bruno Bischofsberger erregten.51 Nosei lädt Bas-
quiat im Oktober 1981 zu ihrer Gruppenaustellung Public Address ein, in der Künstler 47 Sirmans In: Marshall, 234. Basquiat verkaufte die Postkarten im Washington Square Park, in Sohound vor dem Museum of Modern Art (ibid., 43).48 Sirmans In: Marshall, 236. Zur Entstehung und Bedeutung des Mudd Clubs, des legendären Clubsder New Yorker Subkulturszene um 1980, siehe Hager, 50ff.49 Colab and Fashion Moda, New York: "Times Square Show. Juli 1980. Review siehe Lippard, LucyR.: "Sex and Death and Shock and Schlock". A Long Review of The Times Square Show." Artforum.August 1980, 50-55.50 Deitch In: Art in America, 61.51 P.S.1, Institute for Art and Urban Resources, New York: "New York/New Wave." 15. Februar - 5.April 1981. Review siehe Flood, Richard: "Skied and Grounded in Queens. New York/New Wave atP.S. 1." Artforum. März 1981, 85-87. Zur Rezeption der Ausstellung siehe auch Hager, 98.
14
mit sozialkritschen Themen wie Jenny Holzer und Barbara Kruger gezeigt wurden.52
Nach dieser Ausstellung wurde Nosei zu Basquiats Haupthändlerin und stellte ihm den
Keller unter ihrer Galerie als Atelier zur Verfügung.53 Dort produzierte Basquiat bis
1982 rund siebzig Gemälde. Nosei verkaufte die frisch aus dem Studio kommmenden
Arbeiten an die Sammler, die von Basquiats "intuitivem" Sinn für Farbe und Kompositi-
on begeistert waren. Basquiat wurde somit zu einem Zeitpunkt bekannt und vermarktet,
zu dem andere Künstler noch die Akademie besuchen, auf die Produktion seiner Werke
folgte die unmittelbare Präsentation und Rezeption.54
Im März 1982 hatte Basquiat seine erste New Yorker Einzelaustellung in der Galerie
von Nosei; im Juni 1982 war er der jüngste Teilnehmer der documenta 7; im September
1982 zeigte Bischofsberger seine Arbeiten in Zürich.55 Im Herbst 1982 beendete Bas-
quiats seine Geschäftsbeziehungen mit Nosei - "I wanted to be a star, not a gallery ma-
scot",56 so Basquiat - und arbeitete zurückgezogen in seiner Wohnung in der Crosby
Street: "I had some money; I made the best paintings ever. I was completely reclusive,
worked a lot, took a lot of drugs".57 Im November 1982 stellte Basquiat diese Arbeiten
in Pattie Astors neu gegründeter Fun Gallery im New Yorker East Village aus, die seit
1981 vorrangig Graffitikünstler zeigte.58 Im East Village gelegen, waren bei der Eröff-
nung neben den reichen Sammlern der Upper East Side vor allem afro-amerikanische
und puertoricanische Jugendliche aus der Nachbarschaft anwesend, die ein "subkul-
turelles Ambiente" erzeugten.59 Die Ausstellung wurde von Bischofsberger für die beste
gehalten, die Basquiat je hatte. Basquiat behielt daher die meisten der gezeigten Arbeiten
für seine eigene Sammlung.60
1984 wechselte Basquiat zur Mary Boone Gallery, einer der angesehensten und teuer-
sten Galerien New Yorks. "I wanted to be in a gallery with older artists", so Basquiat.
Laut McGuigan wollte er aber vor allem die diffamierenden Vergleiche der Kunstkritiker
52 Annina Nosei, New York: "Public Address." 31. Oktober - 19. November 1981.53 Sirmans In: Marshall, 239.54 Zur Legende des im Keller eingeschlossenen "wild boys" siehe auch Hager, 114.55 Annina Nosei Gallery, New York: "Jean-Michel Basquiat". 12. Februar - 3. März 1982. "Documenta7." Kassel, 19. Juni - 23. September 1982. Galerie Bruno Bischofsberger, Zürich: "Jean-Michel Bas-quiat." 11. September - 9. Oktober 1982.56 McGuigan In: The New York Times Magazine, 34.57 Sirmans In: Marshall, 241.58 Fun Gallery, New York: "Jean-Michel Basquiat." 4. November - 7. Dezember 1982. Zur Rolle derFun Gallery, die hauptsächlich Graffitikünstler ausstellt und so eine Verbindung zwischen DowntownManhattan und den Bronx bildete, siehe Hager, 110, 117; Plous, 33.59 McGuigan In: The New York Times Magazine, 34.60 Wie z. B. Jawbone of an Ass, Charles The First und Untitled (Sugar Ray Robinson).
15
zu Graffiti beenden und ein "etablierter" Künstler werden,61 denn, so Fred Braithwaite:
"Graffiti had become another word for nigger".62 Ab 1984 repräsentierten Mary Boone
und Bruno Bischofsberger gemeinsam Basquiat. Während Boone Basquiat neben Eric
Fischl, David Salle und Julian Schnabel zeigt, vermarktete ihn Bischofsberger in Europa
zusammen mit Andy Warhol, Francesco Clemente und Gerhard Richter.63 Bischofsber-
ger war in der Achtziger Jahren neben Boone einer der wichtigsten Trendsetter auf dem
internationalen Kunstmarkt. Er vertrat zu Beginn der Achtziger Jahre bereits Julian
Schnabel in Europa und initiierte damit eine internationale Welle des Neo-
Expressionismus.64 Bischofsberger und Boone waren Talente in der Vermarktung der
neuen Malerei und standen im krassen Kontrast zu der intellektuellen und "ärmlichen"
Behandlung der Kunst durch die New Yorker "non for profit"-Galerien - sie erst brach-
ten den "glamour" der Mode- und Musikwelt in die Kunstwelt, die von ihnen re-
präsentierten Künstler wurden zu "Stars" gemacht.
In diesem Kontext ist es nicht verwunderlich, daß Basquiat in den Achtziger Jahren vor
allem als ein Künstler mit spezifisch malerischen Qualitäten rezipiert wurde. Der "au-
thentische Primitive aus dem Untergrund der Straßen von New York" war das stereo-
type Bild, das seine Galeristen von ihm entwarfen. Diese geschickte Vermarktungsstra-
tegie von Bischofsberger und Boone ließen Basquiat schon 1984 zum teuersten afro-
amerikanischen Künstler der Kunstgeschichte werden. Im August 1984 eröffnete Bas-
quiats erste Museumsausstellung in der Fruitmarket Gallery in Edinburgh.65 Zusammen
mit Andy Warhol und Francesco Clemente arbeitete Basquiat 1984 an den Collaborati-
on Paintings, 1985 schließlich mit Andy Warhol alleine. Zusammen mit Warhol produ-
zierte Basquiat siebzig Gemälde, von denen jedoch nur wenige verkauft wurden.66 Auch
61 McGuigan In: The New York Times Magazine, 3562 Haden-Guest In: Vanity Fair, 190.63 Mary Boone/Michael Werner Gallery, New York: "Jean-Michel Basquiat." 5. Mai - 26. Mai 1984.Galerie Bruno Bischofsberger, Zürich: "Collaborations. Jean-Michel Basquiat, Francesco Clemente,Andy Warhol." 15. September - 13. Oktober 1984.64 Hager, 97.65 The Fruitmarket Gallery, Edinburgh: "Jean-Michel Basquiat. Paintings 1981-1984." 11. August - 23.September 1994 (Wanderausstellung).66 Hager, 129. Galerie Bruno Bischofsberger, Zürich: "Collaborations. Jean-Michel Basuqiat, FrancescoClemente, Andy Warhol." 15. September - 13. Oktober 1984. Akira Ikeda Gallery, Tokyo: "Collabora-tions: Jean-Michel Basquiat, Franceso Clemente, Andy Warhol." 14. - 31. Januar 1985. Tony ShafraziGallery, New York: "Warhol and Basquiat. Paintings." 2. Dezember 1985 - 9. Januar 1986. Akira IkedaGallery, Tokyo: "Collaborations: Jean-Michel Basquiat & Andy Warhol." 8. - 30. September 1986.Galerie Bruno Bischofsberger, Zürich: "Collaborations: Jean-Michel Basquiat and Andy Warhol." 15.November 1986 - 17. Januar 1987.
16
die Reaktionen der Kunstkritik auf dieses von dem gemeinsamen Galeristen Bischofsber-
ger initiertes Joint-Venture waren ablehnend bis vernichtend.67
1985 begann Basquiats Rezeptionsphase des "being famous for being famous". Andy
Warhol schrieb am 10. Januar 1985 in sein Tagebuch: "I think Jean Michel will be the
most famous black artist after this New York Times thing comes out".68 Im Februar 1985
schmückte Basquiat das Cover des New York Times Magazine, in dem Cathleen McGui-
gans Titelgeschichte New Art, New Money. The Marketing of An American Artist an-
hand von Basquiats kometenhafter Karriere den Kunstboom der Neo-Expressionisten in
New York beschreibt.69
1986 beendete Basquiat seine Zusammenarbeit mit der Mary Boone Gallery und war
somit ohne eine Galerie in New York. Im November 1986 hatte er seine erste Einzelaus-
stellung in Deutschland in der Kestner-Gesellschaft in Hannover - seine zweite Museum-
sausstellung.70 In Hamburg arbeitete er zusammen mit Salvador Dali, Keith Haring, Jo-
seph Beuys und anderen an der Dekoration für Andre Hellers Freizeitpark Luna Luna.71
Als Andy Warhol im Februar 1987 starb, geriet Basquiat in eine schwere Krise. Seit Juni
1987 agierte der New Yorker Kunsthändler Vrej Baghoomian als sein amerikanischer
Galerist; Basquiat stellte jedoch eineinhalb Jahre überhaupt nicht mehr aus. Erst im Janu-
ar 1988 hatte er eine Einzelausstellung in der Pariser Galerie Yvon Lambert.72 In New
York hatte er im Juni 1988 eine Ausstellung in der Vrej Baghomian Gallery.73 Gezeigt
wurden die letzten Bilder Basquiats, in denen er durch Referenzen an das Sterben wie
die wiederholten Worte MAN DIES ( in Eroica I, Eroica II ) und den Tod (Riding
with Death) seinen nahen Tod vorwegsieht. Am Freitag, den 12. August 1988, starb
Basquiat in seinem Loft in der Great Jones Street an einer Überdosis Drogen.
1.3.2 Julian Schnabels Film Basquiat
67 Siehe Hager, 129. Raynor, Vivien: "Basquiat and Warhol." The New York Times. 20. September1985, 85.Heartney, Eleanor: "Basquiat/Warhol. Tony Shafrazi." Flashart International. Nr. 125, Dezember1985/Januar 1986, 43.68 Hackett, 627.69 McGuigan, Cathleen: "New Art, New Money - The Marketing of an American Artist." The NewYork Times Magazine. 10. Februar 1985, 20-28, 32-35, 74 (Titelbericht).70 Kestner-Gesellschaft, Hannover: "Jean-Michel Basquiat." 28. November 1986 - 25. Januar 1987.71 Sirmans In: Marshall, 248.72 Galerie Yvon Lambert, Paris: "Jean-Michel Basquiat." 9. Januar - 10. Februar 1988.73 Vrej Baghoomian Gallery: "Jean-Michel Basquiat. Paintings - Drawings." 15. Juni - 26. Juli 1988.
17
Basquiats Leben und Karriere wurde durch Julian Schnabels Film Basquiat im August
1996 in New York plötzlich wieder zum Gesprächsthema Nummer eins. Nur in drei klei-
nen Programmkinos laufend, bediente Basquiat die Mitglieder der jungen Werbe-, Mo-
de- und Kunstszene in Downtown Manhattan. Im traditionellen Sommerloch der New
Yorker Kunstszene erzählte Basquiat die Geschichte von "money and greed" des
Kunstmarktes der frühen Achtziger Jahre. Basquiat war ein Teil dieses Kunstbooms, der
in Deutschland die "Neuen Wilden" hervorbrachte und den internationalen Neo-
Expressionismus zur Kunst für Mittelklassesammler und Investmentbänker gleicherma-
ßen werden ließ. Julian Schnabel zeigt den Künstler Basquiat als eine Metapher dieses
Kunstmarktes. Aus dem Nichts kommend erobert Basquiat im Schnellschritt die Herzen
der Frauen, Galeristen und Sammler. Eine kometenhafte Karierre, die nur New York
produzieren konnte. Vom "wild boy raised by wolves"74 wird Basquiat innerhalb von
zwei Jahren zum jetsettenden Star der internationalen Kunstszene. Basquiats von Julian
Schnabel erzählte Karriere entspricht der oben geschilderten ersten Version seiner Bio-
graphie, die durch unzählige Zeitschriftenartikel bereits kanonisiert worden ist. Wer all
diese Berichte liest, glaubt, Basquiats Leben zu kennen, fast so wie man die Viten eines
Pablo Picasso oder Vincent Van Gogh zu kennen vermeint.
Die komplexe Persönlichkeit Basquiats, seine Starqualitäten und der Geniekult, der um
ihn betrieben wird, fördern ein weiteres biographisches Interesse, das nun durch Phoebe
Hobans Biographie gedeckt werden wird. Selten wurde ein zeitgenössischer Künstler so
populär, näherte sich sein Leben so dem eines Pop Stars an. Basquiat erfreut sich heute
weltweit einer großen, zumeist jugendlichen Fangemeide, die gerne neue Details über
sein Leben und Werk austauscht. Auch bei meinen Recherchen in New York stellte ich
bald fest, daß fast jeder dritte in Downtown Manhattan Basquiat kannte und zuminde-
stens eine Anektode über ihn oder gar eine Begegnung mit ihm zu erzählen hatte. Das
Mitteilungsbedürfnis der New Yorker über Basquiats Leben ist ungebrochen. Bei ge-
nauerem Nachfragen jedoch hat sich zumeist ergeben, daß es sich um recht oberflächli-
che Bekanntschaften handelte. Basquiat selbst beklagt sich über seine angeblichen
Freunde in einem Interview: "A lot of people are going to say they know me".75 Basquiat
wirklich gekannt haben nur wenige. Und noch wenigere sind in sein intellektuelles Uni-
versum vorgedrungen. Basquiat unterhielt sich mit fast niemanden über die Inhalte seiner
Arbeiten - mit Ausnahme von Ouattara. In einem Interview mit Steven Hager begründet
74 So Jeffrey Deitch in der Ausstellungsbesprechung von Basquiats Einzelausstellung bei Annina Nosei1982. Deitch, Jeffrey: "Jean-Michel Basquiat." Flashart. Nr. 16, Mai 1982, 49-50.75 Hager, 39.
18
er dies mit den Worten: "I don't know if I want people to know these things about me.
It's like the end of mystery".76
So nimmt es nicht Wunder, daß sein Leben nicht von einem engen Freund, sondern von
seinem einstmaligen Erzfeind Julian Schnabel verfilmt wurde. Julian Schnabel und Bas-
quiat hatten Mitte der Achtziger Jahre bei der New Yorker Mary Boone Gallery einen
regelrechten Wettkampf laufen. Wer seine Arbeiten am teuersten verkaufte, gewann.
Sieger war schnell Basquiat, der mit vierundzwanzig Jahren bereits der teuerste schwar-
ze Künstler der Kunstgeschichte war.77 Schnabels späte Rache an Basquiat ist nun sein
Film Basquiat, mit dem Schnabel post mortem an Basquiats Ruhm teilnimmt und den
seinen dadurch vermehrt. Diese eigenartige Transferleistung konnte zustandekommen,
da sich Schnabel selbst als der väterliche Freund Basquiats in den Film "geschmuggelt"
hat, der er jedoch nie gewesen ist. Das Drehbuch zu Basquiat wurde von dem polnischen
Filmemacher Lech Majewski geschrieben. Da dieser jedoch nur bedingt Kenntnis über
Basquiats Leben hatte, stellte Julian Schnabel Basquiats frühen Freund Michael Holman
an, ein weiteres Drehbuch zu schreiben. Michael Holman ging seit 1978 zusammen mit
Basquiat und Vincent Gallo abends in den Mudd Club aus und gründete im Mai 1979
mit Basquiat, Vincent Gallo und Shannon Dawson die Art-Noise Band Gray.78 Michael
Holman wußte also über Basquiats subkulturelles Leben sehr gut Bescheid. Michael
Holman ist selbst ein Afro-Amerikaner, der jedoch wegen seiner hellen Hautfarbe zu-
meist für weiß gehalten wird. In seinem Drehbuch für Julian Schnabel waren Holman
Basquiats Freundschaften zu Graffitischreibern und Rappern wie Lee Quinones, Ramm-
El-Zee und Fred Braithwaite ein wichtiges Anliegen. Auch Basquiats komplizierter Be-
ziehung zu seinem Vater Gerard räumte er einen großen Stellenwert ein. Am Ende des
Films hätte Basquiat in Afrika bei Ouattaras Großmutter eine Entziehungskur machen
sollen.79 Nichts von all diesen Ideen übernahm Julian Schnabel. Er strich Michael Hol-
mans subtilere Charakterisierungen Basquiats, seine Einordnung in den Kontext der New
Yorker Subkultur der frühen Achtziger Jahre sowie seine Freundschaften zu afro-
amerikanischen Künstlern fast vollständig. Stattdessen integrierte er sich selbst als "Al-
bert Milo" in Basquiats Leben und zeichnet so ein Portrait der geldgierigen New Yorker
Kunstszene der Achtziger Jahre. Dieses Portrait stimmt überein mit der oben geschil-
derten Version von Basquiats Biographie, die Basquiat vornehmlich als einen Nutznießer
und später als Opfer des New Yorker Kunstsystems sieht.
76 Hager, 40.77 Siehe dazu auch O'Grady In: Artforum, 9.78 Hager, 54; Sirmans In: Marshall, 236.79 Interview mit Michael Holman im September 1996 in New York. Siehe dazu auch meinen Artikel"HEROism. Jean-Michel Basquiat." Spex. Dezember 1996, Nr. 12, 44-46.
19
Obwohl Basquiat eine Verfilmung von Basquiats Leben sein soll, bleibt dem Zuschauer
die Person Basquiat merklich fremd. Was Schnabel zeigt, sind "stories", die man sich
über Basquiat erzählt, eine aus vielen verschiedenen Blickpunkten konstruierte Identität.
Die "eigentliche" Person jedoch entzieht sich der Darstellungsweise. Das ist einerseits ein
typisches Phänomen des Pop Stars, an dessen privatem Leben die Fangemeinde teil-
nehmen will und der sich dennoch durch seine konstruierte Persona dieser entzieht, zum
anderen aber auch das typische Schicksal des "schwarzen Mannes" in Amerika. Basquiat
wird in Julian Schnabels Film, wie in den unzähligen Zeitschriftenartikeln zuvor, zu einer
Leerstelle, zu einem "Invisible Man", auf den die Vorstellungen der Weißen projeziert
werden, der aber dadurch nicht greifbarer wird. Das wird schon an der Rollenbesetzung
deutlich. Schnabel hat den Film in einer vorher nicht bekannten Weise als eine Parabel
über den Ruhm angelegt. Die amerikanischen und deutschen Filmankündigungen laute-
ten: "David Bowie spielt Andy Warhol, Dennis Hopper spielt den Galeristen Bruno Bi-
schofsberger, Gary Oldman ist Schnabels Alter Ego Albert Milo, Courtney Love ist Lady
Pink". Bekannte Film- und Pop Stars übernehmen die Rollen der weißen Begleiter Bas-
quiats. Allein Basquiat selbst wird von dem bis daher nicht als Filmschauspieler in Er-
scheinung getretenen Theaterschauspieler Jeffrey Wright gespielt. Während die weißen
Figuren in ihrem Ruhm seltsam verdoppelt sind, spielt der weitgehend unbekannte Je-
ffrey Wright den mysteriösen Basquiat. Allein er verschmilzt mit dem darzustellenden
Charakter, liefert ein Bild des "Authentischen".
Nach dem großen Erfolg von Julian Schnabels Basquiat sahen sich alte Freunde Bas-
quiats auf den Plan gerufen, der Öffentlichkeit ein anderes Bild Basquiats zu vermitteln.
So arbeitet die in New York lebende französische Filmemacherin Maripol seit Herbst
1996 an einem Dokumentarfilm, der durch Interviews mit frühen Freunden Basquiats ein
anderes, detaillierteres Bild von ihm zeichnen soll. 80 Im Sommer 1997 hat Maripol zu-
dem den Spielfilm New York Beat geschnitten. New York Beat ist ein Film mit und über
Basquiat, der bereits im Dezember 1980 gedreht wurde und der einen Tag aus dem Le-
ben des jungen Basquiat zeigt - Maripols New York Beat ist somit ironischerweise die
"authentische" Vorwegnahme von Julian Schnabels Film Basquiat. Zusammen mit Fred
Braithwaite, Lee Quinones, Patti Astor sowie den New Yorker Bands Blondie, Kid
Creole and the Coconots und Tuxedomoon liefert New York Beat ein Portrait der sub-
kulturellen Szene Downtown Manhattans zu Beginn der Achtziger Jahre.81 Die finan-
ziellen Schwierigkeiten des italienischen Finanziers Rizzoli jedoch ließen das unge-
80 Mehrere Interviews mit Maripol 1995, 1996 und 1997 in New York.81 Hager, 96; Sirmans In: Marshall, 238; Hoban In: New York, 40.
20
schnittene Filmmaterial von New York Beat achtzehn Jahre lang lagern. Nun erst ver-
sucht Maripol, für den Film einen Verleih zu finden.
1.3.3 Biographie: Version B
Es gibt also durchaus noch eine andere, kaum erforschte Biographie Basquiats. Zu wenig
weiß man bislang vom afro-amerikanischen Kontext seines Lebens und von seinen intel-
lektuellen Interessen. Meine Recherchen in diese Richtung zeigten vor allem, daß es sehr
schwer ist, das Vertrauen der wenigen schwarzen Freunde Basquiats zu gewinnen. Zu
groß ist das Mißtrauen in weiße Journalisten, die nur wieder eine weitere "life and death
story" schreiben wollen. So war Basquiats afrikanischer Freund Ouattara beispielsweise
erst nach mehreren Anläufen und meinem Interpretieren von Basquiats Arbeiten in einem
afro-amerikanischen Kontext bereit, mich durch Informationen zu unterstützen. Jemand
wie Maripol hingegen, die immerhin auch eine gute Bekannte Basquiats gewesen ist, will
er von seinem Wissen über Basquiats Bildinhalte nichts mitteilen. Dies ist nur ein Bei-
spiel, um die größtenteils mit dem amerikanischen Rassismus zusammenhängenden zö-
gerlichen bis ablehnenden Verhaltensweisen der wenigen schwarzen Freunde Basquiats
zu illustrieren.
Basquiat war zusammen mit Fred Braithwaite, Lee Quinones, Michael Holman und
Ramm-El-Zee einer der wenigen afro-amerikanischen und puertoricanischen Künstler in
Downtown Manhattan. Sein Interesse galt, ebenso wie das Michael Holmans und Fred
Braithwaites, einer synkretistischen Mischung aus europäischer, amerikanischer, afro-
amerikanischer, karibischer und afrikanischer Kultur.
1978 begann Basquiats Freundschaft mit Fred Braithwaite alias Fab Five Freddy. Fred
Braithwaite, der wie viele andere SAMO© wegen seiner unüblichen Graffiti und seiner
intellektuellen Sophistikation nicht für einen schwarzen Graffitischreiber, sondern für
einen weißen Konzeptkünstler hielt, war erstaunt, als er Basquiat auf einer Party in ei-
nem Loft auf Canal Street mit den Worten "Yo Fred, SAMO's here" vorgestellt bekam.82
Braithwaite, der heute Moderator einer HipHopsendung bei dem Musiksender MTV ist,
fungierte in der New Yorker Subkulturszene der frühen Achtziger Jahren als ein wichti-
ger Vermittler zwischen der in den Bronx seit Mitte der Siebziger Jahre entstandenen
schwarzen und puertoricanischen Kultur des HipHop und der fast ausschließlich weißen
82 Sischy In: Interview, 119. Zu dieser legendären Party siehehttp://www.cleanroom.co.uk/theguy/html/script. Zu Fred Braithwaites Biographie siehe Toop, 140.
21
Avantgarde-Szene in Downtown Manhattan. So konzipiert Braithwaite zusammen mit
Charlie Ahearn 1982 den Graffitikultfilm Wild Style. Dieser Film ist - ebenso wie Mari-
pols Film New York Beat - ein Spielfilm, in dem die Protagonisten sich selbst spielen und
der daher als ein Dokumentarfilm der Zeit dienen kann. Wild Style zeigt Braithwaite als
"Manager" der weißen "Journalistin" Pattie Astor, die das subkulturelle Leben der Graf-
fitischreiber in den Bronx erkunden will. Tatsächlich ist Pattie Astor die Eigentümerin
der New Yorker Fun Gallery, in der Basquiat 1982 eine Einzelausstellung hatte und die
seit 1981 die erste Galerie in Manhattan ist, die Graffitikünstler zeigt. Die Musik zu Wild
Style wurde unter anderem von Basquiats Freund Ramm-El-Zee produziert. 83
Braithwaite zeigte Deborah Harry, der Sängerin der Punkrockgruppe Blondie, die
schwarze Kultur des HipHop in den Bronx. Diese produzierte daraufhin das Stück Rap-
ture, der Hommage der weißen New Yorker Punkrockszene an den frühen HipHop
schlechthin und der erste weiße Rap überhaupt.84 In dem dazugehörigen Musikvideo
spielte Basquiat als Schauspieler mit.85 1978 lebte Basquiat einige Monate lang zusam-
men mit Braithwaite und dem puertoricanischen Graffitischreiber Lee Quinones in einem
Loft in Soho. Während Braithwaite und Quinones auf riesige Leinwände Graffiti malten,
fertigte Basquiat kleine Baseballkarten an.86 Dazu hörten sie Kassetten von HipHop-
Parties, die Braithwaite aus den South Bronx mitgebracht hatte.87 Diese Kassetten zir-
kulierten damals in den interessierten Kreisen der Downtown Avantgarde und steigern
deren Interesse an der neuen schwarzen Musik des HipHop.88
Braithwaite vermittelte daher den Bronxer HipHop-DJ Afrika Bambaataa an den Mudd
Club und an das Negril, wo dieser jeden Donnerstag für ein fast ausschließlich weißes
Publikum auflegte (Abb. 1.1).89 Afrika Bambaataas Musik ist ein komplexes Patchwork
aus Synekdochen der verschiedensten Kulturen, das jedoch in einer eigenständigen
schwarzen Kunstform - dem HipHop - resultiert. Bambaataa mischt in seiner Musik
Beethovens Fünfte Symphonie zusammen mit elektronischer Musik aus Europa und Ja-
pan, karibischem Calypso und amerikanischem Rock und setzt damit William Burroughs
literarische Collagestrategie der "cut-ups" in eine musikalische Form um.90 Bambaataas
musikalisches Konzept eines kulturellen Synkretismus aus Europa und Amerika, aus
schwarz und weiß, aus high und low steht paradigmatisch für Basquiats Collage- und 83 Siehe dazu auch Hager, 112.84 Jones, 50.85 Siehe dazu den Dokumentarfilm Shooting Star.86 Sischy In: Interview, 119.87 Sischy In: Interview, 119.88 Toop, 133.89 Toop, 133.90 Toop, 105.
22
Zitatstrategien.91 Afrika Bambaataa kannte die Theorien schwarzer nationalistischer Füh-
rer wie Marcus Garvey oder Malcolm X und integrierte schon früh ein politisches Be-
wußtsein in den HipHop. Er gründete in den South Bronx die gangartige aber frieden-
sorientierte Zulu Nation, eine Organisation, die sich von einer Breakdancegrupppe zu
einer international agierenden nationalistischen Bewegung entwickelt und die ihre afro-
zentrische Theorie heute über das Internet verbreitet.92 Die Mitglieder der Zulu Nation
nannten sich Zulu Kings,93 Afrika Bambaata selbst gestaltete sein Erscheinungsbild nach
dem Zulu König Shaka .94
Im Mai 1979 gründete Basquiat zusammen mit Michael Holman die Art-Noise Band
Gray, die in weißen New Wave Clubs wie dem Mudd Club, dem CBGB und dem Hurrah
auftrat.95 Basquiat spielte Gitarre, Klarinette und Syntheziser und war, so Michael Hol-
man, der spirituelle, kreative und ästhetische Führer der Band.96 Gray spielte eine Mi-
schung aus Jazz, Punk und Synth-Pop, die sie selbst als "noise music" bezeichneten.97
Basquiat in einem Interview mit dem New York Times Magazine: "I was inspired by
John Cage at the time - music that isn't really music. We were trying to be incomplete,
abrasive, oddly beautiful".98 Im August 1980 jedoch trat Basquiat aus der Band aus, um
sich seiner künstlerischen Karriere widmen zu können.99
Im April 1981 organisierte Fred Braithwaite zusammen mit Futura 2000 im Mudd Club
eine Ausstellung von Graffitikunst, an der auch Basquiat teilnahm - Beyond Words.
Graffiti-Based-Rooted-Inspired Works (Abb. 1.2).100 Basquiat stellte unter seinem Graf-
fitipseudonym SAMO© zusammen mit Fred Braithwaite, Ramm-El-Zee, Lee Quinones,
Lady Pink, Futura 2000, Henry Chalfant und anderen aus.101 Mit den beiden Graffiti-
schreibern Ramm-El-Zee und Toxic fuhr Basquiat im Dezember 1982 nach Los Angeles,
wo er zwei Monate lebte und arbeitete. Er portraitiert sich, Ramm-El-Zee und Toxic in
91 Siehe dazu Kapitel 2.4 Basquiats Collageverfahren als visuelle Umsetzung der musikalischen Strate-gie des "Sampling".92 Siehe dazu "http:// daveyd.com/ wordsfrombam" und "http:// www.thestrandcafe.com/ mills/ con-tact".93 Toop, 59.94 Jones, 49.95 Sirmans In: Marshall, 236. Michael Holman arbeitet in den frühen Achtziger Jahren zusammen mitAfrika Bambaataa im Negril (Toop, 133). Es ist daher anzunehmen, daß auch Basquiat Bambaataapersönlich kannte.96 Hoban In: New York, 39.97 Sirmans In: Marshall, 237.98 McGuigan In: The New York Times Magazine, 26.99 Sirmans In: Marshall, 238.100 Mudd Club, New York: "Beyond Words. Graffiti-Based-Rooted-Inspired Works. 9. - 24. April 1981.101 Sirmans In: Marshall, 238.
23
den Arbeiten Hollywood Africans und Hollywood Africans in Front of the Chinese
Theater with Footprints of Movie Stars von 1983 (Abb. 1.3, 1.4). Im Mai 1983 reiste
er zusammen mit Toxic nach Jamaica.102 Der fünf Jahre jüngere Puertoricaner Toxic,
dessen Portrait Basquiat 1984 malt (Toxic, Abb. 1.5) wuchs in der South Bronx auf und
lebt heute in Italien.103 Zusammen mit dem 1964 in Manhattan geborenen Afro-
Amerikaner A-One sprüht Toxic nicht nur auf U-Bahnwagons, sondern auf ganze
Häuserwände in den South Bronx (Abb. 1.6). A-One war ein fester Bestandteil der
Graffitiszene der Galerie Fashion Moda in den South Bronx, dessen Graffiti seinen Aus-
sagen zufolge von Basquiat inspiriert war, der ihm auch bei seiner künstlerischen Karrie-
re half - A-One stellte zusammen mit Ramm-El-Zee 1984 auf der Biennale XLI in Vene-
dig aus.104 Basquiat portraitiert A-One 1982 in seiner Arbeit Portrait of A-One a.k.a.
King (Abb. 1.7).
Der 1960 in Queens geborene Graffitischreiber, DJ und Rapper Ramm-El-Zee ist einer
der Erfinder der hochcodierten Zeichen-, Gesten-, Kleider- und verbalen Sprache der
HipHop-Kultur.105 In Anlehnung an die Geheimalphabete und Sprachdekonstruktionen
der schwarzen nationalistischen Five Percenter schreibt Ramm-El-Zee ganze Manifeste
zu seiner "Rüstungsgraffiti", die er "Ikonoklast Panzerism" nennt. Ramm-El-Zee macht
Basquiat erstmals mit den militanteren Positionen des afro-amerikanischen Denkens ver-
traut und versucht Basquiat für die Ziele der nationalistischen Gruppe der Five Percen-
ter, die eine Abspaltung der Nation of Islam ist, zu instrumentalisieren, wie Basquiats
damalige Freundin Suzanne Mallouk bemerkt: "Rammelzee often told Jean-Michel that
he now had a responsibility to people of colour. He brought him to meetings of the Five
Percent Nation".106 Ramm-El-Zees vielzitierter Ausspruch "in a war against symbols
which have been wrongly titled, only the letter can fight" kann als ein Motto von Bas-
quiats Ausloten des "Mikrokosmos Wort", seiner hohen Bewertung des einzelnen Buch-
stabens fungieren.107
102 Sirmans In: Marshall, 242.103 Hoekstra, 278.104 Hoekstra, 51.105 Zu Ramm-El-Zee siehe auch DeAk, Edith: "Train as Book." Artforum. Mai 1983, 88-93. Tate,Greg: "Ramm-El-Zee." B Culture. Vol. 1, Nr. 1. 1986. Abb. siehe Hagenberg, o.S, Hager, 78, 89. Hoek-stra, 246.106 Sirmans In: Marshall, 236. Der sektenähnliche Geheimbund der Five Percenter hat einenmystischen Hintergrund (Sonnenereignisse, Zahlensymbolik, Geheimalphabet) und stellt den Glaubenan den "Original Man", den "Asiatic Black Man", in den Mittelpunkt seiner Ideologie. Viele Rapgrup-pen wurden von den Five Percentern Anfang der Neunziger Jahre als Sprachrohre der Bewegung in-strumentalisiert.107 Tate In: Diederichsen 1993b, 165. So assoziiert auch Thompson mit dem von Basquiat geschriebe-nen Wort WEAPON Ramm-El-Zees "Ikonoklast Panzerism" und nicht etwa den naheliegenden Stereo-typ des schwarzen Gangsters (Thompson In: Marshall, 36).
24
Basquiats "Samo"-Graffiti hat inhaltlich und stilistisch jedoch sehr wenig mit der Graffiti
seiner Freunde Toxic, Ramm-El-Zee und A-One zu tun. So sieht Ramm-El-Zee selbst
Basquiat nicht als einen "authentischen" Graffitischreiber an:
Jean-Michel is the one they told you must draw it this way and call it black manfolk art, when it was really white man folk art that he was doing. That's what hedraw .... white man folk art. He does not draw black man folk art because theytold him what to draw .... They called us graffiti but they wouldn't call him graf-fiti. 108
Trotzdem versteht Basquiat seine Graffitifreunde als eine Verbindung zu der neu ent-
stehenden Kultur des HipHop, lädt sie generös auf Reisen ein und fördert ihre künstleri-
schen Karrieren.
Basquiats Interesse an Musik war trotz seines Ausstiegs bei der Band Gray auch nach
1980 ungebrochen. So arbeitete Basquiat seit 1982 selbst als DJ in verschiedenen Clubs
in Downtown Manhattan.109 In seinen 1982 und 1983 entstandenen Arbeiten Charles
the First, CPRKR, Discography (One), Discography (Two), Horn Players und Max
Roach thematisiert er die Musik des Bebop. 1983 produzierte Basquiat zusammen mit
seinen Graffitifreunden Fred Braithwaite, Toxic, A-One, Al Diaz und Ramm-El-Zee eine
der ersten Rap-Platten überhaupt: Beat Bop (Abb. 1.8).110 Beat Bop erschien als limi-
tierte Pressung auf Basquiats eigens dafür gegründetem Plattenlabel "Tartown Record
Co". Der Name "Tartown" spielt sowohl auf "Chocolate City", die schwarze Bezeich-
nung für Washington und im allgemeine jede Stadt mit einem hohen schwarzen Bevölke-
rungsanteil als auch auf "Coontown", dem weißen Schimpfwort für schwarze Stadtvier-
tel an. Ramm-El-Zees Beat Bop-Rap hat als sein Thema die afro-amerikanische Erzie-
hung und simuliert eine Diskussion zwischen einem Gangster und einem Kind über das
Für und Wider des Schulbesuches. Die Musik von Beat Bop ist ein mit nebligen
Echoeffekten durchtränkter "slow trance beat", den David Toop mit der hypnotischen
"drumbeat" Musik der Yoruba aus Nigeria vergleicht.111 Die Musik von Beat Bop dient
als Hintergrundmusik von Style Wars, Henry Chalfants Dokumentarfilm über die New
Yorker Graffitiszene von 1983. Der Plattenname Beat Bop spielt auf die afro-amerikani-
sche Musik an, die Basquiat am meisten liebte: auf den Bebop. Basquiat arbeitete zu-
108 Tate, 236.109 Sirmans In: Marshall, 242.110 Tate, Greg: "Beat the Message Too. Ramm-El-Zee vs. K-Rob." In: Tate, 93-94. Toop, 192. Die Mu-sik ist auf dem Internet unter http://www.raremusic.com/ november/grooves/ 2playlo. abrufbar.111Toop, 122.
25
meist zu der Musik von Bebop und besaß eine exzellente Jazzplattensammlung mit raren
Charlie Parker Platten. Mit Fred Braithwaite unterhielt sich Basquiats öfters über die
Analogien zwischen Bebop und HipHop, die Anfang der Achtziger Jahre sonst noch
niemand festgestellt hatte.112 Kurz vor seinem Tod noch trug sich Basquiat mit der Idee,
eine musikalische Fusion von HipHop und Bebop zu versuchen, die bis dato noch nie-
mand gemacht hatte.113
1982 lernte Basquiat Shenge Kapharoah, einen Künstler aus Barbados, kennen, der in
sein Atelier einzieht und für eine Zeit lang zu seinem besten Freund wurde. Durch ihn
wuchs Basquiats Interesse an afrozentrischen Themen, die für die meisten von seinen
bisherigen Freunden ohne Bedeutung waren.114 Shenge Kapharoah selbst betont seinen
Einfluß auf die Themenwahl Basquiats:
You can see our friendship in the work. The paintings speak for themselves ...Moses and the Egyptians, Charles the First, lines like 'most kings get their headschopped off. This is what we were talking about.115
Im November 1992 wurde Basquiat von James Van Der Zee, dem berühmten Doku-
mentarphotographen der Harlem Renaissance, portraitiert (Abb. 1.9). Das Shooting
wurde von Diego Cortez für Henry Geldzahlers Artikel über Basquiat in Interview 1983
arrangiert.116 Van Der Zees Portrait situiert Basquiat in einer Genealogie berühmter
afro-amerikanischer Künstler.
Ende 1984 forciert Basquiat über Fred Braithwaite ein Treffen mit Robert Farris
Thompson, Professor für afrikanische und afro-amerikanische Kunstgeschichte in Yale,
der als ein "weißer Experte" auch unter afro-amerikanischen Intellektuellen eine hohe
Reputation genießt.117 Basquiat gewinnt ihn dafür, den Katalogessay für seine zweite
Einzelausstellung in der Mary Boone Gallery im März 1985 zu schreiben.118 Auf dem
Höhepunkt von Basquiats Karriere in der weißen Kunstwelt wird Thompson zum Mittler
zwischen zwei Kulturen. In seinem Katalogbeitrag diskutiert er Basquiats Kunst zum 112 Tate In: Diederichsen 1993b, 165.113 Hoban In: New York, 38. Diese Fusion wurde erst 1990 mit "Jazz Thing" von Guru und BranfordMarsalis auf dem Soundtrack von Spike Lees Film Mo' Better Blues sowie mit Miles Davis' Platte Doo-Bop (1993) und Gang Starrs' Projekt Jazzmatazz (1993) realisiert.114 Sirmans In: Marshall, 239.115 Sirmans In: Marshall, 239. Leider konnte ich mit Shenge Kapharoah kein Interview führen.116 Sirmans In: Marshall, 241. Geldzahler, Henry: "From Subways to Soho, Jean-Michel Basquiat."Interview. Nr. 13, Januar 1983, 44-46.117 Siehe dazu Tate: "Guerilla Scholar on the Loose. Robert Farris Thompson Gets Down." In: Tate,178-183.118 Mary Boone Gallery, New York: "Jean-Michel Basquiat." 2. - 23. März 1985.
26
ersten Mal im afro-atlantischen Zusammenhang. Laut Thompson entwickelte sich aus
ihrem ersten Treffen im Januar 1985 eine andauernde Freundschaft.119
1986 reiste Basquiat zusammen mit seiner Freundin Jennifer Goode zum ersten Mal nach
Afrika, wo Bruno Bischofsberger auf sein Drängen hin eine Ausstellung in Abidjan an
der Elfenbeinküste arrangiert hatte.120 Diese Reise Basquiats steht in der Tradition afro-
amerikanischer Künstler, die seit den Sechziger Jahren nach Afrika "pilgern", um dort ihr
kulturelles Erbe zu erkunden.
Im Januar 1988 traf Basquiat in Paris auf seiner Ausstellungseröffnung bei der Galerie
Yvon Lambert Ouattara, einen Künstler aus Abidjan, der zu dieser Zeit in Paris lebte.
Basquiat war begeistert, einen "echten" afrikanischen Künstler zum intellektuellen Ge-
dankenaustausch gefunden zu haben. Die beiden wurden sehr gute Freunde; Ouattara
zog auf Basquiats Wunsch nach New York, wo dieser dessen Karriere nach allen Kräf-
ten förderte. Er unternahm mit Ouattara eine Reise nach New Orleans um das dortige
Voodoo-Museum zu besuchen und den Mississippi als Ort afro-amerikanischer Ge-
schichte zu erforschen.121 Ouattara lud Basquiat im Sommer 1988 zu einer weiteren Rei-
se an die Elfenbeinküste ein. Nach Basquiats Tod wird in seiner Jackentasche ein auf den
Tag seines Todes ausgestelltes Ticket nach Abidjan gefunden - Basquiat plante dort eine
weitere Entziehungskur.122
1.4 Basquiats Rezeption in der (artistic) "black community" oder "Nobody Loves
a Genius Child"
119 Brief Thompsons an die Verfasserin, März 1998.120 Centre Culturel Français d'Abidjan, Elfenbeinküste: "J. M. Basquiat." 10. Oktober - 7. November1986.121 Interview mit Ouattara am 15. Oktober 1997 in New York.122 Haden-Guest In: Vanity Fair, 184.
27
Basquiats Verhältnis zu der sogenannten "black community" war und ist äußerst schwie-
rig, wie Greg Tate 1989 in seinem Essay Flyboy in the Buttermilk. The Crisis of the
Black Artist in White America feststellt:123
Given the past and present state of race relations in the U.S., the idea that anyBlack person would choose exile into "the white world" over the company andstrength in numbers of the Black community not only seems insane to some ofus, but hints at spiritual compromise as well. To be a race-identified race-refugeeis to tap-dance on a tightrope, making your precarious existence a question ofbalance and to whom you concede a mortgage on your mind and body and lienon your soul. Will it be the white, privileged, and learned or the Black,(un)lettered, and disenfranchised?124
Als jemand, der, wie es Tate ausdrückt, "freiwilliges Exil" in der weißen Kunstwelt ge-
funden hatte, wurde Basquiat von New Yorks schwarzer Intelligenzija für "verrückt"
gehalten. Die Rassenschranken in New York waren und sind immer noch sehr hoch und
Schwarze, die sich in die weißen Kunst- oder Musikkreise "verirrt" haben, sind auch
heute noch rar gesät. Basquiat litt unter dieser Situation und sprach mit seinem Freund
Fred Braithwaite öfters darüber: "...There's not enough black people downtown in this ...
whatever it is, pseudo art bullshit".125 Trotzdem sieht Tate diese Situation Basquiats als
exemplarisch für die des afro-amerikanischen Intellektuellen an, der unter einer "dop-
pelten Entfremdung" leidet: entfremdet von der schwarzen Gemeinschaft bewegt er sich
als ein Fremder in "weißem Gebiet". Diese tragische Konstellation, so Tate, habe schon
viele schwarze Intellektuelle vor Basquiat in den Selbstmord geführt.126 Auch die afro-
amerikanische Performancekünstlerin Lorraine O'Grady sieht in Basquiats Entfremdung
von der "black community" die eigentliche Tragik seiner künstlerischen Karriere:
One effect of Basquiat's isolation is not speculation: the thinnest aspect of his artwas not lack of training, which is irrelevant, but his separation from the audiencethat could have enabled and challenged him.127
In der Ausstellungskarriere Basquiats gab es zu seinen Lebzeiten nur eine Beteiligung an
einer Gruppenausstellung in einem multikulturellen und eine in einem afro-amerikani-
schen Kontext. 1983 nahm Basquiat an der Gruppenausstellung Food for the Soup Kit-
123 Tate, Greg: "Flyboy in the Buttermilk. The Crisis of the Black Artist in White America." The Villa-ge Voice. Vo. XXXIV, Nr. 46, 14. November 1989, 31-36. Wiederabdruck in Tate, Greg: Flyboy in theButtermilk. Essays on Contemporary America. An eye-opening Look at Race, Politics, Literature andMusic. New York: Fireside 1992.124 Tate, 233.125 Hager, 40.126 Tate, 232.127 O'Grady In: Artforum, 11.
28
chen in der Galerie Fashion Moda in den Bronx teil.128 Diese Ausstellung wurde von der
New Yorker Obdachloseninitiative präsentiert und war ein Aufmerksammachen auf die
sozialen Mißstände der Stadt. Basquiats Zeichnung Food for the Soup Kitchen von
1983 (Abb. 1.10) wurde für die Einladungskarte der Ausstellung verwendet, an der wei-
ße, afro-amerikanische und asiatische Künstler teilnahmen.129
Basquiat war von 1979 bis 1983 zwar ein aktiver Teil der schwarzen Avantgarde-
Musikszene Manhattans und mit der puertoricanischen und afro-amerikanischen Graffi-
tiszene der South Bronx gut bekannt, hatte aber von der Existenz einer eigenständigen
"high art" Kunstszene der Afro-Amerikaner in New York noch nie gehört. Darauf
machte ihn erst Lorraine O`Grady aufmerksam, die Basquiat 1983 für die Teilnahme an
der von ihr kuratierten Black and White Show in der Kenkeleba Gallery im New Yorker
East Village gewinnen wollte. Auf dem Ausstellungsplakat war Basquiats Name neben
den in der "black community" etablierten afro-amerikanischen Künstlern Adrian Piper,
Coreen Simpson, Ed Clark und weißen Künstlern wie Keith Haring und Nancy Spero
angekündigt.130 O'Grady wollte mit der Teilnahme des jungen, in der schwarzen Kunst-
welt bis dahin unbekannten bzw. unakzeptierten Basquiat ein Exempel statuieren:
I would star Jean-Michel, not David Hammons: David was already overexposedin the black art world, though he wasn't to be discovered by the white one foranother six years.131
Daß Basquiat von dieser kleinen institutionalisierten "schwarzen Kunstwelt" New Yorks
bislang nichts gehört hatte, verwundert wenig. Denn diese isolierte sich aus Frustration
selbst und existierte nur in "not for profit"-Galerien wie der Kenkeleba Gallery im East
Village, Just Above Midtown in Harlem und dem Studio Museum in Harlem. Die
schwarze Kunstwelt der frühen Achtziger Jahre definierte sich vorrangig als eine Anti-
haltung zum weißen Establishment. Laut O'Grady wollte beispielsweise die Gründerin
der Just Above Midtown Galerie Linda Bryant von Basquiat nichts hören:
.... I could tell Linda thought I was crazy: Haitian? From Brooklyn? Only 21? Itwas too weird; she'd catch up with him later. I hadn't even mentioned graffiti.
128 Fashion Moda, Bronx, New York: "Food for the Soup Kitchen." 1. - 15. Oktober 1983.129 Die Galerie Fashion Moda wurde 1979 von dem österreichischen Künstler und Kurator Stefan Einsin den Bronx gegründet und entwicklete sich durch ihre räumliche Nähe zur Graffitiszene der SouthBronx bald zu der Graffitigalerie New Yorks. Fashion Moda zeigte die Graffitikünstler Lee Quinones,Toxic und A-One, die alle Freunde Basquiats waren. Siehe auch Stefan Eins: "Fashion Moda und dieSubway Sprayer." In: Hoekstra, 20-25.130O'Grady In: Artforum, 9. Kenkeleba Gallery, New York: "Black and White Show." 1983.131 O'Grady In: Artforum, 11.
29
With the artists I spoke to, disbelief hardened further: on Prince Street? Whenthere are guys out here who've been working 30 years?132
Lorraine O'Grady versuchte Basquiat vor seinem Schicksal zu "retten", indem sie ihn mit
in den Sechziger Jahren etablierten schwarzen Künstlern bekannt machen wollte:
I knew the art world was about to eat him up and before it did, I hoped to con-nect him to black artists who, picked up in the 60's and then dropped, could givehim perspective on its mores in a way his graffiti friends could not. I also wantedto connect them to his hunger, his lack of fear. There were some who had stop-ped reading art magazines because they knew they would not see themselves the-re.133
Basquiat sagte seine Teilnahme an O'Gradys Black and White Show im letzten Moment
ab, da er bereits mit der Mary Boone Gallery Verhandlungen führte - und da war an das
Ausstellen in einer kleinen schwarzen Institution nicht mehr zu denken.134
1984 wurde Basquiats Portrait James Van Der Zee - VNDRZ (Abb. 1.11) - in der Van
der Zee Memorial Show: James Van der Zee, 1886 - 1983 gezeigt. Im Gegenzug zu Van
der Zees Photoportrait hatte Basquiat 1982 dessen Portrait gemalt.135 Im gleichen Jahr
zeigte die Center Gallery of Bucknell University in Lewisburg in der Gruppenausstellung
Since the Harlem Renaissance. 50 Years of Afro-American Art zwei Arbeiten Basquiats:
Untitled von 1982 und Danny Rosen von 1983.136 Basquiat wurde in der Abteilung
"Self-Taught to Neo-Expressionism" zusammen mit dem Graffitikünstler Futura 2000
und dem "Outsiderkünstler" Bill Traylor ausgestellt. Auch Arbeiten von David Ham-
mons, Betye und Alison Saar, Bob Thompson, Romare Bearden, Palmer Hayden, Jacob
Lawrence, Joe Overstreet und William H. Johnson waren zu sehen - afro-amerikanische
Künstler, die, wie die vorliegende Arbeit im folgenden aufzeigen wird, ähnliche Themen
wie Basquiat bearbeitet haben. Trotzdem war diese Ausstellung zu Basquiats Lebzeiten
seine einzige Beteiligung an einer Ausstellung im afro-amerikanischen Kontext. Denn
den zumeist stark konservativ denkenden Mitgliedern der institutionalisierten schwarzen
New Yorker Kunstwelt war Basquiat äußerst suspekt.137 Greg Tate bemerkte dazu in
132 O'Grady In: Artforum, 11.133 O'Grady In: Artforum, 11.134 O'Grady In: Artforum, 11.135 New York City Department of Cultural Affairs, New York: "Van der Zee Memorial Show: JamesVan der Zee, 1886 - 1983. 1. Februar - 2. März 1984.136 Sirmans In: Marshall, 245. Center Gallery of Bucknell University, Lewisburg, Pennsylvania: "Sincethe Harlem Renaissance. 50 Years of Afro-American Art." 13. April - 6. Juni 1984 (Wanderausstel-lung).137 Interview mit Valery Mercer, Kuratorin am Studio Museum in Harlem, New York, 10. Juli 1998.
30
seinem vier Jahre nach Basquiats Tod geschriebenen Katalogtext Black Like B. selbst-
kritisch:
I find him easier to handle now, just another dead black genius. .... I'm not givento question anymore wether he's black enough for me. Just like all the black na-tionalists who conjure Michael Stewart's name when the subject is police bruta-lity who don't have to contend with how many white girls Stewart chased.138
Ein Afro-Amerikaner, der sich freiwillig in die weiße Kunstwelt begibt, war den meisten
konservativen oder nationalistischen Schwarzen unvorstellbar. Die meisten ignorierten
daher einfach Basquiat und seine Arbeiten. Dies führte dazu, daß die Bildinhalte Bas-
quiats zu seinen Lebzeiten kaum einen Afro-Amerikaner interessiert haben. Aber auch
nach seinem Tod ist sein Bekanntheitsgrad in der "black community" gering geblieben.
So bemerkt O'Grady zwar einen vermehrte Präsenz von Afro-Amerikanern in der Whit-
ney-Retrospektive von 1992, aber die einzige Filmankündigung zu Julian Schnabels Film
Basquiat 1996 in einer afro-amerikanischen Zeitschrift beginnt mit den Worten: "Most
homies in the 'hood' have never heard of Jean-Michel Basquiat".139 Und auch in den New
Yorker Vorführungen von Julian Schnabels Film Basquiat machte die Präsenz von Afro-
Amerikanern nur ungefähr ein Viertel aus - in Harlem oder Brooklyn lief der Film erst
gar nicht. Auch afro-amerikanische Sammler sind extrem selten.140 Basquiat und Fred
Braithwaite unterhielten sich des öfteren darüber, wie man Prominente wie Bill Cosby,
Miles Davis oder Eddie Murphy dazu bringen könnte, Kunst von afro-amerikanischen
Künstlern zu kaufen.141 Doch Kunst spielt in der schwarzen Ober- und Mittelklasse bis-
lang eine geringe Rolle.142 Wenn man sammelt, dann zumeist afrikanische Plastik oder
rare Schallplatten, nicht aber zeitgenössische Kunst. Zudem halten die meisten Angehö-
rigen der schwarzen aufstrebenden Mittelklasse Kunst oft für eine unnötige Form des
Luxus, für eine von den Weißen adaptierte kulturelle Form.143 In jüngster Zeit hat sich
daran aber offensichtlich einiges geändert. Waren bei der Basquiat-Retrospektive des
Whitney Museums 1992 meines Wissens keine afro-amerikanischen Leihgeber beteiligt,
so hat unlängst Spike Lee eine Arbeit Basquiats bei der Tony Shafrazi Gallery in New
York gekauft. Dies kann nun schon fast als ein Signal gelten: der schwarze nationalisti-
138 Sirmans In: Marshall, 245.139 Gregory In: Vibe, 120.140Siehe dazu auch Tate, 243.141 Sischy In: Interview, 122.142 Interview mit Ouattara in New York, 8. Juli 1998.143 Interview mit Michael Holman im September 1995 in New York.
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sche Filmemacher "rehabilitiert" durch seinen Kauf Basquiat in der "black communi-
ty".144
Neben diesen ideologischen Barrieren in der afro-amerikanischen Beschäftigung mit
Basquiats Werk ist ein weitaus pragmatischerer Grund die einfache Tatsache, daß die
Versicherungssummen für seine Arbeiten sehr hoch sind und sich traditionell eher arme
Institutionen wie das Studio Museum in Harlem eine große Ausstellung seiner Werke
gar nicht leisten können. Selbst die Ausstellung in Abidjan an der Elfenbeinküste, die
Basquiat sich so sehr gewünscht hat, scheiterte fast, weil Bischofsberger sich weigerte,
seine bereits gekauften Arbeiten Basquiats in einer nach seinen Aussagen "herunterge-
kommenen Hütte ohne Dach" auszustellen.145 Basquiat stellt daher selbst auf eigenes
Risiko dreißig noch in seinem Besitz befindliche Gemälde zur Verfügung.146 Die Aus-
stellung wurde schließlich in dem dem Sicherheitsbedürfnis Bischofsbergers mehr zusa-
genden Centre Culturel Français d'Abidjan ausgerichtet. Dort sahen die Ausstellung je-
doch nicht, wie von Basquiat erhofft, schwarze Afrikaner, sondern eine elitäre Gruppe
von Europäern. Eine Konfrontation der Arbeiten mit seinen afrikanischen Wurzeln, die
Basquiat wohl beabsichtigt hatte, blieb weitgehend aus. Sein internationales Jetsetdasein
hatte ihn auch in Afrika eingeholt, auch dort blieb er von einer Gruppe weißer Galeristen
und Diplomaten umringt.147 Von der Kunst der schwarzen Afrikaner, die in Abidjan die
französische Ecole des Beaux Arts besuchen, war Basquiat sehr enttäuscht, wie seine
damalige Freundin Jennifer Goode bemerkt:
I remembered he [Basquiat] was disappointed that they were doing copies ofWestern art. He thought it would be more like his work, but the only things thatwere anything like his were on the outside of houses. Or just signs.148
Ein Jahr nach seinem Tod wird 1989 eine frühe Arbeit Basquiats in der Gruppenausstel-
lung afro-amerikanischer Künstler The Blues Aesthetic. Black Culture and Modernism in
Washington gezeigt.149 Diese Wanderausstellung machte auch im New Yorker Studio
Museum in Harlem Station. Sowohl die in dieser Ausstellung als auch die beiden in der
Ausstellung Since the Harlem Renaissance. 50 Years of Afro-American Art gezeigten
144 Leider konnte ich Spike Lee nicht zu einer Stellungnahme zu Basquiat sowie zu Julian SchnabelsFilm Basquiat bewegen.145 Telefoninterview mit Bruno Bischofsberger am 22. März 1998.146 Eine Liste der ausgestellten Werke existiert leider nicht mehr.147 Telefoninterview mit Bruno Bischofsberger am 22. März 1998.148 Haden-Guest In: Vanity Fair, 192.149 The Washington Project for the Arts, Washington: "The Blues Aesthetic. Black Culture and Moder-nism." 14. September - 9. Dezember 1989.
32
Arbeiten Basquiats haben keine explizite afro-amerikanische Thematik; die Katalogtexte
erwähnen Basquiat mit keinem Wort. Man erhält den Eindruck, als wäre Basquiat nur
aus Gründen der Vollständigkeit in diese beiden wichtigen afro-amerikanischen Über-
blicksausstellungen integriert. Von einem Verständnis oder gar einer Aktzeptanz seiner
Arbeiten von afro-amerikanischen Seite ist hingegen wenig zu spüren.
1992 wird eine Zeichnung Basquiats in der Gruppenausstellung Paris Connection. Afri-
can American Artists in Paris der Galerie Bomami in San Franciso gezeigt.150 1995
zeigt das Studio Museum in Harlem in einer Einzelausstellung Basquiats Siebdruckserie
der Blue Ribbon Paintings, die von der weißen New Yorker Sammlerfamilie Schorr aus-
geliehen wurde.151 Im Studio Museum in Harlem wird Basquiat jedoch wieder wie ne-
bensächlich behandelt. In der Art der Präsentation sieht man die Bemühungen der Insti-
tution, Basquiat zwar in die afro-amerikanische Kunstgeschichte zu integrieren, ihm aber
nicht das von der weißen Kunstwelt beigemessene Gewicht zukommen zu lassen. Auch
nach Basquiats Tod ist das Interesse afro-amerikanischer Kunstinstitutionen an seinem
Werk also relativ gering. In den Kreisen afrikanischer und afro-amerikanischer New
Yorker Künstler jedoch ist Basquiat inzwischen zu einem wichtigen "role model" avan-
ciert. So zitiert Lyle Ashton Harris in seiner Serie "The Watering Hole" von 1996 eines
der Blue Ribbon Paintings Basquiats (Abb. 1.12).152 Auf meine Frage nach seinem
künstlerischen Verhältnis zu Basquiat antwortete er: "He's my favorite artist."153 Der
afro-amerikanische Künstler Michael Richards erklärte mir diesen Sinneswandel der
schwarzen Intelligenzija wie folgt: "The prodigal son goes out to life in another land, but
the family buries the dead body".154 Dennoch hat sich bislang noch kein afro-amerika-
nischer Autor dazu bemüht, eine Biographie oder Monographie Basquiats vorzulegen.
Die intellektuelle Verfügung über das Werk und Leben Basquiats liegt - bis auf die Aus-
nahmen der Beiträge von Tate, hooks, O'Grady und Sirmans - nach wie vor in "weißer
Hand".
150 Bomami Gallery, Jernigan Wicker Fine Arts, San Francisco: "Paris Connection. African AmericanArtists in Paris." 14. Januar - 29. Februar 1992.151 The Studio Museum in Harlem, New York: "Jean-Michel Basquiat. The Blue Ribbon Paintings." 15.Oktober - 31. Dezember 1995 (Wanderausstellung, die in South Hadley startete).152 Jack Tilton Gallery: "Lyle Ashton Harris. The Watering Hole." September 1996.153 Telefoninterview mit Lyle Ashton Harris im September 1996.154 Interview mit Michael Richards im September 1996 in New York.
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2. Basquiats Collage-, Zitat- und Codierverfahren
2.1 Einführung in Basquiats Werk
Basquiats Werk gliedert sich in Arbeiten auf Leinwand, Skulptur und Zeichnung. Da
bislang kein Werkverzeichnis existiert, kann man die Anzahl seines achtjährigen künst-
lerischen "Outputs" nur ungefähr schätzen: ca. siebenhundert großformatige Arbeiten auf
Leinwand, tausend Zeichnungen und dreißig Skulpturen.
Basquiats Arbeiten auf Leinwand bestehen größtenteils aus einer Mixed-Media-Collage
von Acrylfarbe, Ölkreide, Kohle, Buntstift und aufcollagierten Farbkopien seiner Zeich-
nungen. Ab 1984 integriert er "found objects", die seine "Gemälde" zu dreidimensionalen
Assemblagen werden lassen, die in der Tradition von Robert Rauschenbergs "Combine
Paintings" stehen. Basquiats Arbeiten haben im Orginal eine farbliche Brillianz, kompo-
sitorische Leichtigkeit und Bestimmtheit, die in den Reproduktionen leider meist nur zu
erahnen ist.155 Als Maler kombiniert Basquiat die Farbintensität Emil Noldes und Henri
Mattisses sowie das großflächige "flat-painting" von Franz Kline, Robert Motherwell,
Jackson Pollock und Wilhelm De Kooning zu einer postmodernen Fortsetzung dieser
malerischen Traditionen. Basquiats großformatige "Malerei" sowie seine Betonung der
Zweidimensionalität der Bildfläche durch die Verwendung von Schrift und Collage ste-
hen in der Tradition des Abstrakten Expressionismus. Von Basquiat vorrangig als einem
Maler zu sprechen, trifft jedoch nur einen Aspekt seines Werkes. Stilistisch ist seine
Verfahrensweise nicht allein die eines "klassischen Malers", sondern steht vielmehr in
einer Tradition der Collage von den Dadaisten über den analytischen Kubismus bis hin zu
Robert Rauschenbergs Assemblagen.
Basquiats Zeichnungen sind vor allem "visuelle Poesie". Sorgsam plazierte Worte auf
weißem Grund und mit Wortkaskaden bis an die Ränder gefüllte Blätter wechseln sich
ab. In seinen Zeichnungen zeigt sich Basquiats brilliante kompositorische Fähigkeit, das
"magische Geviert" mit Spannung zu füllen. Basquiats Zeichnungen und seine Arbeiten
auf Leinwand hängen formal und inhaltlich eng miteinander zusammen. Seit 1984 colla-
giert Basquiat Farbkopien seiner Zeichnungen auf Leinwand. Diese Farbkopien bilden
sein Bild/Textarchiv, aus dem er sich für die Anfertigung seiner großformatigen Arbeiten
auf Leinwand bedient. Basquiats ganzes Werk hat somit einen unmittelbaren semanti- 155 Leider ist Basquiats Werk für die Öffentlichkeit bislang sehr schlecht zugänglich. In den Sammlun-gen großer internationaler Museen ist er bis auf die Ausnahme des New Yorker Whitney Museums forAmerican Art nicht vertreten. So sind seine guten Arbeiten bislang nur in den Retrospektiven in NewYork, Paris bzw. Marseille zu sehen gewesen.
34
schen Zusammenhang. Fragmente aus früheren Zeichnungen finden sich in späteren Ar-
beiten wieder, das gesamte Werk ist ein fortwährendes Bearbeiten und Weiterentwickeln
eines existierenden Grundmaterials. Über diese immer wieder neu zusammengefügten
Zeichnungsfragmente malt Basquiat eine Mischung aus figurativer und abstrakter Male-
rei. Seine großformatigen Arbeiten bestehen zumeist aus einem collagierten kleinteiligen
Bildhintergrund und einem in "großer Geste" gemalten Bildvordergrund. Basquiats Ar-
beiten sind Bilder der "Simultanität". Durch das Verfahren der Collage ist alles "gleich-
zeitig" nebeneinander auf der Bildfläche vorhanden. Der Blick des Betrachters verweilt
auf einzelnen Worten oder Wortkonglomeraten, die eigene Assozationsfelder bilden.156
2.2 Collage
Papier collé, in all its different aspects, marks the most poetic moment, the mostrevolutionary moment in the evolution of painting.157
TZARA "EL HOMBRE MAS IMPORTANTE DE DADAISMO"© EL TIPOMAS FUERTE©158
Für Tristan Tzara war die Collage der revolutionärste Moment in der Geschichte der
Malerei; für Basquiat ist Tzara der wichtigste Künstler des Dadaismus, denn er führte
sowohl das "cut-up" Prinzip als auch das Prinzip der Wiederholung in die Kunst ein.
To make a dadaist poemTake a newspaper.Take a pair scissors.Choose an article as long as you are planning to make your poem.Cut out the article.Then cut out each of the words that make up this article and put them in a bag.Shake it gently.Then take out the scraps one after the other in the order in which they left thebag.Copy conscientiously.The poem will be like you.159
Tristan Tzaras Beschreibung der Herstellung einer dadaistischen Wortcollage gleicht
oberflächlich in vielem der Vorgehensweise Basquiats. Dieser schneidet jedoch nicht di-
156 Das Fehlen einer "Linearität" des Leseablaufs der Arbeiten erinnert an die simultanen Schichtungender Musik des HipHop, die einer rein linearen Abfolge der Musik entgegenwirkt.157 Tristan Tzara: "Le Papier collé ou le Proverbe en peinture." In: Hoffman, 60.158 Basquiat In: Untitled , 1985, Collage und Mischtechnik auf Papier (Abb. 4.56).159 Tristan Tzara In: Hoffman, 13.
35
rekt aus seinen Vorlagen - Bücher und Schallplatten - aus, sondern schreibt die ihn inter-
essierenden Worte ab. Trotzdem erscheint die unübersichtliche Informationsflut auf Bas-
quiats Arbeiten nach dem Zufallsprinzip generiert zu sein. Tatsächlich ist Basquiats "vi-
suelle Poesie", wie auch Tzaras Collage, in ihrer Auswahl und Struktur vor allem ein
"Portrait" der Denk- und Bewußtseinsprozesse des Künstlers. Basquiat stellt seine
"Bildgedichte" nicht mit der Absicht einer eindeutigen diskursiven Aussage her. Viel-
mehr bildet seine Zusammenführung von Worten und Zeichen aus den unterschied-
lichsten Kultur- und Kommunikationssystemen ein schier unüberschaubares Angebot
zum Decodieren. Beim Lesen seiner Arbeiten ist daher vor allem die Leistung des Rezi-
pienten gefragt. Dieser konstituiert je nach Bildungsstand und kulturellem Hintergrund
seine eigene Bildbedeutung, seine eigene Lesweise. Basquiats Kommunikationsangebot
richtet sich an die verschiedensten Betrachtertypen. Ein Kenner der Malerei wird seine
Arbeiten auf Leinwand vor allem als ein intelligentes Pastiche aus den wichtigsten male-
rischen Strömungen des 20. Jahrhunderts lesen. Ein mit europäischen Kultur und Ge-
schichte vertrauter "Bildungsbürger" wird über Basquiats enzyklopädische Nennung
europäischer Geschichte, Literatur, Philosophie und Kunst erstaunt sein. Ein in afro-
amerikanischer Kultur und Geschichte bewanderter Interpret wird Basquiats Arbeiten als
einen "Container" schwarzer Kultur verstehen; ein mit afrozentrischen Konzepten ver-
trauter Betrachter Basquiats codierte afrozentrische Lesart europäischer und afrikani-
scher Geschichte bemerken.
Basquiats selbst aber läßt durch das heterogene Prinzip der Collage sein Bedeutungsan-
gebot offen. In Basquiats Collagen gibt es keine Bildsyntax im eigentlichen Sinn, keinen
festen Zusammenhang der Zeichen zueinander. Stattdessen legt Basquiat förmlich Voka-
belhefte afro-amerikanischen Wissens an. Die einzelnen "Vokabeln" stehen zumeist un-
vermittelt nebeneinander, allein ihre Zugehörigkeit zu dem Referenzfeld der "black expe-
rience" lassen sie in einem kohärenten Zusammenhang lesen. Sie bilden jeweils für sich
Konnotationsfelder, die sich mit denen der anderen Worte und Zeichen in den Arbeiten
überlagern, und so zu bestimmten Lesarten führen können.
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2.3 Schrift im Bild
Artists use text, because they have something to say. (Les Levine)160
Seit den Bewegungen von Dadaismus, Futurismus und analytischem Kubismus findet in
der Kunst des 20. Jahrhunderts eine wechselseitige Durchdringung von Wort und Bild
statt. Zum einen signalisiert die Integration von Schrift ins Bild "Inhalt", der Künstler
will "etwas sagen". Zum anderen aber wird die Schrift durch ihre Integration ins Bild
"ikonisiert". Die in die Gemälde und Zeichnungen eingemalten, eingezeichneten oder ein-
collagierten Schriftversatzstücke betonen seit dem analytischen Kubismus die Zweidi-
mensionalität der Gemälde. Basquiat knüpft mit seiner Integration von Schrift ins Bild an
diese Tradition an. Neu ist bei ihm jedoch der sprachliche Aspekt: seine Arbeiten sind
"visuelle Poesie", sie können laut gelesen werden. Dieses laute Lesen der Bilder erinnert
an den Sprechgesang der Rapper des HipHop, weswegen die Kunstkritik seine Arbeiten
auch als "Eye-Rap" bezeichnet hat.161 Basquiats Integration von Sprache ins Bild erzeugt
kein diskursives lineares Sprechen, sondern evoziert lediglich einzelne Assoziationsrei-
hen beim Betrachter. Zwischen den verstümmelten, abgebrochenen oder durchgestriche-
nen Textfragmenten gibt es kaum einen syntaktischen Zusammenhang.
Die Integration von Schrift ins Bild unterscheidet Basquiats Arbeiten von der "reinen
Malerei" des Neo-Expressionismus und verbindet ihn mit den geschriebenen sozialkriti-
schen Statements von Barbara Kruger und Jenny Holzer. In der Malerei der Achtziger
Jahre ist seineVerwendung von Schrift alleine mit dem Vorgehen Anselm Kiefers zu ver-
gleichen. Dieser fügt Schrift in seine Gemälde ein, um diese mit geschichtlichen, my-
thologischen oder literarischen Kontexten zu verbinden. Bei Basquiat funktioniert die
Schrift ebenfalls als ein "referentielles Bedeutungssystem",162 sie verweist auf Dinge,
Ereignisse und Zustände innerhalb und außerhalb des Bildraums.
Obwohl es auf den ersten Blick verlockend erscheinen mag, Basquiats Verwendung von
Schrift formal und stilistisch in den Kontext der gleichzeitig in New York entstandenen
Graffiti-Kunst zu stellen, so ist seine Verwandschaft zu dieser doch nur "soziologischer
Natur".163 Denn die orginale Graffiti auf den U-Bahn-Wagen New Yorks gründet auf
einem sehr konservativen Kunstbegriff: es geht den Schreibern alleine darum, ein gemal-
160 In: Louis, Eleonora/Stoss, Toni, 1.161 Storr In: Cheim, o.S.; Pellizzi, o.S.162 Faust, 17.163 Siehe dazu das Kapitel 6.1 Die Parallelität von Identitäts- und Signaturproblematik.
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tes oder geschriebenes sorgsam ausgeführtes "masterpiece" der breiten Öffentlichkeit der
Stadt vorzuführen.164 Basquiats frühe "Samo"-Graffiti kann eher als eine Art "Anti-
Graffiti" zu der bestehenden New Yorker Graffiti beschrieben werden. Er schrieb in ei-
nem bewußt "ungekünstelten" Duktus, dafür jedoch an die strategisch wichtigen Stellen
des New Yorker Kunstmarktes. Basquiats spätere Integration von Schrift ins Bild über-
nimmt dieses "understatement" des Geschriebenen und seine sozialkritischen Aussagen.
Die Schnelligkeit und Spontanität seines Schreibens sowie sein gesellschaftskritisches
Anliegen haben mit dem Stil der Graffiti-Künstler New Yorks wenig zu tun.
2.4 Basquiats Collageverfahren als visuelle Umsetzung der musikalischen Strategie
des "Sampling"
Basquiats Collageverfahren steht zum einen in der Tradition von Robert Rauschenbergs
"Combine Paintings", ist aber gleichzeitig auch eine Umsetzung der neuesten musikali-
schen Strategien der Achtziger Jahre. Robert Farris Thompson vergleicht in seinem 1985
für Basquiats zweite Einzelausstellung in der Mary Boone Gallery geschriebenen Essay
Basquiats Collagetechnik mit der des HipHop:
Mit den mnemotechnischen und phonetischen Kräften des Computerzeitalters,den Keyboardinstrumenten mit ihren Speichervorrichtungen, den Buchstaben undZeichen arbeitet Basquiat wie mit dem Pinsel. Das erinnert an "hiphop", die aktu-elle musikalische Revolution, die ebenso funky wie futuristisch ist, an auf "Rap"spezialisierte Aufnahmestudios, die in ihren Computern Industrielärm gespeicherthaben, an James Browns erfolgreiche Hornklänge und an die in Synthesizern ge-speicherten Rhythmen. Basquiat .... arbeitet nach den Prinzipien der beschriebe-nen Techniken, wenn er Lautschrift, literarische Anspielung und chromatischeStrukturen miteinander in Verbindung bringt.165
In Thompsons Beschreibung der Arbeitsweise Basquiats wird dessen auf den musikali-
schen Techniken des Jazz und des HipHop aufbauende improvisatorische, collagehafte,
zitierende und codierende Methode deutlich:
Basquiat stellte schwarze klassische Musik an - Jazz - sehr klar und sehr wohl-tönend. Inmitten dieser Szenerie begann er ruhig zu arbeiten. Aus verschiedenenSchränken zog er bereits vorbereitete Zeichnungen, auf denen Reptilien, Druck-buchstaben, zusammengesetzte Wörter und andere Dinge zu sehen waren. Bas-quiat wählte das Bild eines Krokodils aus, das sehr schmal und sehr grün war. Erklebte es auf eine schon halbfertige Komposition, dann noch ein Krokodil und
164 Siehe dazu Castleman, Craig: Getting Up. Subway Graffiti in New York. New York 1982.165 Thompson In: Haenlein 1986, 18.
38
dann noch eins. Er trat zurück, um die Wirkung dieser Vervielfältigung zu beur-teilen. Dann zerriß er eine andere Zeichnung eines Krokodils in zwei Hälften - eine dreidimensionale Ausradierung - und ließ die eine der beiden Hälften zuBoden fallen. Die andere klebte er, ohne sie nochmals zu bearbeiten, auf eine ab-strakte graue Form im oberen Bildteil. Manchmal wandte er während der Arbeitseine Aufmerksamkeit den drei Freunden zu und lachte mit ihnen. Ähnlich rea-gierte er auf die Jazzmusik, indem er sich manchmal nach ihrem Rhythmus be-wegte und sich dann wieder nur auf die Collage konzentrierte. Er trat zurück,betrachtete die Arbeit, suchte in Stapeln anderer Zeichnungen und collagiertewieder. Das Bild begann zu leuchten, reptiliengrün und Zähne gegen blutigesRot. Überall Fragmente gemalter Schrift. Zum Beispiel klebt er ein Fragment mitsich wiederholenden X und Y in die Mitte des Bildes. Dann nahm er andere Teil-stücke, die identisch bemalt waren und plazierte sie auf der Diagonalen, von linksoben nach rechts unten. In bestimmten Teilen dieser Arbeit war der Blues zu ent-ziffern. Gemalte Titel wie "Hardluck Blues", die an Sonny Boy Williamsons "BadLuck Blues" erinnerten, ein Zitat aus Robert Johnsons Meisterstück "Hellboundon ...." Typisch war, daß Basquiat das Ende des Titels ("My Trail") abriß.166
Basquiats visuelle Synthese aus völlig disparaten Bildelementen war auch das grundle-
gende Element der Zitat- und Collagestrategie des "Sampling" im HipHop, wie es von
den New Yorker DJs Afrika Bambaataa, Kool DJ Herc und Grandmaster Flash Anfang
der Achtziger Jahre "erfunden" wurde:
In the who-dares-wins delirium of the house parties, Bambaataa mixed up ca-lypso, European and Japanese electronic music, Beethoven's Fifth Symphony androck groups like Mountain; Kool DJ Herc spun The Doobie Brothers back-to-back with the Isley Brothers; Grandmaster Flash overlayed speech records andsound effects with the Last Poets; Symphonic B Boys Mix cut up classical musicon five turntables, ..." 167
Afrika Bambaataa, Kool DJ Herc und Grandmaster Flash haben die aus völlig unter-
schiedlichen kulturellen Kontexten stammenden "Samples" in den neuen Text ihres mu-
sikalischen Mixes eingewebt. Analog zu dieser Mischtechnik ist auch Basquiats Colla-
getechnik, die einmal die ganze Welt als Buch "remixt", zu interpretieren. In seiner
großformatigen Arbeit King of the Zulus (Abb. 2.1) von 1984/85 transformiert Bas-
quiat die musikalischen "Sampling"-Strategien Afrika Bambaatas in eine visuelle Form.
Der Bildtitel "King of the Zulus" spielt auf Bambaata als dem "König" der schwarzen
nationalistischen Jugendorganisation Zulu Nation an, das über die Farbkopien gemalte
negroide Gesicht in den Farben Afrikas könnte ein "Portrait" Bambaataas sein. King of
the Zulus steht exemplarisch für weitere Bildcollagen Basquiats aus den Jahren 1983 bis
166 Thompson In: Haenlein 1986, 15.167 Toop, 105.
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1987 wie Untitled (Soap), 1983/84 (Abb. 6.80); Toxic, 1984 (Abb. 1.5); Red Joy,
1984 (Abb. 6.71); Natchez, 1985 (Abb. 2.2); Enob, 1985 (Abb. 2.3) Untitled , 1985
(Abb. 2.4); Negro Period, 1986 (Abb. 2.5) und Untitled , 1987 (Abb. 2.6). In diesen
Papiercollagen und Holzassemblagen verwendet Basquiat Farbkopien seiner in den Jah-
ren zuvor angefertigen Zeichnungen und collagiert diese zu immer neuen Bildkontexten.
Über den so entstandenen Bildhintergrund, der durch seine Informationsflut an zitierten
Worten und Zeichen eine Art konstanten "noise", ein "Informationsrauschen" bildet, aus
dem es nur sehr schwer ist, einzelne klare Informationen zu erhalten, malt Basquiat in
seinem "primitiven" und"authentischen" Stil zumeist schwarze Figuren. Den kollektiven
zitierten "Samples" des Bildhintergrundes stellt er die Stimme des "orginalen Autors"
gegenüber - postmoderne Zitatstrategie wird mit der Oberfläche des vermeintlich "intui-
tiven Primitiven" kontrastiert. Diese Verbindung von kollektiver Autorschaft im Bild-
hintergrund und "orginaler Stimme" im Bildvordergrund ist eine Transformation des
musikalischen Aufbaus der frühen HipHop-Stücke von Afrika Bambaataa und Grandma-
ster Flash: Während diese auf ihren Plattenspielern die Zitate bereits existenter Musik zu
einem neuen "Text" mischen, rappt über diese Soundcollage ein Sänger mit seiner orgi-
nalen Stimme - die "gesamplete" kollektive Musikgeschichte wird von der einzelnen
Stimme des MCs live begleitet.
Vorbild für die Collageästhetik des HipHop und die Collagetechnik Basquiats gleicher-
maßen war die literarische "cut-up" Technik von William Burroughs. Aber auch Bur-
roughs Ideen zum Verwenden von Alltagsgeräuschen hatten und haben immer noch ei-
nen großen Einfluß auf die "intellektuellen" DJs New Yorks, wie beispielsweise Paul D.
Miller a.k.a. The Subliminal Kid.168 Basquiats Absorbieren von allem, was um ihn herum
täglich geschieht und dessen Verarbeitung in seinen Collagen entspricht der Strategie
von Burroughs' Romanfigur "The Subliminal Kid", der auf einem Kassettenrecorder die
ihn umgebenden Geräusche der Großstadt aufnimmt.169 Sowohl die Geräuschcollagen
der Art-Noise-Musik, die Basquiats Band Gray spielte, als auch die komplizierten syn-
kretistischen Mixe der HipHop-DJs, die Basquiat auf seinen Kassetten und der Platte
Beat Bop 1983 selbst kreierte, beziehen sich auf diese Idee der Collagierung des Alltags.
Ab 1982 übernimmt Basquiat in seinen visuellen Arbeiten diese Idee des Alltags-noise.170
168 Siehe http://www.furious.com/~furious/perfect/djspooky.169 Hebdige In: Marshall, 69, FN 19. Burroughs, William: Nova Express. London: Jonathan Cape 1966.170 Basquiats Synthese aus Gelesenem, Gehörtem, Gesehenen sowie den täglichen Erlebnissen machtsein Werk gleichzeitig zu einer Art offenem Tagebuch der New Yorker Geschehnisse der AchtzigerJahre (Sischy In: Interview, 119). Die These, daß Basquiats Bilder als ein Tagebuch zu lesen sind, ver-tritt auch er New Yorker Anglist Robert Knago, der einen bislang unveröffentlichten biographischenRoman über Basquiat geschrieben hat (Interview mit Robert Knago im Juli 1997 in New York).
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Für die New Yorker "HipHop-Theoretikerin" Tricia Rose sind das Fließen ("flow"), die
Übereinanderlagerungen ("layering") und die abrupten Brüche ("rupture") die drei wich-
tigsten stilistischen Kategorien einer spezifisch afro-amerikanischen Ästhetik, wie sie sich
vor allem in der Collagetechnik des HipHop manifestiert hat.171 Diese drei Kategorien
können als ein Klassifikationskriterium auch auf Basquiats Arbeiten angewendet werden:
Rapper sprechen in ihren Texten oft vom "flow" und beschreiben so tautologisch das
Fließen der Musik im Hintergrund. In Basquiats Arbeiten fließt die Informationsflut über
den Hintergrund seiner großen Collagen und konstituiert so eine Art permanentes "Hin-
tergrundsrauschen". Das Fließen im HipHop hat verschiedene Geschwindigkeiten: so
stottern die Rapper in einem Moment, um im nächsten förmlich durch die Textpassagen
zu rasen. Auch in Basquiats "Eye-Rap" gibt es verschiedene Geschwindigkeitsstufen:
stakkatoartige Wortalliterationen werden von weit auseinandergezogenen Wörtern mit
Zwischenräumen abgelöst, es gibt dicht geschichtete Textstellen und offene Randbezir-
ke. Im HipHop wird das Fließen der "bass line" durch das "Scratchen" des DJs oder das
Einblenden anderer "gesampleter" musikalischer Passagen meist abrupt unterbrochen
("rapture"). Ähnliches geschieht im Fluß von Basquiats Bildtexten: Das Fließen der
Wörter wird durch das linkische Durchstreichen einzelner Buchstaben oder ganzer
Wörter unterbrochen, im "Orginaltext" der Farbkopie einstmals zusammenhängende
Textstücke werden mitten im (unter Umständen sinnmachenden) Text abgerissen, um
keinen eindeutigen linearen Text mit einer diskursiven Aussage entstehen zu lassen. Hi-
pHop-DJs "layern" ihre "sounds" übereinander und schaffen so einen Dialog zwischen
den "gesampleten" Musikfragmenten und dem Sprechgesang der Rapper.172 Übereinan-
derlagerungen finden in Basquiats Arbeiten fortwährend statt: Als buchstäbliches Über-
einandercollagieren der einzelnen Farbkopien und dem Übereinanderlegen von Sieb-
druckmustern, als Übermalen und Durchstreichen und als schichtartigem Bildaufbau von
collagiertem Bildhintergrund und gemaltem Bildvordergrund. Rapper schichten in ihren
Texten Bedeutungen übereinander, indem sie das gleiche Wort benutzen, um auf eine
Vielzahl von Aktionen und Themen zu "signifyen". Basquiat verwendet ebenfalls homo-
nyme Wortspielereien, um auf die unter einem Wort liegenden weiteren Bedeutungen zu
verweisen.173
171 Rose, 74ff.172 Rose, 39.173 Siehe Kapitel 2.6 Basquiats Codierverfahren als visuelle Anwendung der afro-amerikanischen Rhe-torik des "Signifying".
41
2.5 Basquiats Zitatverfahren
Für seine seit 1979 auf Kasetten aufgenommenen Geräuschcollagen hat Basquiat "found
speech" aus dem ihn umgebenden Alltag verwendet. So nahm er beispielsweise die
Worte "fell down and broke his ass, boom, for real" eines im Fernsehen sprechenden
Obdachlosen auf und mischte dieses Realitätsfragment in die abstrakte "noise music"
seiner Band Gray. Einen Teil dieses "gesampleten" Satzes - "fell down and broke his
(ass©)" - übernimmt er schließlich als Phrase auf einer seiner Zeichnungen.174 Diese zu-
erst in seinen musikalischen Experimenten angewandte Zitatstrategie überträgt Basquiat
seit 1982 in seine visuellen Arbeiten. Die meisten der in Basquiats Werk erscheinenden
Worte, Zeichen und Piktogramme sind direkte Übernahmen aus Büchern - die Bibliothek
als intellektuelles und visuelles Archiv ersetzt bei ihm das Soundarchiv des HipHop-DJs.
Marshall nennt als Basquiats Hauptquellenmaterial Gray's Anatomy und Paul Richters
Artistic Anatomy, das Symbol Sourcebook von Dreyfuss, den Prachtband Leonardo da
Vinci sowie Burchard Brentjes' African Rock Art.175 Basquiat bezeichnet dieses Quel-
lenmaterial als bereits präexistente "facts," für die er jedoch nicht verantwortlich sei, da
er sie lediglich "benutzt", nicht aber ihr Autor ist:
Meine facts hole ich mir aus Büchern. Sachen über Zerstäuber, den Blues, Me-thyl-alkohol, Gänse im ägyptischen Stil. Ich beziehe meine Anregungen aus Bü-chern. Was mir gefällt, erscheint in meinen Bildern. Ich übernehme nicht die Ver-antwortung für meine facts. Sie existieren ohne mich.176
Basquiats "facts" bestehen aus den Abfällen der amerikanischen Populärkultur und den
Referenzen an die afrikanische, karibische und afro-amerikanische Kultur und Geschich-
te. Basquiat zitiert diese "facts" in zwei Stufen: Zum einen nennt er in seiner eigenen
Handschrift Personen, Orte, Bücher, Schallplatten sowie kulturelle und historische Er-
eignisse. Diese erste Stufe seiner Zitierweise ist keine buchstäbliche Übernahme wie bei
einer "klassischen" Collage, sondern das Abschreiben von einer Vorlage und damit ein
den ursprünglichen Text transformierendes "Nennen". Bei diesem nennenden Verweis ist
Basquiats Auswahl aus dem ursprünglichen Kontext sehr wichtig; sie verweist entweder
als Synekdoche auf das dort Denotierte,177 oder aber in einer "Verschiebung" auf etwas
174 Thompson In: Marshall, 40.175 Marshall, 23.176 Thompson In: Haenlein 1986, 23.177 Wie am Beispiel der westafrikanischen nisibidi-Zeichen in Grillo gezeigt werden wird, siehe Kapi-tel 3.4.2 Afrikanische Piktogramme: Bildlektüre "Grillo".
42
im ursprünglichen Text zwar Vorhandenes, aber gerade nicht unmittelbar Zitiertes.178
Gleichzeitig kann aber auch Basquiats Situierung des Zitates im neuen Text wichtig
werden, wobei den Schlüssel zum Decodieren hierbei immer der Referent der "black
experience" bildet. Beispiele hierfür sind die sich über das ganze Werk leitmotivisch wie-
derholenden Worte "soap","spin drying", "agitate", "iron©", "ice", "fool©" und "aesop".
In einer zweiten Stufe zitiert Basquiat sich seit 1984 durch das Farbkopieren seiner
Zeichnungen und das Verwenden von Siebdruckvorlagen selbst. Dieses selbstangelegte
Text/Bildarchiv rekombiniert er in seinen Bildtableaus immer wieder neu, so daß zwi-
schen den "Orginaltexten" je nach Arbeit die verschiedensten Querverbindungen und
Kontexte konstruiert werden. Die wohl auffälligste Form dieser Intratextualität besteht
in der Anhäufung einzelner Motive und Worte, die erst durch ihre Rekurrenz innerhalb
des Werkes Bedeutung gewinnen. Diese Leitmotive, die sich aufeinander beziehen und
so einen Metadiskurs entwickeln, bilden die semantischen Linien des Werkes. Ein leit-
motivisches Zeichen steht jeweils für einen spezifischen Konnotationskomplex: so steht
das Wort "soap" für den Topos des "Weißwaschens", "fool©" für die Tragik des
schwarzen Entertainers, "tar©" für den Topos der blackness und "cotton©" für die
Sklaverei.179
In der Musik des HipHop zeugt die Zitatstrategie des "Sampling" von der Bedeutung
einer kollektiven Geschichtserzählung. Die DJs und Rapper sind durch ihre Wiederver-
wendung von alten Musikstücken zu Statthaltern der kollektiven afro-amerikanischen
Erinnerung geworden. Das "Samplen" von Bruchstücken der afro-amerikanischen Mu-
sikgeschichte durch den HipHop-DJ verfährt grob nach zwei Schemata. Entweder zitiert
der DJ Synekdochen von sehr bekannten Stücken oder aber er benutzt unbekannte oder
gar geheime Quellen als sein musikalisches Grundmaterial.180 Die bekannten Stücke sind
zumeist Meilensteine der schwarzen Musikgeschichte oder aber Reden von afro-
amerikanischen Führern wie Malcolm X und Martin Luther King. Während das bekannte
"gesamplete" Material als Erinnerungshilfe und historisches Erziehungmaterial der Zuhö-
rer benutzt wird, ist das Entschlüsseln der geheimen Quellen der HipHop-DJs zu einer
Art kennerschaftlichem "Zuhörersport" für Eingeweihte geworden. Basquiats Bildtexte
bestehen - genauso wie die Mixe der DJs - zum Teil aus bekannten, zumeist aber aus 178 Wie am Beispiel von Basquiats Leonardozitaten gezeigt werden wird. Siehe Kapitel 6.5.1 Bildlektü-re "Leonardo da Vinci's Greatest Hits".179 Zu "soap" siehe das Kapitel 6.3.2 "Whitewashing Action": Das Leitmotiv Seife, zu "fool©" siehe dasKapitel 6.3.1 Das "nigger"-image: Sambo, "blackface minstrels" & Co, zu "tar" siehe das Kapitel6.2 Basquiats Selbstportraits: "Invisible Men", zu "cotton" siehe das Kapitel 5.2 Sklavenhandel undSklaverei.180 Toop, 65, 106.
43
"um die Ecke gedachten" und geheimen Anspielungen. Basquiat hielt seine Quellen
ebenso wie die HipHop-DJs streng geheim, zumal gegenüber Weißen.181
2.6 Basquiats Codierverfahren als visuelle Anwendung der afro-amerikanischen
Rhetorik des "Signifying"
Signification is the niggers occupation. (Sprichwort)
Some of the rappers' imagery mixes slang and pop culture so thickly that it takessome study to understand what's going down. In 'Rapper's Delight' the term'Death OJ' is used. In current slang 'death' means something good, while 'OJ' is areference to a big car: Erstwhile football star and all-around adman O.J. Simpsondoes Hertz commercials featuring Ford and Lincoln Mercury cars. If we add'death' to Ford and Lincoln Mercury cars (leaving out any disrespectful referenceto Pintos), we come up with the 'Rapper's Delight' character driving off in a Lin-coln Continental. How's that for musicology? As for the future of rapping, I thinkit will become a prerequisite for all black club jocks (and many whites) to be flu-ent in some form of the language.182
Das von Nelson George beschriebene Spiel der Rapper mit Bedeutung und Bedeutungs-
verschiebungen ist ein typisches Beispiel der afro-amerikanischen Rhetorik des "Signify-
ing". Weiße Zuhörer, die mit dieser rhethorischen Strategie nicht vertraut sind, nehmen
die in den Texten der HipHop-Musik gemachten Aussagen zumeist wörtlich - das
schwarze "Signifying" setzt auf dieses Spiel mit dem Mißverstehen von Bedeutung, das
das Decodieren der Texte zu einem Sport für Eingeweihte macht.183 Basquiats Codier-
verfahren basiert auf dieser afro-amerikanischen Tradition des "Signifying", worauf Heb-
dige bereits andeutungsweise und Tate explizit hingewiesen haben:184
To make sense of Basquiat's language you have first to respect African people aslanguage manipulators of the highest order, to respect the complexity of Africancultures as a series of overlapping texts, tongues and dialects, ranging from thein-joke to the alienated, from the colloquial to the schizophrenic. In some re-spects the blackest thing about Basquiat's work ist not his black figures but thework's verbal mastery and sheer verbosity.185
181 So erwähnt der Kunstkritiker Rene Ricard, daß Basquiat sich weigerte, ihm die Quellen seiner Ge-schichtszitate zu zeigen (Ricard In: Marshall, 46).182 George, 46.183 Potter, 83.184 Hebdige In: Marshall, 64.185 Tate In: Marshall, 58.
44
Das Ziel dieser Sprachsubversion des "Signifying" ist es, so Gates, "... to critique the
nature of (white) meaning itself, to challenge through a literal critique of the sign the
meaning of meaning".186 Diese rhetorische Technik wird in den Vereinigten Staaten
durch die Figur des "Signifying Monkeys" verkörpert, dieser "... lebt im Zwischenbereich
der Diskurse, verdreht die Wörter und spielt mit ihnen, er bildet Wortfiguren und zeigt
die Ambiguitäten der Sprache auf, indem er ihr ihre Eigentlichkeit nimmt".187 Der "Si-
gnifying Monkey" ist ein Nachfahre des westafrikanischen Trickstergottes Esu, den die
Fon als "divine linguist" bezeichnen, und dessen Funktion als Sprachmanipulator Bas-
quiat in Grillo von 1984 durch ESU/FON nennt (Abb. 3.13).188 Seine Sprachbeherr-
schung, sein Spiel mit Bedeutungen hat sich auch in der Neuen Welt erhalten, wurde zur
Überlebenstrategie der Sklaven, denen bei Androhung des Abschneidens der Zunge das
Sprechen afrikanischer Sprachen verboten war. Die Kommunikation mußte so in der
fremden Sprache der weißen Sklavenhalter erfolgen. Die Instrumentalisierung des wei-
ßen Englisch zum Transportieren versteckter Nachrichten nimmt ihren Anfang in den
Spirituals der Sklaven. Frederick Douglass beschrieb die für die Sklaven überlebensnot-
wendige Technik des "Signifying": "... they would sing, as a chorus, to words which to
many seem unmeaning jargon, but which, nevertheless, were full of meaning to themsel-
ves".189 Dieses bewußte "linguistic masking" setzt sich in einer Erziehung zum "unei-
gentlichen Sprechen" fort. Zu lernen, die Sprache zu manipulieren, eine Art zweiter Sub-
sprache zu beherrschen und ihre vielschichtige Codierung zu entschlüsseln, ist laut Gates
das Ziel jeder schwarzen Erziehung, das "Schwärzeste an der schwarzen Tradition".190
Für Claudia Mitchel-Kernan ist der wichtigste Aspekt des "Signifying" "die versteckte
Absicht bzw. der metaphorische Verweis".191 Sie beschreibt die Methode des "Signify-
ing" so:
Der schwarze Begriff ""Signifying" beinhaltet im Grunde die Annahme, daß Le-xikoneinträge meistens nicht genügen, um die Bedeutung eines Wortes richtig zuinterpretieren, bzw., daß die Bedeutung immer mehr umfasst, als was im Lexikonsteht. ... Deshalb sind die Hörer gezwungen, alle Bedeutungsmöglichkeiten, ... indenen ein Sprechakt sinnvoll ist, und das heißt im Grunde das ganze Diskursuni-versum, in Betracht zu ziehen.192
186 Gates 1988, 47.187 Gates In: Diederichsen 1993b, 178.188 Siehe dazu Kapitel 3.4.2 Afrikanische Piktogramme: Bildlektüre "Grillo".189 Gates 1988, 67.190 Gates In: Diederichsen 1993b, 167.191 Gates In: Diederichsen 1993b, 184.192 Gates In: Diederichsen 1993b, 184.
45
Dies läßt sich prinzipiell auch für die Figuren der europäischen Rhetorik feststellen.
Doch während im weißen Kontext die Referenzobjekte einer gemeinsame kulturellen
Erfahrung entstammen, teilt sich die Referenzebene der Sprache beim "Signifying" in
zwei Erfahrungswelten: die Weiße und die Schwarze. Gates verdeutlicht dieses Verhält-
nis von "Black English" zu "Standard English" mit Hilfe eines Achsenkreuzes: Die hori-
zontale Achse ist die des "Standard English", die vertikale die des "Black English". Der
schwarze Sprachgebrauch spielt auf der paradigmatischen Achse mit den Assoziationen
und Konnotationen der Signifikanten, die in der syntagmatischen Achse relativ determi-
nierte Signifikate besitzen.193 Die Codierung des "Black English" besteht also darin, daß
das, was in einer schwarzen Lektüre Denotation ist, in einer weißen Lektüre nicht einmal
Konnotation sein kann, weil der Referent nicht der weißen Erfahrungswelt entstammt.
Die Schwierigkeiten einer für den weißen Betrachter Sinn erzeugenden Lektüre von
Basquiats Werk sind durch diese rhetorischen Strategien erklärbar. Auf der Achse des
"Standard English", der westlichen Zeichensysteme, erscheinen die denotierten Signifi-
kate in Basquiats Arbeiten trivial und werden so zumeist als eine Fortsetzung der Pop
Art interpretiert. Auf der paradigmatischen Achse des "Black English" verweisen sie
jedoch auf Themen, die zu den wichtigsten der "black experience" zählen.
Wie aber funktioniert die Strategie des "Signifying" auf der Ebene des einzelnen Wortes?
Gates übernimmt hier zur Erläuterung Michael Bakhtins Begriff des "double-voiced
word":
... a double-voiced word as a special sort of palimpsest in which the uppermostinscription is a commentary on the one beneath it, which the reader ... can onlyby reading through the commentary that obscures in the very process of evalua-ting.194
In der rhetorischen Figur der Wiederholung, der für Gates wichtigsten Form der Subver-
sion der denotativen "Sprache der Weißen", ist dieses Wortpalimpsest in eine Abfolge
von vermeintlich gleichen Worten aufgeteilt. Diese kommentieren sich gegenseitig und
höhlen dadurch ihre denotative Bedeutung aus. Die im "Signifying" verwendeten homo-
nymen Wortspiele arbeiten also mit der Identität der Signifikanten und dem "play of dif-
ferences", das durch die den verschiedenen Diskursen zugehörigen Signifikate ent-
steht.195 Die Rethorik des "Signifying" bildet somit eine Opposition zu der vermeintli-
193 Gates 1988, 49.194 Gates 1988, 50.195 Gates 1988, 53.
46
chen Transparenz der Sprache, die in den Bildern Basquiats permanent durch die lexika-
lischen Bezeichnungen evoziert wird. Basquiat macht den Betrachter nicht wie Rene
Magritte durch "das ist keine ..." auf die Diskrepanz zwischen Zeichen und Bezeichne-
tem aufmerksam, sondern unterhöhlt durch die bildinternen und leitmotivischen Wieder-
holungen einzelner Worte und Bildelemente wie "fool©", "soap", "aesop's fables", "cot-
ton©", "tar", etc. die festgelegten Denotationen eines rein "weißen" Wissens.
2.6.1 Der Ursprung des "Signifying": Bildlektüre "Moses and the Egyptians"
In Moses and the Egyptians von 1983 (Abb. 2.7) nennt Basquiat die archetypische
Figur des amerikanischen "Signifying": Moses. Die bildinterne Wiederholung und die
Anführungszeichen des Wortes "MOSES" weisen auf eine im westlichen Kontext nicht
wörtlich zu nehmende Bedeutung von "Moses" und somit auf eine Funktion im afro-
amerikanischen Kontext hin.196 In den Spirituals der Sklaven fungierte Moses als Meta-
pher für die Flucht in den freien Norden; das Singen von "Go down Moses, Way down
in Egypt land, Tell ole Pharaoh, Let my people go", zeigte den Sklaven an, daß in der
Nacht ein Fluchthelfer bereitstehen würde.197
Der rechte Textblock in Moses and the Egyptians benennt die zwei Wunder, die Moses
als Zeichen seiner Auserwähltheit als Führer des Volkes Israel vor dem Pharao vollzie-
hen sollte: Den STAFF INTO SERPENT TRICK und den LEPROSY TRICK.198
WATER INTO BLOOD, FLIES und FROGS hingegen sind die ersten der TEN
PLAUGES, die durch den Stab Aarons ausgelöst wurden, um den Pharao dazu zu be-
wegen, das Volk Israel ziehen zu lassen.199 Ein Vergleich mit der ebenfalls 1983 ent-
standenen Arbeit Early Moses (Abb. 2.8) ist aufschlußreich. Auch hier finden wir
MOSES im Kampf (VS.) gegen die Ägypter, den "STAFF INTO SERPENT TRICK"
und die "MAGIC LEPROSEY". Mit den Worten "MAGIC LEPROSEY" und
LEPROSY TRICK verweist Basquiat auf das Wunder der Umwandlung von Moses
Hand in eine lepröse Hand, die "aussätzig wie Schnee" ist. Nachdem Moses seine Hand
zurück in seinen Mantel steckt, "war sie wieder wie sein anderes Fleisch".200 Diese Bi-
196 Im folgenden werde ich die von Basquiat verwendete Druckbuchstabenschrift mit Großbuchstabenwiedergeben. Zusätze zu den Worten wie Anführungszeichen oder Unterstreichungen werden ebenfallstranskribiert. Nicht übernommen werden Durchstreichungen, Punkte und Kommas.197 Roberts, 148; Levine, 51.198 Siehe Exodus 4, 1-7; 6, 8-13.199 Exodus 7, 20-8, 14.200 Exodus 4, 6,7.
47
belstelle ist für die afro-amerikanischen Afrozentriker der Beweis dafür, daß Moses ein-
deutig schwarz war.201 Das Wunder Gottes lag also darin, die schwarze Haut in weiße
umzuwandeln und vice versa.202
Während Basquiats Gegenüberstellung von Moses und Ägyptern und die Wiederholun-
gen des Wortes "MOSES" in beiden Arbeiten eindeutig als Verweis auf die Identifikati-
on der Sklaven mit dem Volk Israel und das in den Spirituals betriebene "Signifying" zu
lesen ist, verwundert die Konzentration auf die ersten Zeichen der Auserwähltheit Mose.
Warum wählt Basquiat im Zusammenhang mit dem Exodus den STAFF INTO
SERPENT TRICK und nicht etwa den Durchzug durch das rote Meer, der in diesem
Kontext doch viel eindeutiger wäre? Die Prominenz des "STAFF INTO SERPENT
TRICK" und das Ersetzen von "miracle" durch "trick" verweisen weniger auf das Wun-
der des Stabes Aarons (bzw. Mose) als vielmehr auf die Zauberkünste der vom Pharao
herbeigerufenen ägyptischen Weisen, die ihre Stäbe ebenfalls zu Schlangen verwandeln
konnten.203 Auf der paradigmatischen Achse des "Black English" kommt dem STAFF
INTO SERPENT TRICK nun eine Bedeutung zu, die nur über den Referenten der afro-
amerikanischen Kultur zu erschließen ist. Durch ihn werden die afrikanischen Schlangen-
stäbe konnotiert, deren Übernahme nach Amerika Thompson anhand eines Vergleichs
des mit einem Schlangenmotiv verzierten Wanderstabs des Sklaven Henry Gudgell mit
einem Bronzestab aus Benin erstmalig bewiesen hat. Schlangenstäbe sind von da an in
der afro-amerikanischen Kunst zu einem der zentralen Symbole der historischen Anbin-
dung der amerikanischen schwarzen Kultur an die afrikanische geworden (Abb. 2.10,
2.11, 4.29).204
Basquiat übernimmt in Moses and the Egyptians und Early Moses also nicht einfach
das Vokabular einer afro-amerikanischen Ikonographie, sondern spielt lediglich in einer
sehr codierten Form auf der paradigmatischen Achse des "westlichen" Textes darauf an.
2.6.2 Superman ist Dambala: Bildlektüre "Ascent"
201 African Heritage Bible, 96; Suzar, o.S..202 Interessanterweise wurde diese Idee einer Lepraerkrankung der schwarzen Haut im 18. Jahrhundertgenau umgekehrt interpretiert: der amerikanische Arzt Benjamin Rush (1745-1813) hielt die schwarzeHautfarbe für die Folge einer angeborenen Lepraerkrankung, die die ehemals weiße Haut schwarz ge-färbt hat (Jordan, 517-521). Auch in der Collage Untitled von 1982/83 (Abb. 2.9) referiert Basquiat mitLEROSY--->LEPROSEY und PEELING SKIN auf die Bedeutung der Lepra im afro-amerikanischenKontext (siehe dazu Kapitel 6.3.2 "Whitewashing Action": Das Leimotiv Seife).203 Exodus 7, 9-12.204 Livingston, 27 ff; Black Art, 41f; Ferris, 156. Thompson: "African Influences on the Art of theUnited States." In: Robinson, Armstead L.: Black Studies in the University, New Haven 1969, 122-70;Wiederabdruck in Ferris 1983, 27-63.
48
Das "close reading" der Zeichnung Ascent von 1982/83 (Abb. 2.12) soll aufzeigen, wie
durch eindeutig auf die haitianische Kultur verweisende Bildelemente Basquiats "Si-
gnifying" auf die Bedeutung westlicher Zeichen durch den weißen Betrachter nach-
verfolgt werden kann. Die Bildlektüre zeigt, wie Basquiat von einem Schlüsselbild aus-
gehend ein eigenes Bildvokabular entwirft, das nur im Rekurs auf dieses verständlich
wird; wie er Zeichen einer positiven afro-amerikanischen Identität mit denen rassistischer
weißer Projektionen kontrastiert und wie er diese verschiedenen Diskursebenen unter
einem gemeinsamen Konzept miteinander verknüpft.
Die in Ascent gehäuft auftretenden Zeichen, deren Grundelemente ein Kreis, eine verti-
kale Linie sowie verschiedene Kreuze sind, sind Variationen ritueller haitianischer Voo-
doo-Zeichen (Abb. 2.13). Diese werden auf den Boden der Kulträume gemalt und reprä-
sentieren die haitianischen Götter, die "Loas",205 die größtenteils Übernahmen westafri-
kanischer Gottheiten wie Shango, Ogun, Legba und Da sind. Die "Loas" sind Mittlerfi-
guren zwischen dem obersten Gott und den Menschen und reisen als Übersetzer der
Sprache der Menschen in die Gottes auf der Weltachse zwischen Himmel und Erde -
"ascent" und "descent" - auf und ab.206
Die aus einer vertikalen Linie (auf der ein S, eine Kugel, ein Kreis und ein Kreuz aufge-
reiht sind) bestehenden Zeichen links unten und rechts oben im Bild lassen sich nach ei-
ner Aufteilung in zwei Subzeichen zwei verschiedenen Loas - Dambala und Legba - zu-
ordnen. Das S im unteren Teil des Zeichens ist das Symbol des Schlangengottes Dam-
bala, der in den verschiedenen zum Kult gehörenden Zeichen als S oder in S-Form sym-
bolisiert wird (Abb. 2.14). Ein Vergleich mit dem Priesterstab des jamaikanischen
Künstlers Everald Brown (Abb. 2.15) sowie mit Louis Mailou Jones' "Veve Voudou III"
(Abb. 2.16) zeigt Darstellungen Dambalas in der jamaikanischen und afro-amerika-
nischen Kunst.207 Die Rekurrenz des "S" als Zeichen auf Supermans Brust, als das "S" in
dem Häuschen (Signaturersatz) sowie als Anfangsbuchstabe von STAR, SPIRIT und
SOL verweist in diesem Kontext sowohl als Initiale des Wortes "snake" als auch als re-
duziertes bildhaftes Zeichen einer Schlange auf Dambala. Dambala ist der höchste Gott
des haitianischen Götterpantheons und wird mit Moses, dem "Schlangengott" des Alten
Testaments, gleichgesetzt.208 Er wird durch die Farbe Rot symbolisiert.209 In Ascent
205 Gates 1987, 253.206 Lanczkowski, 335.207 Black Art, 220. Die Ikonographie Browns, der ein Priester einer zur Äthiopisch-Orthodoxen Kirchezugehörigen Sekte ist (Black Art, 265), leitet sich von "obeah", dem jamaikanischen Äquivalent desVoodoo ab (ibid., 90).208 African Heritage Bible, 96; Courlander, 318; Deive, 240.
49
verweist das rote "S" auf Supermans Brust auf den Schlangengott. Die gelb/rote Farb-
kombination des Logos bezieht sich auf die bei den Zeremonien des Dambala-Kultes in
New Orleans verwendeten Farben Gelb und Rot.210 Der aus einer Kugel, einer vertikalen
Linie, einem X und einem kleinen Kreis bestehende obere Teil des Zeichens in Ascent
erinnert an die Vévé-Zeichen für den "Loa" Legba, den afrikanischen und haitianischen
Gott der Kommunikation (Abb. 2.13, 2.17). Auch in Rose-Marie Desruisseaus "Hounsi
Dance" (Abb. 2.18) symbolisieren die drei in der rechten oberen Bildecke stehenden
Objekte Legba.
In Ascent ist die Figur des Superman das Subjekt der Mikrogeschichte Leiter -
Superman - Pfeile - ASCENT. Doch lediglich das Superman-Logo, die Aufwärtsbewe-
gung und die Nähe der Spiderman-Maske lassen diese Figur als Superman lesen, es feh-
len sein blauer Anzug und sein roter Mantel (Abb. 2.19). Stattdessen ist ein Arm ver-
stümmelt, der andere zu einem Flügel mutiert. Der zum Aufstieg der haitianischen
"Loas" analoge Aufstieg der im Trance vom Körper losgelösten Seele (FLESH/SPIRIT)
wird im Voodoo-Kult durch Flügel und Leitern symbolisiert.211 Durch den über die hai-
tianischen Vévé-Zeichen erfolgten Bildzugang kommt der Leiter und der Figur des Su-
perman nun eine Bedeutung jenseits einer westlichen weißen Lektüre zu. Durch die An-
spielungen des Bildkontextes "signifyt" Basquiat auf den weißen Comichelden Superman
und macht ihn für "eingeweihte" Betrachter zu Dambala, dem wichtigsten Gott des
Voodoo-Kultes in Haiti und New Orleans.
Auch die Maske des Spiderman wird erst im afro-amerikanischen Kontext zu einem be-
deutungskonstitutiven Element (Abb. 2.21). Die Spinne ist eines der wichtigsten Tiere
der afrikanischen Mythologie: so versorgt die im Sudan und in Zaire verehrte Spinnen-
göttin Ture/Tule die Menschen in schlechten Zeiten mit himmlischer Nahrung,212 wäh-
rend im Schöpfungsmythos der Dschagga sich der "himmlische Urahn" in Gestalt einer
Spinne zur Erde herabseilt.213 Auf diese Geschichte bezieht sich Basquiats Zeichnung
einer sich aus dem Sternenhimmel abseilenden Spinne, die als Farbkopie in die verschie-
densten Bildkontexte collagiert ist (bspw. in Toissaint L'Overture vs. Savonarola,
209 Thompson, 176; SIMPSON, 66/67. Mit dem roten Bilduntergrund in Moses and the Egyptians von1983 (Abb. 2.7) spielt Basquiat auf diese Überlagerung von Moses mit Dambala an. Auch in Rose-Marie Desruisseaus "Hounsi Dance" (Abb. 2.18), das die rituelle Tanzzeremonie des Voodookultesschildert, findet sich Rot als die Farbe Dambalas. Dort ist die Säule in der Mitte des Tanzraumes miteiner roten Spirale, die Dambala symbolisiert, umwickelt (Thompson, 179, 181).210 Mulira In: Holloway, 40, 54.211 Siehe Bernard Wahs "Hallucinations" (Abb. 2.20).212 Knappert, 240, Roberts, 25.213 Loth, 79.
50
1983, Abb. 2.22) und deren Mythos der haitianische Maler Bourmound Byron in "Un-
titled" aufgegriffen hat (Abb. 2.23). Die Erzählungen des aus Ghana stammenden Trick-
sterspinnengottes Anansi wurden völlig intakt nach Amerika übernommen, weswegen
Anansi in der afro-amerikanischen Ikonographie sowohl Afrika als auch dessen kulturelle
Kontinuität in Amerika symbolisiert.214 Die Spinne ist daher auch ein fester Bestandteil
von Basquiats Bildpersonal. In Untitled (History of Black People) von 1983
(Abb. 4.64) situiert Basquiat die Spinne neben einer Pharao/Sklaven-Figur, in Tenor von
1985 (Abb. 2.24) neben den Darstellungen von Maskengesichtern, Vögeln und Ratten
und in Lester Yellow von 1987 (Abb. 2.25) tritt sie als der Scherzartikel MAGNETIC
SPIDERS auf. In der Maske des Spidermans in Ascent überlagern sich also wie bei der
Figur Supermans zwei verschiedenen Diskurssystemen angehörende Signifikate in einem
Lexem: Spiderman/ amerikanische Populärkultur und Spinnengott/ afrikanische Mytho-
logie.
In zwei weiteren Zeichnungen derselben Serie erscheint die Überlagerung von Superman
und Dambala in abgeänderter Form und erhält durch die Kennzeichnung von Copyright-
Zeichen und Krone zusätzlich einen selbstreferentiellen Bezug. In Olympic von 1982/83
(Abb. 2.26) übernimmt Basquiat die gelb/rote Farbgebung sowie das abgeänderte Su-
perman-Logo. Die Nähe des Logos zu dem Vévé-Zeichen und dessen roter Farbgebung
läßt es eindeutig als Stellvertreter Dambalas im Bild lesen. Die Krone über dem Super-
man-Logo verweist auf die "noble" afrikanische Vergangenheit, auf die Abstammung
Dambalas von Da, dem westafrikanischen Schlangengott der Fon in Benin. Das Farbe ist
weiß, seine Gattin ist die Himmelsgöttin Ayida.215 Basquiat nennt das afrikanische Göt-
terpaar Da-Ayida in einer Aufzählung der Zeichnung Untitled von 1982 (Abb. 4.58) mit
SNAKEGOD COUPLE neben weiteren Anspielungen auf den Schlangenkult wie
SERPENTS, MYTHS, HERO und GREAT SPIRIT. Mit "Great One" oder "Spirit"
wurde Dambala von den Voodoo-Anhängern in New Orleans gerufen.216
In der Zeichnung Snakeman von 1982/83 (Abb. 2.27) schließlich schafft Basquiat sei-
nen eigenen Comichelden und kennzeichnet sein Urheberrecht darauf durch das Copy-
right-Zeichen.217 Das "Logo" der weißen Schlange auf rotem Grund "signifyt" sowohl
auf Superman, auf den westafrikanischen Schlangengott Da (weiß!) als auch auf den
haitianischen "Loa" Dambala (rot) - Basquiats neu geschaffene Figur des Snakeman ist
214 Holloway, 16; Levine, 105, 373.215 Thompson, 167. In Ascent verweist der blaue Himmel auf die Himmelsgöttin Ayido.216 Mulira In: Holloway, 40.217 Nach meinen Recherchen gibt es keine Comicfigur mit diesem Namen.
51
ein synkretistisches Produkt weißer amerikanischer, afrikanischer und haitianischer Kul-
tur.
Die christliche Konzeption der Schlange als Verkörperung des Bösen ist einer der Grün-
de für die ablehnende Haltung des Westens gegenüber dem als satanischem Schlangen-
kult pauschalisierten Voodoo-Kult New Orleans und Haitis.218 Das in Ascent
(Abb. 2.12) rekurrente JOHN THE REVELATOR nennt den Ort dieser Konstruktion
der Schlange als dem Symbol des Bösen: In der Offenbarung ist sie der "... Drache, die
alte Schlange, die da heißt Teufel und Satan ...".219 In der 1988 entstandenen Arbeit
Orange (Abb. 2.28) greift Basquiat diese Gegenüberstellung der Konzeption der
Schlange als dem Symbol eines positiven afrikanischen Erbes und der Sünde wieder auf.
Er situiert das "Dambala-Logo" des S in einem Dreieck und das Wort SPIRITS direkt
neben einer großen Schlange mit der Aufschrift DEVIL`S ISLAND. Gleichzeitig ist Jo-
hannes der Täufer jedoch der Patron aller Voodoo-Heiligen, der St. John's Eve Day der
Feiertag des Voodoo-Kultes in New Orleans.220 In dem Wort JOHN ist somit wie in
einem Vexierbild sowohl die Ablehnung des Voodoo-Kultes (Johannesoffenbarung) als
auch sein Feiern (Johannes der Täufer) eingeschrieben.
Die Zeichnung Ascent handelt jedoch nicht allein von einem Aufstieg im Kontext des
Voodoo-Kultes, hier greifen vielmehr vier Diskursebenen ineinanderer über: amerikani-
sche Populärkultur, europäische Hochkultur, haitianische Voodoo-Religion und afro-
amerikanische Geschichte. Im westlichen Text ist das Konzept des Aufsteigens in den
Ebenen von Populär- und Hochkultur durch den bildexternen und -internen Titel
ASCENT, die nach oben gerichteten Pfeile, die Leiter, die Superman-Figur und die
Worte PLOTINUS, MONTSALVAT und FLESH/SPIRIT denotiert. Sonne, Wolke und
das bilddominierende Blau verweisen auf den Himmel als Bereich dieses Aufsteigens.
Von einem Aufstieg im Kontext der afro-amerikanischen Geschichte erzählt hingegen die
Mikrogeschichte links unten. Ein Pavian (das Wort BABOON modifiziert zusammen mit
der rosa Farbe die ambivalente Figur zum Pavian) zieht in den Norden - der Pfeil über
dem Kopf weist auf NORTE. Basquiats Kontrastierung von NERO© VS. BABOON
(DETAIL) verweist auf zwei Verfahrensweisen in der Benennung der Sklaven: die sar-
kastisch-ironische und die offen menschenverachtende Identitätszuweisung als Affe: Jo-
seph Boskin erwähnt die Namen "Nero" und "Cäsar" als typische Sklavennamen.221 Bas-
218 Lanczkowski, 335; Thompson, 163.219 Offenbarung. 12,9; 20,2.220 Mulira In: Holloway, 50.221 Boskin, 31.
52
quiats Negieren dieses projezierten Namens durch das Ausstreichen von NERO© ver-
weist jedoch auf die Praxis der Ex-Sklaven, sich nach ihrer Befreiung zuerst ihrer "clas-
sical and comical given names" zu entledigen.222 Basquiats Verbindung der somit als
Synonym für Sklave stehenden Figur mit NORTE, den Sternenkonstellationen und dem
eingerahmtem POLE STAR konnotieren die am Polarstern orientierte nächtliche Flucht
der Sklaven in den freien Norden. Denn sowohl der Nordstern als auch der Norden fun-
gieren in der afro-amerikanischen Kultur als eindeutige Zeichen der Flucht in die Frei-
heit.223 Die zwischen den Worten ASCENT und POLE STAR liegende durchgestriche-
ne, schwer leserliche Phrase ST . AUL . EES .... E FD . THE NRST kann zu "St. Paul
flees ... the northstar" ergänzt werden. Sie funktioniert als eine telegrammartige Zusam-
menfassung der Handlung. Das in der Mikrogeschichte fehlende, aber eigentlich bedeu-
tungskonstitive Prädikat "flees" bestätigt das konnotierte Konzept der Flucht. Der Apo-
stel Paulus wird von den meisten Afrozentrikern als negroid reklamiert, weil er in der
Bibel für einen Ägypter gehalten wird.224 Basquiat zieht hier also eine Verbindung zwi-
schen Paulus' Missionsreisen in den Norden und der Flucht der Sklaven in den freien
Norden.
In der Zeichnung Ascent findet paradigmatisch für Basquiats Werk eine Gegenüberstel-
lung zweier Identitätskonzepte statt. Während die Namen NERO© und BABOON den
rassistischen weißen Projektionen auf Schwarze entsprechen, ist durch die Subversion
des Bildsubjektes Superman mit dem haitianischen Schlangengott Dambala eine positive
Identifizierung erfolgt.
222 Boskin, 30.223 So nennt z.B. Frederick Douglass seine Abolitionistenzeitschrift North Star (Franklin, 220).224 Apostelgeschichte 21, 38; African Heritage Bible, 1612.
53
3. Basquiat als Erforscher, Archivar und Vermittler afro-amerikanischer Kultur
und Geschichte
3.1 Neo-Expressionismus oder Kontext-Kunst?
"I'm not making paintings", he said, "I'm making tablets".225
Basquiat verstand sich selbst nicht als Maler, sondern als ein "Schreiber" von Tafeln,
Listen und "Vokabelheften". Seine künstlerischen Strategien sind nicht im Kontext for-
maler und stilistischer Problemstellungen der Malerei der Achtziger Jahre zu sehen, son-
dern nur im Hinblick auf die Kunst der Neunziger Jahre verständlich. Basquiats Kunst ist
politisch, sie hat einen Inhalt und sie integriert neue Verfahrensweisen, die erst mit der
Kontext-Kunst der Neunziger Jahre populär werden.226
Eine zentrale Vorgehensweise der Kontext-Kunst ist die der Recherche. Künstler studie-
ren wie Geisteswissenschaftler Quellenmaterial in Bibliotheken und Archiven und prä-
sentieren die Ergebnisse ihrer Untersuchungen in Kunstwerken, die wahlweise die Form
von Informationsständen, Forschungslabors oder Wohnungseinrichtungen annehmen.
Die Künstler verstehen ihre neuen Strategien als eine Untersuchung und Kritik sozialer
oder historischer Bedingungen. Die Kunst wird kontextspezifisch, sie beschäftigt sich mit
der Geschichte oder Funktion des Ausstellungsortes, mit der Geschichte, dem Ge-
schlecht, der sexuellen Orientierung, der kulturellen Identität oder der Rasse des Künst-
lers. Sie entfernt sich damit entschieden von jedem formalen oder gar "l'art pour l'art"
Konzept und will als "Institution Kunst" durch ihre Kritik in die gesellschaftlichen Insti-
tutionen eingreifen. Die Kunst der Achtziger Jahre, vor allem die Malerei des Neo-
Expressionismus, definierte sich durch das genaue Gegenteil. Nach der spröden und in-
tellektuell überlasteten Konzept-Kunst der Siebziger Jahre empfand man die Hinwen-
dung zur reinen Malerei als eine neue künstlerische Befreiung. Endlich ging es wieder
um das Künstlerindividuum als einem "schaffenden Genie": authentische Gesten, expres-
siver Ausdruck, Farbe, Malerei auf Leinwand kamen zurück in die Kunst. Die "Malerfür-
sten" der Achtziger Jahre - Markus Lüpertz, Georg Baselitz, Anselm Kiefer, die "Neuen
Wilden", Sandro Chia, Enzo Cucchi, Francesco Clemente und Julian Schnabel - hatten
225 Basquiat in einem Interview mit O'Grady In: Artforum, 11.226 Zur Kontext-Kunst siehe Weibel, Peter: Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre. Köln 1994.
54
als ihr Thema Farbe, Form und Ausdruck, nicht aber politischen Inhalt und Gesell-
schaftskritik.227
Die allgemeine kunstkritische Einordung Basquiats in den Kontext der Malerei der Acht-
ziger Jahre hat dazu geführt, daß dieser bislang vorrangig als ein rein formaler Maler
behandelt wurde.228 Tatsächlich jedoch bildet das "magische Geviert" von Leinwand und
Zeichnungsblatt nur den Hintergrund von Basquiats künstlerischem Vorgehen. Sein In-
teresse geht weit über formale Probleme hinaus. All diese Problemstellungen löst Bas-
quiat mit Bravour, sie bilden aber nur einen Teil seines eigentlichen Anliegens. Basquiat
arbeitet vielmehr als ein Erforscher von Kultur und Geschichte, von Wissenssystemen,
kurz, vom dem, was Foucault als "construction of knowledge" bezeichnet. Er stellt in
seinen Wortkaskaden sein enzyklopädisches Wissen buchstäblich zur Schau, die meisten
seiner Arbeiten machen den Eindruck, als seien die Worte förmlich aus den Büchern
"gepurzelt". Die Oberfläche seiner Arbeiten konnotieren den Begriff "Wissen", wie
schon Robert Storr festgestellt hat: "Everything about his work is knowing, and much is
about knowing".229 Francesco Pellizzi beschreibt in seinem Essay Black and White All
Over. Poetry and Desolation Painting von 1989 dieses Interesse Basquiats an einem
universalen enzyklopädischen Wissen:
A biography of Charlie Parker, inscribed to me in return for a catalogue of agreat collection of calligraphy in Chinese painting, was practically the last ex-change I had with Jean-Michel Basquiat. On the same occasion, we admired thetypographic complexities of Dr. Dree's mercurial Relation of Some Spirits .... andthe quixotically haunting images of Athanasius Kircher's Mundus Subterraneus.Word configurations, figures "speaking in tongues", metascientific images of theunseen (such as the hidden anatomy of the earth's entrails), the extreme refine-ments of a four-thousand-year-old tradition of writing, as well as the "hiero-glyphs" of the late English Renaissance and their philology of magic - it all see-med to interest Basquiat. This enormous hunger to absorb from the Western andEastern past ... existed alongside Basquiat's natural immersion in the Afro-American spiritual tradition of Voodoo, Santeria, and Condomblé and in the li-ving mythology of American Pop and its music, particulary the blues and its jazzderivations but also rock, for which he wrote lyrics.230
Basquiats Schrift, sein Zitieren lexikalischer Formen, die formalen Anspielungen an
Schultafeln sowie die in den Arbeiten vorhandene Informationsflut beziehen sich alle auf 227 Für das Werk von Anselm Kiefer und eingeschränkt auch für Markus Lüpertz ist inzwischen diepolitische Bedeutung ihrer Aufarbeitung von deutscher Geschichte gezeigt geworden.228 Bei den kunstkritischen Einordnungen ist in eine "gutmeinende" als Neo-Expressionist und eine"böswillige" als Graffiti-Künstler zu unterscheiden.229 Storr In: Cheim, o.S..230 Pellizzi, o.S.
55
den Metatopos "Wissen". Aber das Wissen Basquiats ist nicht das europäischer und
amerikanischer Schulbücher und Enzyklopädien, sondern eine oft fast "geheimbündleri-
sche" Dekonstruktion und Erweiterung dieses Wissens, ein bewußtes "signifyen" darauf,
wie bereits Tate festgestellt hat:231
Basquiat's exhausting list of weights, measures, numbers, anatomical parts, cuisi-ne, and pop icons function as autopsies on forms of knowledge, reading the hi-storical entrails of literacy and numeracy for traces of their culpability in the sub-jugation and degradation of Black people. In so many paintings it seems Basquiatis on a mission of retribution against the Anglos' precious and allegedly value-free banks of information.232
Die in der auf den ersten Blick redundanten Informationsflut von Basquiats Arbeiten
versteckten Einzelinformationen zur afro-amerikanischen Kultur und Geschichte sind ein
konsequentes Gegenlesen weißer Denotations- und Wissensysteme, eine "de-con-
struction of knowledge". Mit diesem Aufzeigen von festgelegten europä-
isch/amerikanischen Wissenssystemen, dem Zeigen einer eigenen Geschichte innerhalb
des "mainstreams" der Geschichte greift Basquiat künstlerischen Strategien wie denen
Renée Greens vor.233 Greens künstlerische Vorgehensweise steht exemplarisch für die
Kontext-Kunst der Neunziger Jahre. Ihre Arbeit gliedert sich in das Quellenstudium und
die anschließende Präsentation des "Erforschten" in Form von Installationen. Greens
Untersuchungen sind zumeist ethnologischer, soziologischer und historischer Art; sie
betreibt eine detektivische, kritische Wissenschaftsgeschichte, indem sie europäisches
und weißes amerikanisches Bildungsgut untersucht und deren falsche oder rassistische
Schlußfolgerungen für die westliche Geschichtsschreibung und Wissenschaft aufzeigt.234
231 Basquiats "geheimbündlerische" Dekonstruktionen stehen in der Tradition der autodidaktischenWissensaneignung der Afro-Amerikaner. Weil ihnen das Wissen ihrer eigenen Geschichte von weißerSeite vorenthalten wird, eignen sie sich dieses seit dem 19. Jahrhundert selbst an. Dabei ist eine Vorlie-be zu Verschwörungstheorien und geheimbündlerischen Ansätzen auszumachen - so machen die Afro-Amerikaner seit dem letzten Jahrhundert bspw. einen großen Anteil der Freimaurer aus. Diese Be-schäftigung mit der eigenen Geschichte führte die meisten afro-amerikanischen Historiker zurück zurafrikanischen Geschichte, speziell zur Geschichte Ägyptens. Die ägptische Kultur bietet nun aber gera-dezu den idealen Nährboden für jegliche Vorliebe fürs Kryptische. Stephen Howe zeichnet in seinemBuch Afrocentrism. Mythical Pasts and Imagined Homes die faszinierende Ideengeschichte dieser afro-amerikanischen Beschäftigung mit der eigenen Geschichte im Hinblick auf Afrika nach. BasquiatsSelbststudium, seine universale Gebildetheit, aber auch seine Vorliebe für alles Kryptische und für dasCodieren von Inhalt sind im Hinblick auf diese afro-amerikanische Tradition zu verstehen.232 Tate, 239.233 Renée Green hat, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen, in den Neuziger Jahren in Europaeine ähnlich steile Karriere gemacht hat wie Basquiat in der Achtziger Jahren. Auch sie ist zwar einemeuropäischen Publikum bestens vertraut, wird aber von der sogenannten "black community" in NewYork weitgehend mißverstanden und ebenfalls argwöhnisch als eine "sell-out-Künstlerin" betrachtet(Interview mit Valery Mercer, Kuratorin des Studio Museum in Harlem, 10. Juli 1998).234 Siehe dazu Kapitel 6.6.2 Die "Hottentottenvenus".
56
Basquiats "Forschungsleistung" besteht in der permanenten Quellensuche durch Lesen,
Musik hören, Filme anschauen, Gespräche führen, kurz, in dem Absorbieren und Zu-
sammentragen von Informationen zu afro-amerikanischer Kultur und Geschichte. Daran
anschließend stellt er seine "Forschungsergebnisse" dem Betrachter in Form eines visu-
ellen Archivs - seiner Arbeiten auf Leinwand, Zeichnungen und Skulpturen - zur Verfü-
gung. Dabei besitzt der Betrachter die Freiheit des eigenen Lesens und Decodierens, die
Arbeiten Basquiats sind nicht didaktisch angelegt, sondern stellen lediglich ein Wis-
sensangebot für die Reflexion des Betrachters zur Verfügung.
3.2 Basquiat als "Griot"
Durch seine Zitatstrategie und Collagetechnik hat Basquiat große Teile der afro-ameri-
kanischen Kultur und Geschichte konserviert. Er steht damit in einer afro-amerikani-
schen (musikalischen) Tradition, die sich von den "Samples" des HipHop über das "Ver-
sioning" des Blues zurück zu dessen eigentlichen Vorfahren, den westafrikanischen
Griots, verfolgen läßt. Griots sind reisende Musiker, die in ihren Liedern die verschie-
denen Stammesgeschichten erzählen, sie sind gleichsam "lebende Bibliotheken", die ent-
weder am Hof der Könige oder freischaffend in Städten und Dörfern arbeiten und als
eine Art "outlaws" komplette Freiheit besitzen.235 Sie sind gleichzeitig heilige Männer,
denen keiner Schaden zufügen darf, da sie die Erhalter der kollektiven Erinnerung - die
"keeper of knowledge" - sind. Der Griot ist in Afrika der offizielle Übermittler der "oral
history" seines Volkes.236 Basquiat verstand sich nach Aussagen seines afrikanischen
Freundes Ouattara als ein Nachfahre dieser westafrikanischen Griots, als jemand, der für
die Afro-Amerikaner das notwendige historische und kulturelle Wissen oral, aber auch
visuell speichert.237 Auch der afro-amerikanische Kulturkritiker Greg Tate vergleicht
Basquiats Rolle für die "black community" mit der des afrikanischen Griots:
To read the tribe astutely you sometimes have to leave the tribe ambitiously, andshould you come home again, it's not always to sing hosannas or a song the tribenecessarily has any desire to hear. Among the Senegambian societies of the WestAfrica savannah, the role of the praise singer and historian is given to a personknown as the griot. Inscribed in his function is the condition of being born a so-cial outcast and pariah.238
235 Ferris, 182, Fn 29; Dictionary Of Black African Civilization, 161.236 Gillon, 22.237 Interview mit Ouattara am 19. November 1997 in New York.238 Tate, 232.
57
In der Zeichnung Undiscovered Genius von 1982/83 (Abb. 4.26) stellt Basquiat die
Rolle des afro-amerikanischen Bluesmusikers (BLUESMAN) in die Tradition des afri-
kanischen Griots (GRIOT), denn ein Großteil der afro-amerikanischen (Alltags)-ge-
schichte wurde von den Bluesmusikern erzählt. Heute übernimmt diese Aufgabe in der
"black community" nicht primär der Schulunterricht, sondern die Texte von politischen
HipHop-Gruppen wie KRS-One, Brand Nubian oder Public Enemy. Diese Rapper ver-
ankern ihre Rolle als Geschichte(n)-erzähler ebenso wie Basquiat explizit in der Traditi-
on der westafrikanischen Griots und der amerikanischen Bluesmusiker.239
3.3 "Droppin' Science": Basquiat als Vermittler afro-amerikanischen Wissens
Eine wichtige Konstante in der Musik des HipHop, die 1982 mit Grandmaster Flashs
The Message beginnt und sich über KRS-One, die Gruppe Public Enemy und das Black
Panther Mitglied Paris fortsetzt, war der Versuch, bei den Hörern ein politisches Be-
wußtsein auszubilden.240 Die Texte der Rapper handeln von der eigenen Geschichte, die
von der Sklaverei über die Lynchmorde der "Reconstruction Era" hin zu Marcus Gar-
veys Back to Africa Movement und der Black Power Bewegung der Sechziger Jahren
reicht. Zusammen mit dem visuellen Vokabular von Plattencovern und Musikvideos
wurde damit durch die HipHop-Musik der Achtziger und Neunziger Jahre ein regel-
rechtes Aufklären und Erziehen der Hörer betrieben. Was den schwarzen Zuhörern mehr
Geschichtsbewußtsein und damit Selbstbewußtsein geben sollte, hat bei der weißen Hö-
rerschaft Aufklärung über einen zumeist unbekannten Teil der amerikanischen Ge-
schichte gegeben. KRS-One, dessen Name ein Akronym für "Knowledge Reigns Su-
preme Over Nearly Everyone" ist, hat dieser Art von Unterricht den treffenden Namen
EduTainment gegeben, einem Mix aus "Entertainment" und "Education".241 KRS-One
war neben Afrika Bambaataa einer der ersten New Yorker Rapper, der mit seiner Musik
eine politische und historische Aufklärung der schwarzen Zuhörer verband:
239 Jones, 19, 56; Potter, 18ff.240 Toop, 120.241 Jones, 62, George, 30.
58
... historically speakin' 'cause people be dissin'the first graffiti artists in the world was the Egyptianswritin' on the walls mixin´ characters with lettersto tell the graphic story about their life,however, today we do the same thing with how we rap and draw ...242
Was KRS-One in seinem Text Out for Fame als die geschichtschreibende und -
erzählende Funktion von Rap und Graffiti beschreibt, das tut auch Basquiat: ein Erzählen
seiner Geschichte als schwarzer Amerikaner durch seine Bildtexte. Er "droppt" in seinen
Arbeiten, ebenso wie die "Consciousness Rapper" in ihren Texten, "science". "Droppin'
science" bedeutet im HipHop-Jargon soviel wie seiner Zuhörerschaft ein oft geheimes
Wissen zu vermitteln. Im HipHop gibt es daher sehr viele Namen, die sich direkt auf das
Lehren, Erziehen und eine akademische Ausbildung beziehen, wie z.B. die Poor Righte-
ous Teachers, Dr. Dre, Professor Griff oder den Mad Scientist. "Knowlegde" ist eines
der Schlüsselwörter im HipHop. Daß Erziehung und Wissen für die meisten Schwarzen
noch immer eine zentrale Rolle spielen, verwundert wenig. Im Schulunterricht der "Pu-
blic Schools" wird ihnen kaum ihre eigene Geschichte gelehrt, und so bilden Ventile wie
die nationalistischen und semireligiösen Gruppierungen wie die Nation of Islam oder
deren im HipHop sehr einflußreiche Abspaltung der Five Percenter Ersatzerziehungsor-
te, in denen ein latent nationalistisches schwarzes Wissen vermittelt wird.
3.4 Europäische vs. afrikanische Schriftkonzeptionen im Werk Basquiats
Durch die Verwendung von phonetischen und ideographischen Schriftsystemen verweist
Basquiat auf die Differenz zwischen der westlichen und der afrikanischen Schriftkonzep-
tion und deren Folgen für die Bildungsproblematik und das kulturelle Selbstverständnis
der Afro-Amerikaner.
3.4.1 Lateinische Schrift: Bildlektüre "Jesse"
In the rush to reduce the word games found in Basquiat's works to mere mimicryof Cy Twombly's cursive scrawls, we're expected to forget that Basquiat comesfrom a people once forbidden literacy by law on the grounds that it would makefor rebellious slaves. Expected to overlook as well that among those same peoplewords are considered a crucial means to magical powers, and virtuosic wordplaypulls rank as measure of one's personal prowess. From the perspective of thissplit-screen worldview, where learning carries the weight of a revolutionary act
242 KRS-One: Out for Fame, KRS-ONE, 1995.
59
and linguistic skills are as prized as having a knockout punch, there are no suchthings as empty signifiers, only misapprehended ones.243
Außer Tate hat bislang niemand die Bedeutung des Schreibens im Werk Basquiats in den
Kontext der afro-amerikanischen Kultur gestellt. Dabei läßt sich an Basquiats Schriftart
seine intensive Auseinandersetzung mit der afro-amerikanischen Bedeutung des Schrei-
bens ablesen. Basquiat hat die Schrift Cy Twomblys nicht unreflektiert übernommen,
sondern sich an ihr abgearbeitet, die durch Twomblys Schreiben konnotierten Themen in
ihr Gegenteil verkehrt.244 Denn während Cy Twomblys Schrift meist leicht, flüchtig, wie
"mit den Fingerspitzen" geschrieben erscheint, ist Basquiats dicke, Buchstabe für Buch-
stabe fest aufgedrückte, "öffentliche" Großbuchstabendruckschrift äußerst präsent.245
Während Cy Twombly Namen wie Vergil in "Erinnerung an eine verblichene Kultur ...,
die nur einige Wörter als Spur hinterlassen" hat, in einer sehr persönlichen, gestischen
Schrift schreibt, erinnert Basquiat mit seiner linkischen Schultafelschrift an eine Kultur
der Unterdrückung, hat kein ungespaltenes positives Gefühl zur Vergangenheit.246 Bei
Basquiat findet sich keine kursive Gerichtetheit der Schrift, sondern dem Autor fremd
bleibende, abgemalte, ikonische Wortblöcke, die als "mots trouves" von einer Distanz
zwischen Schreiber und Geschriebenem zeugen, "uneigentliches Schreiben" sind.
Die Schriftart als Duktus, als Metasignatur, ist bei Basquiat die eines "Illiteraten". Fred
Braithwaite bezeichnet Basquiats Schreibweise als die eines "linkischen Krüppels".247
Auch die Schriftart Twomblys ist linkisch, verweist ihn, wie es Roland Barthes formu-
liert, "in den Kreis der Ausgeschlossenen".248 Doch während Twomblys Schrift trotzdem
selbstverständlich erscheint, suggeriert sie bei Basquiat immer ein mühsam erlerntes
Schreiben. Basquiats Dysgraphie, seine Barbarismen, seine nicht beendeten, durchgestri-
chenen und neugeschriebenen Worte lassen den Betrachter den Prozess des Schreiben-
lernens nachvollziehen. Das durch Basquiats Schriftart konnotierte mühsam erlernte
Schreiben weist auf dessen Bedeutung als "Menschheitszertifikat" hin. Laut Henry Louis
Gates sind schriftliche Texte seit der Aufklärung sichtbares Zeichen von Vernunft, von
Zivilisation, von "Menschsein". Nur durch die Schrift, so die europäische Annahme,
243 Tate, 239.244 Vergleiche mit Twombly, die lediglich der Etablierung Basquiats in einen "Hochkultur"-Kunstkanon dienen sollen, finden sich bei Ricard In: Artforum, 43; Kertess In: Marshall, 54 sowie Mar-shall, 15.245 Barthes, 167.246 Zu Basquiats Kontextualisierung von Vergil innerhalb der afrikanischen Geschichte siehe das Ka-pitel 4.6 Karthago vs. Rom: afrikanische oder europäische Hegemonie?.247 Sischy In: Interview, 122.248 Barthes, 170.
60
könne ein kollektives kulturelles Gedächtnis, könne Geschichtsschreibung entstehen. Das
Hegelsche Postulat, die Afrikaner hätten keine Geschichte und verharrten vielmehr in
einer Art zeitlosem Naturzustand, weil sie keine Schrift besitzen, ist eines der Hauptar-
gumente in der Inferiorität-Superioritätsdebatte. Um die Schwarzen auf dieser ge-
schichtslosen "Evolutionsstufe" zu fixieren, wurde den amerikanischen Sklavenhaltern
verboten, den Sklaven Lesen und Schreiben zu unterrichten.249 Gates betrachtet die in
englischer Sprache geschriebenen Sklaven-Autobiographien daher als "erste politische
Geste", die allein durch den "Akt des Schreibens" sowohl den Beweis ihres Menschseins
als auch den einer eigenen Geschichte erbrachten.250 Vor diesem Hintergrund gewinnt
die Schriftart Basquiats, die jede Selbstverständlichkeit des Schreibens negiert, ihre Be-
deutung. Mit ihrer vermeintlichen Nichtbeherrschung spielt Basquiat sowohl auf die ras-
sistischen Darstellungen eines "schwarzen Schreibunvermögens" als auch auf den müh-
sam erkämpften Bildungsanspruch der Afro-Amerikaner an. 251
Die komplexe Problematik des Vorenthaltens von Bildung sowie der daraus resultieren-
den Wichtigkeit der Erziehung thematisiert Basquiat exemplarisch in Jesse von 1983
(Abb. 3.1). In der dort auftretenden falschen Schreibweise von INFIERORITY
COMPLEX kulminiert der Zusammenhang von Illiterarität und intellektueller Unterle-
genheit, wird zur Tautologie. Der Begriff "inferiority complex" ist innerhalb des afro-
atlantischen Denkens zu einem feststehenden Terminus für das durch das weiße Superio-
ritätsdenken im Schwarzen indoktrinierte Minderwertigkeitsgefühl geworden. Die Ver-
innerlichung dieser weißen Wertvorstellungen führt Frantz Fanon zufolge letztendlich zu
einem permanenten Selbsthaß, den er als eine "neurotic situation" beschreibt.252 Mit den
psychologisch-medizinischen Ausdrücken DIAGNOSIS: ... DISTURBED. PARANOID.
SCHIZOPHRENIC nennt Basquiat die Symptome dieser Neurose. Jesse handelt von
den rassistischen Fähigkeitszuweisungen an Schwarze: Mindere intellektuelle, dafür aber
höhere körperliche Fähigkeiten. Jesse Owens (Bildtitel, FAMOUS NEGRO ATHLETES
NO.# 41, JESSE OWENS, Hakenkreuz) siegte zwar aller Arierrassenideologie zum
Trotz mit vier Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen 1936 über die weiße Konkur-
renz und durchbrach so den Mythos rassischer Inferiorität, doch sein Erfolg bestätigte
nur den Stereotyp des "black bestial brute". Diese Mythenbildung um die körperliche
Überlegenheit und gleichzeitige Animalität Schwarzer setzt sich bis heute fort, der "infe- 249 Gates In: Diederichsen 1993b, 80.250 Gates., 83.251 So zeigt z. B. ein das Taxi der Protagonisten der äußerst beliebten "Amos 'n' Andy" Radiohörspieleder Dreißiger Jahre darstellendes Spielzeugauto (Abb. 3.2) in der Aufschrift eben genau diese Illiterari-tät, durch die den Afro-Amerikanern ein Platz außerhalb der "zivilisierten" Gesellschaft zugewiesenwird.252 Fanon, 197.
61
riority complex" bleibt bestehen. Basquiat nennt die einzige Möglichkeit, diesem Ste-
reotyp wirksam zu begegnen: Erziehung (CRISPUS ATTUCKS HIGH/OLD LINCON
HIGH SCHOOL/LINCOLN). Doch mit BOOKER T. HOTEL verweist er auf den Grad
an Bildung, der Schwarzen von den Weißen zugestanden wurde, verweist auf das zwi-
schen körperlichen und geistigen Fähigkeiten angesiedelte Erziehungsideal Boo-
ker T. Washingtons, dessen 1881 gegründetes Tuskegee Institute Afro-Amerikaner zwar
zu Handwerkern und Industriearbeitern, nicht aber zu Akademikern ausbildete. So ver-
half Washington den Ex-Sklaven zu einem Bildungsstandard, der ihnen ein ökonomi-
sches Überleben gewährleistete, nicht aber zu einer intellektuellen Befreiung, wie sie sein
Antipode W.E.B. DuBois forderte.253
In der "Schultafelserie"254 Basquiats wird sowohl durch das Schreiben mit (weißer)
Ölkreide auf schwarzen Grund als auch durch Phrasen wie I. NOTARY EDUCATION,
II. SENSORY, 3. LANGUAGE und PART TWO IN A SERIES, VOL. IV. das Lernen
thematisiert. Sie rekurriert auf einen Abschnitt afro-amerikanischer Kunst, in dem die
Erziehung zu einem selbstbewußten schwarzen Bürger erklärtes Ziel war, auf das Black
Arts Movement, für dessen pädagogischen Aspekt "Blackboard" (Abb. 3.7) von Cliff
Joseph als paradigmatisches Beispiel steht.255 Hier wird das Alphabet einer eigenen, auf
der afrikanischen Herkunft basierenden Kultur gelehrt, das Erlernen des Schreibens be-
deutet gleichzeitig das Formulieren einer Geschichte, auf die man mit "pride" und "re-
spect" zurückblicken kann. In der "Schultafelserie" Basquiats hingegen wird die Re-
klamierung des afrikanischen Erbes lediglich noch als Abbreviatur (EGYPT, BRONZE
HEAD OF BENIN) den Errungenschaften westlicher Zivilisation entgegengesetzt (Ra-
keten, Flugzeuge),256 dominieren vielmehr die zu kompensierende Geschichte der Kolo-
nialisierung sowie die durch Fernsehen und Werbung verankerten rassistischen Stereoty-
pen die Bildthematik.257
253 Ihde, 91.254 Zu der ich die Bilder Untitled (Hand Anatomy), 1982 (Abb. 3.3), Future Sciences Versus theMan, 1982 (Abb. 3.4), Native Carrying Some Guns, Bibles, Amorites on Safari, 1982 (Abb. 3.5),Untitled (Rinso), 1982 (Abb. 3.6) sowie Tuxedo, 1983 (Abb. 4.32a) zähle.255 Zum Black Arts Movement und seinen Wandmalereien siehe Barnett, 50-63; Lewis, 224-231 undFine, 200-203.256 So bei Future Sciences Versus the Man, 1982 (Abb. 3.4) und Tuxedo, 1983, (Abb. 4.32a).257 So bei Native Carrying Some Guns, Bibles, Amorites on Safari, 1982 (Abb. 3.5) und Untitled(Rinso), 1982 (Abb. 3.6).
62
3.4.2 Afrikanische Piktogramme: Bildlektüre "Grillo"
In den Sechziger Jahren wurde jedoch nicht nur eine eigene Geschichte gelehrt, sondern
auch der Mythos von Afrika als dem "Dark Continent" ohne Schrift und Geschichte wi-
derlegt. Das Erlernen von afrikanischen ideographischen Schriftsystemen sowie von afri-
kanischen Sprachen geriet daher zum Höhepunkt einer afrozentrischen Erziehung (Abb.
3.8).258 Während von der Literatur Basquiats rhythmische Wiederholungen, seine per-
kussive Anordnung von Worten und Zeichen als "Eye-Rap" in der Tradition dieser ora-
len afro-amerikanischen Sprachkultur situiert wurde,259 hat man bislang übersehen, daß
vor allem seine Verwendung von Piktogrammen im Kontext der Bedeutung des afrikani-
schen Schreibens steht. Wieder ist es Thompson, der 1983 in Flash of The Spirit einen
der grundlegenden Beiträge zu Erforschung der Übernahme solcher Schreibsysteme nach
Amerika geleistet hat.260 Thompsons Kapitel über das afrikanische nsibidi- und das ku-
banische anaforuana-Schreiben - das viele afro-amerikanische Künstler vor Basquiat zu
analogen ideographischen Verfahrensweisen inspiriert hat - zitiert Basquiat in Grillo von
1984 wörtlich.261 Basquiat übernimmt Fragmente (FRAGMENTS) aus dem laufenden
Text, den Abbildungen sowie den Fußnoten von Flash of The Spirit, die zeigen, daß er
das Buch intensiv gelesen und somit spätestens seit 1983 eine profunde Kenntnis west-
afrikanischer Mythologien und deren Übernahmen in die Karibik hatte (Abb. 3.9 un-
ten).262
Grillo kann als ein Schlüsselbild gelten - hier kontrastiert und überlagert Basquiat die
Zeichen einer afrikanischen Tradition des Schreibens, einer kulturellen Kontinuität Afri-
kas in Amerika und damit eines afro-amerikanischen Selbstbewußtseins schlechthin mit
den Piktogrammen der westlichen Zivilisation, die er aus Dreyfuss' Symbol Sourcebook
258 Dent, 188.259 So Storr In: Cheim, o. S.; Pellizzi, o. S.; Kertess In: Marshall; 50-55.260 Basquiat besaß Thompsons Buch Flash of The Spirit 1984 (McGuigan In: The New York TimesMagazine, 35). Thompsons Standardwerk über die kulturelle Kontinuität der afrikanischen Kultur inAmerika war wohl auch der Grund für Basquiat, diesen 1985 mit dem Schreiben eines Katalogessaysfür seine zweite Einzelausstellung bei der Mary Boone Gallery zu beauftragen.261 So z. B. die Künstler James Phillips und Houston Conwill (siehe Black Art, 11-116; Dent, 210;Lippard, 68).262 Darauf weist bereits Hebdige (In: Marshall, 68, FN 6) hin. In Black Art (ibid., 114) nennt Thomp-son weitere Texte, die zu einer Kenntnis und Popularisierung der afrikanischen und afro-amerikanischen Zeichensysteme in den Vereinigten Staaten beigetragen haben. Es handelt sich dabeium Griaules (engl. Übersetzung 1986) Standardwerk über die Ideographie der Dogon sowie um LydiaCabreras Studien zu den kubanischen Zeichensystemen La sociedad secreta Abakua (Havanna 1959)und Ritual y simbolos de la iniciacion en la sociedad secreta Abakua (Madrid 1975). Während Bas-quiats Kenntnis von Griaule durch das Zitat einer Dogon-Maske belegt ist, kann sie von Cabrera ledig-lich vermutet werden.
63
zitiert hat.263 Im folgenden ist nach dem Klären der Thompson-Zitate zu zeigen, daß
Basquiats Auswahl dieser Zeichen sowie ihre Rekurrenz innerhalb des Werkes auf ihrer
Relation zu afrikanischen ideographischen Schriftsystemen und afrikanischer Mythologie
basieren.
Basquiats Zitate aus Thompsons Buch Flash of The Spirit bilden drei Gruppen: Referen-
zen an den westafrikanischen Trickstergott Esu, an afrikanische und kubanische Ge-
heimgesellschaften und ihre Zeichen und an den afrikanischen Eisengott Ogun. Die durch
den Trickstergott Esu verkörperte Mythologie eines afrikanischen Schreibens nennt Bas-
quiat mit ESU/FON, BABALAO (EXU-BARA) und DOSSANTOS bzw. SSANTOS
OP. CIT. PP. (Abb. 3.11, 3.13). Die traditionellen Formen afrikanischen Schreibens sind
der Idee eines "heiligen Textes" viel näher als die europäische Textkonzeption als "Ge-
schichtsschreibung". Sie werden in Nigeria durch die drei Stufen der Textproduktion, -
interpretation und -rezeption des Ifa-Orakels verkörpert: Von dem Gott der Schrift, Ifa,
wird durch den Priester auf dem "tray of divination" mit sechzehn Palmnüssen ein Text
geschrieben, seine jeweiligen Konfigurationen werden dann durch die Hilfe des Gottes
Esu interpretiert. Esu ist die Vermittlerinstanz zwischen dem heiligem Text und dem
ersten "Decodierer" der Menschen, dem "babalawo", der die Sprache der Götter in die
Sprache der Menschen übersetzt, und den Basquiat durch BABALAO (EXU-BARA)
nennt.264 Der Trickstergott Esu steht für die Unsicherheiten der Interpretation, für den
Diskurs über einen Text, den nur Eingeweihte lesen können. Seine zwei wichtigsten
Aspekte sind, so Gates, die Pluralität und Unbestimmheit der Bedeutung sowie seine
einzigartige Gabe, die unzusammenhängenden heterogenen Textteile sinnvoll zu verbin-
den, Textkohärenz zu erzeugen.265 Diese Konzeption von der Schrift als dem Text der
Welt, als bestimmtes codiertes und decodierbares Zeichenrepertoir, ist exemplarisch für
andere Schriftsysteme Westafrikas, wie z.B. das ideographische System des Amma-
Orakels der Dogon, das Basquiat durch die an einen Wolkenkratzer erinnernde Haus-
form der sirige-Masken zitiert hat (Abb. 4.43). Der Trickstergott Esu kann somit als
eine Metafigur der Textualität, Heterogenität, Codiertheit und "schwierigen Interpretati-
onslage" von Basquiats Werk gelesen werden.
263 Marshall, 25.264 Exu ist eine Schreibweise des Gottes in Brasilien, Eshu-Bara eine andere (Thompson, 25, 273). In(EXU BARA) fusioniert Basquiat beide. Über Eshu-Bara schrieben Juana und Deoscoredes Dos Santosdie wichtigste Studie, die in den Fußnoten von Thompsons Buch Flash of The Spirit permanent zitiertwird. Basquiat verweist auf diese Fußnoten mit SANTOS OP. CIT. PP (Abb. 3.10).265 Gates 1988, 37.
64
Auf das nsibidi-Schreibsystem der afrikanischen Ejagham (Nigeria/Kamerun) verweist
Basquiat durch NSIBIDI, LEOPARD SKIN und die nsibidi-Ideogramme (Abb. 3.11),
auf deren kulturelle Übernahme nach Kuba durch SUGAR, BRITISH WEST INDIES
(Abb. 3.9) und die mit EVANTAMIENTO DE PLATO und "WINGS" (Abb. 3.11,
3.13) bezeichneten kubanischen anaforuana-Zeichen. Nach Thompson widerlegen die
westafrikanischen nsibidi-Ideogramme der Ejagham den Mythos des "Kontinents ohne
Schrift".266 Die nsibidi-Ideogramme werden von den Mitgliedern der westafrikanischen
Ngbe-Geheimgesellschaft, die einen Leopardengott verehren, verwendet. Deren Mythen
und Zeichen haben sich auch in Kuba fortgesetzt und bilden für Thompson daher ein
Wunder der "kulturellen Wiederherstellung".267
Das Schreiben der nsibidi-Zeichen wurde den Menschen laut Thompson von Meerjung-
frauen, die an einem Ort leben, an dem "bells and gongs echo beneath the water", ge-
lehrt.268 Die Rekurrenz der Zeichen BUZZER und BELL aus Dreyfuss' Symbol Source-
book in Grillo bezieht sich auf diesen Mythos (Abb. 3.9). Die nsibidi-Ideogramme wer-
den in Westafrika in drei Diskursebenen verwendet: als für alle lesbare Zeichen (dann
repräsentieren sie menschl. Verbindungen, Kommunikation, Haushaltsgegenstände), als
Zeichen für Gefahr und Bestrafung ("dark signs") und als komplexe Zeichen, die die
Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie angeben.269 Die Syntax dieses
Schriftsystems ist nicht linear, sondern kann in verschiedene Texturen, wie Stoffe,
Wandbemalungen oder Haushaltsgegenstände eingewebt sein. Das Verstecken solcher
geheimer Zeichen in trivialeren Texten war ein übliches Codierverfahren, das nur Einge-
weihten das Lesen ermöglichen sollte.270 Die westafrikanischen nsibidi-Ideogramme
bilden hier also, ebenso wie der Trickstergott Esu, die afrikanische "Vorlage" für Bas-
quiats komplexes Codierverfahren.
Basquiat zitiert in Grillo stellvertretend für das westafrikanische nsibidi- Schriftsystem
vier Ideogramme:
• Die sternförmigen Zeichen stehen für Kommunikation (Vergl. Abb. 3.11
rechts und 3.12).
266 Thompson, 277. "Nsibidi" bedeutet "gefährliche Buchstaben".267 Thompson, 266.268 Thompson, 244.269 Thompson, 248.270 Thompson, 247.
65
• Die schwarzen mit LEOPARD SKIN beschrifteten Dreiecke und die schwar-
zen Figuren mit erhobenen Armen visualisieren als "dark signs" Gefahr
(Vergl. Abb. 3.11 und Abb. 3.12).
• Der Kreis mit einem integrierten Kreuz ist das den obersten Hierarchiegrad in-
nerhalb der Ngbe-Gesellschaft, die Krone, verkörpernde zentrale Zeichen
(Vergl. Abb. 3.9 Mitte, 3.10). Mit der Ngbe-Krone übernimmt Basquiat ein
afrikanisches Zeichen, das sich gleichzeitig mit einem der wichtigsten Zeichen
der New Yorker Graffiti überlagert, denn die Krone wird dort als Zeichen für
den "king of the line", für den besten Graffitischreiber,verwendet.271
Die westafrikanischen nsibidi-Ideogramme wurden in modifizierter Form auch von der
kubanischen Abakuá-Geheimgesellschaft verwendet und dort durch das kreolische Wort
für Zeichen - anaforuana - ersetzt.272 Für die kubanischen anaforuana-Ideogramme
stehen in Grillo folgende Zeichen:
• Der Kreis mit integriertem Kreuz und vier kleinen Kreisen ist die Übernahme der
nsibidi-Krone und fungiert in Kuba ebenfalls als ein zentrales Motiv, das das dop-
pelte Augenpaar des Leopardengottes Tanze und seiner Braut Sikàn repräsentiert
(Vergl. Abb. 3.11, 3.13, 3.15 mit 3.10). Diese "signature of God" wird häufig auch
von anderen zeitgenössischen afro-amerikanischen Künstlern wie bspw. James Phil-
lips verwendet (Abb. 3.17).273
• Das mit EVANTAMIENTO DE PLATO beschriftete komplexe Piktogramm ist eine
Erweiterung des bei kubanischen Beerdigungen verwendeten Zeichens des "Hebens
des Tellers", was sich auf den Brauch, den Teller eines Toten von seinem Tisch weg-
zustellen, bezieht ( Vergl. Abb. 3.13 mit 3.14).274
Die Mythologie des westafrikanischen Eisengottes Ogun, der in der Karibik und in Bra-
silien weiter verehrt und für das afrozentrische kulturelle Selbstverständnis von großer
Bedeutung ist, nennt Basquiat in Grillo durch AMULA OGUN, IRON BLADE
(Abb. 3.13) und IRON/BRASS (Hufeisen), BELT OF COTTON©, PRESENT IN THE
271 In diesem Sinn hat Basquiat die bereits als SAMO© verwendete Krone in seine Arbeiten übernom-men. Auch das "dark sign" der schwarzen Figur mit erhobenen Armen in Grillo (Abb. 3.11), das beiden Ejagham für "all this country belongs to me" steht, verweist auf ein wichtiges Element der NewYorker Graffiti: an die Reviermarkierungen der "tags", die die Gebiete der verschiedenen Graffitischrei-ber voneinander abgrenzen.272 Thompson, 252.273 Black Art, 113.274 Thompson, 268.
66
SPEEDING BULLET©, IRE, KETU, ILESHA und 16 SONS OF 1ST KING (Abb.
3.9). Ogun ist der Gott des Krieges und der Kultivierung der Natur. Er hat dem Er-
schaffer der Welt geholfen, den Ur-Wald durch seine Eisengeräte (IRON BLADE) zu
lichten, die ersten sechzehn Straßen von der heiligen Stadt in den Dschungel zu schlagen,
auf denen die 16 SONS OF 1ST KING auszogen, um die ersten sechzehn Königtümer
zu gründen (Abb. 3.9). In den alten afrikanischen Städten IRE, KETU, ILESHA wurden
Loblieder auf Ogun als Schöpfer und Zerstörer gedichtet und gesammelt (Abb. 3.9). 275
BELT OF COTTON© ist ein Zitat aus einem dieser aufgeführten Loblieder: "Ogun ties
on his cutlass with a belt of cotton" (Abb. 3.9, rot durchgestrichen).276 Ogun ist in Afrika
in allen Eisengegenständen präsent, so laut Thompson "even in the speeding bullet or
railway locomotive", was Basquiat mit PRESENT IN THE SPEEDING BULLET©
zitiert (Abb. 3.9). Der Eisengott wird durch liturgischen Schmuck aus "iron or brass"
(IRON/BRASS) verehrt (Abb. 3.9). Sowohl in Afrika als auch in der Neuen Welt tragen
die Priester zu Ehren Oguns eine Kette aus kleinen Metallemblemen, die AMULA
OGUN (Abb. 3.11, 3.13).277 Eines der zwanzig Teile dieser Kette ist eine "large cere-
monial iron bell" (BELL). In Kuba wird Ogun vor allem durch Nägel, eiserne Pfeile und
Hufeisen (Hufeisen mit IRON/BRASS), in Brasilien durch "pick, pick-axe, axe, ... and
shovel" verehrt (Abb. 3.9).278 Letztendlich verweisen alle Eisengegenstände in einem
afro-atlantischen Kontext auf den Eisengott Ogun.279
Basquiats ironische Gegenüberstellung der Kette Oguns, der DIVINING CHAIN, mit
NECKLACE 20 PELE280 führt zu seinen Kontrastierungen und Überlagerungen von
afrikanischen und westlichen Zeichensystemen (Abb. 3.11, 3.13). Die aus Dreyfuss'
Symbol Sourcebook übernommenen Piktogramme mit den Beschriftungen SPIN
DRYING, AGITATE, STRECH, BUZZER, BELL, LINK PARABOLE und FILM
CAMERA fungieren auf einer ersten Referenzebene als Statthalter moderner visueller
Kommunikation (Abb. 3.16). Doch die in Basquiats Arbeiten von 1985 bis 1988 durch-
gängige Rekurrenz der Kombination von SPIN DRYING (Spirale) und AGITATE
(Zickzacklinie) lassen diese ausgehend vom afrikanischen Kontext von Grillo als im
westlichen Text versteckte Zeichen weiterer afrikanischer Schriftsysteme lesen
(Abb. 3.15). Die Spirale kommt als das einheitliche Motiv der Felsmalererei in ganz
275 Thompson, 52.276 Thompson, 53.277 Thompson, 53.278 Thompson, 57.279 Thompson, 57.280"Pela" heißt span. Peseten, es ist anzunehmen, das es sich bei PELE entweder um einen umgangs-sprachlichen Ausdruck oder um eine Abänderung Basquiats handelt.
67
Afrika vor. Nach Gillon wird die früheste Spiralzeichnung um 6000 v. Ch. datiert, 281
womit sie als eines der ältesten Zeichen der Welt gerne von den Afrozentrikern, die in
Afrika die "Wiege der Menschheit" sehen, angeführt wird.282 Diese Spiralen wurden
entweder als einzelne Zeichen oder in Figuren integriert auf die Felsen gemalt
(Abb. 3.20, 3.21). Basquiat übernimmt in seinen Arbeiten beide Versionen: In den frühen
Arbeiten taucht die Spirale vorwiegend bei selbstreferentiellen Figuren als Ellbogen-
oder Kniemarkierung auf (Abb. 3.22); darauf folgt eine Phase verschiedenster freier Spi-
ralmuster (Abb. 2.5, 3.23, 3.24); und ab ca. 1985 verwendet Basquiat schließlich das
Spiral-Zeichen aus Dreyfuss' Symbol Sourcebook - meist in unmittelbarer Nähe zu
AGITATE und Afrika (Ägypten) denotierenden Bildelementen (Abb. 3.25, 2.33).
Die Zickzacklinie mit der Beschriftung AGITATE in Grillo ist eine verkürzte Referenz
an eines der wichtigsten Motive der Ikonographie des Black Arts Movement: an das
Zickzackmuster. Dieses fungiert auf zwei Ebenen: Zum einen ist es die Übernahme eines
Textilmusters der Yoruba und bezeichnet dort "ashé", die göttliche Kraft.283 Zum ande-
ren soll es die "rhythmic syncopation" des Jazz visualisieren.284 In ihm sind also zwei
Verweise auf eine positive Selbstdefinition fusioniert: das afrikanische Erbe und der Jazz,
womit es zu einem zentralen Motiv der künstlerisch-politischen Agitation des Black Arts
Movement der Sechziger Jahre wurde.285 Auch heute verwenden Künstler der afrozen-
trischen Gruppe Africobra wie James Phillips in "Spirits" von 1986 (Abb. 3.17) das
Zickzackmuster noch in diesem Sinn. In Grillo verweist das Wort AGITATE in seiner
ersten Wortbedeutung "schütteln, hin- und her bewegen" auf seinen ursprünglichen
Kontext, die Betriebsanleitung für Waschmaschinen.286 Die zweite Wortbedeutung, "er-
regen, beunruhigen" bezieht sich zusammen mit der ersten auf die Wirkung des Jazz, die
dritte, "agitieren", nennt schließlich den politischen Rahmen, in dem es verwendet wur-
de. Spirale und Zickzacklinie können somit als extrem verkürzte Kondensate einer afro-
zentrischen Ikonographie gelesen werden und stehen damit stellvertretend für eine Reihe
weiterer im westlichen Hintergrundstext von Grillo versteckten Zeichen.
281 Gillon, 245.282 Die Spirale kann nicht zum festen Motivrepertoire afro-amerikanischer Ikonographie gezählt wer-den. In jüngster Zeit arbeitet jedoch Houston Conwill in Arbeiten wie "Markings on the Sand" von 1989(Abb. 3.18) mit ähnlichen Überlagerungen von Zeichen westlicher Kommunikationssysteme mit tradi-tionellen afrikanischen Symbolen, so auch mit der Spirale.283 Black Art, 111, 113.284 McElroy 1987, 104.285 Black Art, 29.286 So erklärt Basquiat Thompson die Quelle (In: Haenlein 1986, 23).
68
Neben diesen Überlagerungen findet in Grillo , wie schon durch Basquiats Gegenüber-
stellung von NECKLACE 20 PELE und DIVINING CHAIN vorgegeben, eine äußerst
codierte Konfrontation von stereotyper afro-amerikanischer und positiver afrikanischer
Identität statt, die erst durch die Rekurrenz der einzelnen Motive im Werk und ihren
dortigen Kontexten lesbar wird. Im oberen rechten Teil von Grillo stellt Basquiat die
über den Bildtext verteilten Worte SOAP, OIL, CARBON den nsibidi-Ideogrammen
(LEOPARD SKIN) für Gefahr gegenüber, die er durch die weißen "Leopardenflecken"
verdoppelt (Abb. 3.11). In der kreuzweisen diagonalen Zuordnung des Wortes SOAP zu
dem zusätzlichen "white sign" und von OIL/CARBON zu dem orginalen "dark sign"
spielt Basquiat auf komplexe Weise auf eine Problematik an, die später noch ausführlich
diskutiert werden wird.287 Während die Schwärze denotierenden Worte OIL/CARBON
Verweise auf den schwarzen Körpers sind, steht die Seife für den Topos des "Weißwa-
schens" mit all seinen rassistischen Implikationen. Basquiats Zuordnung der Worte
SOAP und CARBON/OIL zu der "Leopardenhaut" in Grillo erfolgt auf zwei Referen-
zebenen. Zum einen stehen die Worte LEOPARD SKIN für die kulturelle Kontinuität
der Afro-Amerikaner, denn in Kuba verkörpern die in schwarz-weiß gemusterten Leo-
pardenkostümen tanzenden Mitglieder der Abakuá-Geheimgesellschaft den aus West-
afrika übernommenen Leopardengott Tanze.288 Zum anderen aber bezieht sich
LEOPARD SKIN auf eine Bibelstelle, in der dessen Unfähigkeit, seine Flecken zu ver-
ändern, mit der des Schwarzen, seine Haut aufzuhellen, verglichen wird.289 In beiden
Ebenen setzt Basquiat die Leopardenhaut mit der Haut des Schwarzen in Bezug: positiv
als zweite Haut des Tanzkostüms, negativ als Hinweis auf das Stigma der schwarzen
Hautfarbe.
Auch die Nähe der "halbierten Eier" zu dem "Maskengesicht" (Abb 3.11), die in einer
ersten Lesart völlig unvermittelt erscheint, erschließt sich erst durch die Rekurrenz dieser
Konstellation innerhalb von Basquiats Werk. Die Eier sind als Zeichen des rassistischen
Stereotyps des Schwarzen als "eye-popping coon" dem Afrika denotierenden gekröntem
schwarzen Gesicht gegenübergestellt.290
287 Siehe das Kapitel 6.3.2 "Whitewashing Action": Das Leitmotiv Seife.288 Thompson, 262.289 Siehe Kapitel 6.3.2 "Whitewashing Action": Das Leitmotiv Seife.290 Siehe das Kapitel 4.3.1 Das "nigger-image": Sambo, "blackface minstrels" & Co.
69
4. Afrikanische Kultur und Geschichte im Werk Basquiats
4.1 Die Problematik des "Primitivismus"
Basquiats dreiteilige Arbeit Untitled von 1983 (Abb. 4.1) bezieht sich auf das wohl
wichtigste Kunstwerk des europäischen Primitivismus des 20. Jahrhunderts, auf Pablo
Picassos "Les Demoiselles d'Avignon" von 1907 (Abb. 4.2). Die gesichtslose weiße Fi-
gur der linken Bildtafel in Untitled zitiert die beiden Mittelfiguren der "Les Demoiselles
d'Avignon". Über der erhobenen Hand der weißen Figur ist das Wort NERO durchge-
strichen und gekrönt geschrieben. An die Stelle der beiden rechten Figuren mit "afrikani-
schen" Maskengesichtern in Picassos "Les Demoiselles d'Avignon" treten in Untitled
vier schwarze "grimmige" Gesichter, die mit den Worten EYE, EAR, NASA, BRAIN,
RIBS, FACE, TORSO, JAW, TEETH und SKULL© beschriftet sind. Das in Untitled in
der linken Bildtafel durch das gekrönte NERO, die Worte WAX WINGS (ICARUS) und
den erhobenen Arm der Figur gebildete Konnotationsfeld referiert auf den Topos der
blackness, auf die Sklaverei und die Skulptur Afrikas. Das Wort NERO ist in den Ar-
beiten Basquiats neben CARBON, TAR und ASBESTOS Statthalter der schwarzen
Hautfarbe. Die unter der weißen Figur geschriebenen Worte WAX WINGS (ICARUS)
konnotieren die Flucht von Daedalus und Ikarus aus der Sklaverei des kretischen Königs
Minos. Der Name Daedalus verweist etymologisch auf die älteste Art plastischer Tätig-
keit, auf die Holzplastik;291 mit der die Skulpturen Afrikas, nicht die Griechenlands
gleichgesetzt werden. Der durch die weiße Figur in Untitled zitierte erhobene Arm der
beiden mittleren Figuren in Picassos "Les Demoiselles d'Avignon" ist William Rubin zu-
folge eine Übernahme des erhobenen Armes von Michelangelos Skulptur des "Sterben-
den Sklaven" (1513-16), von dem Picasso einen Gipsabguß in seinem Studio stehen
hatte (Abb. 4.3).292
291 Günther, 752. Zu Basquiats detaillierter Auseinandersetzung mit der griechischen Mythologie siehe6.5.1 Bildlektüre "Leonardo da Vinci's Greatest Hits", zu einer afrozentrischen Lesart derselben sieheKapitel 4.6 Karthago vs. Rom: afrikanische oder europäische Hegemonie?.292 Rubin, 246, FN 23. Dieser Gipsabguß von Michelangelos "Sterbendem Sklaven" ist in Rubin alsVergleichsbeispiel neben der Figur mit erhobenem Arm von Picassos "Les Demoiselles d' Avignon"abgebildet. Basquiats üblicher "verschobener" Zitatstrategie zufolge, die in dem Kapitel 6.5.1 Bildlektü-re "Leonardo da Vinci's Greatest Hit's" ausführlich behandelt wird, wäre anzunehmen, daß er mit demZitat der Demoiselles explizit auf diese Referenz an die Sklaverei verweisen wollte. Da Untitled jedochbereits 1983 datiert wird, der Ausstellungskatalog von Rubin aber erst 1984 erschienen ist, ist dies nichtmit Sicherheit anzunehmen. So kann nur vermutet werden, daß Basquiat von der Referenz der Demoi-selles an Michelangelos "Sterbendem Sklaven" durch eine andere Quelle Kenntnis hatte oder aber Un-titled falsch datiert ist. Datierungsfehler kommen bei der Flut von Basquiats Arbeiten des öfteren vor,ich konnte jedoch nicht feststellen, ob dies auch bei dieser Arbeit der Fall ist. Für eine falsche Datierungspricht die Tatsache, daß mir von den Jahren 1981-1983 sonst keine Arbeiten Basquiats mit Referenzenan Picassos Werk bekannt sind, seine Auseinandersetzung mit Picasso aber in den Jahren 1984-1988
70
Während die weiße Figur in der linken Bildtafel von Untitled wie ihre Vorlage in Picas-
sos "Les Demoiselles d'Avignon" eine helle Hautfarbe hat, sind die vier Gesichter der
beiden rechten Bildtafeln dunkel. Die rechte Figur ist gekrönt und bezieht sich dadurch
auf das gekrönte NERO im linken Bildteil. Diese vier "negroiden" Gesichter können als
Stellvertreter der beiden rechten Figuren mit "afrikanischen" Maskengesichtern in Picas-
sos "Les Demoiselles d'Avignon" gelesen werden. Rubin zufolge hat Picasso die beiden
"afrikanisierten" Figuren nach seinem legendären Besuch im Musee d'Ethnographie auf
dem Trocadero 1907 übermalt, wo er angesichts der afrikanischen und ozeanischen
Kunst "Schock" und "Offenbarung" zugleich erfahren hat.293 Picasso hatte jedoch kei-
nerlei Wissen über die Bedeutung und Funktion der afrikanischen und ozeanischen Mas-
ken; für ihn bedeutete die Konnotation Afrika lediglich "Dunkelheit", die "afrikanisier-
ten" Demoiselles sollten vor allem Sexualität, Fremdheit und Bedrohlichkeit ausdrük-
ken.294 Rubin beschreibt denn auch 1984 noch diese beiden Köpfe als "horrific, mon-
strous and distorted" und erinnert damit an die Angst und den Schock, den diese Ge-
sichter bei ihren ersten Betrachtern ausgelöst haben.295 Klaus Herding zufolge stellt Pi-
casso mit diesen "häßlichen" afrikanischen Maskengesichtern den europäisch-akade-
mischen Schönheitskanon in Frage.296
Picassos "Les Demoiselles d' Avignon" gelten als der Beginn seiner kubistischen Phase
und damit als ein wichtiger Umbruch in der europäischen Malerei, der durch die "Ent-
deckung" afrikanischer Kunst ausgelöst wurde. Über Picassos Beeinflussung durch afri-
kanische Kunst in den "Les Demoiselles d' Avignon" wird in der Forschung jedoch ge-
stritten. Einen detaillierten Beitrag zu dieser Diskussion leistet Rubin im Katalog der
Ausstellung "Primitivism" in 20th Century Art. Affinity of the Tribal and the Modern,
die 1984 im Museum of Modern Art in New York stattfand. Diese Ausstellung, die Ru-
bin um Picassos "Les Demoiselles d' Avignon" herum aufgebaut hat, stellte die Kunst der
"primitiven Völker" als "Einfluß" neben die hochkulturellen Leistungen der europäischen
Moderne. Rubin fokussierte in dieser Ausstellung ausschließlich auf das Verhältnis der
europäischen Moderne zur "tribal art", schloß jedoch jegliche postkolonialen Aspekte
zunimmt (siehe dazu beispielsweise Untitled (Pablo Picasso), 1984, Navarra, 287; Untitled , 1984,Maillol, 102; Orange, 1988, Abb. 2.28.293 Rubin, 255.294 Zur Verbindung der Idee einer bedrohlichen und exzessiven weiblichen Sexualität mit Afrikanerin-nen in der Wissenschaft und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts siehe das Kapitel 6.6.2 Die "Hotten-tottenvenus".295 Rubin, 254.296 Herding, 44. Daß Basquiat sich dieser Kontrastierung des europäischen Schönheitskanons mit demzum Inbegriff des "Häßlichen" gewordenen Afrikaners schmerzhaft bewußt war, wird in den Kapiteln6.5 bis 6.6.4 besprochen.
71
zur Problematik des europäischen Primitivismus aus.297 So handelt das Kapitel "Ameri-
can Art" des Ausstellungskataloges denn auch ausschließlich von weißen Künstlern. Eine
Beschäftigung mit den Künstlern der Harlem Renaissance und der afro-amerikanischen
Auseinandersetzung mit afrikanischer Kunst findet bis auf die Ausnahme einer zweizeili-
gen Nennung des "Vorzeige-Afro-Amerikaners" Romare Bearden an keiner Stelle des
Kataloges statt.
Basquiats Arbeiten der Jahre 1984 bis 1986 können als eine Stellungnahme zu dieser
umstrittenen Ausstellung gelesen werden.298 1985 und 1986 bezieht sich Basquiat mit
zwei rekurrenten Elementen seines Bildvokabulars auf die in der Primitivismus-
Ausstellung gezeigte "primitive Kunst" und ihre in Rubins Katalogtext dargelegte Be-
deutung für Pablo Picasso. Die Rekurrenz der Gesichter mit drei Augenpaaren in den
Zeichnungen Untitled , 1985 (Abb. 4.4), Untitled , 1986 (Abb. 4.5) und Untitled , 1986
(Abb. 4.6) verweisen auf eine Maske der Kwele aus dem Kongo (Abb. 4.7), die Picasso
als Anregung für seine Arbeiten "The Studio" (1927/28) und "Head" (1928) gedient hat
(Abb. 4.8). Die Figur in Basquiats Buntstiftzeichnung Untitled von 1986 (Abb. 4.9)
zitiert eine Ganzkörpermaske von den Neuen Hebriden, die Picasso von Henri Matisse
geschenkt bekommen hatte und die in den Fünfziger Jahren zu seinem permanenten Stu-
dioinventar in La Californie in Cannes gehört hat (Abb. 4.10). Auch die seit 1985 in
Basquiats Arbeiten auftretende "Stülpmaske" mit einer verlängerten Nase bezieht sich
auf eine in der Primitivismus-Ausstellung gezeigte Arbeit und ein Mißverständnis in der
europäischen Rezeption "primitiver" Kunst. So hat Alberto Giacometti als Vorlage für
seine Skulptur "Die Nase" von 1947 (Abb. 4.11) eine Helmmaske der Baining aus New
Britain benutzt (Abb. 4.12). Bei seiner Übernahme war Giacometti jedoch nicht bewußt,
297 Zu einer solchen Kritik der Ausstellung siehe Foster, Hal: "The 'Primitive' Unconscious of ModernArt, or White Skin Black Mask." In: Recodings. Art, Spectacle, Cultural Politics. Port Townsend: BayPress 1985. Clifford, James: "Histories of the Tribal and the Modern." In: The Predicament of Culture.Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art. Cambridge u.a.: Harvard University Press 1988.Wallace, Michele: "Modernism, Postmodernism and the Problem of the Visual in Afro-American Cultu-re." In: Ferguson, 39-50. Torgovick, Mariana: "William Rubin and the Dynamics of Primitivism", 119-137.298 Obwohl die Primitivismus-Ausstellung 1984 und 1985 in New York der "talk of the town" war, hatBasquiat sich offensichtlich nicht zu diesem Thema geäußert. Meine Nachfrage bei Robert FarrisThompson, der 1985 in seinem Essay zu Basquiats Einzelaustellung in der Mary Boone Gallery erst-mals die afro-atlantische Thematik von Basquiats Werk thematisiert hat, ergab, daß die beiden nichtüber dieses Thema sprachen. Im Gegenteil: Thompson ist das Ansprechen des Themas Primitivismusgegenüber einem schwarzen Künstler zu heikel gewesen. So schreibt er in einem Brief an die Verfasse-rin: "Jean-Michel and I never discussed the MOMA primitivism show and I certainly would never havediscussed "primitivism" with him. He liked me in part because I never pestered him with such self-conscious and artily weighted stuff. We sipped wine. We discussed women and film and jazz and operaand had great times." Ouattara fand es hingegen wahrscheinlich, daß Basquiat zu der Primitivismus-Ausstellung in seinen Arbeiten Stellung genommen hat. Dennoch hat auch er mit Basquiat nie über dieAusstellung gesprochen (Telefoninterview vom 16. März 1998).
72
daß es sich bei dem verlängerten Teil nicht um eine Art Pinoccionase, sondern um ein
Megaphon handelte. Basquiat spielt auf diese Verwechslung in der Zeichnung Untitled
von 1984 (Abb. 4.13) an. Er plaziert die rohrartige Verlängerung zwar an die Stelle der
Nase,299 läßt sie aber im Kontext anderer Jazzmusiker "trompeten", als ein Megaphon
fungieren. Daß Basquiat Giacomettis Verwechslung sichtlich amüsiert hat, zeigt auch
seine Zeichnung Untitled von 1986 (Abb. 4.15), die diesen "Trompetenrüssel" schließ-
lich parallel zu einem Elefantenrüssel zeigt.300
Die Diskussion um Pablo Picassos Beziehung zur afrikanischen Kunst in der Kunstge-
schichte drehte sich bislang vorrangig um die Frage, ob er aber in seinen Arbeiten einen
"All-Over-Effekt" mit der Konnotation Afrika erzeugt hat, oder ob er bestimmte afrika-
nische Masken und Skulpturen direkt zitiert hat. Die Beantwortung dieser Frage hat für
Picasso und die Geschichte der modernen Kunst jedoch eine völlig andere Bedeutung als
für Basquiat und die Geschichte der afro-amerikanischen Kunst, wie bereits Hebdige
andeutungsweise festgestellt hat:
But in the end, the differences between Picasso and Basquiat - the different rela-tions they adopt to the ethnographic gaze leveled from the West on traditionalAfrican Art, the different investments they make in the construction of their owncelebrity - are more pronounced than any formal affinities in their work.301
Für Basquiat läßt sich die oben gestellte Frage in beide Richtungen mit ja beantworten.
Durch seine Formensprache generiert er auf der Metaebene die Konnotation "Primitivi-
tät" und damit afrikanische Kunst. Sein grober, "expressiver" Pinselduktus, die "wilden"
schwarzen maskenähnlichen Gesichter und die Rohheit seiner Keilrahmenkonstruktionen
konstituieren seinen "primitiven" Stil, der ihn im Kontext des Neo-Expressionismus der
Achtziger Jahre als eine "authentische" Version der "Neuen Wilden" firmieren ließ. Diese
oberflächliche Beziehung zu Afrika haben die meisten weißen Kritiker gesehen, in die
Geschichte des europäischen Primitivismus eingeordnet und - kritisiert, wie beispielswei-
se Robert Hughes:
299 Dasselbe Verfahren verwendet Basquiat auch in Mr. Greedy von 1986 (Abb. 2.14). Hier ist derRüssel allerdings als ein "Saugrüssel" zu lesen, denn mit "Mr. Greedy" war sein geldgieriger ZüricherGalerist Bruno Bischofsberger gemeint.300 Siehe auch die Zeichnung Untitled von 1986, wo ein sitzender Mann mit "Rüssel" "King Kong"gegenübergestellt ist (Abb. 4.16).301 Hebdige In: Marshall, 63.
73
Er [Basquiat] hatte sich, wie flüchtig auch immer, Museumskunst angesehen - vor allem Dubuffets und Picassos, von denen er seine "primitiven" Konventionenabgekupfert hatte.302
Paradigmatisch für eine solche auf weißem suprematistischem Denken basierende Kritik
ist auch Adam Gopniks Artikel in der Zeitschrift The New Yorker:
Far from being even marginally in touch with the spray-can gleam and manic vi-tality of real New York subway art, the Basquiat pictures on the walls of theWhitney are weirdly anachronistic - dutiful schoolboy inventories of every re-ceived idea of "raw" or "primitive" utterance that had been circulating in modernart since before the First World War. [...] The "African" masks, the coarse, zappyline, the scarifications, the scibbling intensity: these are not just the primitiveclichés of 1948 - or, for that matter, of 1918. ... It was corny in 1918, and it wasstill corny in 1988 [...] Basquiat offered the art world a more immediately reco-gnizable inventory of instant "primitive" chlichés that he had picked up by loo-king at art books. There was the Dubuffet stick figure, the Cy Twombly scrawl, afew paint strokes borrowed from de Kooning, and a bit of grotesquerie takenfrom Picasso.303
Gopnik kommt gar nicht in den Sinn, nach einer Beziehung Basquiats zum Primitivismus
zu suchen, die außerhalb des angeblichen "Kopierens" europäischer Meister liegt. Bas-
quiats komplexe Beziehung als Afro-Amerikaner zu der Problematik des europäischen
Primitivismus übersieht er völlig. Der als linksliberal geltende Kunstkritiker Peter Schje-
dahl erkennt zwar die "Sophistikation" Basquiats im Umgang mit dem Formenvokabular
des Primitivismus, kann jedoch kaum glauben, daß ein Schwarzer auf diese Art mit dem
"Primitiven" umgeht:
Would I be surprised to learn that the author was a young black man? ... So Iwould not have expected from a black artist Basquiats vastly self-assured graspof New York big painting aesthetics. The licence (my italics) to tap energy from"primitive" forms has often defined Euro-American, white modernism ever sincePicasso circa 1907. I would have anticipated a well-schooled, very original whitehipster behind the tantalizing pictures.304
Auch für Schjedahl hat "Primitivität" viel mit Pablo Picasso und der europäischen Mo-
derne, wenig jedoch mit dem schwarzen Amerika zu tun. Thomas McEvilley schließlich
hält Basquiats Methode ebenfalls für die eines weißen "Primitivisten":
302 Hughes, 403.303 Gopnik In: The New Yorker, 138.304 Schjeldahl, 214.
74
This black artist was doing exactely what classical-Modernist white artists suchas Picasso and Georges Braque had done: deliberately echoing a primitive sty-le.While seeming to behave like a primitive, Basquiat was actually behaving likewhite Westerners who behave as they assume primitives do. .... So it was not justa question of his imagery glorifying African roots and so on - hymning negritude(though he certainly did celebrate black culture). Basquiat was also focusing onthe white art world's expectations, and on the assumtions and ideologies under-lying them. The enthusiastic acceptance that Basquiat's work received so quicklyfrom the still predominantely white art world reflects this strategy.305
Offensichtlich ist es für McEvilley weniger erstrebenswert, die afrikanischen Wurzeln zu
glorifizieren, als sich als Schwarzer auf die Stufe der weißen "kulturellen Ausbeuter" zu
stellen. Tatsächlich aber steht für Basquiat die Betonung seiner afrikanischen kulturellen
Wurzeln im Zentrum seiner Werkthematik. Das aber bedeutet keinen Widerspruch zu
einer intelligenten Auseinandersetzung mit dem Primitivismus, sondern bildet lediglich
einen Teil davon. So widerspricht die afro-amerikanische Feministin bell hooks dieser
gutgemeinten, doch nach wie vor eurozentrischen Sichtweise McEvilleys:
When art critic Thomas McEvilley suggests that "this black artist was doing ex-actly what classical Modernist white artists such as Picasso and George Braquehad done: deliberately echoing a primitive style," he erases all of Basquiat's di-stinct connections to a cultural and ancestral memory that linked him directly to"primitive" traditions. This then allows McEvilley to make the absurd suggestionthat Basquiat was "behaving like white men who think they are behaving likeblack men", rather than understand that Basquiat was grappling with both thepull of a genealogy that is fundamentally "black" (rooted in African diasporic"primitive" and "high art" traditions) and a fascination with white Western tra-ditions. Articulating the distance separating traditional Eurocentric art from hisown history and destiny and from the collective fate of diasphoric black artistsand black people, Basquiat's painting testify.306
Basquiat adaptiert also auf einer ersten Ebene willentlich die Rolle des Primitiven als die
für ihn einzig mögliche Vermarktungsstrategie in einer weißen und größtenteils rassisti-
schen Kunstwelt, wie bell hooks feststellt:
To be seen by the white art world, to be known, Basquiat had to remake himself,to create from the perspective of the white imagination.307
305 McEvilley, 94.306 hooks In: Art in America, 70.307 hooks In: Art in America, 74.
75
Denn als Afro-Amerikaner einen Platz in der amerikanischen Kunstwelt zu besetzen,
bedeutete noch vor fünfzehn Jahren, der Konstruktion des "Anderen" entsprechen zu
müssen. Ein erfolgreicher intellektueller schwarzer Konzeptkünstler war zu diesem Zeit-
punkt unvorstellbar, wie Tate bemerkt:
No area of modern intellectual life has been more resistant to recognizing andauthorizing people of color than the world of the "serious" visual arts. To thisday it remains a bastion of white supremacy, ....It is easier for a rich white man toenter the kingdom of heaven than for a Black abstract and/or Conceptual artist toget a one-woman show in lower Manhattan, or a feature in the pages of Artfo-rum, Art in America, or The Village Voice. The prospect that such an artist couldbecome a bona fide art-word celebrity ... was, until the advent of Jean-MichelBasquiat, something of a joke.308
4.2 Basquiats Bildvokabular im Kontext der afro-amerikanischen Kunst des
20. Jahrhunderts
Obwohl Basquiat einerseits die stereotype Rolle des Primitiven gespielt hat, war ihm
jedoch andererseits daran gelegen, daß sein Werk in Beziehung zu Afrika gelesen wird.
So läßt er 1985 Robert Farris Thompson, Professor für afrikanische und afro-amerikani-
sche Kunst in Yale und eine Koryphäe auf dem Gebiet der Erforschung von Übernahmen
afrikanischer Kulturen in die Neue Welt, einen Katalogessay für seine zweite Einzelaus-
stellung bei der Mary Boone Gallery schreiben. Dieser Essay erläutert Basquiats "afro-
atlantisches" Bildvokabular und plaziert ihn innerhalb des Kontextes afrikanischer Kul-
tur. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere hat Basquiat damit deutlich Stellung zu seiner
Position als afro-amerikanischer Künstler nehmen lassen. Thompson beginnt seinen Es-
say mit den Worten:
Jean-Michel Basquiat ist ein Afro-Atlantiker par excellence. In seinen Arbeitenverbindet sich die Intensität moderner Kunst (die der afrikanischen Kunst vielesverdankt) mit der Expressivität und Figuration schwarzafrikanischer und kreoli-scher Herkunft. [...] Eines ist es, im Paris der Jahrhundertwende auf der Suchenach einem neuen Stil völkerkundliche Museumsobjekte zu umarmen, etwas ganzanderes aber, mit traditionellen Formen zu leben, sie zu lieben, sich nicht zu ver-lieren, sie noch im Traum zu besitzen ...309
308 Tate, 234.309 Dt. Wiederabdruck, Thompson In: Haenlein 1986, 11.
76
Thompson zufolge war dieser Essay der einzige, den Basquiat über seine Arbeit je für
relevant hielt.310 Tatsächlich ist zu Basquiats Lebzeiten kein Essay von einem afro-
amerikanischen Intellektuellen über sein Werk geschrieben worden und auch die weiße
Kunstkritik hat zu Basquiats Beziehung zur afrikanischen oder afro-amerikanischen
Kultur nie Stellung genommen.
Basquiat sammelte - ebenso wie Picasso - afrikanische Kunst.311 Für ihn hatte das Sam-
meln und die Auseinandersetzung mit afrikanischer Kunst jedoch eine völlig andere Be-
deutung als für Picasso und die europäische Moderne. Für Basquiat ist die afrikanische
Kunst kein Formenfundus, der aus einer kulturellen Distanz "geplündert" werden kann,
sondern bildet das Zentrum seiner Definition als afro-amerikanischer Künstler. Afrika
bedeutet für Basquiat, wie für viele andere afro-amerikanische Künstler auch, den Ur-
sprung seiner eigenen Kultur, an den jede afrozentrische Identitätskonstruktion zu-
rückkehrt, um ein positives Bild schwarzer Kultur zu schaffen. Seine Auseinanderset-
zung mit Afrika ist das "re-klamieren" einer verlorenen Kultur und der Versuch des Auf-
baus eines neuen "afro-atlantischen" Bildvokabulars. Damit steht Basquiat innerhalb ei-
ner Tradition der afro-amerikanischen Kunst, die in der Harlem Renaissance der Zwan-
ziger Jahre beginnt und mit der politischen Kunst der Siebziger Jahren endet.312 Die eu-
ropäische Adaption afrikanischer Kunst durch Picasso fällt in Amerika in eine Zeit, in der
die kulturelle Definition der Afro-Amerikaner durch die Intellektuellen der Harlem Re-
naissance (auch New Negro Movement) neu überdacht wird. Die afrikanische Kultur
wird - über den Umweg der weißen Anerkennung des Primitivismus - als Ursprung afro-
amerikanischer Kultur und Geschichte betrachtet.313 Der Soziologe und Historiker
W.E.B. DuBois startete 1907 die pan-afrikanische Bewegung, einen Zusammenschluß
von Afro-Amerikanern, schwarzen Karibianern und Afrikanern mit dem Ziel einer The-
matisierung der globalen "schwarzen" Probleme.314 Marcus Garvey gründete 1910 die
Repatriierungsbewegung "Back to Africa" und entwickelte damit das Bewußtsein des
310 Brief Thompsons an die Verfasserin, März 1998.311 Interview mit Gerard Basquiat am 25. Oktober 1996 in New York. Interview mit Ouattara am19. November 1997 in New York. Telefoninterview mit Bruno Bischofsberger am 22. März 1998. Umwelche Arbeiten es sich dabei handelte, war jedoch nicht zu ermitteln. Thompson bemerkt, daß Basquiat1984 Zeichnungen nach afrikanischen Masken aus seiner eigenen Sammlung machte (In: Haenlein1986, 15).312 In den Siebziger Jahren findet sich der enge Bezug der schwarzen amerikanischen Kultur zu Afrikavor allem in der Musik von George Clinton, Sun Ra und dem jamaicanischen Reggea, in den spätenAchtziger Jahren im afrozentrischen HipHop.313 Zur Harlem Renaissance siehe Fine, 82-88; Harlem Renaissance. Art of Black America. New York:The Studio Museum in Harlem 1987.314 Black Art, 20.
77
"New Negro", der seine Identität nicht durch seine Hautfarbe, sondern durch das ge-
meinsame afrikanischen Erbe definiert.
Dieses neue afro-amerikanische Bewußtsein führte zu einer kulturellen Explosion im
Blues und Jazz, in der Literatur, dem Tanz und dem Theater. Dichter der Harlem Re-
naissance wie Countee Cullen und Langston Hughes thematisierten erstmals ihre afro-
amerikanische und afrikanische Vergangenheit und fragten in ihren Gedichten "What is
Africa to me?". Der Kunsttheoretiker Alain Locke gab in seinem Buch The New Negro
1925 dieser neuen Identität ihren Namen und führte seine Überlegungen zum Bezug der
afro-amerikanischen zur afrikanischen Kunst in dem Essay The Legacy of Ancestral Art
aus. 1933 bündelte er in Negro Art. Past and Present seine Theorie einer auf Afrika ba-
sierenden afro-amerikanischen Kunst. Locke glaubte, daß die afro-amerikanischen
Künstler durch die Sklaverei von ihrer künstlerischen Entwicklung abgeschnitten wur-
den. Sie orientierten sich daher bislang an europäischen Traditionen, was für Locke je-
doch ein Verleugnen des afrikanischen kulturellen Erbes bedeutete. Er forderte somit die
Wiederentdeckung und Rekonstruktion dieses Erbes durch die afro-amerikanischen
Künstler. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war Picassos "Entdeckung" der afrikani-
schen Kunst und deren Einfluß auf die Entwicklung der modernen Kunst. Lockes Hoff-
nung war es, daß die afro-amerikanische Auseinandersetzung mit der afrikanischen
Kunst einen ähnlich befruchtenden Einfluß auf die eigene Kunstentwicklung haben
könnte.
In den Zwanziger Jahren entwickelt Aaron Douglas in seinen Wandmalereien einen Stil,
der durch afrikanische Stoffmuster beeinflußt war. In dem vierteiligen Mural "The As-
pects of Negro Life" von 1934 (Abb. 4.17) für das Schomburg Institute for Research in
Black Culture in Harlem erzählt er die Geschichte der Schwarzen von Afrika über die
Abschaffung der Sklaverei und die Lynchjustiz der "Reconstruction Era" bis hin zur
Wanderung in den Norden Anfang des 20. Jahrhunderts.315 Louis Mailou Jones' "The
Ascent of Ethiopia" von 1932 (Abb. 4.18) und "Africa" von 1935 sowie Palmer Haydens
"Fétiche et Fleurs" von 1933 (Abb. 4.19) sind weitere frühe Beispiele der künstlerischen
Reklamation Afrikas. Ziel der Künstler der Harlem Renaissance war es, über die Suche
nach ihren afrikanischen "roots" ein neues visuelles Selbstverständnis zu erlangen, ein
Bild des Afro-Amerikaners zu schaffen, das sich von der Negativfolie der rassistischen
amerikanischen Stereotypen abhebt und ihm eine neue "Würde", ein neues einheitliches
Selbst gibt. In den Sechziger Jahren erwachte parallel zum Black Power Movement ein
neuer Afrozentrismus, der durch die Integration von afrikanischen Themen ein größeres 315 Fine, 87.
78
politisches Bewußtsein bilden wollte. Das Black Arts Movement wollte die in den "inner
cities" lebenden afro-amerikanischen Jugendlichen durch eine didaktische Kunstform
über ihre eigene Geschichte, ihre Helden und Ziele informieren. Diese Kunst ist eine Art
öffentliche Historienmalerei und damit Geschichtsunterricht für die in den Schulen bis
dahin nicht gelehrte afro-amerikanische Geschichte. Die "Wall of Respect" (Abb. 4.20),
1967 von einem Künstlerkollektiv an eine Hauswand in Chicago gemalt, gilt als die "spi-
rituelle Quelle" des Black Arts Movement. Neben der geballten Faust des Black Power
Grußes sind die schwarzen Helden Frederick Douglass, Hariett Tubman, Marcus Gar-
vey, W.E.B. DuBois, Malcolm X, Muhammad Ali und Charlie Parker dargestellt. Diese
Heldenportraits sind mit Zitaten aus der afro-amerikanischen und afrikanischen Ge-
schichte verbunden.316 Die im darauffolgenden Jahr in Detroit entstandene "Wall of
Dignity" (Abb. 4.21) ist in drei "Friese" gegliedert. Der obere erzählt die Geschichte
einer "glorreichen" afrikanischen Vergangenheit, der mittlere zeigt Portraits von schwar-
zen Führern wie Marcus Garvey und Malcolm X, der untere vier jugendliche Gesichter.
Am rechten Ende verweist ein Sklavenschiff auf das Trauma der "Middle Passage".1 Bis
in die Achtziger Jahre hinein entstanden in den schwarzen Vierteln der nordamerikani-
schen Städte solche Wandmalereien, die die afrikanische Vergangenheit glorifizieren und
die afro-amerikanischen "Helden" ehren.317
Die aus diesem Künstlerkollektiv enstandene afrozentrische Gruppe Africobra verband
Elemente der afro-amerikanischen Populärkultur mit einem afrikanischen Formvokabu-
lar. Ihr Ziel war die Schaffung eines visuellen Äquivalents zur schwarzen Jazzmusik.
Africobra etablierte eine afrozentrische Ikonographie: die Farben rot-grün-schwarz sym-
bolisierten den schwarzen Nationalismus Marcus Garveys, die geballte Faust die Black
Power Bewegung, Stern und Mond die militante Nation of Islam, die Doppelaxt den
afrikanischen Donnergott Shango, das Ankh-Zeichen das ägyptische Erbe und Spiralen
und Zickzackmuster afrikanische Kulturen.318 Seit den Siebziger Jahren haben afro-
amerikanische Künstler durch ihre Reisen nach Afrika einen engeren Zugang zu Afrika.
Afrika ist nicht mehr als "motherland" nur ein mythischer Ort auf der Suche nach einer
eigenen Identität, sondern ist zum vertrauten "homeland" geworden.319 Gleichzeitig wird
in Amerika die Suche nach kulturellen "Überresten", die den Mythos der völligen Abge-
schnittenheit von der afrikanischen Kultur durch die Sklaverei entkräften sollten, wichtig.
In der Folk Art des "Deep South", in den oralen Traditionen der Tierfabeln, im Voodoo-
316 Barnett, 51f.317 Siehe Barnett, 50-63.318 Black Art, 29.319 Black Art, 31.
79
Kult und in bestimmten Tanz- und Musikformen wurden Fortsetzungen afrikanischer
Kultur entdeckt. An die Stelle der reinen Verwendung von Symbolen für Afrika treten
nun die Spiritualität, Mythen und improvisierte Ästhetik Afrikas. James Phillips benutzt
in "Bazu" von 1974 (Abb. 4.22) die rhythmische Formensprache afrikanischer Textilien,
um eine Fusion von afrikanischer Ästhetik und der Improvisation des Jazz zu schaffen,
Ademola Olugebefola malt 1969 den Yorubagott "Shango" (Abb. 4.23), Betye Saar be-
zieht 1971 mit "Eshu (The Trickster)" (Abb. 4.24) auf den afrikanischen Gott der Kom-
munikation und Raymond Saunders zeichnet 1970 in Afrika seine "Afrikanische Serie"
(Abb. 4.25).320
Basquiat zitiert in seinem Werk in extrem verkürzter Form fast alle Motive und Themen,
die diese spezifisch afro-amerikanische Ikonographie konstituiert haben. Diese besteht
im wesentlichen aus drei großen Themenkomplexen, deren Integration in die künstleri-
schen Arbeiten zumeist mit dem Ziel einer positiven Selbstdefinition - dem Entwickeln
einer "Gegenikonographie" zu denen das Bild des Afro-Amerikaners determinierenden
rassistischen Darstellungen - erfolgt. Es handelt sich dabei um Zeichen des afrikanischen
Erbes, der kulturellen Kontinuität Afrikas in Amerika und der afro-amerikanischen Ge-
schichte.321 Zu den Motiven des afrikanischen Erbes zählen im Bereich der Kunst die
Hinweise auf die westafrikanischen Hochkulturen von Benin, Nigeria, Ägypten und Su-
dan; im Bereich des Kunsthandwerks die Referenzen an geometrische Stoffmuster (Zick-
zack- und Dreieckmuster) und die Metallverarbeitung.322 Was den Bereich der Religion
angeht, so findet man in der afro-afrikanischen Kunst vor allem Darstellungen der west-
afrikanischen Gottheiten Shango, Ogun und Esu. Die kulturelle Kontinuität afrikanischer
Kunst in Amerika wird durch die Verwendung der Motive des Schlangenstabs, der
Trickstertiere Spinne und Hase sowie durch die Ideogramme des Voodoo-Kultes betont.
An die afro-amerikanische Geschichte wird durch die Nennung der "Helden" der Sklave-
rei (Harriet Tubman, Nat Turner, Frederick Douglass, Toussaint L'Overture), der "Er-
ziehern" (Booker T. Washington, W.E.B. DuBois), der frühen Fürsprecher einer afro-
amerikanischen Identität (Alain Locke, Marcus Garvey) und der Sprecher des Black
Power Movements (Malcolm X, Huey Newton) erinnert. Der Bereich von Sport und
Musik wird in der afro-amerikanischen Kunst durch die Darstellung der Boxer (Jack
Johnson, Joe Lewis, Ray Robinson, Muhammad Ali) und Leichtathleten (Jesse Owens)
sowie der Jazzmusiker (Duke Ellington, Louis Armstrong, Charlie Parker, Max Roach)
320 Siehe dazu Gaither, Edmund Barry: "Heritage Reclaimed. A Historical Perspective and Chronolo-gy." In: Black Art, 17-34.321 Lewis, 100-228; Fine, 198-263; Black Art, 20-34, 142f.322 Lewis, 133f.
80
thematisiert. Ende der Sechziger Jahre bildet schließlich die Kritik der amerikanischen
Populärkultur (Dekonstruktionen der rassistischen Stereotypen der Werbung) sowie die
Kritik am institutionalisierten Rassismus der amerikanischen Gesellschaft (Veränderun-
gen der amerikanische Flagge) einen wichtigen Bestandteil der afro-amerikanischen
Kunst.
Basquiats Umgang mit den bestehenden Elementen der afro-amerikanischen Ikonogra-
phie kann auf folgende Grundverfahrensweisen reduziert werden:
• Er erweitert das Vokabular dieser Ikonographie um eine detaillierte Auseinanderset-
zung mit dem Problem der Repräsentation des schwarzen Körpers.
• Neben seinen eindeutigen Afrika- ("Maskengesichter", Ägypten) und Afro-Amerika-
Zitaten (Boxer, Jazz, Blues) webt Basquiat in den "westlichen" Text seiner Arbeiten
versteckte Referenzen an die afro-amerikanische Kultur und Geschichte ein. Dabei
überlagert er die Zeichen westlicher Kommunikation mit denen afro-amerikanischer
Kultur und verteilt sie als Leitmotive über das ganze Werk.
• Er kontrastiert die Zeichen einer positiven afrikanischen und afro-amerikanischen
Identität mit Hinweisen auf die rassistische Darstellung von Schwarzen in der ame-
rikanischen Populärkultur.
Gegen die didaktischen Bestrebungen der afro-amerikanischen Kunst der Sechziger und
Siebziger Jahre, bei den Betrachtern ein afrozentrisches Bewußtsein zu erzeugen, setzen
sich Basquiats kryptische Inhalte ab. Basquiat betreibt keine Aufklärungsarbeit mehr;
durch seine codierte Bildsprache verschafft er dem informierten Betrachter vielmehr ein
Vergnügen am "Decodieren" seiner Bildinhalte. Diese Dimension des Sprechens nur zu
"Eingeweihten" wird von vielen schwarzen Künstlern und Intellektuellen goutiert: man
ist als schwarzer Künstler gleichzeitig außen in der weißen Welt und hat Erfolg durch
das Tragen einer Maske, spricht aber durch den codierten Inhalt nur zu "those who
know".323 Bell hooks beschreibt dieses Phänomen des "versteckten Inhalts" in ihrem
Essay Altars of Sacrifice. Re-membering Basquiat von 1993:
Despite the incredible energy Basquiat displayed playing the how-to-be-a-fa-mous-artist-in-the-shortest-amount-of-time-game - courting the right crowd, ma-king connections, networking his way into high 'white' art places - he chose to
323 hooks In: Art in America, 70.
81
make his work a space where that process of commodification is critiqued, parti-culary as it pertains to the black body and soul. [...] Like a secret chamber thatcan only be opened and entered by those who can decipher hidden codes, Bas-quiat's painting challenges folks who think that by merely looking they can "see".... Designed to be a closed door, Basquiat's work holds no warm welcome forthose who approach it with a narrow Eurozentric gaze. ... Even when Basquiatcan be placed stilistically in the exclusive, white male art club that denies entry tomost black artists, his subject matter - his content - always separates him onceagain, and defamiliatizes him. It is the content of his work that serves as a barrier,.... 324
Kevin Bray, ein Bekannter Basquiats, bestätigt diese Lesart von hooks: "..., he [Bas-
quiat] never thinks people understand the paintings".325 Basquiat verfolgte also eine
doppelte Strategie: Zum einen verwendet er in seinem Werk überdeutliche Zeichen der
afrikanischen und afro-amerikanischen Kultur wie Maskengesichter, schwarze Helden
und "primitiven" Stil. Zum anderen aber ist seine inhaltliche Thematisierung der "black
expierence" sehr viel codierter als in der bisherigen afro-amerikanischen Kunst. Das liegt
zum einen daran, daß er Kunst für ein weißes Publikum produzierte, das einer zu offen-
sichtlichen Thematisierung seiner schwarzen Identität nicht positiv gegenübergestanden
und seine Kunst mit dem Label "Protestkunst" versehen hätte. Damit aber hätten seine
Arbeiten wohl das Schicksal der meisten afro-amerikanischen Kunst vor ihm erlitten: nur
zu einem schwarzen Publikum zu sprechen, nur in kleinen Katalogen reproduziert zu
werden, nicht in weißen Galerien ausgestellt zu werden und erst recht nicht international
bekannt zu werden. Basquiat ist also durch seine Strategie des Codierens seiner eigentli-
chen Bildinhalte unter Beibehaltung einer "primitiven" Oberfläche, die ihn im Kontext
des Neo-Expressionismus für die weiße Kunstwelt als ein "authentischer" Künstler ak-
zeptierbar werden ließ, erst eigentlich bekannt geworden. Diese Strategie hat ihm von
schwarzer Seite, wie bereits erwähnt, lange den Vorwurf des ideologischen Ausverkaufs
eingebracht. Für einen afro-amerikanischen Nationalisten war es unvorstellbar, daß sich
ein schwarzer Künstler zum Promoten seiner explizit afro-amerikanischen Bildinhalte aus
der "black community" entfernen und in weißes "Feindesland" begibt.326
Von weißer Seite hat man lange die Dimension von Basquiats Bildinhalten nicht ver-
standen. Nun ist es Basquiat durch seine subversive Strategie tatsächlich gelungen, bei
einem internationalen Publikum das Interesse an einem afro-amerikanischen Künstler und
der Problematik seiner kulturellen Identität zu wecken. Ohne Basquiats "Vorläufer-
schaft" in den Achtziger Jahren wäre das europäische Interesse der Neunziger Jahre an 324 hooks In: Art in America, 72, 74.325 Haden-Guest In: Vanity Fair, 184.326 Tate, 232ff.
82
afro-amerikanischen Konzeptkünstlern wie David Hammons, Adrian Piper, Renée
Green, Glenn Ligon, Lyle Ashton Harris, Carrie Mae Weems oder Lorna Simpson nicht
verständlich. Damit ist Basquiat für den Kunstbereich letztendlich das gelungen, was die
Rapper und HipHop-Musiker seit Mitte der Achtziger Jahre in der Populärkultur erreicht
haben - bei den weißen Zuhörern ein Interesse an der Problematik der afro-
amerikanischen Geschichte und Kultur zu schaffen.327
4.3 Afrika als das Zentrum der kulturellen Selbstdefinition Basquiats
Basquiat machte sich in einigen seiner Arbeiten über die simplizistische Ansicht mancher
Europäer über afrikanische Kunst lustig. Nachdem ihm Claudio Caratsch, der damalige
Schweizer Botschafter an der Elfenbeinküste, im Sommer 1985 afrikanische Kunst mit
den Worten erklärte: "It's to repel ghosts, mainly", wurde Basquiat verärgert und amü-
siert zugleich über einen Europäer, der ihm afrikanische Kunst mit einer so begrenzten
Definition nahezubringen versuchte.328 In rund zehn Arbeiten von 1985 spielt daher das
groß geschriebene TO REPEL GHOSTS auf diese Begebenheit an.329 Basquiat selbst
identifiziert sich in seinem Werk fast durchgehend positiv mit den Kulturen Afrikas. Das
unbekannte und unheimliche Afrika der europäischen Imagination des 19. Jahrhunderts,
das er in der Zeichnung Undiscovered Genius von 1982/83 (Abb. 4.26) mit THE
DARK CONTINENT™ nennt, ist für ihn, wie für die meisten Afro-Amerikaner, zu
"Afrika, the motherland" geworden.
In Brown Face von 1981 (Abb. 4.27) kombiniert Basquiat sein Zeichen für "ich", das in
ein Auge geschriebene Wort EYE, mit einem in den Farben Afrikas gemalten Gesicht.330
Die Farben gelb-rot-grün-schwarz konnotieren in Basquiats Werk als ein Metazeichen
durchgängig Afrika als Fokuspunkt einer afrozentrischen Identitätskonstruktion. Gelb-
Rot-Grün sind die Farben der äthiopischen und anderer afrikanischer Flaggen. Diese
Farbkombination wird von der jamaikanischen Rastafaribewegung, die sich in ihrer Reli-
gion auf das äthiopische Staatsoberhaupt Haile Selassie bezieht, verwendet. Die Kombi-
nation dieser Farben mit schwarz verweist auf die rot-grün-schwarz gestreiften Flagge
des Back to Africa Movement des Jamaicaners Marcus Garvey. Rot symbolisiert das
327 Siehe dazu das Kapitel 3.3 "Droppin' Science": Basquiat als Vermittler afro-amerikanischen Wis-sens.328 Telefoninterview mit Bruno Bischofsberger am 22. März 1998.329 Telefoninterview mit Claudio Caratsch am 18. Mai 1998.330 Die Verwendung des Wortes EYE als Bezeichnung von "I" entstammt der Tradition der Codierungvon Worten imHipHop (Bärnthaler, o.S.)
83
vergossene Blut und den Befreiungskampf der Afro-Amerikaner, Grün die "Heimat"
Afrika, Gelb/Gold die ehemalige und wiederkommende Größe Afrikas und Schwarz die
negroide Rasse.331 Beide Farbkombinationen finden in der Kunst der jamaikanischen
Rastafari, bei afrozentrischen amerikanischen Rapgruppen wie X-Clan und Brand Nubi-
an, in der afro-amerikanischen Populärkultur und in der afro-amerikanischen Kunst
Verwendung (Abb. 4.28, 4.29, 4.30).
Im Gegensatz zu einer primitivistischen Auseinandersetzung mit afrikanischer Kunst, die
nur an deren Formenvokabular und magischer Qualität interessiert ist, bezieht sich Bas-
quiat in seinen Arbeiten auf die Funktion der afrikanischen Kunst für das afro-ame-
rikanische Selbstverständnis. In den Arbeiten Bronze von 1982 (Abb. 4.31) und Tuxedo
von 1983 (Abb. 4.32) sowie in der Zeichnung Untitled von 1987 (Abb. 4.33) beziehen
sich BRONZE, BRONZE HEAD OF BENIN bzw. BENIN HEAD BRONE Z auf einen
1938 gemachten Sensationsfund in Benin, durch den die Geschichtsschreibung afrikani-
scher Kunst revidiert werden mußte. Gefunden wurden lebensgroße Bronzeköpfe, deren
Naturalismus in den Dreißiger Jahren die westliche Kunstwelt verblüffte und die mit den
Glanzleistungen griechischer Skulptur verglichen wurden (Abb. 4.34).332 Daß die afrika-
nische Kunst die gleichen ästhetischen Leistungen wie die griechische Kunst hervorge-
bracht hatte, war für die westliche Kunstwissenschaft nicht akzeptierbar. Man glaubte an
einen europäischen Einfluß auf die Kunst Benins oder gar an einen Aufenthalt europäi-
scher Künstler in Benin. Erst in den Fünfziger Jahren konnte überzeugend bewiesen
werden, daß es sich bei den Bronzeköpfen tatsächlich um genuine afrikanische Kunst-
werke handelt.333 Die Geschichte um die Akzeptanz der Bronzeköpfe ist als ein Beispiel
suprematistischen weißen Denkens in das afro-amerikanische Denken eingeflossen.334 In
der afro-amerikanischen Kunst wird deswegen gerade die Kunst Benins neben der
Ägyptens als Beispiel afrikanischer Hochkulturen zitiert und glorifiziert (Abb. 4.21).
In Tuxedo (Abb. 4.32a) plaziert Basquiat seine Nennung der Bronzeköpfe als Hinweis
auf das afrikanische Kunstkönnen und einer positiven Repräsentation im Sinne eines eu-
ropäischen Schönheitsbegriffes direkt neben den die Bildfläche dominierenden Namen
des jüdischen Blackfaceentertainers Al Jolson. Dieser hatte zur Zeit des sensationellen
Fundes in den Vereinigten Staaten durch seine Filmauftritte eine große Definitionsmacht
331 Bender, 19.332 "Mysterious Ife Bronze Heads. African Art Worthy to Rank With the Finest Works of Italy and Gre-ece." The Illustrated London News. 8. April 1939 (MoMA Ordner: Art, African Negro).333 Phillips, 404; Gillon, 253.334 Siehe Wallace, Michele: "Invisibility Blues. Africa, Art & Ancestors." The Village Voice. 23. Juli1996, 23-25.
84
über das stereotype Negativbild der Schwarzen in den Medien und steht damit in unmit-
telbarem Kontrast zu der positiven afrikanischen Repräsentation.335
In der 1985 enstandenen Zeichnung Untitled (Abb. 4.35) zitiert Basquiat eine Bocio-
Figur der Fon in Benin, die im Musee de l'Homme in Paris ausgestellt ist (Abb. 4.36). Es
ist wahrscheinlich, daß Basquiat diese bei einem seiner Parisbesuche gesehen und skiz-
ziert hat. Bocio-Figuren werden im Kontext der Voodoo-Religion der Fon in Dahomey
und Benin verwendet. Die Figuren werden mit der Voodoo-Kraft identifiziert und dienen
sowohl dazu, ihre Besitzer zu verteidigen als auch dazu, andere zu verletzen. Bocio-
Figuren sind in der Fon-Kultur allgegenwärtig, sie befinden sich überall, wo sich Men-
schen aufhalten.336 Die Voodoo-Religion der Fon aus Dahomey und Benin setzte sich
fast unverändert im Voodoo-Kult in Haiti und später in New Orleans fort. Sie ist das
einzige afrikanischen kulturelle System, das komplett in Amerika überlebt hat. Diese
kulturelle Kontinuität gründet in der synkretistischen Überlagerung der afrikanischen
Götter mit den katholischen Heiligen: Ihre Anbetung wurde von den weißen Plantagen-
besitzern nicht bemerkt und somit auch nicht verboten.337 Die afrikanischen Bocio-
Figuren werden durch das Fesseln, Knoten und Festbinden der Skulptur mit ritueller
Kraft aufgeladen (Abb. 4.37).338 Die in Basquiats Arbeiten rekurrenten gefesselten Figu-
ren beziehen sich auf diese rituelle Handlung (Untitled , 1985, Abb. 4.38). In Gri Gri
von 1986 (Abb. 4.39) weist bereits der Titel auf die volkstümlichere Bezeichnung der
Bocio-Figuren als "Gris-Gris" oder "Fetische" hin.339
In der Zeichnung Untitled von 1985 (Abb. 4.4) bezieht sich die gelb/rot/blau gestreifte
gefesselte Figur auf die Bocio-Figuren. Ihre Farbigkeit verweist auf die im Voodoo-Kult
von New Orleans verwendete Farbkombination gelb/rot.340 Das im Umfeld der Figur
wiederholt geschriebene NIGHT WATCHMAN. SECURITY GUARD spielt auf die
kleinen Stoffpüppchen an, die im haitianischen Voodoo die afrikanischen Holzskulpturen
ersetzen: diese Figuren werden "garde-corps" (body guards) genannt.341 Die im westli-
chen Text als ein schlafender Nachtwächter zu lesende Figur wird so im afro-
amerikanischen Kontext zu einer haitianischen Bocio-Figur.
335 Siehe Kapitel 6.3.2 "Whitewashing Action": Das Leitmotiv Seife336 Blier, 101.337 Holloway, xv, 36.338 Blier, 80, 293-96.339 Blier, 101.340 Mulira In: Holloway, 40. Siehe dazu auch 2.6.2 Superman ist Dambala: Bildlektüre "Ascent".341 Blier, 49.
85
Eine sehr viel bekanntere Verkörperung afrikanischer Kunst übernimmt Basquiat in
Grillo von 1984 (Abb. 4.40). Die in die Latten eingeschlagenen Nägel erinnern an die
fast schon zu einem Stereotyp afrikanischer Kunst gewordenen Kongofetische
(Abb. 4.41).342 Grillo konnotiert jedoch auf ganz verschiedenen Ebenen Afrika und afri-
kanische Kultur und kann daher, wie viele Arbeiten der Jahre 1984/85, als eine Stellung-
nahme Basquiats zu der Primitivismus-Ausstellung des Museums of Modern Art gelesen
werden. Auf der Metaebene evozieren die Farben Gelb, Rot, Grün und Schwarz den
Topos Afrika. Die zwei braunen Figuren konnotieren eine afrikanische bzw. afro-
amerikanische Identität. Die linke Figur trägt eine Art Tablett und ist Brian Gormley
zufolge das "Portrait" eines Kellners namens Grillo in dem damals von Basquiat fre-
quentierten New Yorker Club Area.343 Die rechte Figur ist gekrönt und kann als Statt-
halter einer "noblen" afrikanischen Vergangenheit gelesen werden. "Grillo" ist aber
gleichzeitig, so Gerard Basquiat, ein typisches puertoricanisches Essen.344 Ouattara zu-
folge bezieht der Bildtitel auf den afrikanischen Griot.345 "Grillo" evoziert also je nach
kulturellem Hintergrund völlig verschiedene Lesweisen: New Yorker Kellner, puertori-
kanisches Essen, afrikanischer Historiker.
Das mit weißer Kreide gezeichnete "Hochhaus" auf der zweiten Bildtafel von Grillo ist
eine Referenz an die sirige-Masken der Dogon (Abb. 4.43).346 Marcel Griaule beschreibt
die sirige-Maske in seinem Standardwerk Le renard pale als ein "maison a étage", das
Elemente der afrikanischen Architektur der ginna übernimmt.347 Diese kurze Informati-
on reicht für Basquiat aus, um in der Zeichnung Dime a Dozen von 1983 (Abb. 4.45)
diese eigentümliche Form einer afrikanischen Maske dem Empire State Building gegen-
überzustellen, die Inbegriffe afrikanischer und amerikanischer Architektur zu kontrastie-
ren.
Im Gegensatz zu der strikten Gegenüberstellung zwischen "primitiver" afrikanischer und
"hoher" europäischer Kunst, wie sie in Rubins Primitivismus-Ausstellung betrieben wur-
de, bezieht sich Basquiat mit dem Bildvokabular des Hintergrundtextes von Grillo gera-
342 Dies sind Holzfiguren, die Gefäße für magische Mittel sind und die bei jedem rituellen Gebrauchmit Eisengegenständen (Nägel, Schrauben, Maschinenteile, etc) gespickt werden (Sieber, 83). In derafro-amerikanischen Kunst finden sich viele Referenzen an die Kongofetische, so bspw. in VusumiziMadunas Skulptur "La Diablesse as Sentinel" (Abb. 2.42).343 Interview mit Brian Gormley am 24. Oktober 1995 in New York.344 Interview mit Gerard Basquiat am 25. Oktober 1995 in New York.345 Interview mit Ouattara am 19. November 1997 in New York.346 Basquiat verwendet das gleiche Hochhaus auch in Portrait of the Artist as a Young Derelict, 1982(Abb. 4.44).347 Griaule, 439.
86
de auf die kulturelle Kontinuität afrikanischer Schreibsysteme in der Karibik. Basquiat
zitiert aus Robert Farris Thompsons 1983 erschienenem Buch Flash of The Spirit Ideo-
gramme und Wörter, die von der Übernahme der afrikanischer Kulturen in die Neue
Welt zeugen und die von Thompson als Argument gegen die These verwendet werden,
daß die Afro-Amerikaner durch die Sklaverei einen absoluten Kulturverlust erlitten hät-
ten.348 Basquiat erinnert mit diesen Zitaten an die eigentlichen Erben der "primitiven"
afrikanischen Kulturen, die von dem Diskurs der Primitivismus-Ausstellung jedoch gänz-
lich ausgeschlossen waren.
In Grillo (Abb. 4.40) verweist Basquiat mit ESU auf den afrikanischen Trickstergott
Esu.349 Esu ist ein zentraler Gott der nigerianischen Yoruba, deren Götterpantheon fast
vollständig in die Neue Welt übernommen wurde und die Grundlage amerikanischer Re-
ligionen wie Santeria (in Kuba und Puero Rico) und Candomblé (in Brasilien) ist. In Exu
von 1988 (Abb. 4.46) erinnert Basquiat durch den Namen des Titels auf die Übernahme
des westafrikanischen Trickstergottes Esu nach Brasilien, wo dieser als Exu verehrt
wird.350 In Haiti wurde aus Esu Papa Legba, der Gott der Kommunikation und Vermitt-
lung, dessen symbolische Farben schwarz und gelb sind. Eine von Papa Legba besessene
Person hinkt und läuft langsam mit einem Stock.351 In To Repel Ghosts von 1985
(Abb. 4.47) verwandeln die gelb/schwarze Farbigkeit und der Stock den jungen schwar-
zen "streetman" in eine Verkörperung des haitianischen "loas" Papa Lebgas.352
In der Zeichnung Flash in Naples von 1983 (Abb. 4.48) übernimmt Basquiat das Logo
der Comicfigur Flash, einen gelben Blitz auf der Brust. Das Coverbild des Comics kün-
digt Flash als "Lightning Action" an (Abb. 4.49). Diese Referenz an Gewitter ist für
Basquiat Grund genug, den weißen Comichelden Flash synkretistisch mit dem afrikani-
schen Donnergott Shango zu überlagern, denn Shango ist mit der Macht von Blitz und
Donner ausgestattet und wird in der afrikanischen Kunst durch die Doppelaxt und die
Farbe rot symbolisiert (Abb. 4.50).353 In den Sechziger Jahren ist Shangos Kraft mit dem
Black Power Movement verglichen worden, weswegen er auch zum rekurrenten Bild-
348 Siehe dazu ausführlich Kapitel 3.4.2 Afrikanische Piktogramme: Bildlektüre "Grillo".349 Siehe dazu ausführlich Kapitel 3.4.2 Afrikanische Piktogramme: Bildlektüre "Grillo".350 Thompson, 25, 273.351 Simpson, 66.352 Merewether In: Mito y Magia, XLII, CXXV.353 Poynor, 61. Flashs/Shangos Logo, der Blitz auf der Brust, findet sich auch in anderen Arbeiten Bas-quiats als Zeichen Shangos wieder, wie bspw. in Leonardo's Greatest Hits von 1982 rechts neben denWorten SEVLAC, CALVES (Abb. 4.97) und in der Zeichnung Untitled (Grain Alcohol) von 1983(Abb. 4.51).
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personal der Kunst des Black Arts Movement zählt (Abb. 4.23, 4.52).354 Basquiat be-
zieht sich bereits 1982 mit Red Warrior (Abb. 4.54) durch die rote Farbe und den
Kämpfertopos auf Shango. Auch die abstrahierte Zeichnung einer Doppelaxt in Sienna
von 1984 (Abb. 4.55), die zu seinem rekurrenten Bildvokabular zählt, konnotiert Shan-
go.
Die Rekurrenz des Wortes IRON, oft durch ein Copyright-Zeichen, durch Unterstrei-
chen oder Durchstreichen innerhalb von Auflistungen von Metallen markiert, sowie die
der Worte und Gegenstände AXES, PICK-AXE, SICKLES, FORKS, MATTOCKS
(wie bspw. in Undiscovered Genius 1982/83, Abb. 4.26) und die aus Dreyfuss' Symbol
Sourcebook entnommen Bügelanweisungen HOT IRON und COOL IRON verweist auf
den nigerianischen Eisengott Ogun, den Gott der Krieger, Schmiede und Bauern
(Abb. 4.56, 4.57). Alles Metall verweist in Nigeria auf Ogun,355 der heute noch in der
Karibik und Brasilien weiter verehrt wird und für das afrozentrische kulturelle Selbstver-
ständnis von großer Bedeutung ist. Die Eisen konnotierenden Worte in Basquiats Bild-
vokabular erinnern gleichzeitig an die westafrikanische Kunst der Metallverarbeitung und
ihre Übernahmen in der Schmiedekunst der Black Folk Art des amerikanischen Südens.
So nennt Basquiat in der Zeichnung Untitled von 1982 (Abb. 4.58) neben dem afrikani-
schen WAR GOD Ogun auch die afro-amerikanischen SMITHS AS HEROES.
In der drei Jahre nach Basquiats anfänglicher Identifikation mit Afrika in Brown Face
(Abb. 4.27) enstandenen Arbeit Eye-Africa von 1984 (Abb. 4.59) ist Basquiats Identität
nun klar von der Afrikas getrennt, denn das Wort EYE nimmt die Stelle Amerikas ein -
eine kulturelle Selbstdefinition Basquiats als einem Afro-Amerikaner mit dem Blick-
punkt Afrika.356 Basquiat fokussiert in seinen Arbeiten durchgehend auf die kulturellen
Kontinuitäten der afrikanischen Kultur in Amerika, sucht nach einer Verbindung zu sei-
nen afrikanischen "Wurzeln". Damit steht er in einer Tradition afro-amerikanischer In-
tellektueller und Künstler, die mit der Harlem Renaissance beginnt.357 In einer Fortset-
354 Auch Basquiats Freund Ouattara setzt sich in seinen Arbeiten mit dem Donnergott Shango ausein-ander: 1993 hat er mit "Nok Culture" (Abb. 4.53) eine Shango-Skulptur geschaffen, seit Anfang 1998arbeitet er an einer Bildserie zu diesem Thema. Interview mit Ouattara am 19. November 1997 in NewYork.355 Poynor, 66.356 Eye-Africa wurde Claudio Caratsch zufolge in Basquiats Ausstellung 1986 in Abidjan an der El-fenbeinküste gezeigt.357 In den Vierziger Jahren haben W.E.B. Dubois in Black Folk, Then and Now (1939) sowie Hersko-vits mit The Myth of the Negro Past (1941) diese kulturellen Kontinuitäten weiter erforscht. In denSiebziger Jahren hat Lawrence Levine mit Black Culture and Black Conciousness (1977) ein Standard-werk zur afro-amerikanischen Kultur und dem Fortleben afrikanischer Trickstergeschichten in denSüdstaaten geleistet. 1981 hat Robert Farris Thompson in The Four Moments of the Sun eine kulturelleVerbindung zwischen den Afro-Amerikanern und den Bantu aus Zentralafrika nachgewiesen. In seinem
88
zung dieses Denkens plaziert Basquiat in seinen Arbeiten die Zeichen Afrikas fast immer
in den Kontext der Kultur und Geschichte Amerikas. Dabei unterlegt er die westlichen
Zeichen in einer Bedeutungssubversion mit einem afro-amerikanischen oder afrikani-
schen Kontext. In Untitled von 1984 (Abb. 4.60), das Teil einer zwölfteiligen Sieb-
druckserie ist, nennt er in der oberen Bildhälfte Filmtitel, die alle Hasen beinhalten:
"PORKY'S HARE HUNT", "HARE CONDITIONED", "HARE TONIC",
"ACROBATIC BUNNY", "RACKATEER RABBIT", "RABBIT TRANSIT", HARE
DEVIL HARE, und zeigt einen liegenden Comichasen mit der Unterschrift PRESENT.
Wie Bruce Guenther in dem Ausstellungskatalog Jean-Michel Basquiat. The Blue Rib-
bon Paintings erwähnt, sind diese Referenzen an die amerikanischen Zeichentrickfiguren
Porky Pig und Elmer Fudd ein ironischer Kommentar auf den den Zeichentrickfilmen
inhärenten Rassismus, denn der rosafarbene (lies weiße) Porky Pig und Elmer Fudd ver-
folgen die "troublemakers" Bugs Bunny und Daffy Duck.358 Basquiat interpretiert Buggs
Bunny in Untitled als Verkörperung der Figur des afro-amerikanischen Tricksterhasen
Brer' Rabbit, dessen Intelligenz und Einfallsreichtum ihn über die Macht der weißen
Autoritäten siegen läßt. Tatsächlich ist die Figur des Brer' Rabbit eine kulturelle Über-
nahme der Afro-Amerikaner aus Afrika: Tricksterhasengeschichten finden sich in Gui-
nea, Nigeria, Angola und Ostafrika. Die Wolof aus Guinea und die Mandinka haben die-
se Geschichten nach Amerika importiert, wo der Tricksterhase in den "folk tales" der
Südstaaten als der listreiche B'rer Rabbit fortlebt.359 Bereits in der Zeichnung Untitled
von 1982 (Abb. 4.58) nennt Basquiat mit HARE AS GOD den afrikanischen Trickster-
hasengott zusammen mit einer Aufzählung anderer afrikanischer Götter und ihrer afro-
amerikanischen Übernahmen: SERPENTS, MYTHS, HERO; SMITHS AS HEROES;
SNAKE GOD COUPLE; SUN GODS; ANIMALS IN THE SKY und GREAT
SPIRIT.360 In Untitled von 1984 (Abb. 4.61) bezieht die laufende Figur mit "Hasenoh-
ren" im oberen linken Bildteil auf eine nigerianische Holzskulptur, die eine "Hasenoh-
renmaske" trägt (Abb. 4.62). Diese Figur verdoppelt Basquiat im unteren Bildteil und
verlängert ihre Hasenohren, so daß sie zu einem Hybrid zwischen Mensch und Hase wird
und bezeichnet sie mit SUN GOD/TRICKSTER und GREAT HARE. Auch in TBT von
1984 (Abb. 4.63) findet sich eine solche "menschliche" Hasenfigur.
Standardwerk Flash of The Spirit von 1983 zeigt er, wie die afrikanischen Kulturen der Yoruba, desKongogebietes, der Ejagham, der Mande und des Cross River Gebietes die ästhetischen, sozialen undreligiösen Traditionen der Afro-Amerikaner in den amerikanischen Südstaaten beeinflußt haben. Hol-loway, ix - xii.358 Blue Ribbon, o.S..359 Holloway, 16; Roberts, 30-44.360 Siehe dazu das Kapitel 2.6.1 Der Ursprung des "Signifying": Bildlektüre "Moses and the Egypti-ans".
89
4.4 Amerika vs. Afrika
Negro
I am a Negro:Black as the night is black,Black like the depths of my Africa.
I've been a slave:Caesar told me to keep his door-steps clean.I brushed the boots of Washington.
I've been a worker:Under my hand the pyramids arose.I made mortar for the Woolworth Building.
I've been a singer:All the way from Africa to GeorgiaI carried my sorrow songs.I made ragtime.
I've been a victim:The Belgians cut off my hands in the Congo.They lynch me still in Mississippi.
I am a Negro:Black as the night is black,Black like the depths of my Africa. (Langston Hughes)361
Basquiat konfrontiert in seinen Arbeiten fast durchgängig die Lage der Afro-Amerikaner
in den Vereinigten Staaten mit der afrikanischen Geschichte. Seine Vorgehensweise erin-
nert an die des afro-amerikanischen Dichters Langston Hughes, der in seinem Gedicht
Negro die afrikanische Vergangenheit der amerikanischen Realität gegenüberstellt.
Basquiats "Historiengemälde" Untitled (History of Black People) von 1983
(Abb. 4.64) mit dem bitter-ironischen Untertitel EL GRAN ESPECTACULO erzählt die
Geschichte der Afro-Amerikaner von ihrem Ursprung als Nubier (NUBA.) und Ägypter
(AMENO HANIS) in Afrika hin zum Beginn ihrer ersten afro-amerikanischen Identität
als Sklaven (SLAVE).
361 In: Rampersad, 24. Langston Hughes (1902-1967) war der bekannteste Dichter der Harlem Renais-sance.
90
Die Nubier sind dem senegalesischen Historiker Cheik Anta Diop zufolge die Vorfahren
fast aller Afrikaner; die nubische Kultur gilt als Anfang der afrikanischen Zivilisation.
Unternubien war einer der ersten entwickelten Staaten überhaupt und existierte bereits
vor dem antiken Ägypten.362 Basquiat plaziert die mit NUBA. beschrifteten Maskenge-
sichter folglich an den Anfang der Bilderzählung von Untitled (History of Black
People). Die Worte SALT, SICKLE, MEMPHIS und DOG sind doppelt lesbar, zum
einen als Statthalter einer noblen afrikanischen Vergangenheit, zum anderen aber auch
als Referenzen an eine leidvolle amerikanische Geschichte. SALT bezeichnet einerseits
Salz als das wichtigste afrikanische Handelsmittel, das wertvoller als Gold war;363 ande-
rerseit ist es eine Anspielung auf die als grinsende "Negerköche" geformten Salz- und
Pfefferstreuer (Abb. 6.28). SICKLE bezieht sich zum einen auf die sichelförmige Form
des Bootes in der unteren Bildmitte, das ein typisches ägyptisches Nilboot ist.364 Zum
anderen aber referiert SICKLE auf die Sickle Cell Disease, eine genetisch bedingte un-
heilbare Krankheit, die in den Vereinigten Staaten nur Afro-Amerikaner befällt.365
MEMPHIS und THEBES waren die beiden Hauptstädte des alten Ägyptens.
MEMPHIS, TENNESEE. hingegen war zuerst eines der Zentren des Sklavenhandels,
dann durch den Blues das kulturelle Zentrum Afro-Amerikas und 1968 Ort der Erschie-
ßung Martin Luther Kings.366 Die Worte A DOG GUARDING THE PHAROH verwei-
sen auf Anubis, den ägyptischen Hundegott der Toten.367 Der von dem (schwarzen)
Totengott bewachte (schwarze) Pharao jedoch trägt auf seinem Körper eingeschrieben
die Worte SLAVE, SLAVE. Das Wort DOG in der Nähe von SLAVE konnotiert
362 Diop, 150. Das archäologische Wissen über das antike Nubien ist immer noch sehr gering. Die Nu-bier hatten eine entwickelte Hochkultur mit Pyramiden, Tempeln und einer alphabetischen Schrift, diebis heute nicht entziffert ist. Mit Aufkommen der Ersten Dynastie in Ägypten (2950 v. Ch.) wurde dienubische "A-Gruppe" und damit Nubiens Unabhängigkeit ausgelöscht. In der ersten Zwischenperiodehaben viele Nubier als Söldner in Ägypten gearbeitet. Unter Amenhotep I. (1514-1493 v.Ch.) wurdeNubien von Ägypten kolonialisiert. Aber ca 750 v.Ch. haben die nubischen Kushiten Oberägypten be-setzt und 715 v.Ch. Ägypten besiegt. Die Hauptstadt wurde von Theben nach Memphis verlegt und die25ste Dynastie der "Kushiten" gegründet (Davidson, 38). Von 300 ägyptischen Pharaonen waren 18Nubier (Diop, 150)! Bereits in Nubien wurde Amon angebetet, der noch heute der Hauptgott Schwar-zafrikas ist (Diop, 147). Das nubische Insignium ist der Jackal, der später zum ägyptischen HundegottAnubis wird (Diop, 78).363 Bergier, 19.364 Basquiat hat diese Zeichnung direkt aus Brentjes' African Rock Art zitiert (ibid., 61, Abb. 30), wasbereits Thompson konstatiert (In: Haenlein 1986, 20). Felsmalereien von ägyptischen Booten wurden inder Sahara gefunden und zeugen vom Kontakt Ägyptens mit den Saharastaaten (Davidson, 35).365 (Marshall, 23).366 Encyclopedia, Stichwort Memphis.367 Hart, George: A Dictionary of Egyptian Gods and Godesses. London 1986. So erklärt sich auch dierekurrente Umkehrung von DOG zu GOD in Basquiats Arbeiten, wie z.B. in der Zeichnung Dog LegStudy von 1982/83 (Abb. 4.64): der Hundegott der Toten ist auch in den westafrikanischen Kulturender Jackal, der aus Ägypten übernommen wurde (Diop, 141). Basquiat unterstreicht in seinen Tierlistendas Wort JACKAL und referiert damit auf dessen Bedeutung als Totengott und Held afrikanischer Ge-schichten (siehe die Zeichnung Untitled , 1985, Abb. 4.66).
91
gleichzeitig die die flüchtenden Sklaven verfolgenden Hunde der amerikanischen Süd-
staaten.368
4.5 Ägypten als Ursprung afro-amerikanischer Kultur: eine afrozentrische Lesart
afrikanischer Geschichte
Die Geschichte der Afro-Amerikaner beginnt für Basquiat also nicht in Amerika, sondern
in Afrika, genauer: in Nubien und Ägypten. Auch die meisten afrozentrischen Historiker
suchen ihre afrikanischen Vorfahren nicht in Westafrika, sondern in Ägypten, da Ägyp-
ten die einzige afrikanische Kultur ist, die vom Westen als Hochkultur anerkannt ist und
die europäische Kultur in vielem beeinflußt hat. Ein erstes Ziel der Afrozentriker ist es
daher, die Abstammung der Westafrikaner und damit der Afro-Amerikaner von den
Ägyptern zu beweisen, ein zweites, zu zeigen, daß die ägyptische Kultur zu einem
Großteil "schwarz", d.h. negroid war.369 Grund für diese Fokussierung auf die ägypti-
sche Hochkultur ist der Versuch eines Gegenbeweises zu der von weißer Seite postu-
lierten Inferiorität Afrikas und damit der Schwarzen. Sind alle Schwarzen tatsächlich die
Nachfahren von Nubiern und Ägyptern, so dreht sich das Mächteverhältnis zwischen
weiß und schwarz, europäischer Hegemonie und afrikanischer Inferiorität um!
Bereits Anfang des Jahrhunderts hat DuBois daher die europäische Ägyptologie aus ei-
ner schwarzen Perspektive gegengelesen und gezeigt, daß die meisten Ägyptologen die
Rolle der negroiden Schwarzen bei der Entwicklung der ägyptischen Kultur nicht beach-
ten.370 Der Jamaicaner J. A. Rodgers hat in seinen populärwissenschaftlichen 100 Ama-
zing Facts about the Negro with Complete Proof (1957) und der Portraitreihe World's
Great Men of Color (1946/47) die negroiden ägyptischen Pharaonen als Vorfahren der
Afro-Amerikaner reklamiert.371 Der Senegalese Cheik Anta Diop setzt 1955 in seinem
Standardwerk The African Origins of Civilization. Myth or Reality DuBois' amerikani-
sche Anfänge in ein pan-afrikanisches Unternehmen um. 1969 schließlich hat Yosef Ben-
Jochanan die negroide Geschichte Ägyptens und Karthagos behandelt. Seine Untersu-
chungen fielen auf den fruchtbaren Boden der Black Power Bewegung, die die afrozen-
trische Geschichte zum kollektiven afro-amerikanischen Allgemeingut werden ließ. Als
Folge dieses schwarzen Nationalismus wurden an den amerikanischen Universitäten Fa-
368 Siehe dazu auch Kapitel 5.4 Die Flucht aus der Sklaverei.369 Diese Beweise basieren auf den von den westafrikanischen Griots erzählten mündlichen Stammes-geschichten die den Ursprung ihrer Völker in Ägypten situieren (Diop, Samba, 137, 139; Diop, 22).370 Drake, 315.371 Drake, 317.
92
kultäten für Black Studies eingerichtet, an denen in den Siebziger und Achtziger Jahren
Geisteswissenschaftler wie Molefi Kete Asante die Grundlagen für eine afrozentrische
Kritik des "Eurozentrismus" gelegt haben. Asante prägte den Begriff des "Afrozentris-
mus" als Bezeichnung für eine spezifisch afro-amerikanische Denkrichtung, die Afrika
und im besonderen die ägyptische Hochkultur als kulturellen Bezugspunkt der Afro-
Amerikaner verwendet, so wie die Kulturen Griechenlands und Roms als Bezugspunkt
der westlichen Welt dienen.372 Das Spektrum afrozentrischer Positionen reicht heute von
den simplizistischen "Feel Good"-Einstellungen mit dem Motto "Africa creates, Europe
imitates", wie es von George M. James oder Yosef Ben-Jochannan vertreten wird, bis zu
den moderaten Positionen von Diop und Martin Bernal, die lediglich aufzeigen, daß
Afrikaner einen wichtigen Beitrag zur Weltkultur geleistet haben, dies jedoch seit dem
18. Jahrhundert von der europäischen Geschichtsschreibung und Ägyptologie systema-
tisch verschleiert wird. Die durch die Thesen des Afrozentrismus aufgeworfen Fragen
haben heute eine politische Tragweite, die bis in die Lehrpläne der amerikanischen
Schulen reicht. Die Diskussion um die Lehrpläne wird von der Frage um das Lehren von
wessen und welcher Geschichte (His- oder Our-Story), um eurozentrische oder afrozen-
trische Geschichtsauffassung bestimmt.
Die afrozentrische These, daß die Geschichte der Afro-Amerikaner nicht mit der ent-
würdigenden Sklaverei, sondern mit den Hochkulturen Nubiens und Ägyptens beginnt,
wurde von den Künstlern und Intellektuellen der Harlem Renaissance thematisiert. In
den Sechziger Jahren bildeten die Wandmalereien ägyptischer Pyramiden und Pharaonen
ganz neue Wege zum Erziehen eines starken schwarzen Selbstbewußtseins in den "black
communities". Der Afrozentrismus hat schließlich eine ganze kommerzielle Industrie
hervorgebracht, die "Kente"-Kleidung, Ketten mit Afrika-, Kaurimuscheln- und Ankh-
Zeichen-Anhängern sowie Schlangen-Wanderstäbe produziert, um eine positive Identifi-
kation mit Afrika zu propagieren. In den späten Achtziger Jahren fand der Afrozentris-
mus durch seine Adaption von HipHop-Gruppen wie X-Clan, Brand Nubian und KRS-
One schließlich eine große popkulturelle Verbreitung. Gleichzeitig haben Schulreformen
die Lehrpläne zugunsten der Einführung von "black history" geändert. Basquiats Werk
ist zeitlich zwischen dem Aufblühen des Afrozentrismus in den Sechziger Jahren und der
Afrozentrismusflut in der HipHop-Musik der späten Achtziger Jahre angesiedelt. Mit
seiner rekurrenten Farbpalette von rot-grün-gelb (Afrika) und rot-schwarz-grün (Gar-
vey) referiert Basquiat auf die populäre Seite des Afrozentrismus. Mit Zitaten aus der
afrikanischen Geschichte geht er auf die wissenschaftliche Diskussion der afrikanischen
Geschichtsproblematik ein. Mit der Frage ARE NOT PRINCES KINGS? ANCIENT + 372 Asante, 6f.
93
HONORABLE, .... DISPERSED INTO THE FOUR CORNERS OF THE EARTH? in
der Zeichnung Undiscovered Genius von 1982/83 (Abb. 4.26) referiert Basquiat auf
den Kerntopos des Afrozentrismus: die afrikanischen Vorfahren waren keine "primitiven
Buschmänner", sondern Könige. Die rekurrenten Kronen, die zum "Trademarkzeichen"
Basquiats geworden sind, lassen sich so nicht nur als Vertreter des Autors im Bild, son-
dern vor allem als Evokation einer noblen afrikanischen Vergangenheit lesen.373
In Basquiats Werk finden sich viele offene und versteckte Anspielungen auf die Hoch-
kultur Ägyptens. In der Zeichnung Liberty von 1982/83 (Abb. 4.67) wird die Landkarte
Ägyptens zu einem roten Körper, dessen Mitte das Niltal bildet und dessen Becken Nu-
bien ist. In der Zeichnung Untitled von 1985 (Abb. 4.68) nennt Basquiat das ägyptische
Götterpaar ISIS/OSIRIS und den ägyptischen SCARAB, SACRED,374 in Untitled (Per
Capita) von 1983 (Abb. 4.69) den ägyptischen Totengott ANUBIS. In Untitled von
1984 (Abb. 6.34) collagiert er Pyramidenpläne und in Untitled (MP) von 1984/85
(Abb. 4.70) referiert er auf ägyptische Wandzeichnungen (INNER WALL).
In Mitchell Crew von 1983 (Abb. 4.71) bezieht sich Baquiat mit AMENOPHIS IV auf
den von Afrozentrikern als eindeutig negroid reklamierten Pharaonen Echnaton, dessen
ganze Familie mit negroiden Gesichtszügen dargestellt worden ist (Abb. 4.72).375 Die
Tatsache, daß Echnaton negroid war, wurde von der Forschung lange "verschleiert"
oder ignoriert. Erst die 1973 im Brooklyn Museum in New York ausgerichtete Ausstel-
lung Akhenaton and Neferiti. Art from the Age of the Sun King zeigt erstmals eindeutig
die negroiden Gesichtszüge Echnatons und seiner Familie.376 Diese Ausstellung wurde
zu einem großen identitätsbestätigenden Erfolg bei den schwarzen Schulkindern New
Yorks.377 Basquiat war damals dreizehn Jahre alt, und es ist anzunehmen, daß auch er
die Ausstellung gesehen hat. In seinem Bildvokabular verwendet er AMENOPHIS IV
und SUN KING als Zeichen eines afrikanischen Herrschers, der großen Einfluß auf die
373 Siehe dazu auch Sirmans In: Acme Journal, 97.374 Der in Untitled von 1985 (Abb. 4.68) unter SCARAB, SACRED aufgeführte "SCHMIDT,WILHELM"© ist ein deutscher Ethnologe, der die monotheistische Gottesidee bei den sogenannten"primiven Völkern" nachgewiesen hat (Brockhaus, Bd. 10, 434). Basquiats verbindet hier das ägypti-sche Auferstehungssymbol des Skarabeus mit einem europäischen Ethnologen, der auch bei den "primi-tiven Völkern", deren Hauptunterscheidungskriterium von den "zivilisierten Hochkulturen" neben demFehlen einer Schrift der Polytheismus ist, das Existieren einer Gottesidee nachweist. Damit aber setztWilhelm Schmidt eine der europäischen "Diskriminierungsargumente" gegenüber afrikanischen Kultu-ren außer Kraft.375 Ben-Jochannan, 2; Williams, 116.376 Diop, Tafeln 15, 18, 19.377 Drake, 210.
94
westliche Kultur hatte:378 In Untitled (History of Black People) von 1983 (Abb. 4.64)
ist das Schiff in der Bildmitte mit AMEN OPHIS beschrifet, in Untitled von 1984
(Abb. 4.61) kombiniert er den ägyptischen Sonnengott SUN GOD mit dem westafrikani-
schen TRICKSTER-Hasen, einer positiven Reklamation Westafrikas.
In weiteren Arbeiten kontrastiert Basquiat die Zeichen ägyptischer Hochkultur mit denen
amerikanischer Kultur und Geschichte. In Portrait of the Artists as a Young Derelict
von 1982 (Abb. 4.44) referiert er mit ANK auf das ägyptische Ankh-Zeichen für Leben,
mit THE ANKLE© jedoch auf die Fußfesseln, die im afro-amerikanischen Sprachge-
brauch ein Synomym für die Fesseln der Sklaverei sind. In Melting Point of Ice von
1984 (Abb. 4.73) stellt er das Heilauge des Horus (EYE OF HORUS) dem amerikani-
schen Zeichen für Apotheke (RX) gegenüber; in Future Science Versus the Man von
1982 (Abb. 3.4) konfrontiert er die Pyramide als Synekdoche der Zivilisation Ägyptens
mit den Errungenschaften westlicher Technologie. In der Zeichnung Untitled von 1987
(Abb 4.33) kontrastiert er die Nennung ägyptischer und westafrikanischer mit denen
griechischer Kultur: EGYPTAN CA. 900 B.C.; GOLD STATUE; BENIN HEAD;
BRONE Z, WARRIOR NIGERIA; OWO J; IJEBU AREA (YORUBA) versus RED
FIGURED P....S GREEEK 470 B.C., GREEEK. In Tuxedo von 1983 (Abb. 4.32), wird
die Pyramide mit der Unterschrift THE GREAT SEAL (ein Zitat der Dollarnote) der
neo-griechischen Architektur Monticellos (ein Zitat der Fünf-Cent-Münze) gegenüberge-
stellt. Basquiat konfrontiert damit zum einen ägyptische und griechische Kultur, referiert
aber vor allem auf Thomas Jeffersons ambivalente Haltung zur Sklaverei.379
In der afrozentrischen Beweisführung, daß die Ägypter ein negroides Volk waren, nimmt
die Sphinx von Gizeh eine zentrale Stellung ein. Die Sphinx war das Portrait des Pha-
raonen Khafre (Chephren), dem Erbauer der zweitgrößten Pyramide Ägyptens. Die
Afrozentriker glauben, daß die Sphinx eine negroide Nase hatte und Khafre folglich ein
schwarzer Pharao war. Diese Beobachtung hat bereits der französische Gelehrte C.
F. Volney (1757-1820), der Ägypten 1783-85 zur Blütezeit der amerikanischen Sklave-
rei besuchte, in seinen Reiseberichten notiert:380
When I visited the Sphinx, its appearance gave me the key to the riddle. Behol-ding that head typically Negro in all its features ... The Egyptians were true Ne-
378 Echnaton gilt durch seine Einführung des Sonnengottes Aton als der Begründer des Monotheismus,den die Juden zur Zeit ihrer Versklavung in Ägypten adaptiert haben und der letztendlich zur Gotte-sidee des Christentum geführt hat.379 Siehe Kapitel 5.3 Liberty?.380 Diop, 27; Tarharka, 85-87. Die These Volneys, daß die alten Ägypter negroid waren, wurde von denamerikanischen Abolitionisten im Kampf gegen die Sklaverei verwendet (Bernal, 173ff, 294ff).
95
groes of the same race as all native-born Africans. [...] To think that this race ofblack men who are today our slaves and object of our contempt is the same oneto whom we owe our arts, sciences and even the very use of speech ....381
Während Volney in seinen Schriften die kulturellen Errungenschaften Ägyptens der ne-
groiden Rasse zuschreibt, eliminieren nachfolgende Ägyptologen diese Beobachtungen
und lassen die "Negro Question", d.h. die Frage, ob die Ägypter negroid-schwarz oder
aber europäid mit dunkler Hautfarbe waren, zumeist offen. Oft heißt es bei der Beschrei-
bung der Hautfarbe einfach "dark complexion", was vielseitig auslegbar ist. Seit Ende
des 19. Jahrhunderts verschweigt die Ägyptologie zunehmend, daß es sich bei einigen
Pharaonen um negroide Schwarze handelt.382 Die wichtigsten afrozentrischen Kulturge-
schichten jedoch erwähnen alle Volneys Reisebericht an zentraler Stelle und bilden als
Illustration eine Zeichnung des 18. Jahrhunderts der Sphinx mit negroider Nase ab
(Abb. 4.74).383 Die Nase der Sphinx wurde laut Encyclopedia Brittanica jedoch bereits
1380 von den Moslems zerstört und diente danach als Schießziel der Mameluken. Ex-
tremistische Afrozentriker hingegen halten dies für Geschichtsverfälschung und glauben,
daß die ehemals negroide Nase der Sphinx von Weißen weggesprengt wurde, was für sie
der Beginn der eurozentrischen Zerstörung afrikanischer Kunst ist.384
In Basquiats Zeichnung Untitled von 1984 (Abb. 4.75), die ein Gesichtsprofil zeigt,
verweisen "BROKEN NOSE©, "NOSE BROKEN©, FIG. 27 NOSE BROKEN OFF
(STATUE) BY ENGLISH ANTROPOLOGIS, "SENSE OF SMELL" und "NOSE
RESTORED' auf die afrozentrische These, daß die Nase der Sphinx von Europäern ab-
geschlagen wurde, um zu verbergen, daß ihr Profil ein eindeutig negroides war. Die "re-
staurierte Nase" in Untitled hat denn auch ein eindeutig europäisch-"cäsarisches" Profil,
ein bitter-ironischer Kommentar auf das eurozentrische "Weißwaschen" ägyptischer Ge-
schichte. Die Fünfundzwanzig-Cent-Münze im Auge des Profils mit der Unterschrift
"VISION" konnotiert die Statue der vier amerikanischen Präsidenten in Mount Rushmo-
re - die "amerozentrische" Version der Sphinx.
4.6 Karthago vs. Rom: afrikanische oder europäische Hegemonie?
381 Ben-Jochannan, 109; Diop, 27.382 Zu dieser "weißwaschenden" Entwicklung der Ägyptologie siehe Diop, "Modern Falsification ofHistory", 45ff.383 So Diop,1; Drake, Tafel 1 und 2; Ben-Jochannan, 201; Rodgers 1961, 10ff; Text Diop, 43ff; Ben-Jochannan, 109 ff; DuBois (1915), 34.384 Suzar, o.S..
96
In Jawbone of an Ass von 1982 (Abb. 4.76) thematisiert Basquiat die kriegerische und
intellektuelle Konfrontation des (schwarzen) Afrika mit dem antiken Westen (Rom,
Griechenland). Die die Bildmitte überflutenden Namen aus der europäisch-afrikanischen
Geschichte nennen mit PHARAO, EGYPT, RAMESES 2, HANNIBAL, PUNIC WARS
und ALEXANDRIA einige der wichtigsten Fokuspunkte des afrozentrischen Gegenle-
sens afrikanisch-europäischer Geschichte.
GUELPHS AND GHIBELLINES, der Kampf der adligen Familien Italiens im
13. Jahrhundert, geben als "interne Bildüberschrift" das Thema an: der Kampf zweier
verfeindeter Parteien, hier jedoch Afrika vs. Rom, schwarz gegen weiß. Der Boxkampf
einer schwarzen und einer weißen Comicfigur im rechten unteren Bildteil kommentiert
diesen antiken "Kampf der Rassen" ironisch.
Die Punischen Kriege (PUNIC WARS) waren die wohl wichtigste Auseinandersetzung
zwischen Afrika und Europa in der Geschichte, Karthago (CARTHAGE) der größte
Feind des römischen Imperiums. Hannibal (HANNIBAL), der laut Diop ebenso wie die
Bevölkerung Karthagos und des antiken Nordafrikas negroid war, stellte eine ersthafte
Bedrohung Roms dar und wird daher von afrozentrischen Historikern gerne zu einer
heldenhaften Figur stilisiert, die den weißen Westen fast besiegt hätte.385 Virgils Aeneis
(VIRGIL AENOID) kann als die "literarische Aufarbeitung" der Punischen Kriege gele-
sen werden. Der Fluch der karthagischen Königin Dido (DIDO) über Aeneas - "jemand
wird mich rächen" - wird gemeinhin auf Hannibal als dem Rächer interpretiert.386 Didos
Selbstmord aber bedeutet den Fall Karthagos, der laut Diop das Ende der antiken Su-
prematie Afrikas bedeutet.387
Basquiat verleiht Hannibal als dem afrikanischen Herausforderer des weißen Europas
schlechthin eine Krone und plaziert die Worte PUNIC WARS prominent in der Bildmit-
te. Mit DARIUS, MIHTRIDATES und CLEOPATRA nennt Basquiat drei weitere au-
ßereuropäische Herausforderer des antiken Westens. Darius I. war König von Persien
(522-482) und versuchte mehrmals Griechenland zu erobern, die Athener haben ihn
schließlich 490 v.Ch. in der Schlacht von Marathon geschlagen. Mithridates d. Große
385 Eine antike Münze mit einem negroiden Kopf auf der einen und einem Elephanten auf der anderenSeite dient diesen als Beweis der Negroität Hannibals (Ben-Jochannan, 302; Rodgers, 42ff, 302).386 Fitzgerald, 406.387 Diop, 65, 118ff. Der Vater von Dido war König von TYRE (Ben-Jochannan, 298). Tyre war einwichtiger phönizischer Hafen im Südlibanon, der 1400 v.Ch. zu Ägypten gehört hat. Kolonialisten vonTyre haben 900 v.Ch. Karthago gegründet. Tyre bot Alexander dem Großen sieben Monate lang großenWiderstand, bevor es erobert wurde und kann daher als Symbol des Widerstandes gegen Griechenlandund im fortgestezten Sinn auch gegen Rom gelesen werden.
97
(gest. 63 v.Ch.) war ein berühmter Feind Roms, der für kurze Zeit Roms Hegemonie in
Asia Minor gebrochen hat. Die Liaison von Kleopatra und Julius Caesar bedeutete hun-
dert Jahre nach der Zerstörung Karthagos eine weitere Bedrohung des römischen Impe-
riums, denn Kleopatra wollte nicht nur Herrscherin über Ägypten, sondern auch über
Rom sein.
Durch die Worte ALEXANDRIA, ALEXANDER THE GREAT, HYPATIA,
ANAXAGORAS, ARISTOPHANES, SOCRATES und SOPHOCLES wird die kul-
turelle Begegnung zwischen Ägypten und Griechenland evoziert. Für Afrozentriker ist
das antike Alexandria der Ort genuin schwarzen Wissens schlechthin, das sich die dort
studierenden Griechen angeeignet, oder, im extremen Fall, sogar gestohlen haben. Der
populäre Afrozentriker George E. James stellt in seinem Buch Stolen Legacy (1954) die
These auf, daß Aristoteles in Alexandria studiert, dort alle Bücher gestohlen, die für ihn
brauchbaren als sein eigenes Wissen ausgegeben und den Rest kurzerhand vernichtet
habe. Somit sei der Korpus von Aristoteles' Denken in Wahrheit schwarzes Gedanken-
gut! So absurd dies für europäische Ohren klingen mag, so hat diese These einen enor-
men Einfluß auf afrozentrische Denker, ist noch heute ein Bestseller an afrozentrischen
Straßenverkaufsständen in New York und wird auf dem Internet heiß diskutiert.388 Bas-
quiat hatte von diesem Buch sicher Kenntnis und verwendet ALEXANDRIA in seinem
Bildvokabular in diesem Sinn.
Die Ermordung von Hypatia (HYPATIA) (370-415 n.Ch.), der Direktorin der Neupla-
tonischen Schule und letztem intellektuellen "Star" Alexandrias, durch fanatische christ-
liche Mönche bedeutete das Ende von Alexandria als antikem Gelehrtenzentrum.389 Die
bildinterne Nähe von HYPATIA zu SAVONAROLA legt einen Vergleich zwischen der
Ermordung Hypatias in Alexandria und der Verbrennung der "Eitelkeiten" durch Savo-
narola im antikenbegeisterten Medici-Florenz nahe.390 Beide können als westliche christ-
388 Andere Afrozentriker haben allerdings eingeräumt, daß diese These historisch nicht aufrechtzuer-halten ist, da die Bibliothek von Alexandria erst dreißig Jahre nach Aristoteles' Tod gegründet wurde.389 Basquiats rekurrente Referenzen auf den Neuplatonismus kann man auf dessen Bedeutung als wich-tigsten Einfluß ägyptischer Philosophie auf das westliche Denksystem zurückführen (Renaissance undBarock-Ägyptenbegeisterung, im 18. Jhd. Freimaurer). In der Zeichnung Ascent von 1982/83(Abb. 2.12) referiert Basquiat mit den Worten [PLOTINUS.] und MONTSALVAT auf den Neuplato-nismus.390 Im größeren Bildzusammenhang sind die Worte BORGIA und MACHIAVELLI als Synekdochenskrupelloser politischer Macht zu lesen. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß die Familie der Borgiadurch den Neuplatoniker Pico della Mirandorla in ihren Kunstankäufen stark beeinflußt worden ist: sieerwarben vornehmlich ägyptische Kunst und machten den Apis-Stier zu ihrem Symbol (Bernal, 154)! Indiesem Zusammenhang - der Wiederentdeckung Ägyptens im Italien der Renaissance - ist auch dieantike Verehrung ägyptischer Götter in Italien zu nennen. So waren die wichtigsten Heiligtümer in
98
liche Attacken auf neuplatonisches Gedankengut interpretiert werden. Sowohl
ALEXANDRIA als auch SAVONAROLA gehören zum rekurrenten Bildvokabular Bas-
quiats und stehen für die Konfrontation von in Afrika gründendem (schwarzem) Wissen
und dessen fanatischer Ablehnung (bspw. Toussaint L'Overture Versus Savonarola,
1983, Abb. 5.25).
Mit den Worten PHARAO, JOSEPH, EGYPT, PYRAMIDS, RAMESES 2 und JESUS
CHRIST, JERUSALEM, JEWS, JOSEPHUS nennt Basquiat die "biblische Begegnung"
zwischen Israel und Ägypten. Ramses II. wird von den Afrozentrikern neben Amenophis
IV. als ein eindeutig negroider Pharao reklamiert.391 Ramses II. hat das von Joseph
(JOSEPHUS) nach Ägypten geführte jüdische Volk versklavt. In der afro-ameri-
kanischen Kultur gibt es zwei sich konträr gegenüberstehende Auffassungen zum histo-
rischen Verhältnis der Afro-Amerikaner zu diesem biblischen Geschehen: Während der
Sklaverei wurde die Idee entwickelt, daß die Vorfahren der Afro-Amerikaner die "wah-
ren Juden" seien; die Sklaven identifizierten sich mit dem Volk Israel und nannten ihre
Führer aus der Sklaverei "Moses". Seit der Harlem Renaissance und im besonderen dem
Afrozentrismus der Sechziger Jahre aber glauben viele Afro-Amerikaner jedoch, daß sie
selbst von den Ägyptern abstammen. Mit LINCOLN, A; EMANCIPATION PROC392
und SLAVES zieht Basquiat eine Verbindung von dem versklavten Volk der Juden zu
der Befreiung der versklavten Afrikaner in Amerika.
Pompei, das Basquiat mit POMPEII zitiert, ägyptisch, da Tiberius die ägyptischen und jüdischen Kulteaus Rom verbannt hatte (Bernal, 116).391 Diop, Abb. 11; African Heritage Bible, 87. In Kings of Egypt (Links) von 1982 (Navarra, 80, Nr.4)nennt Basquiat ebenfalls Ramses II (RAMESES 2, RAMESES II) an prominenter Stelle.392 Den Beginn eines weiteren Bürgerkrieges nennt Basquiat mit JULIUS CAESAR, IL REPUBLICO,RUBICON.
99
5. Afro-amerikanische Geschichte im Werk Basquiats
5.1 "Prelude to Our Age. A Negro History Poem"
History's long pageRecords the whole vastPrelude to our age.
Across the chaptersOf recorded timeShadows of so many handsHave fallen,Among them mine:Negro.
At first onlyThe spoken word of bard or chiefAnd the beaten drumThat carried instant historyAcross the night,Or linked man with the mysteryOf powers beyond sight.Pictures on stone, hieroglyphics,Parchment, illuminated scrolls.
Homer's"Blameless Ethiopians."
On all these rolls landmarking man,The shadow of my hand:Negro.
Aesop, Antar, Terence,Various Pharaos,Sheba, too.Ethiopia, Ghana, Songhay.Arab and African; the MoorsGave Spain her sastagnetsAnd senegal her prayers.....Yet Boston's Philllis Wheatley, slave, wrote her poems,And Washington, the general, praised -Washington who righted wrong -But those of us who had no rightsmade an unwritten song:
Go down, Moses,Way down in Egypt land,
100
And tell old PharaoTo let my people go ...
Black Crispus Attucks diedThat our land might be free.His deathDid not free me.When Banneker made his almanacI was not free.When Toussaint freed the blacks of Haiti,I was not free.
In other lands Dumas and Pushkin wrote -But we,Who could not write, made songs:
Swing low, sweet chariot,Coming for carry me home ...Oh, I looked over JordanAnd what did I see -
Phillis, Crispus, Toussaint,Banneker, Dumas, Pushkin,All of these were me -Not free:
As long as oneMan is in chains,No man is free.
Yet Ira Aldrigde played Shakespeare in London.Frederick Douglass ran away to freedom,Wrote books, made speeches, edited "The North Star".Sojourner Truth made speeches, too.Harriet Tubman led her marches."Uncle Tom's Cabin " swept the nation -While we, who were not free and could not write a word,Gave freedom a song the whole earth heard:...Lincoln:1863.Once slaves -"Henceforth and forever free."...
Booker T. -A school, Tuskegee.Paul Lawrence Dunbar -
101
A poem, a song, a "Lindy Lou".Fisk University and its Jubilees.Black Congressmen and Reconstruction days.Black comics with their minstrel ways,Then Williams & Walker, "In Dahomey," "Bandana Land"Ragtime sets the pattern for a nation's songsAnd Handy writes the bluesFor me -Now free.
[...]
All thisA prelude to our age:Today.
TommorowIs another
Page. (Langston Hughes)393
Basquiat nennt in seinen Arbeiten, ebenso wie der afro-amerikanische Dichter Langston
Hughes, den er mit der Zeichnung Untitled (Langston Hughes) von 1983 (Abb. 5.1)
ehrt, fast alle wichtigen Abschnitte afro-amerikanischer, karibischer und afrikanischer
Geschichte. Basquiats Werk ist, wie vielleicht keines in der afro-amerikanischen Kunst
vor ihm, eine Enzyklopädie afro-amerikanischer Geschichte. "Visuelle Geschichtsschrei-
bung" ist jedoch ein Grundthema der afro-amerikanischen Kunst, das mit der Harlem
Renaissance beginnt und mit zeitgenössischen Künstlern wie Glenn Ligon endet. In der
Harlem Renaissance hat Aaron Douglas mit seinem Wandmalereizyklus "Aspects of Ne-
gro Life" (Abb. 2.17) die Geschichte der Schwarzen von Afrika bis hin zu den nordame-
rikanischen Großststädten geschildert. Während der Depression schufen Aaron Douglas,
Charles White und Hale Woodruff im Auftrag der WPA weitere Murals mit Themen aus
der afro-amerikanischen Geschichte. Ihr Ziel war es, der schwarzen Unter- und Mittel-
schicht an öffentlichen Orten wie Bibliotheken die bis dahin noch immer ungeschriebene
Geschichte der Afro-Amerikaner zu vermitteln.394 Jacob Lawrence gilt als der afro-
amerikanische Historienmaler schlechthin. In seinen kleinformatigen narrativen Serien
"Tousaint L'Overture" (1937-38, Abb. 5.27), "Frederick Douglass" (1938-39), "Hariet
Tubman" (1939-40) und der "Migration Series" (1940-41) erzählt er afro-amerikanische
Geschichte und kommentiert die sozialen Bedingungen der Afro-Amerikaner in den Ver-
393 In: Rampersad, 383ff.394 Fine, 92; Lewis 124.
102
einigten Staaten.395 In den Sechziger Jahren betrieb die Kunst des Black Arts Movement
eine Art öffentliche Historienmalerei und damit Geschichtsunterricht für die in den
Schulen nicht gelehrte afro-amerikanische Geschichte.396
Im Gegensatz zum Anliegen der afro-amerikanischen Kunst vor ihm, die eigene Ge-
schichte so explizit wie möglich zu vermitteln, wählt Basquiat eine weniger offene Dar-
stellungsmethode. Zwar sprechen einige wenige Arbeiten auch für den weißen Betrach-
ter verständlich von dem Trauma schwarzer amerikanischer Geschichte, die meisten Ar-
beiten jedoch erinnnern nur durch die in die Bildtexte eingewebten einzelnen Worte dar-
an. Basquiat hat kein erzieherisches Anliegen an die "black community", sondern ver-
sucht vielmehr durch die Methode des "Trojanischen Pferdes" seine Bildinhalte in die
Heime weißer Sammler zu schleusen.
5.2 Sklavenhandel und Sklaverei
Die Anfänge des Sklavenhandels in Afrika nennt Basquiat mit der Zeichnung King Al-
phonso von 1982/83 (Abb. 5.2).397 Der in den Farben von Marcus Garveys Back to
Africa Movement gezeichnete KING ALPHONSO ist mit einer schwarzen Krone ge-
krönt, sein Blick auf ein Kongo-Kosmogramm nach rechts gerichtet. König Alphonso I.
(1507-1543), der zum Christentum konvertierte (vorher Nsinga Mbemba), war Herr-
scher über das Reich Mbaza (Kongo), dessen Struktur der europäischer Staaten der Zeit
entsprach. Kongo war das erste afrikanische Land, das von den Portugiesen "ver-
westlicht" wurde.398 Die Beziehung zwischen den beiden Ländern war zunächst wech-
selseitig: die Portugiesen machten durch Handel ökonomischen Profit, die Kongolesen
hatten Zugang zu europäischen Gütern, Technologie und Religion. Die aristokratische
Jugend des Kongo wurde in Portugal erzogen, Kongo im Gegenzug christianisiert. Da
Kongo aber keine wertvollen Mineralien zu exportieren hatte, begannen die portugiesi-
schen Händler bald mit dem Export von Sklaven. Die Kongolesen verkauften die Skla-
ven, zumeist Kriegsgefangene anderer ethnischer Gruppen, gegen europäische Güter.
König Alphonso beschwerte sich bald in mehreren Briefen an die Portugiesische Krone
395 Bearden, 293-314.396 Siehe das Kapitel 4.2 Basquiats Bildvokabular im Kontext der afro-amerikanischen Kunst des 20.Jahrhunderts.397 KING ALPHONSO wird 1983 durch eine Farbkopie zum rekurrenten Bildvokabular Basquiats.Siehe bspw. EL KING ALPHONSO in Toussaint L'Overture Versus Savonarola von 1983 (Abb.5.25).398 Williams, 265, 267.
103
über den ausufernden Sklavenhandel und verbot die Ausfuhr von Sklaven, allerdings mit
wenig Erfolg.399
Während die englischen Pilgerväter 1620 mit der Mayflower in Plymouth Rock landeten,
kamen die ersten zwanzig afrikanischen Siedler bereist ein Jahr vorher in Jamestown,
Virginia an.400 Die Landung auf Plymouth Rock wird als amerikanischer Gründungsmy-
thos gefeiert, der die afro-amerikanische Geschichte jedoch völlig ausschließt. Die mei-
sten afro-amerikanischen Intellektuellen stellen daher das amerikanische Nationalsymbol
der Geschichte der Sklaverei gegenüber, konfrontieren Plymouth Rock mit Jamestown.
So fragt DuBois in seinem für die afro-amerikanische Erfahrung paradigmatischen Buch
The Souls of Black Folk (1903): "Your country? How came it yours? Before the Pil-
grims landed we were there". Und Malcolm X spitzt das Verhältnis der Afro-Amerikaner
zu einer "weißgewaschenen" amerikanischen Geschichte polemisch zu: "We didn't land
on Plymouth Rock - Plymouth Rock landed on us!"401 In Thesis von 1983 (Abb. 5.3)
nennt Basquiat mit PLYMOUTH ROCK© diesen rein weißen amerikanischen Grün-
dungsmythos und ironisiert durch die Worte IMPORTED MEAT und IMPORTED
SAUSAGES die Ankunft der weißen Pilgerväter.
Ein ähnlich ambivalentes Gefühl haben die Afro-Amerikaner auch zur New Yorker Frei-
heitsstatue, die als Symbol der Emigranten ebenfalls für die als Sklaven nach Amerika
gekommenen Afro-Amerikaner keine Bedeutung hat. Die Ironie der Freiheitsstatue, die
für alle ethnischen Gruppen Amerikas außer den Indianern und den Afro-Amerikanern
steht, thematisiert Basquiat in der Zeichnung Undiscovered Genius von 1982/83
(Abb. 4.26): Das SLAVE SHIP© fährt auf die Freiheitsstatue (LIBERTY™) zu! Undis-
covered Genius stellt paradigmatisch Afrika der Situation der Afro-Amerikaner in Ame-
rika gegenüber: S,402 AFRICA, THE DARK CONTINENT™, und die Frage Q: ARE
NOT PRINCES KINGS? ANCIENT AND HONORABLE, NEITHER SWORD NOR
SPAR, DISPERSED INTO THE FOUR CORNERS OF THE EARTH? werden mit
dem MISSISSIPPI, dem BLUESMAN, der Freiheitsstatue und den Arbeitsgeräten der
Sklaven (SICKLES, FORKS, AXES) konfrontiert. Die Verbindung zwischen diesen
beiden Welten stellt das SLAVE SHIP© her, das die ehemaligen Könige und Prinzen in
399 Martin 1988, 93ff; Williams, "The Kongo-Agola Story", 261-289; July, 187-191; Oliver, Ro-land/Crowder, Michael (Hrsg.), 143; Diop, 23.400 Die Afrikaner waren gestohlene Fracht eines spanischen Sklavenschiffes (Bennett, 29).401 Sollors In: Fabre, 110f.402 Das Superman "S" fungiert in Basquiats Bildvokabular als Symbol der Schlange, dem wichtigstengöttlichen Tier Afrikas und seines Nachfolgers in der Neuen Welt, den haitianischen SchlangengottDambala. Superman/snake/Dambala kann somit als eine Art stolze Signatur des eigenen kulturellenErbes gelesen werden.
104
die "black diaspora" verteilt hat. Basquiats Wiederholung der Zahl NUMBER TWENTY
SEVEN "E"© referiert auf die genaue Anzahl an Sklavenschiffen, die in Louisiana zwi-
schen 1719 und 1731 aus dem Senegal ankamen.403 Das SLAVE SHIP© überlagert sich
mit dem Mississippidampfer, auf dem die Sklaven der Nordstaaten in den Süden trans-
portiert wurden.
In der Papiercollage Untitled von 1982/83 (Abb. 4.95, 5.4) taucht der Begriff SLAVE
TRADE in Verbindung mit der Zeichnung einiger kleiner Schiffe auf. In Slaveships
(Tobacco) von 1984 (Abb. 5.5) betitelt Basquiat das grimmige "Portrait" eines Schwar-
zen vor dem Hintergrund zweier Segelschiffe mit "Slaveships (Tobacco)"; in Logo von
1984 (Abb. 5.6) wird dieses Motiv zu einem bitteren Markenzeichen (TRADE MARK) -
der lächelnde Schwarze wirbt vor dem Hintergrund der "Sklavenschiffe" für den von
den Sklaven in Amerika angebauten Tabak. Basquiat wandelt hier das Logo der ameri-
kanischen Zigarettenmarke Player's ab, das einen weißen Seemann vor einem Segelschiff
und einem Mississippidampfer zeigt (Abb. 5.7). Er tauscht den weißen Seemann mit ei-
nem schwarzen Gesicht aus, so daß die Schiffe im Hintergrund nun als ein transatlanti-
sches Sklavenschiff und einen Sklaven transportierenden Mississippidampfer gelesen
werden können. Tatsächlich hat Player's in der Zigarettenwerbung des 19. Jahrhunderts
mit dem Mythos der "old-time-plantation" geworben: glückliche Sklaven singen "planta-
tion songs" und bauen dabei Tabak an.404 In Water Worshipper von 1984 (Abb. 5.8)
schließlich stellt Basquiat einen afrikanischen "Wasseranbeter" dem Slaveship/Tabak-
Logo gegenüber und konfrontiert damit Afrika und Amerika, positive und negative Re-
präsentation.
In Slave Auction von 1982 (Abb. 5.9) wird das "Sklavenschiff" mit einem weißen Skla-
venverkäufer kontrastiert. Auf den collagierten Papierfragmenten finden sich sowohl
stereotyp weiße als auch negroide Gesichter wieder - Käufer und Verkaufte. In
Obnoxious Liberals von 1982 (Abb. 5.10) tritt an die Stelle des Sklavenschiffs ein an
zwei Säulen gefesselter schwarzer Körper mit den Überschriften ASBESTOS und
SAMSON. Der biblische Samson ist eine wichtige Identifikationsfigur der Sklaven ge-
wesen. So trug Gabriel Prosser, der Führer eines Sklavenaufstandes, langes Haar, um
seinem biblischen Idol Samson zu ähneln.405 Extremistische Afrozentriker wie Suzar
glauben, daß Samson "dreadlocks" hatte und daher schwarz gewesen sei. Der Zylinder
403 Encyclopedia, Stichwort Louisiana.404 Pieterse, 190.405 Bennett, 125.
105
und Anzug des Sklavenverkäufers in beiden Arbeiten lehnt sich an die zeitgenössischen
Darstellungen des Sklavenverkaufs an (Abb. 5.11).
Die Figur in Next Loin and/or von 1982 (Abb. 5.12) konnotiert durch die erhobenen
Arme einen gefesselten und aufgehängten Sklaven. Die expressive Zeichnungsweise lässt
den Körper zerrissen und "geschunden" aussehen. Der in den Farben Afrikas und der
UNIA-Flagge gezeichnete Kopf hat eine Art Mundschutz, der unterdrücktes Schreien
konnotiert. In der Körpermitte der Figur ist ein Kongo-Kosmogramm situiert, das zu-
sammen mit der Farbigkeit der Figur als Zeichen der afrikanischen Herkunft des Sklaven
zu lesen ist. Thema und Expressivität erinnern an die Darstellungen angeketteter Sklaven
in der afro-amerikanischen Kunst wie bspw. Jacob Landaus "Nat Turner" (Abb. 5.13).
In der monumentalen Arbeit Undiscovered Genius of the Mississippi Delta von 1983
(Abb. 5.14) bezieht sich Basquiat mit den Alliterationen von MISSISSIPPI und MARK
TWAIN, mit NEGROES und COTTON, ORIGIN auf die Sklaverei in Mississippi, dem
Staat mit dem brutalsten Sklavensystem. IN THE DEEP SOUTH 1912-1936-1951©
verweist auf die Geschichte Mississippis im 20. Jahrhundert. Mississippi war der rassi-
stischste Südstaat, im dem sowohl der Ku Klux Klan enstanden ist als auch bis in die
Fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein noch Lynchmorde stattfanden. Basquiat
nennt Mark Twain in Verbindung mit einem Missisippidampfer auch in der Zeichnung
Untitled von 1983 (Abb. 5.15). In seinem Roman Huckleberry Finns Abenteuer erzählt
Mark Twain die Freundschaft des weißen "outlaws" Huckleberry mit dem schwarzen
Sklaven Jim, der der einzig wirklich "noble" Charakter des Romans ist. Dennoch ver-
wendet Twain aus historischen Gründen das Wort "nigger" mehr als zweihundert Mal -
Grund genug für die politisch Korrekten, zu verlangen, das Lesen des Buches vom
Lehrplan der amerikanischen Schulen zu streichen.406
5.3 Liberty?
Monticello von 1986 (Abb. 5.16) verweist mit MONTICELLO©™ und FIVE
CENTS® auf die Rückseite der amerikanischen Fünf-Cent-Münze. Das übermalte
UNUM von E PLURIBUS UNUM läßt jedoch fragen, warum dieses amerikanische Na-
tionalmotto für Basquiat nicht zu gelten scheint. "E Pluribus Unum" steht für die Idee, 406 Siehe dazu Wieland, Leo: "Korrekt sind nur die Zaghaften. Ungenügend: Warum 'Huckleberry Finn'von amerikanischen Lehrplänen verschwinden soll." Frankfurter Allgemeine Zeitung. 19. April 1995,33. Leonard, James S./Tenney, Thomas A./Davis, Thadious M.: Satire Or Evasion? Black Perspectiveson Huckleberry Finn. Durham/London: Duke University Press 1992.
106
aus den vielen verschiedenen Emigrantenidentitäten der Vereinigten Staaten eine einheit-
liche amerikanische Identität zu schaffen.407 Dieses Konzept des "Melting Pots" gilt
heute als gescheitert; die meisten ethnischen Minoritäten lehnen das Konzept ab, weil sie
nicht in einem großen "amerikanischen Eintopf" aufgehen, sondern ihre ethnische Diffe-
renz bewahren wollen. Auch Basquiat betont mit dem Ausstreichen von UNUM die
Differenz der ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten, nicht ihre Gleichheit. In
der Zeichnung Untitled von 1986 (Abb. 5.17) nimmt er das Konzept des "Melting Pots"
wörtlich. In einer Pfanne werden die Gesichter eines Indianers (Feder), eines Afro-
Amerikaners (Nase) und eines weißen Amerikaners (Texashut) buchstäblich zu einem
"amerikanischen Gesicht" verschmolzen.
Basquiat zitiert in seinen Arbeiten immer wieder die amerikanischen Motti, die sich auf
den Centmünzen und Dollarnoten finden: E PLURIBUS UNUM, LIBERTY© und IN
GOD WE TRUST (Abb. 5.5). Durch die Wiederholungen und das Durchstreichen von
UNUM und LIBERTY© jedoch verweist er auf die gespaltene amerikanische Gesell-
schaft; weder vereinen sich alle ethnischen Gruppen in einer amerikanischen Identität,
noch gilt für alle die gleiche Freiheit und Gleichheit, die in der Unabängigkeitserklärung
garantiert wurde.
MONTICELLO© (Abb. 5.16) war der Wohnsitz Thomas Jeffersons, dem Hauptverfas-
ser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Doch das "We hold these truth to be
self-evident, that all men are created equal, that they ..... certain Rights, that among these
are Life, Liberty and the pursuit of Happiness" der Unabhängigkeitserklärung galt ledig-
lich für weiße Menschen - den schwarzen Sklaven wurde im 18. Jahrhundert der Status
von Tieren zugeschrieben. Thomas Jefferson selbst hielt Schwarze für schmutzig, stin-
kend und "mental inferior", was er in seinem Buch Notes on the State of Virginia (1785)
ausführte. Dieses Buch über die Sklaverei war in den Vereinigten Staaten das meistgele-
sene Buch des 19. Jahrhunderts und hatte einen enormen Einfluß auf das amerikanische
Bewußtsein. Thomas Jefferson, der selbst Sklaven besaß, haßte die Sklaverei zwar einer-
seits, war andererseits jedoch fest von der Inferiorität der Schwarzen überzeugt.408 Das
hinderte ihn allerdings nicht daran, eine seiner Sklavinnen als langjährige Geliebte zu
407 "E Pluribus Unum" ist der wohl meistzitierteste Spruch in der amerikanischen Multikulturalismus-debatte. "E Pluribus Unum" bedeutet eines aus vielen, eine Nation aus vielen Rassen, Sprachen, Grup-pen, Religionen etc. Das Motto war ursprünglich Teil des amerikanischen Staatssiegels, das von Jeffer-son, Franklin u.a. 1776 vorgeschlagen wurde. Das "Unum" sollte den neuen Bund darstellen, das "Plu-ribus" die dreizehn Kolonien (Sellers, Werner: "DE PLURIBUS UNA/E PLURIBUS UNUS. MatthewArnold, George Orwell, Holocaust und Assimilation. Bemerkungen zur amerikanischen Multikultura-lismusdebatte." In: Ostendorf, 65).408 Jordan: "Thomas Jefferson. Self and Society", 429-482.
107
haben: Sally Hemings, die mulattische Halbschwester seiner verstorbenen Frau Martha.
Nach deren Tod wurde Sally Hemings zuerst das Kindermädchen und danach die Le-
bensgefährtin von Thomas Jefferson. Sie lebte vierzig Jahre lang zusammen mit ihm in
Monticello und gebar ihm sechs Kinder. Diese Geschichte drang 1802 an die Öffentlich-
keit und sorgte für einen internationalen politischen Skandal, der Thomas Jefferson der
Heuchlerei, Immoralität und vor allem der strafbaren "miscegenation" anklagte. Die mei-
sten weißen Anhänger Thomas Jeffersons bestreiten diese Geschichte allerdings bis heu-
te.409 In den letzten Jahren ist die Debatte um Thomas Jeffersons Verhältnis zu Sally
Hemings neu aufgeflammt, steht es doch paradigmatisch für die amerikanische Bigotte-
rie.410 Basquiat verwendet die in seinem Werk rekurrenten Anspielungen auf Monticello
in diesem Zusammenhang.
In der großen Papiercollage Untitled von 1982/83 (Abb. 5.19) spielt Basquiat mit der
Nennung von Personen und Ereignissen auf die Weltgeschichte des 18. Jahrhunderts an.
Es ist unmöglich, aus der Informationsflut der Arbeit eine kohärente Aussage herauszu-
lesen. Anhand einzelner Zitate soll jedoch eine Konnotationslinie aufgezeigt werden, die
auf den transatlantischen Sklavenhandel, den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, die
Französische Revolution und die Repräsentation der Afrikaner im 18. Jahrhundert hin-
weist.
Die auf die fünfte aufcollagierte Zeichnung der oberen Reihe geschriebenen Worte
HOGARTH'S ETCHING OF JOHN WILKES VERSUS GEORGE III AS LORD
NORTH© und das durchgestrichene BRITISH SHADY BUISNESS VENTURES
SOURCES OF CRISIS verweisen auf Englands Rolle im transatlantischen Sklavenhan-
del und die Vorgeschichte des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges. William
Hogarths Kupferstich von John Wilkes zeigt diesen mit einer mit dem Wort "Liberty"
beschrifteten Mütze. Diese "Freiheitsmütze" wurde im antiken Rom Galeerensklaven
anläßlich ihrer offiziellen Freilassung aus der Sklaverei überreicht! Die Engländer über-
nahmen im 18. Jahrhundert dieses Symbol der Befreiung von der Sklaverei: Britannia,
die Allegorie Englands, trug auf den englischen Münzen eine solche Mütze. In der Fran-
zösischen Revolution wurde die "phrygische Mütze" schließlich zum Symbol der Ideen
von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.411 Basquiats erstes Interesse beim Zitieren
409 Encyclopedia, Stichwort Jefferson. Brodie, Fawn F.: Jefferson. An Intimate Biography. New York1974. Dabney, Virginius: The Jefferson Scandals. A Rebutal. New York 1981. Gordon-Reed, Annette:Thomas Jefferson And Sally Hemings. An American Controversy. Virginia 1997.410Alexander, Daryl Royster: "Looking Beyond Jefferson the Icon To a Man and His Slave Mistress".The New York Times. 29. Juni 1997, E7.411 Paulson, 183.
108
von Hogarths Kupferstich von John Wilkes galt daher wahrscheinlich der Bedeutung des
Wortes "Liberty" und der Geschichte der "Freiheitsmütze". Wie bereits oben erwähnt,
wiederholt Basquiat das auf die amerikanischen Münzen geschriebene Wort LIBERTY
permanent in seinen Arbeiten und "signifyt" so auf dessen Bedeutung im weißen ameri-
kanischen Kontext - die Wiederholungen lassen den Betrachter erst fragen, wessen Frei-
heit damit eigentlich gemeint ist.
Mit der Nennung von Hogarths Kupferstich spielt Basquiat auf die Rolle Englands im
transatlantischen Sklavenhandel und im weiteren auf den amerikanischen Unabhängig-
keitskrieg an. Denn der Revolutionär John Wilkes (1725-1797) trat in England für eine
parlamentarische Reform, Pressefreiheit, Beachtung der Menschenrechte und die kolo-
nialen Rechte Amerikas ein und war somit ein entschiedener Gegner des englischen Kö-
nigs George III. (reg. 1760-1820), den Basquiat mit GEORGE III nennt, und der für den
Sklavenhandel Englands und seiner Kolonien verantwortlich war.412 England dominierte
im 18. Jahrhundert den transatlantischen Sklavenhandel: so brachten während des Sie-
benjährigen Krieges englische Schiffe alleine 10.000 Sklaven nach Kuba und mehr als
40.000 nach Guadeloupe! England versorgte neben seinen eigenen Kolonien auch die
seiner Konkurrenten mit Sklaven - das englische Wirtschaftsystem des 18. Jahrhundert
basierte auf dem Sklavenhandel und dem ökonomischen Erfolg seiner Kolonien.413 Die in
Untitled unter HOGARTH'S ETCHING OF JOHN WILKES VERSUS GEORGE III
AS LORD NORTH© geschriebenen durchgestrichenen Worten BRITISH SHADY
BUISNESS VENTURES SOURCES OF CRISIS verweisen somit auf Englands Vor-
machtstellung im Sklavenhandel. Auch das in der vierten Zeichnung der unteren Reihe
geschriebene SLAVE TRADE nennt den Sklavenhandel des 18. Jahrhundert.
In der fünften Zeichnung der dritten Reihe nennt Basquiat mit SEVEN YEARS WAR
den Siebenjährigen Krieg (1755-1763) zwischen England und Frankreich, der um die
Kolonialbesitzungen der beiden Länder geführt wurde. England eroberte von Frankreich
Kanada, Louisiana, Florida sowie die karibischen Inseln St. Vincent, Dominica und To-
bago; auch in Indien siegte England über Frankreich. Durch Englands Sieg über den
dortigen Bundesgenossen Frankreichs, den Nawab von Bengalen, den Basquiat in der
fünften Zeichnung der oberen Reihe neben HOGARTH'S ETCHING OF JOHN
WILKES VERSUS GEORGE III AS LORD NORTH© mit NAWAB OF BENGAL
nennt, geriet ein großer Teil Indiens unter englischen Einfluß. Durch den Siebenjährigen
412 So greift Thomas Jefferson in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung auch George III. alsden Hauptschuldigen des Sklavenhandels an (Franklin, 102).413 Franklin, 50.
109
Krieg war das französische Kolonialreich fast völlig zerstört und die englische Vor-
machtstellung als Kolonialmacht gesichert worden. Eine weitere Folge dieses Krieges
war der Abfall der amerikanischen Kolonien von England durch den Unabhängigkeits-
krieg, denn die amerikanischen Kolonisten hielten nach dem Verschwinden der französi-
schen Rivalen in Amerika den Schutz Englands für nicht mehr notwendig, ja, sie siegten
schließlich mit Frankreichs Hilfe über England.414 Auf den amerikanischen Unabhängig-
keitskrieg verweisen weitere Wörter und Phrasen des Bildtextes in Untitled . Mit
BOSTON RIOTS OVER STAMP ACT© in der ersten Zeichnung der dritten Reihe
nennt Basquiat den Beginn des Unabhängigkeitskrieges. Die Engländer wollten durch die
Einführung der "Stempelakte", eine in Gebührenmarken zu entrichtende Stempelgebühr
für fast alle amerikanischen Papiererzeugnisse, Steuern von den amerikanischen Kolo-
nialisten einnehmen. Die Reaktion der Kolonien auf diese Gebühr war ein Aufstand, der
schließlich 1767 zum Rückzug der englischen Besteuerungsidee führte.415
Das in der fünften Zeichnung der dritten Reihe unter SEVEN YEARS WAR geschrie-
bene CRISPUS ATTUCKS HIGH SCHOOL, das Basquiat auch in der großen Papier-
collage Jesse von 1983 (Abb. 3.1) wiederholt, nennt den ersten gefallenen Amerikaner
im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Crispus Attucks (1723?-1770) war ein Ex-
Sklave, der 1770 beim "Massaker von Boston", dem ersten bewaffneten Aufstand gegen
die Engländer, getötet wurde. Die große Bedeutung seines Todes für die Afro-
Amerikaner liegt im Zusammenhang zwischen dem Kampf der amerikanischen Kolonien
gegen England und dem Status der Schwarzen im Amerika des 18. Jahrhunderts.416
Denn daß der Kampf um die Freiheit und Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien
ausgerechtet von einem entlaufenen Sklaven angeführt wurde, fanden die Kolonisten
bemerkenswert und wandten sich im folgenden daher gleichzeitig gegen England und die
Sklaverei.417
Um die englischen Truppen besiegen zu können, verbündeten sich die amerikanischen
Kolonien 1778 mit Frankreich, dem Erzfeind Englands. Mit Hilfe der französischen
Truppen unter Jean-Baptiste-Donatien Rochambeau konnte George Washington
414 Propyläen, Bd. 7, 444.415 Propyläen, Bd.7, 526. George Mason (1725-1792), den Basquiat in der fünften Zeichnung der unte-ren Reihe mit GEORGE MASON nennt, hat beim "Stamp Act" von 1765 einen offenen Brief an dieLondoner Händler geschrieben, in dem er die Position der amerikanischen Kolonisten erklärt und damitversuchte, ihre Unterstützung zu gewinnen. Zudem schrieb George Mason Virginias "Declaration ofRights", die eine Vorlage für Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung wurde. George Mason giltals die amerikanische Verkörperung der Aufklärung.416 Franklin, 101.417 Franklin, 101.
110
schließlich den britischen General Lord Cornwallis 1781 in Yorktown, Virginia zur
Übergabe zwingen und damit den Krieg zugunsten Amerikas entscheiden. Basquiat
nennt den Abschluß des Unabhängigkeitskrieges in der fünften Zeichnung der unteren
Reihe mit THE FRENCH COMMADER ROCHAMBEAU AND WASHINGTON
PREPARE THE ATTACK ON WE PEOPL YORKTOWN. Im Frieden von Versailles
(1783), den Basquiat mit dem links darüber geschriebenen VERSAILLES nennt, gewan-
nen die dreizehn Kolonien Englands ihre Unabhängigkeit. Nach Englands Niederlage in
Yorktown mußte Lord North 1782 zurücktreten und George III. ein friedensfreundliches
Kabinett einberufen. Die Teilnahme Frankreichs am amerikanischen Unabhängigkeits-
krieg hingegen führte zum Bankrott der Bourbonenmonarchie und löste die Französische
Revolution aus.418
Mit dem über THE FRENCH COMMADER ROCHAMBEAU AND WASHINGTON
PREPARE THE ATTACK ON WE PEOPL YORKTOWN stehenden ARTICLE ONE
verweist Basquiat auf den ersten Artikel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
von 1776: "We hold these truth to be self-evident, that all men are created equal, that
they ..... certain Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness".
Die Idee der Gleichheit aller Menschen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
wurde auch zum Grundgedanken der Französischen Revolution, auf die Basquiat auf der
siebten Zeichnung der dritten Reihe mit der Nennung von ROBESSPIERRE und THE
ROYAL FAMILY FLED FROM PARIS IN JUNE 1791 verweist. Auf der fünften
Zeichnung der unteren Reihe konnotieren MARIE ANTOINETTE und LOUIS XVI die
Revolution.419 Die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, von den Jacobinern
durch die den in die Freiheit entlassenen römischen Sklaven gegebenen "phrygischen
Mütze" symbolisiert, führte letztendlich zum einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand des
18. Jahrhunderts - der Revolution in Haiti. Haitianische Haussklaven hörten bei ihren
weißen Vorgesetzen von der Französischen Revolution und ihren Ideen und starteten
eine Revolte, die in der Unabhängigkeit Haitis endete. Es ist eine Ironie der Geschichte,
daß der von einem entlaufenen Sklaven initiierte amerikanische Unabhängigkeitskrieg
erst über einen sehr langen Umweg zur Sklavenbefreiung in den Vereinigten Staaten
führte.420
418 Propyläen, Bd. 8, 32.419 Die amerikanische Revolution wurde zum Vorbild der europäischen. So stand im Arbeitszimmer despolnischen Königs Stanislaus II (reg. 1764-95), den Basquiat in der dritten Zeichnung der oberen Reihemit STANISLAS PONITOWSKI -> KING OF POLAND nennt, eine Büste von George Washington(Propyläen, Bd. 8, 33). Die amerikanische Verfassung wurde zum Vorläufer der Französischen Verfas-sung, Thomas Jefferson selbst half in Paris 1789 bei der Formulierung der Erklärung der Menschen-rechte von 1789 (Propyläen, Bd. 8, 48, 53).420 Siehe das Kapitel 5.5 Die haitianische Revolution.
111
Basquiat spielt in Untitled aber auch ganz allgemein auf die Rolle der Schwarzen im
Europa des 18. Jahrhunderts an. So verweisen die Worte LEROSY -> LEPROSEY,
PEELING SKIN PEELING SKIN in der ersten Zeichnung der zweiten Reihe auf die
wissenschaftliche Meinung des 18. Jahrhunderts, daß die schwarze Haut eine angebo-
rene, aber heilbare Lepraerkrankung sei. Das darunter geschriebene SYPHLLISS hinge-
gen verweist auf die These des 19. Jahrhunderts, daß die Afrikaner nicht nur eine ange-
borene Lepraerkrankung haben, sondern durch ihr ausgeprägtes Sexualleben zudem
noch der Ursprung der Syphilis sind.
Mit dem eingekreisten PETRBRG. in der dritten Zeichnung der oberen Reihe sowie dem
unter dem aufgemalten Gesicht geschriebenen RUSSIA UNDER PETER THE GREAT
(Abb. 5.18) verweist Basquiat auf die Rolle Peters des Großen für die Einordnung des
Schwarzen im 18. Jahrhundert. Peter der Große wurde durch sein aufklärerisches Erzie-
hungsexperiment an dem Afrikaner Ibrahim Hannibal bekannt, der so gebildet war, daß
er von einem Frankreichbesuch mit einer Kiste von vierhundert Büchern zurückkehrte,
worauf das unter RUSSIA UNDER PETER THE GREAT stehende BOOKS OF
MEDICINE verweisen könnte.421
5.4. Die Flucht aus der Sklaverei
Die nächtliche Flucht in den freien Norden war für die Schwarzen die einzige Möglich-
keit, aus der Sklaverei zu entkommen. Diese Flucht führte durch die Wälder der Süd-
staaten und endete mit der Überquerung des Ohio, der die Grenze zwischen den Süd-
und Nordstaaten bildete. Auf diese nächtliche Flucht verweist Basquiat, wie bereits ge-
zeigt, in der Zeichnung Ascent von 1982/83 (Abb. 3.40). Auch in der Zeichnung Repli-
cas von 1982/83 (Abb. 5.21) spielen COTTON SLAVES© und NEGRO SPIRITUALS
zusammen mit der Sternenkonstellation auf die Flucht aus der Sklaverei an. Untitled von
1982 (Abb. 5.22) hingegen evoziert weniger codiert Bilder dieser nächtlichen Flucht.
Das Bild eines zähnefletschenden Hundes in Kombination mit einem nächtlichen Ster-
nenhimmel und der schematischen Zeichnung eines Flußes konnotiert die Bluthunde der
Sklavenhalter, die die Sklaven bis an den Fluß verfolgt haben (Abb. 5.23).422
421 Martin, 153.422 Martin 1988, 72f.
112
5.5 Die haitianische Revolution
Für die Geschichte der amerikanischen Sklaverei hat der von Toussaint L'Overture (ca.
1744-1803) angeführte Sklavenaufstand in Haiti eine entscheidende Rolle gespielt. Die
freien Schwarzen und Mulattoes Haitis waren von dem Gedankengut der Französischen
Revolution beeinflußt und begannen einen Aufstand, an dem sich im August 1791 auch
die Sklaven beteiligten, in dem sie die gleichen bürgerliche Rechte wie die französischen
Revolutionäre forderten.423 Zu dieser Zeit war Haiti die reichste Kolonie Frankreichs, die
Zucker, Kaffee, Baumwolle und Indigo produzierte; die Konditionen der Sklaven jedoch
waren die schlimmsten im ganzen Westen.
Toussaint L'Overture wurde als Sklave geboren, bekam eine Ausbildung durch seinen
Besitzer und übernahm danach die Verantwortung auf der Plantage. Er nahm 1791 an
dem durch den jamaikanischen Voodoo-Priester Boukman initierten Sklavenaufstand teil
und wurde zu dessen militärischem Organisierer. L'Overture besiegte die Franzosen,
Spanier und Briten und galt wegen seines großen militärischen Geschicks als der "haitia-
nische Napoleon".424 Er vereitelte Napoleons Pläne einer Ausweitung des französischen
Imperiums nach Amerika, denn Napoleon brauchte die billige Sklavenarbeit Haitis, um
seine Pläne für Louisiana zu realisieren. So kämpften die Franzosen gegen Touissant und
seine Truppen, besiegten ihn 1802 und brachten ihn nach Frankreich, wo er 1803 starb.
Napoleon konnte Haiti dennoch nicht erobern, denn nach L'Overture übernahm Jean-
Jaques Dessalines (1758-1806) das Kommando und besiegte schließlich die Franzosen.
1804 wurde die unabhängige Republik Haiti ausgerufen, die die einzige schwarze unab-
hängige Republik im Westen war.425 Napoleon verlor mit Haiti eine reiche Kolonie, gab
seine Pläne einer Erweiterung des Reiches auf und verkaufte im gleichen Jahr das Loui-
siana-Territorium an die Vereinigten Staaten.426 Diese dehnten ihren Baumwoll- und
Zuckeranbau und damit die Sklaverei auf Louisana aus, wo bereits 1810 die Afro-
Amerikaner den größten Bevölkerungsanteil stellten. Die haitianische Revolution (1791-
1804) war die einzige Rebellion in der Geschichte, die eine ganze Sklavenbevölkerung
befreite. Sie beeinflußte zwei große Sklavenaufstände in den amerikanischen Südstaaten,
intensivierte die Anti-Sklaverei-Bewegung und führte letztendlich 1807 zum Verbot des
Sklavenhandels in den Vereinigten Staaten.
423 Ihde, 33.424 Franklin, 64, 93, 121ff; Bennett, 120ff, 117ff.425 Hunt, Alfred: Haiti's Influence on Antebellum America. Baton Rouge 1988. James, C.L.R.: TheBlack Jacobines. Toussaint L'Overture and the San Domingo Revolution. O. Ort 1938.426 Bennett, 124.
113
In Untitled von 1982 (Abb. 5.24) thematisiert Basquiat mit dem gekrönten schwarzen
Gesicht und der Unterschrift HAITI. sowie mit NAPOLEON BONAPARTE VERSUS
L'OVERTURE die haitianische Revolution. In dem "Historiengemälde" Toussaint L'O-
verture Versus Savonarola von 1983 (Abb. 5.25) "portraitiert" Basquiat L'Overture
mit Schwert und einem schwarzen Napoleonhut als dem "haitianischen Napoleon" -
angelehnt an die Darstellungskonvention der haitianischen und afro-amerikanischen
Malerei (Abb. 5.26a). Auch für andere afro-amerikanische Künstler ist Toussaint L'O-
verture ein wichtiges Bildthema. So erzählt Jacob Lawrence in der Serie "Tousaint L'O-
verture" (Abb. 5.27) die Geschichte der haitianischen Revolution.427 In jüngster Zeit hat
Lyle Ashton Harris mit "Toussaint L'Ouverture" (Abb. 5.28) ein "zeitgemäßes Portrait"
L'Overtures geschaffen.
In Toussaint L'Overture Versus Savonarola (Abb. 5.26) ist dem Portrait L'Overtures
eine Papiercollage schwarzer Geschichte und Kultur gegenübergestellt. Die zwei linken
Bildtafeln sind mit Farbkopien beklebt, die Basquiat auch in anderen Bildzusammenhän-
gen verwendet. Die Geschichtszitate (HISTORY PART THREE) beginnen mit Ägypten
(BIRD OF GOD), setzen sich mit dem arabischen Helden A(n)TAR (unter einer Mond-
sichel)428 fort und zeigen den kongolesischen Herrscher EL KING ALPHONSO. Sie
erinnern mit ACTUAL SIZE NEGRO, NEGRO SPIRITUALS, dem schwarzen Träger
und COTTON an die Sklaverei und mit der Konstellation von ASCENT und POLE
STAR an die Flucht in den freien Norden.429 In der Nähe eines Kampfes zwischen einer
weißen und einer schwarzen Figur und der Unterschrift THE FINAL BATTLE findet
sich das Wort JUSTICE und eine Waage. Mit MALCOM X. VERSUS AL JOLSON
konfrontiert Basquiat einen weiteren schwarzen Helden mit dem durch die Filme Al Jol-
sons gefestigten Stereotyp des Blackfaceentertainers.
Die weiß/braune Bildfläche der dritten und die weiß/schwarze der sechsten Tafel gibt das
Grundthema dieser Arbeit an: die Konfrontation von schwarz und weiß. OHIO© ver-
weist auf den Fluß, der die Nord- und Südstaaten unterteilte, und dessen nächtliche
Überquerung die Sklaven in den freien Norden führte (Abb. 5.25).430 Mit
427 Siehe Driskell, David C.: The Toussaint L'Overture Series by Jacob Lawrence. Nashville 1968.428 Antar ist der bekannteste arabische Schwarze, ein legendärer Poet, Kämpfer und Liebhaber, der"Achilles der arabischen Illias" (Bennett, 12). Er war der Sohn einer schwarzen Sklavin und eines ara-bischen Aristokraten. In Antar von 1985 (Abb. 5.29) zeigt Basquiat den Helden auf einem "fliegendenTeppich".429 Dieselbe Anordnung der Worte findet sich in der Zeichnung Ascent von 1982/83 (Abb. 2.12), in derdie Flucht der Sklaven in den freien Norden thematisiert wird, wieder.430 Rampersad, 347.
114
SAVONAROLA 1452-1498© bezieht sich Basquiat auf dessen Rolle als Wissens-,
Kultur-, Antiken- und im weiteren Sinne Ägyptenfeind.
5.6 Der amerikanische Bürgerkrieg
Der amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865) führte für die Sklaven durch Abraham Lin-
colns "Emancipation Proclamation" vom 1. Januar 1863 letztendlich zur Unabhängkeit.
Die Wortliste in Untitled von 1983 (Abb. 5.30) nennt mit CIVIL WAR© den Bürger-
krieg. In der Zeichnung Untitled von 1987 (Abb. 4.33) referieren die Worte VICTORY
1902 AUGUSTUS SAINT GARDENS, AMERICAN 1848 1907 auf die Beteiligung
der Schwarzen am amerikanischen Bürgerkrieg. Der weiße Augustus Saint Gardens
(1848-1907) ist als der Bildhauer des Monumentalfries "Robert Gould Shaw and the
Men of the Fifty-Fourth Massachussetts Infantry" von 1901 (Abb. 5.31) in die afro-
amerikanischen Geschichte eingegangen.431 Der Fries erinnert an die von dem weißen
General Shaw geführte rein schwarze Armeeeinheit des 54ten Massachussett Regiments,
die im amerikanischen Bürgerkrieg auf der Seite des Nordens kämpfte. In der Geschichte
der Teilnahme der freien Schwarzen am Bürgerkrieg nimmt der Angriff des 54th Massa-
chussetts Bataillons auf Fort Wagner, einem Symbol des konföderierten Widerstandes,
einen Höhepunkt ein. Die Courage der Truppe, die das als unbesiegbar geltende Fort
kurz eingenommen hatte, bewies den weißen Nordstaatlern den Kampfmut der Afro-
Amerikaner.432 In Untitled von 1987 (Abb. 4.33) referieren die Siegesgöttin und
VICTORY 1902 auf den Sieg der Nord- über die Südstaaten. In Jawbone of an Ass
von 1982 (Abb. 4.76) schließlich konnotieren LINCOLN, A., SLAVES und
EMANCIPATION PROC die "Emancipation Proclamation" Lincolns. LOUSIANA
PURCHASE erinnert noch einmal über einen Umweg an die haitianische Revolution.
431 Für diesen Hinweis danke ich Sigrid Ruby.432 Stewart, 200.
115
5.7 Die Reconstruction Era
Jim Crow von 1986 (Abb. 5.32) thematisiert die Rassentrennung in den Südstaaten.
"Jim Crow" war eine Namensübernahme des weißen Minstrelperformers Thomas Rice,
der in den 1830er Jahren schwarze Arten des Gehens, Redens und Kleidens parodierte
und dessen Jim Crow-Songs amerikanische Klassiker wurden (Abb. 5.33). "Jim Crow"
wurde zum Stereotyp urbanen schwarzen Verhaltens und ab 1838 zu einem Synonym für
"Negro".433 Erst im späten 19. Jahrhundert bezeichnet "Jim Crow" das System der ge-
setzlichen Rassentrennung, die 1896 mit dem Urteil Plessy vs. Ferguson und der Doktrin
"seperate but equal" begann.434 Die Jim Crow-Gesetze wurden erst durch die Proteste
des Civil Right Movements (Rosa Parks) in den Sechziger Jahren abgeschafft.
Die Wiederholung des Wortes MISSISSIPPI in Jim Crow verweist auf den Ort der
Rassentrennung, die interne Bildüberschrift JIM CROW läßt die "afrikanische" Figur zur
Personifikation Jim Crows werden und überlagert so stereotype afro-amerikanische und
positive afrikanische Repräsentation. Die Wiederholungen von MISSISSIPPI und ande-
ren Flüssen konnotiert Langston HUGHES berühmtes erstes Gedicht The Negro Speaks
of Rivers.435
Zur Zeit der Entstehung der Jim Crow Gesetze wurde Booker T. Washington (1856-
1915) mit seinem Erziehungskonzept des Tuskegee Institutes populär, das die Afro-
Amerikaner zu Handwerkern und Industriearbeitern, nicht aber zu Akademikern ausbil-
dete. Washingtons pragmatisches Konzept war es, Segregation und Diskriminierung
temporär zu akzeptieren, um später durch wirtschaftlichen Erfolg die Rassenbeziehungen
zu ändern. In Jesse von 1983 (Abb. 3.1) erinnert Basquiat mit BOOKER T. HOTEL an
den kontroversen Erzieher, der von DuBois als ein angepasster "Uncle Tom" scharf kri-
tisiert wurde.
5.8 "Back to Africa": Marcus Garvey
In den Zwanziger Jahren baute Marcus Garvey (1887-1940) die erste afro-amerikanische
Massenbewegung auf. Garvey hatte bereits 1914 in Jamaica eine Vereinigung gegründet,
433 Bennett, 256.434 Bennett, 509.435 Rampersad, 23.
116
die die Repatriierung der Schwarzen nach Afrika zum Ziel hatte und wanderte 1916 in
die Vereinigten Staaten ein (Abb. 5.34). 1920 hatte seine Bewegung, die U.N.I.A. (Uni-
versal Negro Improvement Association), dort bereits eine halbe Million Mitglieder.436 Im
Gegensatz zu den schwarzen Führern des 19. Jahrhunderts favorisierte Marcus Garvey
eine Rückkehr nach Afrika, weil er glaubte, daß die Afro-Amerikaner ohne einen eigen-
ständigen Staat niemals respektiert werden würden. Zu diesem Zweck gründete er die
Black Star Steamship Corporation, eine "black-owned" Schiffsgesellschaft, die seinen
Traum einer schwarzen Nation verwirklichen helfen sollte (Abb. 5.35). Er kaufte drei
Schiffe und verkaufte Aktienanteile an seiner Gesellschaft, die jedoch wegen Mißmana-
gements 1920 bankrott ging und somit keinen einzigen Afro-Amerikaner nach Afrika
transportierte. Die Masseneuphorie, die Marcus Garvey unter der schwarzen Bevölke-
rung Amerikas auslöste, gründete vor allem in seinem frühen Appell an den Rassenstolz,
den er durch Paraden, Uniformen, Titelvergabe und Zeremonien zu festigen suchte.437
Daß ihm heute trotz seines gescheiterten Unternehmens vor allem im Bereich der
schwarzen Populärkultur immer noch eine große Bedeutung beigemessen wird, hat zwei
Gründe: durch seine Gleichsetzung von afro-amerikanischer und afrikanischer Identität
wurde er neben DuBois zum Vater des Afrozentrismus, durch die Gründung rein
schwarzer Wirtschaftsunternehmen avancierte er zum Vorbild schwarzer Unterneh-
mer.438
Zeitgenössische afro-amerikanische Künstler wie David Hammons und Renée Cox ver-
wenden den Topos "Garvey" in ihren von schwarzer Identität handelnden Arbeiten
(Abb. 5.36, 5.37). Afrozentristische Rapgruppen wie Brand Nubian, X-Clan und die
Jungle Brothers zitieren in ihren Texten Marcus Garvey, die Black Star Line und die
schwarz-rot-grüne Flagge der U.N.I.A., deren Farben die Plattencover dieser Gruppen
dominieren. Auch in der Kunst der jamaicanischen Rastafaris nimmt Marcus Garvey und
seine Black Star Line eine zentrale Stellung ein.439 Basquiat selbst besaß ein Portrait
Marcus Garveys, das über das Bild eines Sklavendecks auf einem Sklavenschiff gedruckt
ist.440 In der Zeichnung 50 Cent Piece von 1982/83 (Abb. 6.133) thematisiert er Marcus
Garveys Vision einer Rückkehr in die "Heimat" durch die Alliterationen seines Mottos
BACK TO AFRICA, die von Garveys linkem Auge in die Richtung des Kongo-
436 Franklin, 402.437 Berry, 410.438 Berry, 410.439 Bender, 16.440 Dieses Portrait gehört zu der Sammlung Basquiats, die nun im Besitz des Basquiat-Estates ist (In-ventarnr. GARV-0001). Einige Werke davon sind katalogisiert, die meisten jedoch nicht. All dieseArbeiten sind bislang der Öffentlichkeit nur in einem sehr beschränkten Maße zugänglich.
117
Kosmogramms führen. Der BLUE RIBBON weist auf Garveys Vorliebe für Uniformen
und Paraden hin: mit seiner pseudomilitärischen Truppe, der African Legion, paradierte
er in roten und blauen Uniformen durch Harlem.441 Wenn auch Basquiat Marcus Garvey
nicht in einer blau-roten Uniform, sondern inmitten eines gelben Farbfeldes zeichnet, so
konnotiert das Blau und der BLUE RIBBON zusammen mit der roten Schrift die Farben
der Uniformen. Die Farbkombination gelb-rot-grün symbolisiert Afrika, die Farbkombi-
nation des verbalen (schwarz, rotbraun) und nonverbalen Registers (grün) die schwarz-
rot-grüne Flagge der U.N.I.A.
Basquiat verbindet in 50 Cent Piece die Repatriierungsbewegung Marcus Garveys mit
der alttestamentarischen Figur Noahs. Da Noah mit der Arche der untergehenden Welt
in eine bessere neue Welt entfliehen konnte, wurde er zu einer wichtigen Identifikations-
figur der Sklaven.442 In dieser Tradition stehend, halten die heutigen Afrozentriker Noah
für negroid: der African Heritage Bible zufolge sind sowohl Noah und seine Frau als
auch deren drei Söhne Shem, Ham und Japheth schwarz gewesen, folglich waren auch
die Menschen, die nach der großen Flut auf der Erde lebten, afrikanischen Ursprungs.443
Während Noah selbst in 50 Cent Piece nicht erwähnt wird, erscheint das Wort ARK in
unzähligen Variationen und Dekonstruktionen im verbalen Register. Den reduzierten
Darstellungen der vier Archen sind die "lexikalischen Bezeichnungen" WOOD und
PITCH zugeordnet, die zusammen mit THE ARK WAS THREE HUNDRED CUBITS
LONG/ MADE MOSTLY OF WOOD AND PITCH die Beschreibung der Arche in Ex-
odus 6, 14-15 stichwortartig referieren. Durch das Ausstreichen der Buchstaben H und
R wird aus THE ARK an zwei Stellen TEAK, was auf die spezifisch afrikanische Provi-
nienz der Arche verweist!444 Die Archen werden mit DIAGRAM OF THE NAVAL
STRUCTURE als Schiffsflotte bezeichnet. In Verbindung mit CZARS OF RUSSIA
verweist Basquiat damit auf die Ostseeflotte Peter des Großen, der im afro-
amerikanischen Kontext für sein aufklärerisches Erziehungsexperiment des "exemplari-
schen Wilden" Ibrahim Hannibal zu einem "europäischen Bürger" bekannt ist.445 Die
Reihung der Archen in Verbindung mit der Ostseeflotte Peter des Großen und dessen
441 Bennett, 355.442 Spalding, 336; Levine, 50.443 African Heritage Bible, 10.444 Teak ist ein tropisches Holz, das im Schiffbau verwendet wird. Es handelt sich nicht um das inGenesis 6, 14 erwähnte "Tannenholz" (das in der englischsprachigen Bibel mit "cypress" oder "gopherwood" übersetzt wird), aus dem Noah die Arche baute.445 Martin, 303 f; siehe auch Abb. 5.32.
118
Verbindung zu Afrika via Hannibal verweisen schließlich zurück auf das zentrale Bild-
thema: die Black Star Line Marcus Garveys.
5.9 Afro-amerikanische Sportler als Volkshelden
Die Siege der afro-amerikanischen Boxer Jack Johnson und Joe Louis, die Errungen-
schaften des Baseballspielers Jackie Robinson, der Olympiasieg des Leichathleten Jesse
Owens und die Instrumentalisierung des Sportes für politische Gesten durch Muhammad
Ali, Tomie Smith und John Carlos zählen zu den Meilensteinen afro-amerikanischer Ge-
schichte.
Der Boxkampf zwischen schwarzen und weißen Boxern fungierte zu Beginn des
20. Jahrhunderts als ein Stellvertreterkampf der Rassen. Zu einer Zeit, in der ein schwar-
zer Amerikaner noch gelyncht wurde, wenn er einen weißen Mann verprügelte, war der
physische Sieg eines Schwarzen über einen Weißen eine das afro-amerikanische Selbst-
bewußtsein ungemein stärkende Sache. Im Bildvokabular Basquiats funktioniert der
Boxkampf daher als ein Synonym für den Rassenkampf zwischen schwarz und weiß.446
In dem "Historienbild" Jawbone of An Ass (Abb. 4.76) dient der im Comicstil gezeich-
nete Boxkampf zwischen einer schwarzen und einer weißen Figur als parallele Metapher
für die Auseinandersetzungen zwischen dem antiken schwarzen Afrika und dem weißen
Europa. Die schwarze Comicfigur schlägt die weiße, so wie Hannibal Rom ernsthaft
herausgefordert hat. Die Zeichnung Boxer Rebellion (Abb. 5.38) verbindet den Kampf
der schwarzen Boxer gegen das weiße rassistische Amerika (SUGAR RAY
ROBINSON) mit dem antiimperialistischen chinesischen Boxeraufstand von 1900/1901
(CHINESE (BOXER) REBELLION©).
Basquiat hat einigen der wichtigsten afro-amerikanischen Boxern eine eigene "Portrait-
reihe" gewidmet. Jack Johnson, Untitled (Sugar Ray Robinson), Cassius und Jersey
Joe von 1982 bilden eine Serie einzelner comicartig gezeichneter "Boxerportraits". Jack
Johnson, Sugar Ray Robinson und Jersey Joe Walcott tragen als "kings" eine Krone,
während Cassius Clay einen betont großen Mund hat (Abb. 5.39, 5.41, 5.42, 5.43).
Die beiden Schwergewichtsboxweltmeister Jack Johnson und Joe Louis waren zu An-
fang des Jahrhunderts Volkshelden der Schwarzen, die stellvertretend für alle Afro-
Amerikaner siegten. Beide Boxer feierten ihren "racial triumph" auf weißem Terrain 446 Siehe dazu auch hooks In: Art in America, 73.
119
nach weißen Regeln und standen ebenso wie Basquiat als "einsame schwarze Männer"
inmitten einer weißen Gesellschaft, die sie mit ihren eigenen Waffen schlugen. Jack John-
son wurde 1915 durch seinen Sieg über Jim Jeffries der erste schwarze Schwergewichts-
Weltmeister in der bis dahin von Weißen dominierten Boxwelt, Joe Louis 1937 mit sei-
nem Sieg über James J. Braddock der zweite. Jack Johnson provozierte den Haß der
Weißen nicht nur durch seine körperliche Überlegenheit, sondern vor allem durch seinen
Lebensstil: er hatte eine weiße Frau, weiße Geliebte, fuhr schnelle Sportwagen und trug
teure Kleider, ein typischer schwarzer Hipster, wie er heute durch den Typus des glatz-
köpfigen Rappers verkörpert wird. Sein Sieg über den weißen Jim Jeffries hatte in den
Vereinigten Staaten zu schweren Rassenunruhen geführt, bei denen der weiße Mob in
New York, Ohio und Missouri Schwarze angriff und tötete.447 Basquiat zeichnet John-
son in Jack Johnson von 1982 (Abb. 5.39) mit schwarzem Gesicht und erhobenem
Arm, der sowohl seinen Sieg als auch den Black Panther-Gruß konnotiert. Das "rolemo-
del" Jack Johnson wird von vielen afro-amerikanischen Künstlern der Sechziger Jahre
dargestellt (Abb. 5.40).
Die Siege von Joe Louis waren in den späten Dreißiger Jahren Anlaß zu Straßenfeiern in
den schwarzen Vierteln der amerikanischen Großstädte. Sein Sieg galt als kollektiver
Sieg seiner Rasse und gab den Afro-Amerikanern zusammen mit Jesse Owens Sieg bei
der Berliner Olympiade von 1936 das wohl größte Maß an Selbstvertrauen nach Marcus
Garveys Straßenparaden der Zwanziger Jahre.448 1935 besiegte Joe Louis den Italiener
Primo Carnera, was als Triumph über das faschistische Italien gefeiert wurde, das sich
den Zorn der Afro-Amerikaner zuzog, da es das schwarze Äthiopien erobert hatte. Lou-
is' Sieg über den Deutschen Max Schmeling 1938 wurde als Schlag gegen die nazisti-
schen Rassentheorien der Deutschen gefeiert.449 St. Joe Louis Surrounded by Snakes
von 1982 (Abb. 5.44) zeigt den in der "black community" "heiligen" Joe Lewis in der
Ecke des Boxrings sitzend umgeben von weißen Gesichtern. Die Zeichnung Napoleonic
Stereotype Circa von 1983 (Abb. 6.54) referiert mit BOXEO, SCHMELLING, MAX,
JOE LOUIS, ©1936 KING HECTORS SYNDICAT auf Joe Louis' Niederlage gegen
Max Schmeling in ihrem ersten Kampf 1936.
Cassius Clay, der sich nach seiner Konvertierung zum Islam Muhammad Ali nannte, hat
sich in der Tradition von Jack Johnson und Joe Louis als Sprachrohr und Leitbild der
Afro-Amerikaner gesehen. Die Ankündigungen seiner Boxkämpfe dienten der Promoti-
447 Levine, 432.448 Levine, 434; Bennett, 364.449 Levine, 436.
120
on afro-amerikanischen Stolzes. Der extrem groß gezeichnete Mund in Cassius von
1982 (Abb. 5.42) referiert auf ihn als einen der ersten Rapper, der seine Gegner mit sei-
nem angeberischen Motto "I am the greatest" vor allem verbal besiegt.450
Jackie Robinson war als Star der Brooklyn Dodgers 1947 der erste Schwarze in der bis
dahin rein weißen Baseball-Liga und wurde damit zu einem weiteren schwarzen Volks-
helden. Die Zeichnung Untitled von 1982 (Abb. 6.66) nennt die BROOKLYN
DODGERS und JACKIE ROBINSON und führt mit JOE LOUIS VS. BILLY LONN©
1941, JOE FRAZER VS. MUHAMMAD ALI, ROCKY MARCIANO VS. JERSEY
JOE WALCOTT etc. eine Liste wichtiger Boxkämpfe auf.
Zur gleichen Zeit wie Joe Louis wurde auch Jesse Owens zu einem Symbol des
"Rassenstolzes" und des Sieges über Nazi-Deutschland. Jesse Owens gewann in ver-
schiedenen leichtathletischen Disziplinen Goldmedaillen und wurde damit zum Star der
Berliner Olympiade von 1936. Hitler gratulierte Jesse Owens jedoch nicht bei der Me-
daillenverleihung, sondern verließ vorzeitig das Stadion.451 Jesse Owens verweigerte
seinerseits den Hitlergruß und provozierte dadurch einen Skandal.452 Dark Race Hor-
se/Jesse Owens 1936 von 1983 (Abb. 5.45) nennt mit JESSE OWENS, 1936
OLYMPICS, BERLIN die Teilnahme von Jesse Owens an den Olympischen Spielen
1936. Die an den Knöcheln angebrachten "Hermesflügel" verweisen auf die pseudowis-
senschaftlichen Erklärungsversuche der Nazis, die Jesse Owens Siege in die Bahnen ihrer
Rassenideologie lenken wollten. Schwarze hätten eine abnormale Muskelbildung, die
sich von der der Weißen grundsätzlich unterscheide. Zudem hätten sie eine verlängerte
Ferse, die ihnen besondere Sprungkraft und somit einen unfairen Vorteil gebe.453 Es
wurde daher gefordert, künftige Olympiaden in zwei Sektionen für Weiße und Schwarze
zu teilen! Die körperliche Überlegenheit der Schwarzen im Bereich des Sports wurde
von der nazistischen Rassentheorie zum Anlaß genommen, eine Differenz zwischen den
Rassen zu konstituieren, die die Schwarzen, wie bereits im wissenschaftlichen Diskurs
des 18. Jahrhunderts, wiederum außerhalb des Bereiches des Menschlichen situierte.454
In Jesse von 1983 (siehe Abb. 3.1) referiert Basquiat durch die Dekonstruktionen des
Kopfes und des Körpers sowie den Hinweisen auf geistige Unterlegenheit (MULE,
450 Jones, 34.451 Schmeling, 375.452 Pieterse, 150.453 Pieterse, 149. Siehe auch Big Snow von 1984 (Navarra, 176).454 Hoberman, 166.
121
DONKEY), Animalität (LEFT PAW, RIGHT PAW)455 und evolutionäre Rückständig-
keit (FOSSIL) auf die pseudowissenschaftlichen Untersuchungen der Nazis. Die Nen-
nung von KRYPTONITE, dem "Gestein", mit dem der Comicheld Superman seiner
übernatürlichen Fähigkeiten beraubt werden kann, und von POPEYE VERSUS THE
NAZIS sowie BRUN BELIEV SPINAC IS POIS (Spinat ist die Kraftnahrung der Co-
micfigur Popeye) in der rechten oberen Bildhälfte ist zudem ein ironischer Kommentar
auf die angeblichen Wunderwaffen der schwarzen Sportler.
5.10 Die Sechziger Jahre
Basquiats Zitieren afro-amerikanischer Geschichte endet mit den Sechziger Jahren. Wir
finden wiederholte Referenzen an Malcolm X, den Sprecher der schwarzen nationalisti-
schen Nation of Islam. Basquiat konfrontiert in seinen Arbeiten diesen wohl militantesten
Sprecher eines schwarzen Nationalismus im 20. Jahrhundert durchgängig mit AL
JOLSON, dem jüdischen Blackfaceentertainer der Dreißiger Jahre.456
Die Zeichnung eines mit BLACK POWDER beschrifteten "Pulverfaßes" in Untitled von
1984 (Abb. 4.34) spielt auf die "Explosivkraft" der Black Power Bewegung der Sechzi-
ger Jahre an. Dieses Motiv findet sich durchgängig in Basquiats Arbeiten collagiert wie-
der (Abb. 4.71, 4.72, 4.73).
Die geballte Faust des Black Power Grußes ist in der politischen Kunst des Black Arts
Movement zu einem festen Bestandteil der Ikonographie geworden (Abb. 5.62, 5.63). In
Jesse von 1983 (Abb. 3.1) referiert Basquiat mit der im Comiccode gezeichneten Faust
(DYNAMIC, COLORED PEOPLE, zweiter erhobener Arm) in der Nähe von Haken-
kreuz und JESSE OWENS auf den provokanten Black Panther Gruß der Leichtathleten
Tommie Smith und John Carlos bei der Siegerehrung der Olympischen Spiele 1968 in
Mexiko (Abb. 5.64). Denn war die Verweigerung des Hitlergrußes durch Jesse Owens
ein Skandal, so führte die politische Geste der beiden Sportler zu derem Ausschluß aus
dem olympischen Team.457
455 PAW verweist in einer ironischen Umkehr auf das Zeichen der schwarzen Pfote für die Black Pan-ther Bewegung. Die schwarze Pfote und die geballte Faust (in schwarzen Lederhandschuhen) wurde zurdie schwarze Emanzipation symbolisierenden Geste.456 Siehe Tuxedo, Abb. 4.32a; Toussaint L'Overture Versus Savonarola, Abb. 5.38a.457 Pieterse, 49.
122
Die Zeichnung Untitled von 1985 (Abb. 5.65) zeigt, gegen was sich der Black Panther
Gruß in den Sechziger Jahren gerichtet hat: gegen die rassistische Identitätszuschreibung
als "Heel". In Catharsis von 1982 (Abb. 5.66) stellt Basquiat die geballte Black Panther
Faust in der linken Bildhälfte einer Faust mit der Beschriftung SUICIDE ATTEMPT. in
der rechten Bildhälfte gegenüber. Die Strichlinie am Handgelenk würde im "echten Le-
ben" zum Tod führen und erinnert Greg Tate daher an das tödliche Risiko der Flucht aus
der Sklaverei.458 Bei einer Durchtrennung "auf dem Papier" jedoch wird auch diese ge-
ballte Hand zu einer Black Panther Faust und damit zu einem Symbol, das sich gegen die
seit der Sklaverei andauernde Unterdrückung der Afro-Amerikaner richtet. Auch hier
vereint Basquiat also zwei sich konträr gegenüberstehende Konzepte.
458 Tate, 240.
123
6. Die Repräsentation des "Schwarzen" im Werk Basquiats
Basquiat thematisiert in seinem Werk die komplexe Problematik der Repräsentation der
Afro-Amerikaner in der amerikanischen Populärkultur und der europäischen Kunst und
Wissenschaft. Sein Umgang mit der rassistischen Repräsentation der Schwarzen situiert
sich zwischen der "Wiedergutmachungs-Repräsentation" eines Großteils der afro-ameri-
kanischen Kunst vor ihm und dem durch ein "Re-Präsentieren" der rassistischen Stereo-
typen betriebenen Dekonstruktionen durch zeitgenössische Künstler wie Glenn Ligon,
Carrie Mae Weems oder Michael Ray Charles.459 Basquiat bezieht sich in seinen Arbei-
ten in einer zumeist codierten Form auf eine Tradition der fast ausschließlich negativen
Repräsentation des Schwarzen von der europäischen Kunst des 16. Jahrhunderts bis zur
amerikanischen Werbung des 20. Jahrhunderts. 460
6.1 Die Parallelität von Identitäts- und Signaturproblematik
In den meisten Arbeiten Basquiats sucht man die Signatur vergeblich; sie suggerieren
den Platz einer heterogenen Öffentlichkeit, transponieren die bemalte Graffitiwand ins
Bild. Dadurch setzt Basquiat eine wichtige historische Konvention des Tafelbildes außer
Kraft: das semantische Feld der Signatur im rechten oder linken unteren Bildwinkel ist
nicht mehr mit einer Künstlersignatur im herkömmlichen Sinn versehen. Stattdessen si-
gniert Basquiat seine Arbeiten seit 1982/83 auf der Rückseite mit "Jean-Michel-
Basquiat".461 Die Vorderseite bleibt frei für eine Bildgestaltung, die das Problem der
Signatur und damit der Anwesenheit des Künstlers im Bild auf andere Weise löst.
Um dieses Vorgehen zu verstehen, muß man an die Anfänge von Basquiats künstleri-
scher Arbeit zurückgehen. Wie bereits erwähnt, hat Basquiat sich als Graffitischreiber
ein Pseudonym zugelegt, sich eine neue Signatur konstruiert: SAMO©. Die Ambivalenz
dieses Wortes zwischen der rassistischen Projektion "Sambo" und der Ablehnung eben
dieses Rassismus durch den Ausdruck "same old shit" kann als Grundkategorisierung
seiner Identität als afro-amerikanischer Künstler gelten.
459 Der Begriff der "Wiedergutmachungs-Repräsentation" ist von Solomon-Godeau übernommen (In:Mistaken, 27).460 Zur Repräsentation des Schwarzen in der westlichen Kunst sind bislang nur vier Bücher erschienen.Bugner, Ladislas (Hrsg.): The Image of the Black in Western Art. 4 Bde. Cambridge u.a.: Harvard Uni-versity Press 1976-1989. Kunst, Hans-Joachim: The African in European Art. Bad Godesberg 1967.Mark, Peter: Africans in European Eye. New York 1976. Locke, Alain: The Negro in Art. Washington1940.461 Kertess In: Marshall, 52.
124
Jede Art von Graffiti ist untrennbar mit der Signatur verbunden, ihre Substanz ist die
Unterschrift, die Spur des Selbst im öffentlichen Raum. In der Graffiti der afro-ameri-
kanischen und puertoricanischen Jugendlichen in New York ist der "tag" (ein slang-Wort
für "Signatur") zumeist ein frei gewähltes Pseudonym, das laut Kohl die neugeschaffene
Identität seines Schreibers publik machen soll.462 Kohl stellt die Bedeutung dieser Na-
mensgebung und seiner öffentlichen Proklamation an den Hauswänden New Yorks in
den Kontext der Namensproblematik der Afro-Amerikaner. Diese betrachten ihre bür-
gerlichen Namen als die ihnen von den weißen Sklavenhaltern gegebenen.463 Die Sub-
stitution dieser Namen bedeutet für sie somit das Ablegen einer fremdbestimmten und
die Konstruktion einer neuen, selbstgeschaffenen Identität. Die wohl bekannteste dieser
Namensumwandlungen hat Malcolm X, der Sprecher der nationalistischen Nation of
Islam in den Sechziger Jahren, vorgenommen. Malcolm X hat seinen bürgerlichen Nach-
namen "Little" durch ein "X" ersetzt. Das "X" steht bei den Mitgliedern der Nation of
Islam als Zeichen für den Übergang von einer repressiven weißen Identitätszuweisung
hin zu der Schaffung einer selbstbestimmten Namensgebung. Die Leerstelle des "X" hat
Malcolm X nach seiner Konversion zum islamischen Glauben durch seinen neuen Namen
El Hadji Malik El Shabbaz gefüllt. Kohl spricht bei der Wahl von Graffiti-Pseudonymen
ebenfalls von einer Art religiöser Konvertierung der afro-amerikanischen und puertorica-
nischen Jugendlichen.464 Diese in der afro-amerikanischen Kultur seit den Sechziger Jah-
ren bestehende Tradition einer positiven Neudefinition über die Namensgebung setzen
die Pseudonyme der Graffitikünstler in den Achtziger Jahren fort: Ramm-El-Zee, Futura
2000, Taki 183, Seen, Krash. Auch die Künstlernamen von HipHop-DJs und Rappern
wie Grandmaster Flash, KRS-One, Mad Scientist, Professor X etc. stehen in der Traditi-
on dieser Neubenennung. Basquiats Pseudonym SAMO© tut dies jedoch gerade nicht.
In dem Namen SAMO© ist sowohl die repressive Identitätszuweisung der Sklavenhalter
- "Sambo" - als auch die Ablehnung des weißen Rassismus - "same old shit" - integriert.
Basquiat markiert sein Ende als Graffitischreiber mit dem Slogan SAMO© IS DEAD.
Doch wer lebt? In den Arbeiten von 1981 läßt sich eine intensive Auseinandersetzung
Basquiats mit dem Problem des Signierens beobachten. Die untere Bildhälfte wird zum
Testfeld einer Reihe von möglichen Signaturen: SAMO©, SSSS, S, ©, JEAN MICHEL,
JEAN MICHEL BASQUIAT, die die verschiedenen Identitäten des Künstlers verkör-
pern. So verschwindet in Basquiats Arbeiten die Signatur als das konventionelle Zeichen
462 Kohl In: Kochman, 117.463 Kohl In: Kochman, 120.464 Kohl In: Kochman, 120.
125
des Autors im Bild zugunsten einer Autorschaft, die sich nur noch an den immer wie-
derkehrenden disparaten Bildelementen ablesen läßt. Als Spuren des Autors ziehen sich
Einzelzeichen wie der Buchstabe "S", die Krone, das Trademark-Zeichen und vor allem
das Copyright-Zeichen durch sein Werk.
In ganz wenigen Bildern nur versucht sich Basquiat in der Unterschrift seines vollen bür-
gerlichen Namens, der die französische Amtsprache und ehemalige Kolonialherrschaft
Haitis konnotiert. In Cadillac Moon von 1981 (Abb. 6.1) und der Zeichnung Untitled
von 1981 (Abb. 6.2) kontrastiert er die Identitäten von Graffiti-Pseudonym und gegebe-
nen Namen. Bei Cadillac Moon ist in der unteren Bildzeile von links nach rechts
SAMO© (durchgestrichen!) - AARON - JEAN.MICHEL BASQUIAT 1981 in roten
Großbuchstaben zu lesen: Der Graffitischreiber SAMO© ist tot, der Maler JEAN-
MICHEL BASQUIAT lebt. Die Kontinuität des Übergangs von der Identität des Graffi-
tischreibers zu der des "etablierten" Künstlers wird durch die gleiche Schriftart gewähr-
leistet: Basquiat schreibt seinen bürgerlichen Namen nicht etwa in einer persönlichen
Schreibschrift, sondern in derselben anoynymen Großdruckbuchstabenschrift wie sein
Graffiti-Pseudonym.
Die gleiche Abfolge von Graffiti-Pseudonym und bürgerlichem Namen findet sich auch
in der Zeichnung Untitled (Abb. 6.2). Doch anstellte von SAMO© lesen wir nun in vier
aneinandergereihten Kästchen nur noch SSSS, eine Reduzierung des Wortes auf seine
Anfangsbuchstaben, die von Respa Crespa (Abb. 6.4; SAMO in vier einzelnen Kronen)
übernommen ist. Basquiats Graffiti-Pseudonym beginnt sich zu fragmentarisieren: In-
itiale und Vierzahl sind nur noch die Spur SAMOs. In der Zeichnung Untitled ist die
Schrift vager und unbestimmter geworden, eine selbstbewußte Künstlersignatur im Sinne
von "feci" kann man das schwache, Buchstabe für Buchstabe geschriebene JEAN
MICHEL BASQUIAT kaum nennen. Die Brüchigkeit der Schrift zeugt nicht von einer
Identifizierung Basquiats mit seinem französischen Namen. Eine Fortsetzung der Frag-
mentarisierung von SAMO über SSSS hin zu einer Vielzahl von in Kästchen verteilten
Initialen findet sich in Six Crimee von 1982 (Abb. 6.3). Dieses Bild markiert den Über-
gang vom Wort zum Einzelbuchstaben, danach findet sich das Graffiti-Pseudonym
SAMO in Basquiats Arbeiten nur noch als der Buchstabe "S", dessen Kennzeichnung das
Setzen in ein Häuschen (eine übliche Form des Graffiti-"taggings") und in ein Dreieck
(Überlagerung mit dem Zeichen der Comicfigur Superman) sowie alle an eine Schlange
erinnernden S-Formen sind.
126
In Respa Crespa von 1982 (Abb. 6.4) schließlich besetzt das Copyright-Zeichen als
äußerste Verdichtung der Künstlersignatur deren semantisches Feld, die rechte untere
Bildecke. Mitten in den Bildtext eingebettet findet sich im linken Bildbereich ein vertikal
geschriebenes SAMO, dessen vier einzelne Buchstaben je eine kleine Krone ausfüllen:
eine Fusion der "tags" von SAMO und Krone.465 Respa Crespa markiert das Ende von
Basquiats Testphase: zwar wird die Abfolge von Graffiti-Pseudonym und Künstlersi-
gnatur noch beibehalten, gleichzeitig aber der bürgerliche Name durch das Copyright-
Zeichen ersetzt.466
Basquiat setzt das Copyright-Zeichen in seinen Arbeiten hinter bestimmte rekurrente
Worte und Phrasen, was als Deklaration eines imaginären Eigentums zu lesen ist. Worte,
die so gekennzeichnet sind, haben eine bestimmte Bedeutung für den Autor, sind als sein
"Werk" markiert. Nun ist Basquiat zwar der Produzent dieser Worte als Signifikanten
des Bildes, nicht aber der Produzent ihrer Signifikate. Diese eignet er sich vielmehr sym-
bolisch an, reklamiert ihre Bedeutung und ihre Konnotationen für sich. Das Copyright-
Zeichen markiert die "appropriation",467 die "monopolizing personal usurpation" Bas-
quiats.468 Basquiats Methode des Signierens als dem Aneignen von etwas bereits Exi-
stentem wird so zu einem performativen Akt, gewinnt erst durch die Differenz zum übli-
chen Signierschema an Bedeutung. Doch was eignet sich Basquiat an? Eine Auflistung
der am häufigsten und am markantesten mit "©" bezeichneten Worte ergibt eine auf-
schlußreiche Gliederung: Es handelt sich fast ausschließlich um Substantive, um Namen,
Dinge und Orte. Was bezeichnet ein Name und wer vergibt Namen? Der Name soll ein
Äquivalent des Bezeichneten sein, eine größtmögliche Ähnlichkeit mit ihm haben, iden-
tisch mit ihm sein. Namen werden durch ein diskursproduzierendes Subjekt vergeben,
das sich die Welt aneignet, indem es sie in Sprache faßt. Benennung bedeutet also Klas-
sifizierung, Klassifizierung die Zuweisung von festgelegten Identitäten durch die Spra-
che. Basquiat erinnert mit der Niederschrift von den Schwarzen zugewiesenen Namen an
diese Macht des Bezeichnens, der Differenzierung von Subjekt und Objekt durch den
Akt der Namensgebung. Seine ihm zugewiesenen Objektbezeichnungen sind europä-
isch/amerikanische Konstruktionen des "Anderen". 465 Die Krone ist im Graffiticode das Zeichen für "King of the Line", für den anerkanntesten Graffiti-künstler.466 Die Rekurrenz des Copyright-Zeichens wurde von verschiedenen Autoren (Kertess In: Marshall, 50;Ricard In: Artforum, 37; Thompson In: Haenlein 1986, 14; Pellizzi, o. S.) beschrieben und interpretiert,den interessantesten Zugang bietet Pellizzi. Die Autoren sind sich in der Bedeutung des Zeichens alsSignifikant von "Urheberschaft" und "ownership" einig, eine Untersuchung der Verbindung der Wortemit dem Copyright-Zeichen sowie ein In-Bezugsetzten zu dem Problem der Signatur ist jedoch bishernicht erfolgt.467 Pellizzi, o.S..468 Ricard In: Artforum, 37.
127
Basquiat präsentiert sein "Ich" als ein vorwiegend aus weißen Projektionen bestehendes
historisches Produkt: DETAIL OF MAID FROM "OLYMPIA"©, NAPOLEON
STEREOTYPE AS PORTRAYED CA. 1940-45 HOLLYWOOD©, SAPPHIRE©,
HOLLYWOOD AFRICANS©, AL JOLSON©, MONOPOLY HAT©, NERO©,
EIGHTBALL©, FOOL©, MONKEY©, BABOON©, THE DEVIL©, WALKING
EGGSHELLS©. Aber auch Orte, Personen und Attribute afrikanischer und afro-ameri-
kanischer Geschichte sind mit dem Copyright-Zeichen markiert: THE DARK
CONTINENT© SLAVE SHIPS©, OHIO©, MISSISSIPPI RIVER©, BROOKLYN©,
OBNOXIOUS LIBERALS©, MARCUS GARVEY©, MALCOM X©, LANGSTON
HUGHES©, AARON©, LESTER YOUNG©, MUTED TRUMPET©, JAZZ
EMBRYO©, EARLY SOUND FILM©, SUGAR©, SUGAR CANE INC.©,
COTTON©, TOBACCO©, TAR©.
Basquiats Signatur in seinen Arbeiten seit 1982 ist also nicht die einheitliche selbstbe-
wußte Künstlersignatur des "feci", sondern die des "das bin ich", "das alles sind meine
Namen". In einer Fortsetzung der Ambivalenz seines Graffiti-Pseudonyms SAMO© hat
Basquiat sein "Ich" im Bild in einzelne disparate Fragmente zersplittert, die erst durch
die synthetische Lektüre des Rezipienten zu einer neuen, komplexen Identität re-
konstruiert werden müssen.
6.2 Basquiats Selbstportraits: "Invisible Men"
The black person is the protagonist in most of my paintings. I realized that I didn'tsee many paintings with black people in them.469
I am here since 350 years, but you haven't seen me. (James Baldwin)
I am an invisible man. No, I am not a spook like those haunted Edgar Allan Poe, noram I one of your Hollywood-movie ectoplasms. I am a man of substance, of fleshand bone, fiber and liquids - and I might even be said to possess a mind. I am invi-sible, understand, simply because people refuse to see me. Like the bodiless headsyou see sometimes in circus sideshows, it is as though I have been surrounded bymirrors of hard, distorting glass. When they approach me they see only my sur-roundings, themselves, or figments of their imaginiation - indeed, everything andanything ecxept me.470
469 Basquiat in einem Interview mit McGuigan In: The New York Times Magazine, 35.470 Ellison, 3.
128
Die ersten Sätze von Ralph Ellisons Roman Invisible Man (1953) beschreiben paradig-
matisch die Problematik der afro-amerikanischen Identität. Sich selbst unsichtbar fühlend
und im Roman nur als eine Stimme agierend, ist der namenlose Protagonist des Romans
auf der Suche nach seiner Identität. Invisible Man erzählt die Geschichte der Afro-
Amerikaner vom Süden der "Reconstruction Era" bis hin zum Harlem der Vierziger Jah-
re. Die kafkaeske Reise von Ellisons Protagonisten berichtet von den verschiedensten
Rollen, die ihm von schwarzer und weißer Seite zugewiesen werden. Mit keiner dieser
Rollen kann er jedoch sein "Ich" identifizieren. Invisible Man erzählt in einer Metage-
schichte die Geschichte der Afro-Amerikaner und ihre Suche nach einer einheitlichen
Identität. Ellison hat diesen Roman, der ein Erklären der schwarzen Befindlichkeit der
Identitätslosigkeit ist, explizit für weiße Leser geschrieben.
In seinen Selbstportraits ist Basquiats Ausloten seiner eigenen Rolle als einem "Invisible
Man" ablesbar.471 In der Zeichnung Untitled von 1982 (Abb. 6.5) identifiziert sich Bas-
quiat durch das neben der mit INVISIBLE MEN beschrifteten Silhouette stehende Wort
EYE mit Ellisons Romanfigur. Der Plural INVISIBLE MEN macht aus dem "Invisible
Man" Ellisons ein ganzes Volk unsichtbarer Männer - die Afro-Amerikaner. In der
Zeichnung Untitled von 1986 (Abb. 6.6) zeigt Basquiat einen weiteren "Invisible Man",
der aus einem leeren schwarzen Gesicht und einem anatomisierten Torso besteht. Größer
könnte die Reduktion einer Selbstdarstellung zu einem reinen Signifikanten von black-
ness und Körperlichkeit kaum sein.
In dem Selbstportrait Untitled (1960) von 1983 (Abb. 6.7) portraitiert Basquiat seine
trademarkartige Silhouette unter seinem Geburtsjahr 1960 als eine Figur, deren
Hauptcharakteristikum ihre Schwärze ist. In Selfportrait von 1984 (Abb. 6.8) setzt er
diese Selbstdarstellung als "Schwarzer" fort, "afrikanisiert" jedoch seine Gesichtszüge
mit der für das Jahr 1984 typischen "primitivistischen" Zeichnungsweise. In den beiden
Zeichnungen Untitled von 1984 (Abb. 6.9) und Untitled (Black) von 1984 (Abb. 6.10)
ist das "Ich" im Bild zu einer Visualisierung des Schwarzen als dem Inbegriff der Dun-
kelheit, aus dem lediglich die mit EYE beschrifteten weißen Augen starren, geworden.
Während diese Darstellungsweise die weiße Imagination Afrikas als dem unbekannten,
barbarischen und unheimlichen "Dark Continent" konnotiert, identifiziert sich Basquiat in
Brown Face von 1981 (Abb. 4.27) positiv mit Afrika, kombiniert das EYE mit einem in
den Farben Afrikas gemalten Gesicht.
471 Als "Selbstportraits" bezeichne ich die Arbeiten Basquiats, die entweder durch ihre Betitelung oderaber durch das als Stellvertreter des "Ichs" fungierende Wort EYE gekennzeichnet sind.
129
In diesen Selbstportraits entwirft Basquiat ein Bild seiner selbst als Verkörperung von
Schwärze und Unsichtbarkeit. Sie sind keine Selbstportraits im Sinne eines individuellen
"Portraits", sondern Repräsentanten von blackness. Auf diesen Topos der blackness
bezieht sich Basquiat in seinem Bildvokabular auch durch die rekurrente Verwendung
der Worte TAR, CARBON und ASBESTOS. Das Wort "tar" konnotiert im amerikani-
schen Sprachgebrauch eine klebrige und nicht mehr von der Haut wegzubekommende
Schwärze. So hatten die Sklaven laut Houston A. Baker Angst, Teer zu berühren, weil
sie die mit ihm verbundenen negativen Konnotationen einer schwarzen Haut in einer Art
doppelter Aberglauben auf sich selbst übertrugen.472 Bereits in seinen Grafitti-tags be-
nutzt Basquiats das Wort TAR als Bezeichnung für seine Identität: so krönt er die Allite-
rationen von TAR TAR TAR (COAL) in einem Graffiti von 1978/79 mit der Krone des
"King of the Line" (Abb. 6.11). In Untitled (Black Tar and Feathers) von 1982
(Abb. 6.12) "teert" Basquiat den Bilduntergrund mit schwarzer Acrylfarbe, so daß die
Bildfläche zusammen mit dem Zeichen einer afrikanischen Skarifikation in der linken
Bildhälfte zur buchstäblich schwarzen geteerten Haut wird. In der Zeichnung Untitled
von 1981 (Abb. 6.13) nennt er mit TAR TOWN© die afro-amerikanische slang-
Bezeichnung für schwarze Stadtviertel, in Untitled von 1982 (Abb. 6.14) schließlich
werden die Wiederholungen des Wortes TAR zusammen mit ASBESTOS zum Vertreter
der blackness im Bild. Auch das Wort CARBON verwendet Basquiat in seinen Arbeiten
in Wortlisten, wie z. B. in Untitled von 1984 (Abb. 6.15). Basquiat kommentierte seine
alliterative Verwendung von CARBON mit den Worten: "Ich möchte wirklich wissen,
für wie schwarz die Leute dieses Bild halten".473
Das Fazit der negativen Identitätszuschreibungen an den "Invisible Man", der für Weiße
lediglich der Signifikant von blackness ist, ist seine Verletzlichkeit, sein daraus resultie-
rendes permanentes Tragen einer Maske und schließlich seine Suche nach einer positi-
ven, in Afrika wurzelnden Identität. Diese Verletzlichkeit der Afro-Amerikaner thema-
tisiert Basquiat in Untitled von 1984 (Abb. 6.16). Unter sechs schwarzen Flecken, die
"unsichtbare" schwarze Gesichter signifizieren, ist die Phrase WALKING
EGGSHELLS© zu lesen: die Afro-Amerikaner als laufende zerbrechliche Eierschalen!
Das "afrikanisierte" schwarze Gesicht in der unteren Bildecke zeigt ebenfalls keinerlei
Individualität, sondern ist lediglich die Repräsentation des schwarzen Gesichts als Mas-
ke. Solche "Maskengesichter" gehören zum rekurrenten Bildvokabular Basquiats.474 Sie
472 Baker, 33.473 Thompson In: Haenlein 1986, 23.474 Basquiats "Maskengesichter" lassen sich schwer spezifisch afrikanischen Masken zuordnen. Bis aufeinige direkte Übernahmen konnotieren sie zwar "Afrika" und "Primitivität", referieren aber auf keinebestimmte Kultur. Nur in der Zeichnung Untitled von 1988 (Kawachi, 146) kopiert Basquiat die Abbil-
130
haben Andy Warhol dazu geführt sich zu fragen "And how many screaming negroes can
you do?" und ihm dem Vorwurf der Wiederholung und der Ausbeutung des Primitivis-
mus eingebracht.475 Tatsächlich aber ist der Grund für Basquiats offensichtliches Pro-
blem einer wie auch immer "realistischen" Darstellung des Schwarzen das Problem der
Suche nach einer afro-amerikanischen Identität schlechthin. Denn der Blick des Schwar-
zen auf seinen Körper ist in der westlichen Gesellschaft immer durch den des Weißen
bestimmt, eine Selbstdefinition kann nicht unabhängig von den von außen zugeschriebe-
nen, meist stereotypen Identitäten erfolgen. Dubois formulierte diese Befindlichkeit der
"double consciousness" der Afro-Amerikaner 1903 paradigmatisch in seinem Buch The
Souls of Black Folk:
... the Negro is a sort of seventh son, born with a veil, and gifted with second-sightin this American world, - a world which yields him no true self-consciousness, butonly lets him see himself through the revelation of the other world. It is a peculiarsensation, this double-consciousness, this sense of always looking at one's selfthrough the eyes of others, measuring one's soul by the tape of a world that looks onin amused contempt and pity. One ever feels his twoness, an American, a Negro;two souls, two thoughts, two unreconciled strivings; two warring ideals in one darkbody, .... The history of the American Negro is the history of this strife, - this lon-ging to attain self-conscious manhood, to merge his double self into a better and tru-er self. In this merging he wishes neither of the older selves to be lost.476
DuBois' Metapher des Schleiers ("veil"), mit dem die Afro-Amerikaner geboren seien,
visualisiert das Tragen einer permanenten Maske, das die Afro-Amerikaner unsichtbar
für die weißen Amerikaner macht. Tatsächlich haben die meisten Afro-Amerikaner das
Gefühl, während ihres Alltags in der weißen Welt eine (zumeist freundliche) Maske tra-
gen zu müssen, um sich an diese anzupassen und erfolgreich sein zu können. Sie prakti-
zieren damit eine ständige kulturelle Schizophrenie und offenbaren nicht ihr "wahres
Ich", sondern schlüpfen permanent in die von weißer Seite zugeschriebenen Rollen,
identifizieren sich mit dem identitätslosen Schicksal von Ellisons "Invisible Man". Die
Maske wird so zu einem Bestandteil der afro-amerikanischen Identität, verschmilzt mit
ihr. Doch Basquiats "Maskengesichter" sind keine freundlich angepassten Masken, son-
dern afrikanisierte "Maskengesichter", die dem weißen Betrachter Primitivität und Ag-
gressivität suggerieren. Sie stehen für das Bild des Weißen vom Schwarzen als dem "bö-
sen Mann", für eine fehlende einheitliche positive Identität der Afro-Amerikaner und
zugleich für deren Suche nach einer positiven, in Afrika wurzelnden Identität.
dung eines prähistorischen Felsbildes aus Melikane, Maluti-Berge, Lesotho, dessen Figuren als Men-schenfiguren mit Tiermasken interpretiert werden (Hahner-Herzog, 12f).475 Warhol In: Hackett, 611.476 DuBois, 3.
131
Die Utopie DuBois', das "double self" der Afro-Amerikaner als "Negro" und "American"
in ein besseres, positiveres und einheitlicheres Selbst zu transformieren, kann als das
große Projekt der afro-amerikanischen Kunst vor Basquiat beschrieben werden. Was bei
dieser Suche nach einer neuen positiven Identität jedoch ausgeblendet wurde, nämlich in
dieses "merging" auch die "older selves" zu integrieren, das wird zum postmodernen
Programm Basquiats. In seinem Werk sind sowohl die amerikanischen stereotypen Re-
präsentationen des Afro-Amerikaners als "nigger", die europäischen Ursprünge dieser
Konstruktion des Schwarzen als dem "verachtenswerten Anderen" als auch die afro-
amerikanische Reklamation des afrikanischen Erbes als dem einzig verbleibenden positi-
ven Identifikationsmodell integriert.
6.3 Stereotype Repräsentationsformen der Afro-Amerikaner
6.3.1 Das "nigger"-Image: Sambo, "blackface minstrels "& Co.
Negative stereotype Darstellungen der Afro-Amerikaner in der Populärkultur waren ei-
nes der wichtigsten Mittel, um den Mythos der schwarzen Inferiorität im amerikanischen
Bewußtsein zu festigen. In Werbung, Unterhaltung, Comics, Filmen, Haushaltsgegen-
ständen, Souvenirs und Postkarten wurden Afro-Amerikaner als langsam, faul, dumm,
kriminell, schmutzig und tiergleich dargestellt und damit am untersten Ende der sozialen
Hierarchie situiert. Diese stereotype Darstellung der Afro-Amerikaner begann nach der
Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert und endete erst mit dem Ende der gesetz-
lichen Rassentrennung Anfang der Sechziger Jahre. Die amerikanische Populärkultur
etablierte damit hundert Jahre lang parallel zu der tatsächlichen Segregation der Afro-
Amerikaner deren kulturelle Marginalisierung und hat somit eine immense politische
Rolle in der Ausgrenzung der Afro-Amerikaner in den Vereinigten Staaten gespielt.477
Die Schaffung des "nigger"-Images ist ein spezifisch amerikanisches Phänomen. Der
afro-amerikanische Filmhistoriker Donald Bogle kategorisiert dieses Bild in fünf Unter-
gruppen:
... toms (they served their master well); coons (the funny men who assured whiteyall blacks were harmless and stupid); mulattoes (their 'tragedy' was they weren't bornwhite); mammies (sexless earth mothers who devoted theit lives to their white char-ges), and bucks (bestial superstuds after the pure white flesh of virgins).478
477 Barnett, Marguerite Ross: "Negative Styereotypes of African-Americans in American Popular Cultu-re." In: Distorted Images, o.S..478 Bogle, 43.
132
Der Inbegriff all dieser rassistischen Stereotypen ist Sambo (Abb. 6.17), der als Oberbe-
griff für alle anderen Stereotypen wie Jim Crow, Tambo, Rastus, den "watermeloneater",
den "Cream of Wheat Man" und Uncle Ben benutzt wurde.479 Sambo war kindisch und
komisch, Sklave und Diener von Natur aus, freundlich, unterwürfig und zudem ein gebo-
rener Entertainer. Basquiats Graffiti-Pseudonym SAMO©, sein erster ihm selbst gegebe-
ner Name, bezieht sich auf diesen als Synonym für "Negro" stehenden Stereotypen.
Gleichzeitig aber lehnt das Wort SAMO© durch die Konnontation der Phrase "same old
shit" als Ausdruck für die sich nicht ändernden rassistischen Verhältnisse diese rassisti-
sche Zuschreibung ab. SAMO© fungiert somit als ein Vexierbild, das zwischen dem ras-
sistischem Stereotyp Sambo und dessen Ablehnung von afro-amerikanischer Seite wech-
selt.
Basquiat nennt in seinem Werk fast alle wichtigen Stereotypen des "nigger"-Images,
kontrastiert sie aber entweder mit Metonymien eines "black empowerments", das gegen
diese entwürdigenden Rollenzuschreibungen ankämpft, oder wertet sie positiv um. Zu-
gleich schafft er immer wieder solche Vexierbilder, die zwischen rassistischen Stereoty-
pen und positiver afrikanischer Identität changieren. In der großformatigen Assemblage
Brain von 1985 (Abb. 6.18) steht ein mit dem durchgestrichenen Wort BRAIN© be-
schriftetes Schuhputzgerät auf einem Kistenstapel, der mit Referenzen an die große Zeit
des New Yorker Jazz versehen ist. Basquiat kontrastiert hier auch für jeden Weißen ein-
deutig lesbar die dienende Rolle der Afro-Amerikaner als Schuhputzer mit den großen
Errungenschaften der New Yorker Jazzmusiker. 480
In der 1982 entstandenen Selbstportraitreihe Self Portrait as a Heel (Abb. 6.20), Self
Portrait as a Heel, Part Two (Abb. 6.21) und Hollywood Africans (Abb. 1.3) greift
Basquiat die Rolle des Schwarzen als dem "Fußabstreifer" der Gesellschaft auf und be-
zeichnet sich selbst als HEEL. "Heel" ist ein Schimpfwort für Schwarze, das genauso
schlimm wie das Wort "nigger" ist. Im "Black English" und in den Texten des HipHop
wird "heel" jedoch - ebenso wie die Schimpfworte "nigger", "coon", "Sambo", "Asbe-
stos" und "Eightball" - als eine positive Bezeichnung für Afro-Amerikaner verwendet.
Durch die Wiederholung und Umkehrung dieser von Weißen verwendeten Schimpfworte
wird diesen eine neue Bedeutung gegeben, die nur für Eingeweihte verständlich ist.481
Die repressive Struktur des weißen "Standard English" wird so durch die rhetorische
479 Boskin, Joseph: " Sambo and Other Male Images in Popular Culture." In: Smith, 257-270.480 Bereits in der politischen Kunst der Sechziger Jahre hat John Outterbridge mit "Shoeshine Box" von1968 die allgegenwärtige Rolle des Schwarzen als unterwürfigen Schuhputzer kritisiert (Abb. 6.19,Lewis, 175).481 Holt In: Kochman, 156.
133
Strategie des "Signifying" durchbrochen. Basquiats Wiederholungen des Wortes HEEL
und seine unmittelbare Identifikation mit dem Schimpfwort ist in diesem Kontext zu ver-
stehen.
In der Zeichnung Untitled von 1982 (Abb. 6.22) serviert ein grinsender schmollmundi-
ger "drolliger Neger" eine Schale mit Früchten, eine Anspielung auf den Topos des Moh-
ren als Diener in europäischen Gemälden und auf die Rolle des Schwarzen als "house
slave". Porter von 1984 (Abb. 6.23) zeigt einen schwarzen Kellner, dessen Aufgabe es
ist, Wasser nachzufüllen; ein Job, der in der Hierachie der amerikanischen Restaurants
gleich nach dem untersten des Tischeabräumens angesiedelt ist. Eyes and Eggs von
1983 (Abb. 6.24) und Farina von 1984 (Abb. 6.25) erinnern an die historische Rolle der
Afro-Amerikaner als Hausangestellte von den "house slaves" bis zum heutigen Küchen-
personal. In der amerikanischen Werbung wurden schwarze Köche und Köchinnen dazu
benutzt, für Produkte wie Pfannkuchen (Aunt Jemina), Cream of Wheat (Rastus) oder
Reis (Uncle Ben) zu werben. In Farina spielt Basquiat auf das stereotype Bild des im-
mer grinsenden gutmütigen Rastus an, der für CREAM OF WHEAT© wirbt
(Abb. 6.26).482 Das aggressive schwarze "Maskengesicht" des Kochs in Farina ist je-
doch ein eindeutiger Gegenentwurf zu den Darstellungen des "guten Schwarzen" in der
Werbung.483 Auch als Salz- und Pfefferstreuer durften die schwarzen Köche auf keinem
weißen Eßtisch fehlen (Abb. 6.28). Auf diese Repräsentationen der Afro-Amerikaner,
die sogenannten "black americana", die noch heute auf den Flohmärkten ihre Sammler
finden, bezieht sich Basquiats rekurrente Verwendung des Wortes SALT.
Eine andere dienende Rolle des Schwarzen war die des Eisenbahnporters, auf die Bas-
quiat in To Be Titled von 1987 (Abb. 6.29) anspielt. Unter den Worten FREE FOR A
LIMITED TIME ONLY ist ein stereotyper schwarzer Porter zu sehen (vgl. Abb. 6.47).
Zusammen mit dem grünen LONE RANGER und dem rosafarbigen HAWKMAN bildet
er eine Repräsentation der drei amerikanischen Stereotypen von schwarzem Diener,
weißem Ranger und rotem Indianerhäuptling. Eines der bekanntesten Stereotypen der
Afro-Amerikaner der Südstaaten ist der "watermeloneater". In unzähligen Postkarten
und Haushaltsgegenständen ist das rassistische Bild des Schwarzen als grinsender dum-
482 Der Bildtitel "Farina" bezieht sich jedoch auf eine weitere sehr bekannte schwarze stereotype Rolle:Farina war der schwarze Junge in der Kinderserie Our Gang von Hal Roach. Farina war als der "Fool"der Serie einer der populärsten und beliebtesten Charaktere in den Vereinigten Staaten (Abb. 6.27).483 Die beiden hartgekochten Eihälften sind in Basquiats Arbeiten Statthalter der stereotypen heraus-quellenden weißen Augen des "eye-popping coon". Basquiat kontrastiert diese zumeist mit Maskenge-sichtern, stellt also die zu überwindende negative Repräsentation der amerikanischen Populärkultureiner aggressiven afro-amerikanischen bzw. einer in Afrika wurzelnden positiven Selbstdefinition ge-genüber.
134
mer Wassermelonenesser im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitet gewesen
(Abb. 6.30, 6.31). Basquiat rekurriert auf dieses Bild des "watermeloneaters" in Piscine
Versus the Best Hotels von 1982.484 Die schwarze Figur bewegt sich wie ein Vexierbild
zwischen dem Stereotyp des "watermeloneaters" mit großen weißen Augen und Bas-
quiats typischem schwarzen "unsichtbaren" Maskengesicht. Die unter die Figur geschrie-
benen Worte SALT. SALT weisen ebenfalls einerseits auf die amerikanischen Salzstreu-
er hin, die als "drollige Neger" geformt waren, andererseits aber auch auf die antike afri-
kanische Währung des Salzes.
Ein weiteres Schimpfwort für Afro-Amerikaner war "Coon", was sowohl "cluck" als
auch "fool" konnotiert und eine Abkürzung von "racoon" ist.485 Der rassistische Ver-
gleich mit dem Waschbär beruht auf dessen großen weißen Augen in einem fast schwar-
zen Gesicht (Abb. 6.33). In Untitled von 1984 (Abb. 6.34) wird durch den Wortklang
von MOON und die Reihung der großen Os von MOON, den "Spiegeleiergesichtern"
und dem großen schwarzen gekrönten Kopf mit einem weißen Querbalken über dem
Mundbereich das Wort "Coon" sowie das dazugehörige sterotype Bild eines Schwarzen
mit großen Lippen und heraustretenden weißen Augen evoziert. Die Substitution der
Augen durch die zwei "Os" war in rassistischen Darstellungen populär, führte sie doch
das Wort auf seinen etymologischen Ursprung zurück, wie die Titelseite eines Coon-
Liederbuches zeigt (Abb. 6.35). Solche Coon-Liederbücher waren Teil der Minstrel-
Performances des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, aus denen das Publikum die beliebten
Coon-Songs nach der Aufführung selbst singen konnte (Abb. 6.36). Das Minstrel war
die weiße Imitation einer konstruierten schwarzen Kultur, die vornehmlich aus fröhlichen
tanzenden und singenden Sklaven bestand. Es entwickelte sich im Norden als ein Ersatz
für den "slave entertainer" des Südens, weiße Schauspieler traten mit geschwärzten Ge-
sichtern und weiß geschminkten Lippen als Karikatur des Schwarzen auf. Die Minstrels
wurden zu Beginn der Diskussion über die Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert
populär und sollten es bis in die Mitte des 20. Jahrhundert hinein bleiben.
In Untitled von 1982 (Abb. 6.37 unten) nennt Basquiat mit VIRGINIA MINSTRELS
die Gruppe von vier weißen Schauspielern, deren Auftritt 1843 in New York den Beginn
sämtlicher Minstrel Shows markierte.486 Die Tradition des Auftretens in "blackface"
setzte sich bis zu den Musicals und Filmen des frühen 20. Jahrhunderts fort. Ironischer-
484 Marshall, 127. Darauf wies mich die Besitzerin des Bildes, Leonore Schorr, in einem Interview am25. Oktober 1995 in New York hin.485 Pieterse, 138.486 Ihde, 49.
135
weise begann der frühe Tonfilm, der förmlich nach den Jazzsängern und -musikern der
Harlem Renaissance verlangte hätte, 1927 mit dem großen Erfolg von The Jazz Singer,
in dem der jüdische Entertainer Al Jolson in bester Minstreltradition schwarz geschminkt
im "negro dialect" sang (Abb. 6.38). In Tuxedo von 1983 (Abb. 6.39) und Toussaint
L'Overture Versus Savonarola von 1983 (Abb. 6.40) bildet AL JOLSON© ein wichti-
ges Element des Subtextes. In beiden Arbeiten konfrontiert Basquiat dessen Verkörpe-
rung eines falschen Bildes afro-amerikanischer Kultur mit MALCOM X, der Gallionsfi-
gur des Kampfes für eine Identität, deren Wurzeln nicht im "slave entertainment", son-
dern in den Hochkulturen Westafrikas und Ägyptens liegen. Nicht zufällig weisen in Tu-
xedo die von AL JOLSON© ausgehenden Pfeile neben den Errungenschaften westlicher
Zivilisation auf BRONZE HEAD OF BENIN und (COPPER)--- >IVORY MASK hin
(Abb. 6.39).
Die klassischen Minstrelfiguren lassen sich laut Pieterse in zwei Typen unterteilen: den
ländlichen "Plantagenneger" (Sambo, Bones) und den städtischen Dandy (Tambo), der
durch seine "would-be classy clothes" und seine "pompous language" eine Karikatur des
neuen freien Schwarzen war. Dieser Angriff auf die schwarze Aneignung von weißer
Kleidung und Benehmen spiegeln die Zeitungskarikaturen der Zeit wieder, in denen der
Zylinder zum Attribut des freien Schwarzen wird (Abb. 6.41). Der Zylinder setzt sich als
ein "key signifier" der stereotypen Repräsentation des afro-amerikanischen Entertainers
bis in die heutige Zeit fort (Abb. 6.42, 6.43) und wurde erst durch die politische Rap-
gruppe Public Enemy Anfang der Neunziger Jahre positiv umgewertet (Abb. 6.44). Bas-
quiat verwendet in zwei Zeichnungen den MONOPOLY HAT© als Symbol dieses alten,
verhaßten Stereotyps: In Untitled von 1985 (Abb. 4.13) wird er mit den Errungen-
schaften des Jazz konfrontiert, in Untitled von 1985 (Abb. 6.46) zählt er zusammen mit
dem Affen, der (Spiegeleier)-bratpfanne487 und der Ku Klux Klan-Kapuze zu den immer
wiederkehrenden SATELLITE IMAGE©(s), die die Figur durch GET OUT zu vertrei-
ben versucht.
Die Comics zu Beginn des 20. Jahrhunderts benutzten den Afro-Amerikaner parallel zu
den blackface-Minstrels als die komische Figur schlechthin, sie liefern ein Bild des
Schwarzen, das von der rassistischen weißen Imagination bestimmt ist. Die extremste
dieser blackface-Darstellungen war die Comicfigur Eightball, eines runden schwarzen
Kopfes mit großen weißen Augen und einem Schmollmund. Eightball war sowohl die
487 Die ein Zitat aus Leonardo da Vincis Bilderrätseln ist: Es handelt sich um das Blatt Windsor, RLfolio 12692 recto, auf dem die Pfanne als "padella" in den Text "colpa della fortuna" integriert ist (Abb.In: Marinoni, 85).
136
stereotype Comicfigur eines schwarzen Eisenbahnporters in dem Comicstrip Moon Mul-
lins der Zwanziger Jahre (Abb. 6.47) als auch die Hauptfigur Lil' Eightball der
Zeichentrickserie New Funnies (1942) von Walter Lanz.488 Die schwarze Billiardkugel
mit der Nummer Acht und EIGHTBALL© in Televison and Cruelty to Animals von
1983 (Abb. 6.48) verweisen auf diese entwürdigende Bezeichnung für Afro-Amerikaner.
Weniger extrem war die Darstellung des Stalljungen Asbestos aus der Comicserie Joe
and Asbestos (Abb. 6.49).489 Diese Serie, deren Thema das Pferderennen war, erschien
fünfunddreißig Jahre lang täglich im New York Daily Mirror (1934-1969) und wurde in
den Vierziger Jahren in ganz Amerika populär.490 Der weiße Joe wettet auf Pferde und
gewinnt, der schwarze Stalljunge Asbestos war sein komischer Counterpart, der eine
schwarze Melone, einen karierten Anzug und zerlöcherte Schuhe trug und - dank seiner
Tiergleichheit! - mit den Pferden sprechen konnte.491 Das Wort ASBESTOS gehört zum
rekurrenten Bildvokabular Basquiats. Es bezieht sich zum einem auf die Farbe schwarz
und signifiziert damit den Topos der blackness, zum anderen aber auf die Comicfigur
Asbestos. In Asbestos von 1981 (Abb. 6.50) wird die Figur des Asbestos zu einer Art
Märtyrer, deren Haltung an einen Gekreuzigten erinnert. In Four Big von 1982
(Abb. 6.51) ersetzt das dekonstruierte Wort ASSBESTO die gekreuzigte Figur. In bei-
den Arbeiten identifiziert sich Basquiat durch die Krönung mit Asbestos, stellt ihn jedoch
als eine gestorbene, geopferte, überwundene Figur dar. In anderen Arbeiten dient das
Wort ASBESTOS dann, oft in der Kombination mit dem Wort TAR, als Signifikant von
blackness, so in Liberty , 1982/83 (Abb. 4.67); Frogman, 1983 (Abb. 6.52); Untitled ,
1987 (Abb. 6.14) und Untitled , 1982 (Abb. 6.66).
Die schwarzen Comicfiguren sprachen, wenn überhaupt, "black dialect". Afro-
Amerikaner wurden in diesen Comics bis in die Vierziger Jahre entweder als "Fools"
oder als Diener und Träger dargestellt. DuBois und Marcus Garvey klagten zwar seit
den Zwanziger Jahren gerichtlich gegen diese rassistischen Darstellungen, aber erst der
Druck der schwarzen Presse beendete in den Vierziger Jahren diese stereotypen Reprä-
sentationen.492 In den Dreißiger und Vierziger Jahren wurden jedoch viele der Stereoty-
pen der Comics in den Tonfilm übernommen. Neben Sambo, Cäsar und Eightball war
488 Gifford, 220.489 Robinson, Jerry: "Integration in the Comics." In: Prisoners, 18.490 Waugh, 34ff.491 Boskin, 145.492 Jones, Steven Loring: "From 'Under Cork' to Overcoming. Black Images in the Comics." In: EthnicImages, 21-30.
137
Napoleon einer der populärsten Namen für einen schwarzen Filmcharakter.493 Basquiat
bezieht sich darauf mit einem Motiv seines rekurrenten Bildvokabulars: NAPOLEON
STEREOTYPE AS PORTRAYED CIRCA 1940-1945©. In der Zeichnung Napoleon
Stereotype as portrayed von 1982/93 (Abb. 6.53) ist eine vogelartige Comicfigur mit
einem Napoleonhut mit diesen Worten bezeichnet. In Napoleonic Stereotype von 1983
(Abb. 6.54) kontrastiert Basquiat die stereotype Assoziation des Titels mit dem afro-
amerikanischen Volkshelden der Dreißiger und Vierziger Jahre mit dem Boxer Joe Le-
wis.494
In den Fünfziger Jahren wurde der stereotype Afro-Amerikaner schlechthin durch die
"Amos 'n' Andy Show" verkörpert (Abb. 6.55). Die "Amos 'n' Andy Show" bildet den
Endpunkt der im 19. Jahrhundert beginnenden Tradition der blackface-Performances in
den amerikanischen Medien. Sie war eine Übernahme des bereits seit den Zwanziger
Jahren äußerst populären Radiohörspiels "Amos n' Andy", das besonders wegen des
"black dialects", der ausschließlich von weißen Sprechern gesprochen wurde, beliebt
war, verankerte es doch das Bild vom ungebildeten und "drolligen Neger" (Abb. 6.55).
Die Rollen der Fersehserie sollten ursprünglich von weißen Schauspielern in "blackface"
gespielt werden, man entschloß sich dann jedoch, "echte Schwarze" für die Rollen zu
verpflichten. Das Casting wurde zu einer Staatsangelegenheit, zu der selbst Truman und
Eisenhower ihre Vorschläge machten. Der Produzent der "Amos 'n` Andy Show" war
Hal Roach, dessen Name Basquiat in der Zeichnung Untitled von 1985 (Abb. 4.56) un-
auffällig zwischen der Nennung von Jazzmusikern listet: TOMMY POTTER/HAL
ROACH/ DUKE JORDAN/MAX ROACH.495 In Untitled (Rinso) von 1982 (Abb. 3.6)
nennt Basquiat die beiden Hauptdarsteller der : KINGFISH und SAPPHIRE©. Beide
entsprachen den klassischen Minstrelfiguren: George "Kingfish" Stevens repräsentierte
den "stereotyped scheeming 'coon' character", Sapphire Stevens die "domineering mo-
ther-in-law".496 Die Worte NOH SUH NOH SUH verweisen auf den Gebrauch des
"black dialects" in "Amos 'n' Andy", kehren aber zugleich die stereotype unterwürfige
Antwort des schwarzen Dieners "Yes, Suh" - "Yes, Sir!" um.
Das eingerahmte Wort FOOL in Untitled (Rinso) (Abb. 3.6) verweist auf die Rolle des
Schwarzen als immer komischen Entertainer. Diese Konzeption des Afro-Amerikaners
als Verkörperung des Humors war, so Boskin, zugleich die Antithese zur Rationalität
493 Boskin, 152.494 Siehe dazu das Kapitel 5.9 Afro-amerikanische Sportler als Volkshelden.495 Ely, 306.496 McDonald, 28.
138
und damit zu einem Anspruch der Schwarzen auf intellektuelle und politische Mündig-
keit.497 Mit IL FOOL nennt Basquiat somit vom "slave entertainer" über die Minstrel
Shows und "Amos n' Andy" bis hin zu Eddie Murphy die Rolle des schwarzen Komödi-
anten. In seinem eigenen Debüt im Bereich des schwarzen musikalischen Entertainments
bezieht sich Basquiat an zentraler Stelle auf die Rolle des schwarzen Musikers als "fool".
Auf dem Plattenetikett von Beat Bop von 1983 zeigt er ein negroides Gesicht mit einem
"dunce-hat" (Abb. 6.57). Einen solchen Hut mußten die Kinder in den amerikanischen
Schulen zur Strafe tragen, wenn sie sich "foolish" verhalten haben.498 Basquiat verwen-
det diesen Hut in seinem Bildvokabular als Signifikant des schwarzen "fools". Bereits in
Equals Pl von 1982 (Abb. 6.58) bezieht sich Basquiat mit der Wiederholung des Wortes
DUNCE neben dem dreieckigen Hut auf diese Kindheitserinnerung. In den Hinter-
grundtexten großer Bildcollagen wie King of the Zulus von 1984/85 (Abb. 2.1) und
Tenor von 1985 (Abb. 2.24) bezeichnet Basquiat die diesen "dunce-hat" tragende Figur
als FOOL©. Auf dem Plattenetikett von Beat Bop (Abb. 6.57) aber vereint er in einem
Vexierbild das stereotype Bild des Schwarzen als lustigem Entertainer mit Malcolm X,
dem nationalistischen Kämpfer gegen solche Stereotypen und für eine Verwurzelung der
afro-amerikanischen Identität in Afrika, denn wie auf den Baseballmützen zu Spike Lees
Film Malcolm X ist auf dem "dunce-hat" ein großes X zu lesen.
In der Zeichnung Untitled von 1986 (Abb. 6.60) bezieht sich Basquiat mit der Über-
nahme eines Zeichens aus Dreyfuss`Symbol Sourcebook, das einen Pinguin in schwarzem
Frack und schwarzer Fliege zeigt (Abb. 6.61), auf die "aesthetic of the cool" des Jazz.499
In dieser Kleidung spielten viele schwarze Jazzmusiker und wurden analog dazu als Pin-
guine dargestellt (Abb. 6.62). Der Imperativ der Vorlage von Dreyfuss` Symbol Source-
book - KEEP FROZEN - ersetzt Basquiat durch den des ICE ME. Er verweist damit auf
die spezifisch schwarze Attitüde der "coolness", die sich bis zu der Namensgebung von
Rappern wie Ice-T und Ice Cube fortgesetzt hat. Diese betonte Lässigkeit der Afro-
Amerikaner entwickelte sich David Hammons zufolge als eine explizite Gegenreaktion
auf die stereotype Rolle des "fools", als eine die Lächerlichkeit negierende betonte
Ernsthaftigkeit des "black male".500 Der Zylinder des Pinguins in Untitled jedoch fun-
giert als Synekdoche des die "foolishness" verkörpernden Minstrelentertainers, der durch
EPITAPH© wohl endgültig zu Grabe getragen worden ist.
497 Boskin, 55, 63.498 Diesen Hinweis verdanke ich Mark Wimberly.499Das "Pinguin-Zitat" ist ein rekurrentes Motiv und steht, wie bereits Thompson (In: Marshall, 38)ausgeführt hat, alternierend mit "Kältezitaten" wie ICE, KEEP FROZEN, Eiswürfeln oder Kühlschrän-ken als Metonymie für die schwarze "coolness".500 Lippard, 66.
139
Daß davon leider immer noch keine Rede sein kann, zeigt Basquiats Integration einer
1985 aktuellen Diskussion in zwei weiteren Zeichnungen. In Untitled von 1985
(Abb. 6.63) und Untitled (ARS* GRATIA* ARTIS) von 1985 (Abb. 6.64) rekurriert
er durch das blau geschriebene COLGATE und das eingerahmte TOOTHPASTE auf
einen Skandal, der für Schlagzeilen sorgte.501 Ein Amerikaner entdeckte in Thailand die
Zahnpastenmarke Darkie, deren Logo ein seit sechzig Jahren unverändertes Minstrelge-
sicht mit gebleckten weißen Zähnen und Zylinder war und deswegen in den Vereinigten
Staaten schon lange nicht mehr verkauft werden durfte, und schickte ein Exemplar an
das Interfaith Center for Corporate Responsibility in New York.502 Der Skandal weitete
sich aus, als bekannt wurde, daß der amerikanische Konzern Colgate im gleichen Jahr
einen 50%-Anteil an seinem die Darkie-Zahnpaste in Asien vermarktenden großen Kon-
kurrenten Hawley & Hazel erworben hatte, um so an dem lukrativen asiatischen Ge-
schäft beteiligt zu sein. Die New Yorker Vereinigung verlangte nun von Colgate, Namen
und Logo zu ändern, mit dem Ergebnis, das Darkie nun zwar Darlie heißt, das rassisti-
sche Logo aber unverändert beibehalten wurde (Abb. 6.65)!
In der Zeichnung Untitled von 1985 (Abb. 6.63) bezieht sich nicht nur das groß ge-
schriebene COLGATE, sondern auch weitere kommentierende Subtexte auf diesen
Skandal. Rechts oben verweist 50/50 auf die Übernahme des Anteils, in der Bildmitte
unten DAILY MIRROR OR NEWS BAND auf die Thematisierung durch die Medien.
THE DISPOSAL OF A BONANZA (links oben) spielt auf die durch die Diskussion
enstandenen finanziellen Verluste von Colgate an, REFRESHMENT AND ETHICS auf
die Forderungen des Interfaith Center for Corporate Responsibility.
6.3.2 "Whitewashing Action": Das Leitmotiv Seife
Bei all diesen rassistischen Stereoypen wollten die Afro-Amerikaner nur noch eines, so
die weiße Imagination und teilweise auch die schwarze: aus ihrer Haut schlüpfen. In der
Zeichnung Untitled von 1982 (Abb. 6.66 rechts oben) nennt Basquiat die Kosmetikpro-
dukte, die zu einer "De-Nigrifizierung" der Afro-Amerikaner und damit zu der er-
wünschten Assimilierung an den weißen amerikanischen Mainstream benutzt wurden.
Durch SKIN LIGHTENER und HAIR STRAIGHTENER sollte das Negativimage des 501 Siehe Hagedorn, Ann: "Colgate Still Seeking To Placate Critics Of an Asian Product." Wall StreetJournal. 16.April 1988, o. S.; Pieterse, 205; Boskin, 77.502 In den späten Sechziger Jahren verwendete Betje Saar im Zuge der Dekonstruktion von durch dieWerbung verankerten Stereotypen das Logo von "Darkie" in ihren Arbeiten (Lewis, 173).
140
Schwarzen als "darkie" getilgt werden: ASBESTOS© im linken oberen Bildteil ist
durchgestrichen! Solche kosmetischen Produkte wurden in den Fünfziger Jahren in den
Vereinigten Staaten erfolgreich verkauft und erst von der Black Power Bewegung der
Sechziger Jahre als völlig falsche Mittel zur Assimilierung erkannt. Paradigmatisch für
diesen Wandel ist Malcolm X' Biographie. Dieser hat sein Haar jahrelang in einer wö-
chentlichen schmerzvollen Prozedur geglättet: erst der Eintritt in die Nation of Islam ließ
ihn zu seinem natürlich krausen Haar und damit zu einem positiveren Bild des Schwarz-
seins "bekennen". Höhepunkt der Zuwendung zu einer natürlichen afro-amerikanischen
Frisur war der "Afro" der Sechziger Jahre, auf den Basquiat sich mit den Alliterationen
von AFRO SHEEN im linken Bildteil bezieht.503
Afro-Amerikaner, die sich an die weißen Werte anpassen und ihr Schwarzsein auf diese
Weise verleugnen, werden von nationalistischen Schwarzen abfällig "Oreo" genannt.
Oreo ist eine amerikanische Keksmarke, die außen aus einer schwarzen und innen aus
einer weißen Schicht besteht. "Oreos" sind also im Inneren weiß, können aber ihre
Hautfarbe dennoch nicht ändern. In Oreo von 1988 (Abb. 6.67) stellt Basquiat diese
Bezeichnung eines assimilierten Afro-Amerikaners den schwarz-rot-grünen Farben von
Marcus Garveys nationalistischem Back to Africa-Movement gegenüber.504
In Untitled von 1982 (Abb. 6.68) wird der Versuch einer Aufhellung der schwarzen
Haut durch die Kontrastierung der SOAP BOX© im dunklen und der Venusstatue im
hellen Bereich verdeutlicht. Basquiat verwendet die Venusstatue in seinem Bildvokabu-
lar nicht als "just a famous art object thrown in",505 wie er Thompson deren Rekurrenz
abschwächend erklärt, sondern als die Ikone des europäischen Schönheitsideals
schlechthin, das Schwarze lange Zeit durch die Aufhellung ihrer Haut mit Bleichungs-
mitteln zu erreichen versucht haben. Thompson erwähnt in seiner Interpretation von
503 Das Tragen der Haare ist auch heute noch stark mit der persönlichen Einstellung zu der jeweiligenafro-amerikanischen Identität verbunden. So symbolisieren Basquiats antennenartige Dreadlocks ein-deutig eine afrozentrische Einstellung, die mit den Ideen der jamaikanischen Rastafaris, die ihreDreadlocks in Anlehnung an die alttestamentarische Figur Samsons als Träger von Kraft und Antennenzum Göttlichen tragen, symphatisierte. Thompson bemerkt die Wichtigkeit von Basquiats Frisur fürdessen Selbstverständnis: "Merkwürdig, daß noch niemand die geheimnisvoll-mystische Qualität vonBasquiats Haaren bedacht hat. Hochspannungdrähte, die ihrem Träger erlauben, mit Gott in Verbin-dung zu treten. Aber es tut nichts zur Sache, wenn Kritiker und Kunsthändler seine Haare ignorieren.Tatsache ist, wann immer Basquiat ein Selbstportrait andeutet seine Locken augenblicklich in Acryl inKreide kreolisiert ..." (In: Haenlein 1986, 18). Zur politischen Bedeutung der Frisuren siehe MercerKobena: "Black Hair/Style Politics." In: Ferguson, 247-266.504 Das Wort OREO selbst ist in das Zeichen für den haitianischen Loa der Kommunikation, Papa Leg-ba, eingeschrieben. Die drei schwarzen Punkte im grünen Bildfeld kann man als Zeichen der BlackPanther Pfote lesen.505 In: Marshall, 33.
141
Horn Players von 1983 (Abb. 6.69), daß "Tarver, an art historian, suggests that the
legend SOAP, at lower left, alludes to being 'clean' in black argot, being, in other words,
aesthetically impeccable".506 Was von Thompson als Verweis auf die "ästhetische Rein-
heit" des Jazz gelesen wird, offenbart sich in einem Bildvergleich mit Untitled , das Horn
Players vom Bildaufbau und der Farbigkeit gleicht, jedoch als "ästhetisch rein" im Sinn
der zweiten Wortbedeutung von "impeccable": sündenlos sein!
Denn das ästhetisch-moralische Reinheitsideal wurde, so Peter Martin, im europäischen
Klassizismus des 18. Jahrhunderts in der Mediceischen Venus verkörpert.507 Der afri-
kanische Hottentotte hingegen konnte weder ästhetisch noch moralisch rein sein, denn
seine Hautfarbe war das Zeichen eines biblischen Fluches, das Stigma des Bösen. Die
Säkularisierung dieser Idee der kollektiven Erbsünde fand ihren Ausdruck in der populä-
ren Theorie des amerikanischen Arztes Benjamin Rush (1745-1813), der die schwarze
Hautfarbe und deren begleitende Physiognomie für die Folge einer angeborenen Lepra-
erkrankung, für die pathologische Veränderung einer ehemals weißen Haut hielt. Zahl-
reiche wissenschaftliche Versuche, die Haut des Schwarzen durch chemische Mittel wie
Salzsäure zu bleichen, folgten, das Weißwerden wurde zur profanen Erlösung von der
Sünde.508 Die Seifenwerbung der Kolonialzeit führte diesen Gegensatz von weiß und
schwarz, von Aufklärung und Barbarentum fort. Die Seife wurde, so Pieterse, zum
"symbol and ... yardstick of civilization".509 Was in Aesops Fabeln510 (Abb. 6.70) und
506 In: Marshall, 38.507 Martin, 246.508 Jordan: "The Disease of Color", 517-521; Gilman, 250.509 Pieterse, 196.510 Die Fabel von Aesop berichtet von einem Mann, der sich einen äthiopischen Sklaven in den An-nahme kaufte, daß dessen schwarze Farbe nur durch die Nachlässigkeit seines vorherigen Herrn erzeugtwurde. Er wusch daher das Gesicht des Sklaven so heftig, daß dieser erkrankte. Seine Farbe blieb jedochimmer noch dieselbe. Die Moral der Fabel ist, daß Menschen nur schwer zu ändern sind (Massing In:Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 183). Die Worte AESOP'S FABLES gehören zumrekurrenten Bildvokabular Basquiats. Er verwendet zwei Vorlagen, die er in verschiedene Kontextecollagiert. Auf der einen kontrastiert er A SCENE FROM AESOP'S FABLES mit BLACK POWDER(Red Joy, 1984, Abb. 6.71), auf der anderen stellt er AESOP'S FABLES dem stereotypen schwarzenTV-Komikerpaar der Fünfziger Jahre, AMOS 'N' ANDY gegenüber (Pink Amos or Andy", 1983,Abb. 6.72). Die erste Gruppierung kontrastiert die Konnotation des "Weißwaschens" mit der BlackPower Bewegung, die zweite mit der Tradition der "blackface performance". Aesop wird aber auch vonden Afrozentrikern als ein weiterer antiker schwarzer Held reklamiert. Denn Aesop war ein Sklave,dessen Name laut Diop von "Ethiop" abgeleitet ist und der daher ein ägyptischer Schwarzer war (ibid.,233). Der Encyclopedia Britannica zufolge wurde Aesop im 7. Jhd. v.Ch. als Sklave in Phrygien gebo-ren, aber befreit. König Krösus aus Lydien beauftragte ihn als Diplomat, um Frieden zwischen dengriechischen Republiken zu schließen. Aesop schlichtete die Streitigkeiten durch das Erzählen vonFabeln, die die griechischen Denker beeinflußt haben. Sokrates verbrachte die Zeit bis zu seiner Hin-richtung damit, Aesops Fabeln und Verse umzusetzen - nicht umsonst plaziert Basquiat in "2 1/2 Hoursof Chinese Food", 1984 (Abb. 6.73) HEMLOCK, den Schierlingsbecher mit dem Todestrank des So-krates, direkt unter AESOP'S. In diesem afrozentrischen Kontext ist AESOP somit als Statthalter einerpositiven Identität zu lesen.
142
später in den Emblembüchern von Alciatus und Whitney als Visualisierung der "Unmög-
lichkeit" fungierte, wurde nun möglich: Die Werbung versprach, den Moor weißzuwa-
schen.511 Der Werbetext für Dreydoppel Soap (Abb. 6.74) projeziert exemplarisch die
weißen Wertvorstellungen auf den Schwarzen, unterstellt ihm ein stetes Bemühen, weiß
zu werden:
A mite of queer humanity, As dark as a cloudy night, Was displeased with hiscomplexion, And wished to change from black to white.
He built an air-tight sweat box with the Hope that he would bleach; The sweatpoured down in rivers, but the Black stuck like a leech.
One trial was all he needed; Realized was his fondest hope; His face was as whiteas white could be; There's nothing like Dreydoppel Soap.512
Basquiat bezieht sich in mehreren Arbeiten auf die hier geschilderten Versuche einer
"denigrification". Mit der Skulptur Head of a Fryrer von 1982 (Abb. 6.78) baut er eine
solche Schwitzbox nach, deren Aufschrift SARCGPUGUS OF A PHYSICIAN sich auf
die nicht selten zum Tode führenden wissenschaftlichen Versuche des Aufhellens ("to
fry" bedeutet im amerikanischen Slang auch "jemanden auf dem elektrischen Stuhl hin-
richten") bezieht.513
In der Zeichnung Untitled von 1985 (Abb. 4.56) ist DRANK SOAP neben zwei Sägen,
zerlegten Körperteilen und anatomischen Termini als "Tagebucheintrag" einer Ver-
suchsanordnung zu lesen: "Trank Seife!" Das durch ANTERIOR/POSTERIOR konno-
tierte Vorher-Nachher-Schema, mit dem die Seifenwerbung arbeitet, unterteilt Basquiat
in Untitled (Soap) von 1983/84 (Abb. 6.80) in zwei parallele Register. Im Vordergrund
wird durch zwei schwarze "Maskengesichter" ein Kreislauf evoziert: vorher schwarz,
nachher sind zumindest Augen, Nase und Zähne weiß. Das große Seifenstück gibt, ana-
log zur Rhetorik der Werbung, den Grund für diese Umwandlung an. In die Textur der
collagierten Farbkopien des Hintergrundes ist nun eine zweite temporale Relation ein-
gewebt: neben dem linken Kopf sehen wir ein kleines Rechteck mit der Beschriftung
BEFORE, rechts unten neben dem Seifenstück und in der rechten oberen Bildecke ist ein
weiteres Rechteck mit SOFTEN THE ERASER bezeichnet. Unmittelbar daneben wird
durch AFTER KNEADING ein zerkneteter Radiergummi denotiert. Das buchstäbliche
"Abradieren" der schwarzen Hautfarbe durch die Seife wird so durch die Formverände-
511 Pieterse, 195; Massing, 185.512 Pieterse, 198.513 Siehe Jordan, 512-541.
143
rung des Radiergummis kommentiert. Am Ende des Bildtextes steht das Verschwinden
des schwarzen Körpers: VANISHING PT. ersetzt die Signatur, das "Andere" geht durch
das Weißwaschen im "Gleichen" auf.
Auch in der Zeichnung Untitled von 1982 (Abb. 6.81) verweist Basquiat subtil auf die
Ambivalenz von Möglichkeit und Unmöglichkeit des "Ausradierens" der schwarzen
Hautfarbe. Während die Rekurrenz von ERASABLE© im weißen Bildfeld die Möglich-
keit des "Ausradierens" der Hautfarbe betont, konnotiert der Leopard in der Bildmitte
eine alttestamentarische Bibelstelle, die laut Pieterse den Referenztext für die Darstellung
der Unmöglichkeit in den niederländischen Emblembüchern des 17. Jahrhunderts bildet:
"Kann etwa ein Mohr seine Haut wandeln oder ein Panther seine Flecken? So wenig
könnt ihr Gutes tun, die ihr ans Böse gewöhnt seid".514 Mit dem auf den Körper des
Leoparden geschriebenen Wort LIGHT aber scheint das Unmögliche möglich geworden
zu sein: Der Leopard kann seine Flecken aufhellen, der Schwarze seine Haut. Auch die
Seifenwerbung griff diesen Bibelspruch auf und versprach, mit ihrer Seife den Leoparden
weißzuwaschen (Abb. 6.82).
Untitled (Rinso) von 1982 (Abb. 3.6) schließlich handelt als ein Schlüsselwerk von den
weißen Projektionen auf die schwarze Haut. In ihm vereinen sich zwei thematische
Stränge von Basquiats Arbeiten: das Motiv der stereotypen Darstellung des afro-ameri-
kanischen Entertainers als "Fool" und der Versuch einer "denigrification" durch das Wa-
schen der schwarzen Haut mit Seife. Denn 1950 RINSO: THE GREATEST
DEVELOPMENT IN SOAP HISTORY rekurriert auf die Waschmittelmarke Rinso, die
mit dem laut Marshall als rassistisch empfundenen Slogan WHITEWASHING ACTION
für strahlend weiße Wäsche warb.515 Der Topos des Weißwaschens wird hier mit dem
durch die "Amos n' Andy Show" verkörperten des Schwarzschminkens verbunden. Bas-
quiat weist zudem noch auf einen direkten Zusammenhang zwischen der Waschmittel-
marke und der Fernsehserie hin: die "Amos 'n' Andy" Radiohörspiele wurden nämlich in
den Vierziger Jahren von "Rinso Laundry Detergent" gesponsort.516
514 Jeremia 13, 23; Pieterse, 195.515 Pieterse, 21.516 Ely, 198.
144
6.4 Basquiats Gegenlesen der amerikanischen Populärkultur
..., we shouldn't overlook the fact that Basquiat, like Rauschenberg and Warhol, hisbrothers in canvas-bound iconoclasm, made paintings that were unrepentantly aboutAmerican culture.517
Whereas Warhol made facsimile sculptures of Brillo soap-pad boxes, Basquiat'sbrand of soap, RINSO, had pointed racial implications, being noted for itsWHITEWASHING ACTION.518
Basquiats Bildvokabular ist keine direkte Fortsetzung der Pop Art von Andy Warhol und
Robert Rauschenberg, sondern, vor dem Hintergrund der oben geschilderten Auswir-
kungen der amerikanischen Populärkultur auf das Bild des Afro-Amerikaners, ein kriti-
sches Gegenlesen derselben. Diese Kritik der amerikanischen "Consumerculture" steht in
der Tradition der Kunst des Black Arts Movements der Sechziger Jahre, das parallel zu
Andy Warhols apolitischer Kunst eine äußerst politische afro-amerikanische Pop Art
produzierte. So sammelte Betye Saar Stereotypen der Werbung wie "Aunt Jemina",
"Darkie Toothpaste", "Black Crow Licorice" und "Old Black Joe Butter Beans" und
dekonstruierte sie in ihren Arbeiten. In "The Liberation of Aunt Jemima" von 1972
(Abb. 6.83) wandelt sie "Aunt Jemima", den Stereotyp der amerikanischen Pfannku-
chenwerbung, in eine bewaffnete Kämpferin der Black Liberation um.
Basquiats Aufzeigen des impliziten Rassismus in der amerikanischen Werbung anhand
von "Rinso" und "Darkie" wurde bereits ausführlich beschrieben. Sein kritisches künst-
lerisches Verhältnis zu seinem "Mentor" Andy Warhol läßt sich an seiner Verwendung
von Elementen der "Consumerculture" ablesen. In vielen Arbeiten spielt Basquiat direkt
auf die frühen Arbeiten Warhols an, die Produkte der Kosmetikindustrie zeigen. Wäh-
rend Warhols obsessive Beschäftigung mit Mitteln zur Verschönerung in den Sechziger
Jahren gemeinhin seinem Häßlichkeitskomplex zugeschrieben wird, ist Basquiats Auf-
greifen dieser Produkte im Kontext der "denigrification" der Afro-Amerikaner zu lesen.
Untitled (Soap) von 1983/84 (Abb 6.80) bezieht sich auf Warhols frühe Arbeiten zum
Thema "Before-After". In dem Cover einer Werbebroschüre für "The Upjohn Company"
von 1952 wirbt er mit "... before surgery and after ..." für deren Schönheitsoperationen
(Abb. 6.85); in "Before and After 3" (Abb. 6.86) von 1962 übernimmt er das Thema der
Schönheitsoperation und zeigt eine "cäsarische" Nase vor und nach der Operation zu
einer kleinen Stupsnase.519 Mit den in Untitled (Soap) von 1983/84 (Abb. 6.80) im
517 Tate, 238.518 Marshall, 21.519 Siehe dazu auch das Kapitel 6.7 Anatomische Profilvergleiche: "Cäsar" vs. "The Negro".
145
Hintergrundstext versteckten Worten BEFORE und AFTER KNEADING neben der
Zeichnung eines Radiergummies (SOFTEN THE ERASER) spielt Basquiat auf diese
Arbeiten Warhols an. Während der Radiergummi BEFORE ein Reckteck ist, ist er
AFTER KNEADING ein unförmiger Klumpen. BEFORE und AFTER KNEADING
verweisen aber, wie bereits oben gezeigt, auf die Rhetorik der Seifenwerbung: vor dem
Waschen schwarz, danach (fast) weiß, worauf der Kreislauf der beiden schwarzen Ge-
sichter anspielt. Basquiat übernimmt hier Warhols Thematisierung der Schönheitsopera-
tionen und verwendet diese im Kontext der "Schönheitsbestrebungen" der Afro-
Amerikaner.
In der Zeichnung Untitled von 1986 (Abb. 6.87) bezieht sich Basquiat auf zwei Ebenen
auf Andy Warhols frühe Zeichnungen. Die Strichführung in Untitled zitiert die von
Zeichnungen Warhols wie "Strong Arms and Broads" von 1960 (Abb. 6.88) oder "Bald"
von 1960 (Abb. 6.89). Basquiats Übernahme von TRICKBLACK SOAP, einer rassisti-
schen Werbung aus Comicheften, spielt jedoch direkt auf Warhols frühe Vorlagen an
(Abb. 6.87a). Der durchgestrichene Text ORDINARY LOOKING PIECE OF SOAP.
VICTIM WASHES FACES AND GETS BLACKER AND BLACKER WHEN HE
GETS A LOOK IN THE MIRROR HE'LL BE SHOCKED HARMLESS© verweist auf
die rassistische Konditionierung der Jugendlichen beim Lesen von Comicheften. Andy
Warhol hat für seine Zeichnungen der Sechziger Jahre, wie bspw. "Wigs" von 1960,
solche Anzeigen in Comicheften als Vorlagen verwendet (Abb. 6.90).
Auch die von Andy Warhol heroisierten Comicfiguren Superman und Popeye situiert
Basquiat in seinem eigenen kulturellen Kontext (Abb. 6.91, 6.92). So wird bei Basquiat
in der Zeichnung Ascent von 1982/83 (Abb. 2.12) aus Superman der westafrikani-
sche/haitianische Schlangengott Da/Dambala, während Popeye und seine Spinatdose in
Jesse von 1982/83 (Abb. 3.1) zu einem Synomym von Jesse Owens und seiner angebli-
chen Wunderwaffe werden.520 Aus dem Comichelden Flash macht Basquiat in Flash in
Naples von 1983 (Abb. 4.48) den westafrikanischen/ karibischen Donnergott Shango
und aus der Zeichentrickfigur Bugs Bunny in Untitled von 1984 (Abb. 4.60) den west-
afrikanischen/ amerikanischen Tricksterhasen Brer' Rabbit. Die Künstler des Black Arts
Movement kritisierten in den Sechziger Jahren jedoch nicht nur die amerikanische Po-
pulärkultur, die das Bild eines minderwertigen Schwarzen im Bewußtsein der Amerika-
ner etabliert, sondern auch den Staat, der Schuld an dem institutionalisierten Rassismus
der Vereinigten Staaten hat. So wird die amerikanische Flagge, die für Jasper Johns in
den Fünfziger Jahren ein "neutrales" ästhetisches Objekt war, in den Sechziger Jahren für 520 Siehe dazu auch das Kapitel 5.9 Afro-amerikanische Sportler als Volkshelden.
146
afro-amerikanische Künstler wie David Hammons, Dana Chandler oder Faith Ringold
zum Ausgangspunkt einer politischen Kritik (Abb. 6.93).521 In einer Fortsetzung dieser
Kritik dekonstruiert Basquiat das auf die amerikanischen Fünf-Cent-Münzen gedruckte
E PLURIBUS UNUM, das heute zum Motto des amerikanischen Multikulturalismus
geworden ist (Abb. 4.67, 5.16). Dieselbe Dekonstruktion betreibt er mit der Wiederho-
lung des auf die Fünfundzwanzig-Cent-Münze gedruckten Wortes LIBERTY©, das den
Leser fragen läßt, wessen Freiheit damit eigentlich gemeint ist (Abb. 4.67).522 Während
Andy Warhol Anfang der Sechziger Jahre Dollarscheine als das zeichnet, was sie sind
(Abb. 6.94), löst Basquiat in seinen Arbeiten die einzelnen Elemente des Dollarscheins
auf, verstreut sie als Leitmotive über sein Werk und unterzieht sie durch die Wiederho-
lungen einer kritischen Lesart. In Tuxedo von 1983 (Abb. 4.32a) verwendet Basquiat im
oberen Bildfeld einzelne Elemente einer Dollarnote (Pyramide, THE GREAT SEAL)
und der Fünf-Cent-Münze (MONTICELLO).523 Viele Afro-Amerikaner fragen sich,
warum auf der Dollarnote eine ägyptische Pyramide abgebildet ist. Die Antwort extre-
mer Afrozentriker wie Suzar besagt, daß die Vereinigten Staaten auf schwarzem ägypti-
schen freimaurerischem Wissen aufgebaut sind. So seien nicht nur die Dollarnoten mit
freimaurerischen Symbolen versehen, sondern waren auch die ersten Präsidenten Frei-
mauer und ist das Symbol Washington ein ägyptischer Obelisk.524 Basquiat spielt durch
seine Wiederholungen einzelner Fragmente von Dollarnote und Centmünzen in Tuxedo
(Abb. 4.32a), Liberty (Abb. 4.67) und Monticello (Abb. 5.16) auf diese populäre afro-
zentrische Lesart an, ohne dazu jedoch explizit Stellung zu nehmen.
6.5 Der Topos der Anatomie und die Geschichte des wissenschaftlichen Rassismus
Die Präsenz der anatomischen Zeichnungen des menschlichen Körpers in Basquiats Ar-
beiten hat die Literatur bislang zu Erklärungsversuchen genötigt, die fast alle auf der
Rückführung auf ein traumatisches Kindheitserlebnis Basquiats basieren:
He had received a copy of Gray's Anatomy from his mother in 1968 while in thehospital recuperating from surgery, and it seems to have triggered a lifelong in-terest in anatomy.525
521 Fine, 200f; Lewis, 148-153.522 Siehe dazu das Kapitel 5.3 Liberty?.523 Zur Bedeutung von Thomas Jeffersons Wohnsitz Monticello in Basquiats Arbeiten siehe das Kapitel5.3 Liberty?.524 Suzar, o.S.525 Marshall, 23.
147
Selbst Thompson, der so viel zur Klärung der afro-atlantischen Thematik in Basquiats
Werk beigetragen hat, ist einer Art weißem Verdrängungsmechanismus verfallen, wenn
er schreibt:
In march 1987 I asked Jean-Michel if he thought Gray's text helped heal, im-mersing his consciousness in drawings and names of the working parts of thehuman body. He answered: sounds true.[...] Basquiat knew that the surgeon'sknowledge of the totality of his body lay behind the sucessful completion of theoperation. Out of trauma, ... emerged an artist's connection to texts and drawingsof anatomy. [...] Basquiat's essays in anatomy, in their jazz-riff manner of ex-position, are style and content in service to healing and heroic scale.526
Die Uneindeutigkeit von Basquiats Antwort und Thompsons darauf basierende Inter-
pretation steht exemplarisch für Basquiats Methode, nicht explizit "anzuprangern", son-
dern erst durch den Subtext, durch die versteckten Referenzen über seine Erfahrung als
Afro-Amerikaner in Amerika zu sprechen.527 Der Hinweis auf die Repräsentationspro-
blematik der Afro-Amerikaner wird in Basquiats Arbeiten immer erst durch den Bild-
kontext oder die auffällige Rekurrenz eines Motivs innerhalb des Werks gegeben. Diese
Strategie des Auslassens, der "empty intervalls between the articulated forms", sieht
Dick Hebdige in der "unspeakability of the African-American experiences" begründet.528
Daß die fragmentarisierten anatomisierten Körper in Basquiats Werk eine Bedeutung
haben, die jenseits der biographischen Erklärung und dem lapidaren Hinweis darauf, daß
sich schließlich alle Künstler mit Anatomie beschäftigen liegt, das betonen bislang nur die
Afro-Amerikaner Greg Tate und bell hooks sowie der Engländer Hebdige.529 Für sie ist
der unvollständige, deformierte schwarze Körper in Basquiats Arbeiten das Resultat und
Zeichen der "Black male body's history as property, pulverized meat, and popular enter-
tainment", das den Betrachter daran erinnert, daß "lynchings and minstrelsy still vie in
the white suprematistic imagination for the Black male body's proper place".530
Die Unaussprechlichkeit der "black experience" führt jedoch bei den genannten Autoren
dazu, daß sie zwar die thematische Richtung weisen, sie aber nicht anhand einzelner Bil-
dinterpretationen aufzeigen. Im folgenden wird daher zu zeigen sein, daß neben dem
526 Thompson In: Marshall, 29.527 Basquiat war nicht daran gelegen, die Inhalte seiner Arbeiten zu erklären. In den wenigen Selbst-aussagen trägt er vielmehr zu den "Fehlinterpretationen" seiner Arbeit bei. So antwortet er in einem1983 auf Video aufgezeichneten Interview auf die Frage, warum er anatomische Zeichnungen verwen-den würde, lapidar: "Cause I felt like it" und auf die Frage, warum er Leonardo da Vinci zitiere: "Causehe's my favourite artist" (Tschinkel).528 Hebdige In: Marshall, 66.529 So die Erklärung im Beiheft An introduction for students zu Marshall.530 Tate, 238.
148
deformierten schwarzen auch der anatomisierte weiße Körper, wie er von der Literatur
bislang als einfache Übernahme aus Anatomiebüchern verstanden wurde, als ein ver-
steckter Hinweis auf die rassistischen "De-Konstruktionen" des Schwarzen fungiert. Ein
kurzer Überblick über die Geschichte der europäischen Anatomisierung des schwarzen
Körpers und ihren fatalen Folgen soll das Verständnis der Bildlektüren erleichtern und
Basquiats Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Ursprüngen der heutigen ras-
sistischen Vorurteile gegenüber Schwarzen aufzeigen. Frantz Fanon beschreibt ex-
emplarisch das Gefühl, sich als Schwarzer permanent durch den Filter eines weißen
Blicks sehen zu müssen:
I discovered my blackness, ... and made myself an object. What else could it befor me but an amputation, an excision, a hemorrhage that spattered my wholebody with black blood? [...] My body was given back to me sprawled out, dis-torted, recolored [...] The Negro is an animal, the Negro is bad, the Negro is me-an, the Negro is ugly [...]. The Negro is in every sense a victim of white civili-zation.531
Diese von Fanon aufgezählten Attribute des Schwarzen sind jedoch nicht nur rassistische
Vorurteile, sondern wurzeln sowohl tief im christlichen Denken, als auch in den äs-
thetischen und wissenschaftlichen Postulaten des 18. Jahrhunderts. Der europäische
Blick auf den Schwarzen ist seitdem ein primär wissenschaftlicher, der laut Peter Martin
die in der klassizistischen Ästhetik entworfene Typologie des Häßlichen und Schönen
bestätigte.532
Durch die wissenschaftliche Untersuchung der physiognomischen und anatomischen Be-
sonderheiten des Schwarzen suchte man im 18. Jahrhundert Aufschlüsse über dessen
Stellung innerhalb der Gattung Mensch. Dieser wissenschaftliche Diskurs basierte auf
den Theorien des Mono- und Polygenismus, die beide die Inferiorität der schwarzen
Rasse als gegeben voraussetzten.533 Für die Monogenisten war die schwarze Hautfarbe
eine pathologische Veränderung einer ehemals weißen Haut, die auf einem biblischen
Fluch basierte und somit zum Zeichen einer Art kollektiven Erbsünde der Schwarzen
wurde.534 Die Polygenisten hingegen waren von dem Tierstatus der Schwarzen über-
531 Fanon, 122, 192.532 Martin, 18.533 Zu den Theorien des Poly- und Monogenismus im 18. Jahrhundert und deren Instrumentalisierungfür und wider die Sklaverei siehe Jordan, 234-259; Frederickson, 71-96; Pieterse, 34-51; Bitterli, 327-342; Martin, 195-231, Diedrich, 86-100.534 Zum einen der Fluch Noahs über seinen Sohn Ham "Du sollst Knecht aller Knechte sein", wobei dieHamiten mit den Afrikanern gleichgesetzt wurden; zum anderen das Kainsmal, das als schwarze Hautinterpretiert wurde.
149
zeugt, die Gott vor Adam und Eva (Präadamiten) am sechsten Schöpfungstag zusammen
mit den Tieren geschaffen hätte. Während die Polygenisten die Schwarzen also auf der
Stufe der Tiere fixierten, war im monogenistischen Konzept zumindest die Möglichkeit
einer Entwicklung zu einer höheren Zivilisationsform und damit einer Befreiung von der
Sünde gegeben.535 Beide Theorien wurden in den Vereinigten Staaten als Legitimation
der Sklaverei benutzt, wobei sich die These der Polygenisten natürlich als brauchbarer
erwies.
Die vergleichende Anthropologie und klassifizierende Rassenkunde Europas, die mit ei-
ner Flut von Publikationen über anatomische Untersuchungen von Schwarzen den wis-
senschaftlichen Diskurs gegen Ende des 18. Jahrhunderts bestimmte, übernahm die von
Carl Linnée in dessen Systema Naturae gelegten Grundlagen einer horizontalen Klassifi-
zierung und funktionierte sie in die hierarchische Gliederung der "Großen Lebenskette"
um. Innerhalb dieser stufenartigen Gliederung der Welt von den Mineralien bis hin zu
den Menschen wurde die Suche nach den Zwischengliedern von Pflanze und Tier und
von Tier und Mensch zum zentralen Thema, ihre Beantwortung zur wissenschaftlichen
Bestätigung der angenommenen Inferiorität der Afrikaner. Carl Linée nimmt innerhalb
seiner Klassifikation der Natur eine Einteilung der verschiedenen Arten des "Homo sa-
piens" vor. Exemplarisch ist bei diesem Begründer der wissenschaflichen Systematisie-
rung die Vermischung von mythischem und wissenschaftlichen Denken, die die ganze
anthropologische Diskussion über die Natur des Schwarzen im 18. und 19. Jahrhundert
prägte und letztendlich zu den bis heute vorherrschenden rassistischen Vorstellungen
führt. Unter die menschliche Gattung der "monstrae" reiht Linée die afrikanischen Hot-
tentotten ein. In Antike und Mittelalter im Wald lebende mythische Mischwesen wie
Satyr, Faun, Zentaurus und der Wilde Mann werden nun zu echten Menschen, die im
Dschungel Afrikas leben. Die in den wissenschaflichen Publikationen dieser Zeit alternie-
rend für Affen oder Afrikaner verwandte Bezeichnung des "Homo Sylvestris" zeugt von
dieser Überlagerung der Vorstellungen, der Waldmensch avancierte zum "missing link"
der "Großen Seinskette".536
Durch die vergleichende Anatomie zwischen Affe und Mensch und zwischen den ver-
schiedenen Menschenrassen, namentlich der Afrikaner und der Europäer, wurde die ge-
naue Reihenfolge der Rassen in der "Stufenleiter des Lebens" konstruiert. Man verstän-
digte sich darauf, im Hottentotten, dem in Südafrika als ersten entdeckten Eingeborenen, 535 In diesem Kontext sind die im 18. Jahrhundert populären Erklärungen der schwarzen Haut als einerLepraerkrankung sowie die zahlreichen wissenschaftlichen Versuche einer "Denigrification" der Hautzu verstehen (siehe Fanon, 111f; Martin, 277-290, Mann, 169-188).536 Pieterse, 41.
150
der im ästhetischen Diskurs schon lange das Sinnbild des Häßlichen war, das fehlende
Glied zu sehen.537 Für Jordan steht Charles White (1728-1813) stellvertretend für diese
vergleichenden anatomischen Untersuchungen und ihre fatalen Folgen.538 Der über-
zeugte Polygenist White schrieb eine besonders in den Vereinigten Staaten sehr populäre
Abhandlung, in der er die Affenähnlichkeit der Schwarzen neben einer Reihe eher sekun-
därer Merkmale vor allem anhand ihrer besonders langen Arme sowie ihres übergroßen
Penis bewiesen haben will. White greift den alten Mythos der "Geilheit" der Paviane auf,
der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu dem wissenschaftlichen Credo entwickelte,
daß Großaffen mit Afrikanerinnen sexuell verkehrten und daraus die als "missing link"
betrachteten Mischwesen - die Afrikaner - entstünden. Die Übertragung dieser Hyperse-
xualität des Affen auf den Afrikaner und deren anatomische Beweise durch die in jedem
anatomischen Institut Europas aufbewahrten präparierten Penise konstruierten den
Schwarzen als Gegenbild der europäischen Bürgertugenden. Seine animalische Sexuali-
tät mußte folglich kontrolliert und eingeschränkt werden. Die Folgen dieser Gleichset-
zung sind in Europa an den physiognomischen Rückschlüssen der Kriminalanthropologie
Cesare Lombrosos (dicke Lippen, große Zähne wie die des Gorillas, flache Füße wie die
des Negers lassen auf einen Vergewaltiger oder Mörder schließen) und in den Verglei-
chen der Hottentottenvenus mit der Physiognomie von Prostituierten abzulesen.539
Entsprach in Europa das Bild des Schwarzen also der untersten moralischen Stufe der
weißen Menschheit, so wurden in den Vereinigten Staaten während der "Reconstruction
Era" solche physiognomischen Erkenntnisse als Beweis der naturellen Kriminalität der
freien Schwarzen benutzt. Das Gegenbild des lächelnden, glücklichen desexualisierten
Sklaven "Sambo" war der "brute nigger". Der Zwillingsmythos vom "black beast" und
der "white goddess" legitimierte ein ganzes System rassischer Unterdrückung, das in den
Lynchmorden Ende des 19. Jahrhunderts gipfelte. Die Angst, daß der freie Schwarze
nach der Erlangung der politischen Rechte nun auch das Recht auf die weiße Frau for-
dern könnte, wurde, so George M. Frederickson, zum Feindbild aufgebaut.540 In Dixons
Roman The Klansman (1905) und dessen Verfilmung durch Griffiths Birth of a Nation
(1915) bildet die Vergewaltigung einer weißen Frau durch einen freien Schwarzen den
Ausgangspunkt für die Entstehung des Ku Klux Klans und dessen Forderung nach Ent-
zug der Bürgerrechte der Afro-Amerikaner und Rassentrennung. Diese letztendlich auf 537 Pieterse, 41.538 Jordan, 238, 298-502. Jordans 1968 publiziertes Buch White over Black. American Attitudes Towardthe Negro, 1550-1812 ist das Standardwerk zu der historischen Konstruktion des Schwarzen als dem"Anderen". Es ist anzunehmen, daß Basquiat seine Kenntnis über die anatomischen Dekonstruktionendes Schwarzen zum Teil aus diesem Buch bezog.539 Pieterse, 180f; siehe dazu das Kapitel 6.6.2 Die Hottentottenvenus.540 Frederickson: "The Negro as Beast. Southern Negrophobia at the Turn of the Century", 256-282.
151
dem Vergleich mit der Sexualität des Affen basierende Legitimation des Ausgrenzens
und Mordens der Afro-Amerikaner wird in dem Film King Kong und die weiße Frau
(1933) wieder an den Ursprung des Mythos zurückgeführt. Das Monster King Kong,
das zusammen mit den Dinosauriern und den Eingeborenen ein Leben auf der frühesten
Evolutionsstufe repräsentiert, fordert ein Frauenopfer. Mit der Zivilisation konfrontiert,
zieht es die "Schönheit" (so der O-Ton) der schwarzen Jungfrau vor und wird für seine
sexuelle Begierde nach der weißen Frau mit dem Tod bestraft!
An den folgenden Bildbeispielen kann Basquiats Thematisierung der Ursprünge und Fol-
gen der vergleichenden Anatomie, die Pieterse die "prehistory of racial thinking in na-
tural history" nennt, abgelesen werden.541
6.5.1 Bildlektüre: "Leonardo da Vinci's Greatest Hits"
Marshall zufolge hat Basquiat als Quellen für seine anatomischen Zitate neben Paul
Richters Artistic Anatomy und Gray's Anatomy auch einen Prachtband über Leonardo
Da Vinci von 1966 verwendet.542 Direkte Leonardo-Zitate finden sich, so Marshall, in
den Arbeiten Leonardo da Vinci's Greatest Hits, 1983 (Abb. 6.97); Untitled , 1983
(Abb. 6.126); Untitled , 1987 und Riding with Death, 1988.543 Die Frage, in welchem
Zusammenhang die Übernahmen der Zeichnungen Leonardo da Vincis stehen könnten,
wurde von der Literatur bislang nicht gestellt, obwohl bereits Enrique Hauser weitere
Bezugnahmen Basquiats durch vergleichendes Bildmaterial geklärt, aber nicht interpre-
tiert hat.544 Basquiat hat die Arbeiten Leonardo Da Vincis jedoch nicht aus einer reinen
Bewunderung an dessen obsessiven Zeichnungen - wie es Marshall vermutet - zitiert,
sondern rekurriert mit ihnen auf die Wirkungsgeschichte von Leonardo da Vincis ver-
gleichenden anatomischen und physiognomischen Studien, in deren Verlauf der Schwar-
ze als Gegenbild des Ideals des Schönen, Guten und Wahren konstruiert wurde. 541 Pieterse, 43.542 Marshall, 23. Diese Angabe Marshalls bezieht sich auf Hauser 1990, der als primäre Quelle fürBasquiats Zitate Leonardo da Vinci, publiziert von Reynold & Company, New York 1957 (Nachdruck1967) nachgewiesen hat. Dieser Band ist die amerikanische Ausgabe der großen Leonardo-Monographie, die anläßlich einer Ausstellung 1939 in Mailand verfaßt, aber erst nach dem Krieg ge-druckt wurde. Diese Ausgabe ist mit der hier im folgenden verwendeten deutschen Ausgabe Leonardo1955 identisch. Beide Ausgaben sind laut Hauser 1990, 96, FN 13 wissenschaftlich jedoch längst über-holt.543 Abb. siehe Marshall, 220, 231. Die Marshall jedoch nur für Untitled und Riding with Death mitBildvergleichen belegt. Bei Leonardo da Vinci's Greatest Hits und Untitled folgert er nur durch dieAngabe des Bildtitels (bei letzterem des bildinternen Titels) auf Leonardo-Zitate.544 Hauser weist Übernahmen aus Leonardos Trattato della pittura, von technischen Zeichnungen undder "Madonna Litta" nach.
152
Die in Leonardo da Vinci's Greatest Hits von 1983 (Abb. 6.97) aufcollagierte rötlich
gefärbte Farbkopie mit der Darstellung des Hinterbeins eines unbestimmbaren Tieres mit
Schwanz und der eines männlichen Rückenaktes mit der denotativen Beschriftung
STUDIES OF HUMAN LEG PLUS THE BONE OF THE LEG IN MAN AND
DOG©, STUDYS OF HUMAN LEG PLUS BONE OF LEG HUMAN AND DOG. und
BAD FOOT ist ein Zitat einer Zeichnung Leonardo da Vincis von ca. 1506 (Abb. 6.98),
auf der dieser die Anatomie eines Pferdebeins mit dem eines menschlichen Beins ver-
gleicht. Basquiat hält sich in der rötlichen Farbgebung an die Vorlage, wählt jedoch nur
zwei der insgesamt sechs Bildelemente der Zeichnung Leonardo da Vincis aus. Seine
Beschriftung ....MAN AND DOG© anstelle von "man and horse" lenkt zudem von der
ursprünglichen Quelle ab.
Leonardo Da Vinci gilt durch seine Anatomiestudien von Pferd und Mensch als der
Vorläufer der vergleichenden Anatomie.545 Während Leonardo da Vinci lediglich an der
Untersuchung der Funktion des Bewegungsapparates von Mensch und Tier interessiert
war, wollte die vergleichende Anatomie des 18. Jahrhunderts durch solche Vergleiche
die gattungsdifferenzierenden bzw. übergreifenden Merkmale feststellen. Leonardo da
Vinci kommentiert seinen anatomischen Vergleich von Pferde- und Menschenbein auf
der Zeichnung wie folgt: "Die Ähnlichkeit, die die Gestalt der Knochen und Muskeln der
Tiere mit denen der Menschen haben".546 Eben diese frappierende Ähnlichkeit findet sich
in einem von Basquiat nicht zitierten Bildelement eines Mensch/Pferdebeins derselben
Zeichnung (Abb. 6.99). Die eigentümliche anatomische Darstellungsart des Beines gab
der Forschung dazu Anlaß, von einer "Phantasiefusion" zwischen Mensch und Tier zu
sprechen.547 In der vergleichenden Anatomie des 18. Jahrhunderts hat diese von Leonar-
do da Vinci erstmals aufgezeigte Ähnlichkeit von menschlicher und tierischer Anatomie
jedoch enorme Folgen für die Einordnung des Afrikaners in die "große Stufenleiter des
Lebens" gehabt, denn die jeweilige Forschungsmeinung über den Grad der Ähnlichkeit
machte den Schwarzen alternierend zum Tier oder zum Mensch, legitimierte die Sklave-
rei oder nahm ihn als ebenbürtiges Mitglied in die Gattung Mensch auf. Dieses auf die
Folgen der vergleichenden Anatomie verweisende Bildelement der Leonardo-Zeichnung
ist in dem Prachtband über Leonardo da Vinci, aus dem Basquiat nachweislich zitiert
hat, prominent dargestellt (Abb. 6.99); der von Basquiat zitierte männliche Rückenakt
545 Leonardo 1955, 389; Keele In: Baur, 30.546 Leonardo 1955, 393.547 Als eine solche wird das Bein in Baur, 274 kommentarlos bezeichnet. Das Standardwerk zu denZeichnungen in Windsor von Clark, Nr. 12625 (allerdings von 1969) führt dieses jedoch als menschli-ches Bein auf.
153
fehlt jedoch auf dieser Darstellung. Neben dieser Zeichung ist eine Zeichnung Leonardo
da Vincis mit einem Vergleich zwischen dem Unterarm eines Menschen und eines Affen
abgebildet (Abb. 6.99). Basquiat spielt in Leonardo da Vinci's Greatest Hits durch
eine komplexe Verschiebung des Zitierten also weder auf den Vergleich zwischen MAN
AND DOG©, noch auf den Vergleich zwischen Mensch und Pferd an, sondern auf den
zwischen Mensch und Affe!548 Denn dieser von Leonardo da Vinci gemachte Vergleich
war für die Einordnung des Schwarzen im 18. Jahrhundert äußerst folgenreich: der ame-
rikanische Polygenist Charles White sah nämlich, wie bereits oben gezeigt, im Längen-
verhältnis von Unter- und Oberarm des Schwarzen dessen Affenähnlichkeit und damit
auch seine daraus resultierende biologische Inferiorität und ausufernde Sexualität bewie-
sen.549
Die obere schwarz-blaue Figur in Leonardo da Vinci's Greatest Hits ist ein weiteres
Leonardo-Zitat. Sie bezieht sich auf eine Zeichnung Leonardo da Vincis, die die Vorder-
ansicht eines breitbeinig stehenden Mannes zeigt (Abb. 6.100). Basquiat ergänzt die
"Vorlage" Leonardo da Vincis jedoch um einen schwarzen Kopf, eine blaue schwert-
artige Verlängerung des ausgestreckten Armes sowie um ein blaues "Pferdebein". Die
schwarz-blaue Figur in Leonardo da Vinci's Greatest Hits wird so zu einem Mischwe-
sen zwischen Mensch und Pferd, das auf die verschiedensten Zuschreibungen des
Schwarzen als einem tiergleichen Wesen bezieht. Basquiat verweist durch die beiden
Leonardo-Zitate nicht nur auf Leonardo da Vinci als Vater der vergleichenden Anato-
mie, sondern auch als Vorläufer der Vermischung von wissenschaftlichem Diskurs und
mythologischem Denken. Denn Leonardo da Vinci gibt in seinem Trattato della pittura
in einem "Wie man ein Phantasietier wie ein natürliches Wesen darstellen kann" betitel-
ten Kapitel bereits eine Anleitung zur Konstruktion von Mischwesen zwischen Mensch
und Tier.550 Diese mit Leonardo da Vinci beginnende Überlagerung von wissenschaftli-
cher Forschung und mythologischen Vorstellungen wurde dem Afrikaner im
18. Jahrhundert jedoch zum Verhängnis, denn die vergleichende Anthropologie sah in
ihm, wie bereits oben ausgeführt, den lebenden Beweis der antiken und mittelalterlichen
Fabelwesen. Vor allem aber hat die Übertragung der sexuellen Hyperaktivität des Affen
548 Enrique Hauser hat in seinen beiden Aufsätzen zu Basquiats Beschäftigung mit Leonardo da Vinciein ähnlich kompliziertes Zitierverfahren Basquiats nachgewiesen. Er zeigt auf, daß Basquiat nicht nurElemente aus verschiedenen Blättern Leonardo da Vincis in einem Bild überlagert, sondern auch Bild-unterschriften vertauscht oder Textfragmente aus dem laufenden Text und den Fußnoten der Leonardo-Bücher integriert. Die Zuordnung der so codierten Zitate in Basquiats Arbeiten kann damit allein durchdie meist unmittelbare Nähe der zitierten Zeichnungen (entweder auf einer Seite oder in einem Kapitel)in der Vorlage erfolgen (Hauser 1990, 96)!549 Bitterli, 355.550 Keele In: Baur, 22f.
154
auf den Afrikaner ihren Ursprung in der Konstruktion der Mischwesen von Satyr, Faun
und Teufel als Verkörperungen von Sexualität und Sünde. Mit dem angesetzen blauen
"Pferdefuß" der oberen Figur in Leonardo da Vinci's Greatest Hits spielt Basquiat auf
all diese Konnotationen an.
Die um einiges größer und markanter als in der Zeichnung Leonardo da Vincis gezeich-
neten Genitalien der Figur verweisen auf die Zuschreibungen der weißen Imagination an
die angeblichen sexuellen Fähigkeiten der Schwarzen. Zwei weitere im Bildtext ge-
machte Referenzen an die Sexualität des schwarzen Mannes bestätigen diese Lesart. Der
gekrönte TORSO ist auf seine vergrößerten männlichen Geschlechtsteile reduziert.551
Diese Reduktion des männlichen Körpers auf seine Genitalien bezieht sich auf den ste-
reotypen Mythos des schwarzen Mannes als einem "walking phallus", einem "animalistic
satyr".552
Das zwischen der schwarz-blauen oberen Figur und dem männlichen Torso situierte
PROMETHEUS BOUND verweist auf den griechischen Mythos und die gleichnamige
Tragödie des Aischylos. Prometheus wurde von Hephaistos, der durch sein lahmes Bein
und sein rußverschmiertes schwarzes Gesicht die Verkörperung des Häßlichen schlecht-
hin ist, an einen Felsen des Kaukasus geschmiedet. Das schwarzverschmierte Gesicht der
oberen Figur, die Bezeichnung BAD FOOT im Blatt nebenan, das angesetzte Bein sowie
der Gestus des Armes, der die Hammerbewegung der unteren weißen Figur wiederholt,
lassen die obere Figur somit als Hephaistos lesen. Durch seine Schwärze und seine ver-
meintliche Häßlichkeit kann Hephaistos als eine Repräsentation des Schwarzen interpre-
tiert werden.
In einer in der rechten oberen Bildecke durch die Worte RETURN OF THE
PRODIGAL evozierten christlichen Referenzebene wird durch das schwarze Gesicht
und den Pferdefuß der blau-schwarzen Figur gleichzeitig auch der schwarze Teufel kon-
notiert, denn die Sexualität des schwarzen Mannes war in der weißen Imagination von
Beginn an mit der Sündenhaftigkeit des Teufels verbunden.553 Aber bereits in Aphrodites
Ablehnung ihres häßlichen rußverschmierten schwarzen Gatten Hephaistos ist die Kon-
stellation des "black beasts" und der "white godess" - der komplizierten Beziehung von
schwarzem Mann und weißer Frau in den Vereinigten Staaten - präfiguriert.
551 Auch er ist ein Kunstzitat und bezieht sich sowohl auf Andy Warhols "Torsos" von 1977(Abb. 6.101) als auch auf Robert Motherwells Collage "Pancho Villa Dear and Alive" von 1943 aus derSammlung des Museums of Modern Art in New York (Abb. 6.101a).552 Pieterse, 175.553 Fanon, 180-188.
155
Basquiat hat also mit dem Bildtitel "Leonardo da Vinci's Greatest Hits" und den beiden
Leonardo-Zitaten die wissenschaftlichen Ursprünge des europäischen Rassismus ge-
nannt. Mit der Rekurrenz des "Fußmotivs" (HEEL, BAD FOOT, LEFT FOOT,
[STUDY OF FEET], der Eisenbahnarbeiterfigur, PROMETHEUS BOUND und den
Anagrammen von SLAVE© (SEVLAC/CALVES/SEVLAC/CALVES)554 verweist er
auf das durch den wissenschaftlichen Rassismus des 18. Jahrhunderts legitimierte "An-
gekettetsein" der Schwarzen in der Sklaverei.
Die Figur des weißen Eisenbahnarbeiters im linken unteren Bildteil von Leonardo da
Vinci's Greatest Hits konnotiert sowohl die Schmiedearbeit des Hephaistos als auch die
Beteiligung der Afro-Amerikaner am Verlegen der amerikanischen Eisenbahnen in der
Sklaverei und der anschließenden "Reconstruction Era". Der weiße Eisenbahnarbeiter
verweist auf den schwarzen Sklaven John Henry, einen der bekanntesten afro-amerika-
nischen Volkshelden.555 John Henrys Legende wurzelt im Bau der Chesapeake & Ohio
Railroad in West Virginia in den 1870er Jahren, für die der längste Tunnel in den Verei-
nigten Staaten gegraben wurde. Während der zweijährigen Bauzeit arbeiteten die fast
ausschließlich schwarzen Arbeiter unter infernogleichen Bedingungen; "steel-driver" wie
John Henry hämmerten mit großen Vorschlaghammern Stahl in den Felsen um Löcher zu
schaffen, in die Sprengstoff gelegt wurde.556 Der Legende nach schlägt John Henry im
Wettlauf mit einer Maschine mit eigener Kraft einen Tunnel durch den Berg, kommt
schneller als die Maschine am anderen Ende des Berges an und stirbt vor Erschöp-
fung.557 John Henry ist somit der gute schwarze Held, der durch harte körperliche Arbeit
nicht nur die Weißen, sondern auch deren Maschinen besiegt.558 Er ist Levine zufolge
ebenso wie der Boxer Joe Louis ein schwarzer Volksheld, der die weiße Gesellschaft auf
ihrem eigenen Terrain unter ihren eigenen Regeln besiegt hat. Seit dem Ende des
19. Jahrhunderts bildet er daher ein wichtiges "role model" für die schwarzen Arbeiter,
die ihn in über sechzig bekannten Versionen von "work songs" verehren. John Henry ist
auch ein fester Bestandteil des Bildpersonals der afro-amerikanischen Kunst, so widmet
ihm beispielsweise Palmer Hayden mit "His Hammer in His Hand" (1944-1954) eine
ganze Serie (Abb. 6.102).
554 Auf rötlichem Papier, was ein weiteres, mir jedoch unbekanntes Leonardo-Zitat konnotiert!555 Darauf wies mich die Besitzerin des Bildes, Lenore Schorr, in einem Interview am 26. Oktober 1995in New York hin.556 Levine, 421.557 Williams, Brett, 111.558 Asante, 106.
156
In der Nachfolge von John Henry mußten die Afro-Amerikaner nach der Abschaffung
der Sklaverei als willkürlich Verhaftete in den "chain gangs" der "Reconstruction Era"
und des 20. Jahrhunderts weiter am Bau der Eisenbahnen und später der Straßen mitar-
beiten.559 Auch diese Fortsetzung der Ausbeutung der schwarzen Arbeitskraft ist ein
rekurrentes Motiv in der afro-amerikanischen Kunst. So stellt William H. Johnson in
"Chain Gang" (1939/40) eine Gruppe schwarzer Arbeiter mit Äxten und Schaufeln dar
(Abb 6.103). Auch in der 1986 entstandenen Zeichnung Untitled (Abb. 6.105) und ei-
ner Einladungskarte der Düsseldorfer Galerie Hans Meyer von 1988 (Abb. 6.106) be-
zieht sich Basquiat auf die Ausbeutung der Afro-Amerikaner als (Eisenbahn)-arbeiter in
der Sklaverei und in den "chain gangs". Beide Arbeiterfiguren sind durch ihre dunkle
Hautfarbe nun eindeutig als Afro-Amerikaner gekennzeichnet.
Die Eisenbahnlinie in Leonardo da Vinci's Greatest Hits führt von der weißen Arbei-
terfigur vorbei an dem männlichen Torso, dem "angeketteten" Prometheus und endet in
der Wortreihung LATISSIMUS BORSI, LATISSIMUS, HUESO, HUESO. Das spani-
sche Wort HUESO bringt die in der Sklavenarbeit erfolgte zwangsläufige Anatomisie-
rung des schwarzen Körpers auf den Punkt, denn "hueso" heißt sowohl Knochen als
auch schwere Arbeit und konnotiert den spanischen Ausdruck "darse en los huesos", nur
noch Haut und Knochen sein.560
Die entlang der Schienen aufgereihten drei Figuren von Eisenbahnarbeiter, männlichem
Torso und der oberen blau-schwarzen Figur bilden eine Art geschichtliche Abfolge der
Repräsentation des Schwarzen. Die Figur des oberen Mischwesens/Hephaistos/Teufel
verkörpert die wissenschaftlichen und mythologischen Ursprünge der Konstruktion des
Schwarzen als einem sexualisierten tiergleichem Wesen. Der auf seine Genitalien redu-
zierte Torso bekräfigt diese seit dem 18. Jahrhundert bestehende Repräsentation des
Schwarzen als einem "walking phallus". Der weiße Eisenbahnarbeiter schließlich zeigt,
wohin die Erklärungen des wissenschaftlichen Rassismus geführt haben: zu der Ausbeu-
tung der Arbeitskraft der Schwarzen in der Sklaverei und den "chain gangs". Diese Rei-
hung wird von der Abfolge der drei den Autor im Bild vertretenden Kronen gekreuzt.
Die Kronen reklamieren die darunter stehenden Worte und den schwarzen Fleck in der
rechten unteren Bildecke als Stellvertreter des "Ichs" im Bild. Während die Worte HEEL 559 Wilson/Ferris, 1501.560Auch der durch PROMETHEUS BOUND evozierte Prometheusmythos handelt von Haut und Kno-chen (dem Opferbetrug) und dem Aushungern der Menschen. In der Tragödie des Aischylos wird Zeusals ein despotischer Herrscher, dessen Weltherrschaft allein auf Gewaltausübung basiert, charakterisiert.Eine von Basquiat intentierte Identifizierung der Schwarzen mit dem ersten, von Prometheus geschaffe-nen gebrechlichen Menschengeschlecht, das Zeus durch Aushungern vernichten und durch ein neues,idealeres ersetzten wollte, ist durchaus denkbar.
157
HEEL die bereits oben aufgezeigte Negatividentität des Afro-Amerikaners als dem
"Fußabstreifer" der Gesellschaft konnotieren, verweist TORSO auf die Sexualisierung
des schwarzen Mannes in der amerikanischen Gesellschaft. Der als eine Art Signaturer-
satz funktionierende schwarze Fleck im rechten unteren Bildfeld verkörpert abschlie-
ßend, worum es in Leonardo da Vinci's Greatest Hits eigentlich geht: um die ver-
schiedenen Repräsentationen und geschichtlichen Implikationen der blackness.
6.6 Basquiats Kritik der weißen Repräsentation schwarzer Sexualität
Mit dem auf die männlichen Genitialen reduzierten TORSO und der Überlagerung der
blau-schwarzen Figur mit Hephaistos hat Basquiat in Leonardo da Vinci's Greatest
Hits bereits codiert auf die komplizierte sexuelle Beziehung zwischen schwarzen Män-
nern und weißen Frauen in den Vereinigten Staaten hingewiesen. Der schwarze Mann
wird in dieser Beziehung im extremen Fall zu einem Vergewaltiger, die weiße Frau zu
einer unantastbaren Göttin.
6.6.1 "King Kong und die weiße Frau"
In Untitled (Venus/The Great Circle) von 1983 (Abb. 6.107) verweist die Gegenüber-
stellung eines Gorillas mit der Beschriftung HONG KONG© und einem strahlend wei-
ßen weiblichen Torso mit dem Titel VENUS auf den Film King Kong und die weiße
Frau und dessen bereits oben beschriebener Bedeutung für die Konstruktion des
schwarzen Mannes als einer übersexualisierten Bestie. King Kong steht im (rassistischen)
amerikanischen Bewußtsein für die Verkörperung des schwarzen Mannes schlechthin.
Das Copyright-Zeichen hinter HONG KONG markiert den Affen als ein Alter ego Bas-
quiats, BAD FOOT© verweist wie schon in Leonardo da Vinci's Greatest Hits auf
den lahmen Fuß als Zeichen von Hinken, Häßlichkeit und Sexualität und damit als Hin-
weis auf Hephaistos und den Teufel.561 Der durch THE GREAT CIRCLE"© denotierte
große Steinkreis von Stonehenge, die Seitenansichten zweier menschlicher Skelette mit
der Darstellung des Steißbeins,562 der JAVAMAN und schließlich der DINOSAUR©
561 Schwarze haben angeblich auch größere und flachere Füße (Fanon, 116), ein weiteres Indiz ihrerAnimalität, was auch die Rekurrenz der Füße (SIZE NINE!) auf Bildern wie Early Moses von 1983erklärt.562 Das ja ein anatomischer "tierischer" Rest im menschlichen Skelett ist! Das rechte collagierte Blattist zudem ebenfalls eine Übernahme von Leonardo da Vincis Mensch-Pferd-Vergleich.
158
werden zusammen mit den beiden King Kong-Gorillas als Zeichen evolutionärer Rück-
ständigkeit mit dem Schönheitsideal westlicher Zivilisation, dem Torso einer Venuss-
kulptur konfrontiert, deren Makellosigkeit Basquiat jedoch ironisch durch die Ansicht
auf ihre Eingeweide demontiert.
Diese in Untitled (Venus/The Great Circle) gemachte Kontrastierung von europäi-
scher Schönheit und schwarzer Häßlichkeit und Sexualität wird von einem faschistischen
italienischen Propagandaplakat illustriert (Abb. 6.108): der unzivilisierte "brute nigger"
raubt die Venus von Milo! Der afro-amerikanische Künstler Bob Thompson hat bereits
1959 in "Beauty and the Beast" (Abb. 6.109) in einer sehr viel offeneren Form als Bas-
quiat auf die komplexe Problematik der interrassischen Beziehungen zwischen schwarz
und weiß in Amerika hingewiesen. In Thompsons Darstellung wird der schwarze Mann
ganz offen zum aggressiven Monster und Vergewaltiger, die weiße Frau zur regungslo-
sen Puppe.563
Bereits in Rape of Roman Torso von 1982 (Abb. 6.110) betont Basquiat durch den
Bildtitel den Zusammenhang von (schwarzem) Vergewaltiger und (weißem) westlichem
Kunstobjekt/Schönheitsideal. Die große rote Hand im unteren Bildteil verschmilzt mit
der schwarzen Farbfläche, die die weiße Venus übermalt, die buchstäbliche blackness
"vergewaltigt" die weiße Frau.
6.6.2 Die "Hottentottenvenus"
Während der anatomisierte und fragmentierte "black male" den Großteil von Basquiats
Bildpersonal bildet, finden sich in seinen Arbeiten nur sehr wenige Darstellungen von
schwarzen Frauen. Basquiat hat jedoch all die Frauen dargestellt, die zu einer Geschichte
der weißen Phantasie einer exzessiven schwarzen weiblichen Sexualität gehören: die
"Hottentottenvenus" des 19. Jahrhunderts, die Magd von Edouard Manets "Olympia"
und Pablo Picassos "afrikanisierte" Demoiselles.
Basquiats Zeichnung Untitled von 1988 (Abb. 6.111) handelt von den anatomischen
Untersuchungen der Hottentottenvenus. Hatte die klassizistische Ästhetik den Schwar-
563 Zu einer Interpretation des Gemäldes siehe Wilson, Judith: "Optical Illusions. Images of Misce-genation in Nineteenth- and Twentieth-Century American Art." American Art. Sommer 1991. Bd. 5.Nr. 3, 99.
159
zen als das häßliche Gegenbild des griechischen Idealkörpers entworfen, so führte man
von der Mitte des 17. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts der interessierten Bevölke-
rung Beispiele solcher die Norm durch ihre Abnormalität bestätigenden häßlichen "Hot-
tentotten" vor. Die öffentliche Zurschaustellung der Hottentottenvenus Saartje Baartman
zu Beginn des 19. Jahrhunderts kann als die Kulmination des Vergleichs zwischen dem
klassizistischen Schönheitsideal des 18. Jahrhunderts und seinem in der negrioden Phy-
siognomie gefundenen Gegenentwurf gelten.
Die Hottentottenvenus wurde von dem französischen Forscher George Cuvier eingehend
vermessen, andere Anatomen wie die Deutschen Hubert Luschka und Johannes Müller
schlossen sich seinen Untersuchungen an (Abb. 6.112, 6.113). Nach Baartmans Tod
1815 wurde ihr Leichnam von Cuvier in Wachs abgedrückt und anschließend seziert, das
Skelett und die in Wachs gegossenen Teile waren noch bis vor kurzen im Pariser Musée
de L`Homme ausgestellt.564 Die Hottentottenvenus ist, so Sander Gilman, die Repräsen-
tation der schwarzen Frau im 19. Jahrhundert schlechthin, ihre physische Erscheinung
markierte exemplarisch die sexuelle Differenz von Europäerinnen und Afrikanerinnen,
ein Unterschied, der nicht nur angenommen, sondern auch "wissenschaftlich" bewiesen
wurde.565 Eine Untersuchung der übergroßen Schamlippen der Hottentottenvenus, die
der französischen Akademie nach ihrem Tod präpariert präsentiert wurden, sollte ihre
primitive Sexualität anatomisch bestätigen. Was in Wirklichkeit eine künstlich erzeugte
Verlängerung der Schamlippen war, die bei dem Stämmen im Basutoland und in Daho-
mey als Schönheitsmerkmal galt, wurde als natürliche Mißbildung, die mit dem Fachter-
minus "Hottentottenschürze" belegt wurde, betrachtet. Ziel dieser Untersuchungen war
es letztendlich, einen so großen Unterschied der Genitalien von Europäerinnen und Afri-
kanerinnen zu beweisen, der die rassistische These der Polygenisten bestätigen konnte,
daß die Schwarzen eine niedrigere, tiergleiche Rasse seien. Aber auch das sekundäre
Merkmal einer animalischen Sexualität, das übergroße Gesäß der Hottentottenvenus, die
sogenannte Steatopygie, wurde als ein primäres interpretiert, die Größe des weiblichen
Beckenknochens zum Maßstab des Vergleiches von höheren und niederen Rassen ge-
macht. So benutzten R. Verneau, Charles Darwin und 1905 noch Havelock Ellis die
großen Beckenknochen der Hottentottin zum Beweis ihrer primitiven Natur.566
564 Martin, 259, 467.565 Gilman, Sander L. "Black Bodies, White Bodies. Toward an Iconography of Female Sexuality inLate Nineteenth-Century Art, Medicine, and Literature In: Gates 1987, 223-261.566 Gilman In: Gates 1987, 235-238. Zu einer "Ikonographie" der Steatopygie im 20. Jahrhundert siehehooks, 61-77.
160
Der große schwarze Fleck in Untitled (Abb. 6.111) ist der Signifikant der blackness, der
Platzhalter des Fremden, das es durch die weißen denotativen wissenschaftlichen Be-
zeichnungen anzueignen gilt. Diese Konstruktion des absolut "Anderen" ist die Hotten-
tottenvenus. Ohne daß sie direkt bezeichnet wäre, enthüllt erst ihr Umfeld den Kontext,
in dem der medizinische Diskurs situiert war. Die Skelette verweisen auf die anatomi-
schen Untersuchungen, die unmittelbare Nähe verschiedener Ansichten eines Becken-
knochens (VISTA DI FIANCO, VISTA DALL` ALTO, VISTA POSTERIOR MENTE)
sowie deren rotfarbige Abstraktionen auf die Instrumentalisierung des Beckens als ein
primäres Merkmal rassischer Inferiorität. Auch auf einem Blatt der Portfolioserie "Ana-
tomy" von 1982 (Untitled (Female Pelvis), Abb. 6.114) findet sich die Ansicht und
Bezeichnung eines Beckenknochens wieder: FEMALE PELVIS BACK VIEW!567
Auf die Untersuchung der Schamlippen der Hottentottenvenus deutet die rechts neben
der Figur situierte Zeichnung einer Blüte mit der Beschriftung TWO LIPPED und zwei
Pfeilen hin.568 Basquiat meidet hier nicht nur einmal wieder das allzu Offensichtliche, er
kommentiert damit auch den Ursprung der klassifizierenden Rassenkunde, das Klassifi-
kationssystem Linées. Im Vordergrund der Linéeschen Systematisierung stand die Be-
schaffenheit der Fortpflanzungsmerkmale. Zahl und Aussehen von Blütenstempeln und
Staubblättern entschieden über die Einordung der jeweiligen Pflanze.569 Obwohl diese
Kriterien nicht unmittelbar auf die rassenvergleichende Anatomie appliziert wurden, war
der Diskurs doch von Anfang an von den Rückschlüssen der anatomischen Merkmale
auf die angebliche Abnormalität der Sexualität der Schwarzen geprägt, was das Beispiel
des Polygenisten White für die männlichen Genitalien gezeigt hat. Die das ganze Blatt
dominierenden Zeichnungen von Pflanzen und niederen Tierarten mit ihren jeweiligen
botanischen und biologischen Termini rekurrieren ebenfalls auf das Klassifikationssystem
Linées als Exemplum europäischer denotatativer Wissensformen und führen es gleich-
zeitig mit der eingeschlichenen Ölsardinenbüchse im rechten unteren Bildfeld ad absur-
dum.
In der zeitgenössischen afro-amerikanischen Kunst haben Renée Green mit "Permitted"
von 1987 (Abb. 6.116) und Lyle Ashton Harris/Renee Cox mit "Venus Hottentot 2000"
567 Diese Serie besteht aus achtzehn Siebdrucken, die in der ursprünglichen Auflage weiß auf schwarzgedruckt sind. In Cheim ( ibid., 89-94) sind acht dieser Drucke in der umgekehrten Farbgebung repro-duziert.568 Die Zeichnung der Blüte ist ein weiteres Kunstzitat und konnotiert Robert Rauschenbergs Collageeiner Blüte in "Hays" von 1973 (Abb. 6.115a).569 Bitterli, 213.
161
von 1994 (Abb. 6.117) die Problematik der Hottentottenvenus für die Geschichte der
weißen Repräsentation schwarzer Sexualität thematisiert.
6.7 Anatomische Profilvergleiche: "Cäsar" vs. "The Negro"
Die Abweichung der negroiden Physiognomie vom westlichen Schönheitskanon wurde
in der Ästhetik und Wissenschaft des 18. Jahrhunderts vor allem in einem Vergleich der
Gesichtszüge zwischen Schwarzen und Weißen verdeutlicht. So schreibt Johann Joachim
Winckelmann:
Die geplätschte Nase ... ist eine Abweichung, denn sie unterbricht die Einheit derFormen (...) Der aufgeworfene schwülstige Mund, welchen die Mohren mit demAffen in ihrem Land gemein haben, ist ein überflüssiges Gewächs.570
Die Physiognomik des 18. Jahrhunderts sah in der Umkehr des ästhetischen Credos vom
Wahren, Schönen und Guten im Häßlichen das moralisch Verwerfliche verkörpert, so
daß der Schwarze nicht allein wegen seiner Hautfarbe, sondern vor allem durch sein
Profil zum Sinnbild des Bösen wurde. Die Grundlagen dieser Gleichsetzung des Häßli-
chen mit der negroiden Physiognomie bilden die grotesken Kopfskizzen Leonardo da
Vincis, die Basquiat in Untitled von 1983 (Abb. 6.126) zitiert.571
Durch die bildinternen Titel LEONARDO'S FIVE UGLY HEADS, LEONARDO'S
FIVE GROTESQUE HEADS© und LEONARDO AND HIS FIVE GROTESQUE
HEAD wird Leonardo da Vincis Zeichnung der "Fünf grotesken Köpfe" (Abb. 6.127)
explizit als Bildvorlage genannt.572 Die fünf Köpfe der Zeichnung Leonardo da Vincis
sind von Basquiat in Untitled zu sieben erweitert worden. Der hintere Kopf der "Fünf
grotesken Köpfe" mit weit aufgerissenem Mund wird in Untitled durch eine lückenhaf-
ten Zahnreihe (PLAGUE TEETH.) und Nasenlöchern (MOSTLY NOSTRILS) zitiert.
Die Zeichnung auf dem türkisfarbenen Hintergrund verdoppelt dieses Gesicht und setzt
570 Martin, 258.571 Bereits in der Zeichnung Wolf Sausage, 1982/83 (Abb. 6.128) zitiert Basquiat die FIVEGROTESQE HEADS/LEONARDO DA VINCI© wörtlich.572 Die wie aufcollagiert wirkenden Farbfelder beziehen sich auf den Kontext, in dem die "Fünf grotes-ken Köpfe" stehen. Sie zählen als das einzig vollständige Blatt zu den fragmentarischen Kopfskizzen,die Leonardo in seine Schriften eher beiläufig hineinkritzelte, und die erst von einem Sammler in einerArt Briefsammlerinstinkt aus den einzelnen Codices herausgeschnitten und neu zusammengestellt wur-den (Clark, Bd.1, xlii). Diese grotesken Köpfe wurden als die ersten Leonardozeichnungen in mehrerenStichfolgen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert reproduziert, das Ziel dieser Publikationen war es lautBaur, einen Kanon des Ideal-Häßlichen vorzulegen (ibid., 79)!
162
es in die Bildmitte. Die prominente Stellung dieses "schreienden" Mundes in Untitled ist
ein Hinweis auf eine weitere Zeichnung Leonardo da Vincis, die in dem Prachtband über
Leonardo da Vinci auf der gegenüberliegenden Seite der "Fünf grotesken Köpfen" abge-
bildet ist. Sie stellt einen Schwarzen mit weit geöffnetem Mund dar (Abb. 6.129). Da die
Reduktion auf die Zähne und die nüsternartigen Nasenlöcher zu den Merkmalen einer
stereotypen animalischen negroiden Physiognomie zählt, kann der "schreiende" Mund in
Untitled als eine negative Repräsentation des Schwarzen gelesen werden.
Die linke Profilansicht von Leonardo da Vincis Zeichnung der "Fünf grotesken Köpfe"
wird in Untitled ebenfalls verdoppelt, die obere rechte frontale Kopfstudie eines alten
Mannes verdreifacht. Wir finden sie an ihrer ursprünglichen Stelle als einen von einem
blauen Farbfeld verdeckten rotbrauen Kopf, als eine auf die Angabe von Augen, Nase
und Mund verkürzte Abbreviatur links daneben und als Frontalansicht im linken unteren
Bildfeld. Von der rechten Profilansicht, die wegen ihrer dicken vorgeschobenen Unter-
lippe in der Literatur meist als "Zigeunerin" bezeichnet wird, übernimmt Basquiat die
Betonung der Unterlippe und fügt eine doppelte Zahnreihe hinzu.573 Der Platz des mit
Lorbeer bekränzten Profilkopfes von Leonardos "Fünf grotesken Köpfen" in dem die
Forschung wahlweise einen Idealtypus oder aber ein Selbstportrait Leonardos sieht, wird
in Untitled von den internen Bildtiteln LEONARDO'S FIVE UGLY HEADS,
LEONARDO'S FIVE GROTESQUE HEADS© und LEONARDO AND HIS FIVE
GROTESQUE HEAD besetzt. Das darunter auf blauem Grund gezeichnete weiße Profil
ist auf das wichtigste Merkmal für die Rezeption dieses Typus in der Wirkunsgge-
schichte von Leonardo da Vincis Zeichnungen reduziert: auf die "Cäsar-Nase".
Zu fragen ist nun, durch welche Profilart das im rechten unteren Bildfeld mit dem Si-
gnaturersatz ALTER EGO beschriftete rosa Farbstück substituiert werden soll. Die dik-
ke vorgeschobene affengleiche Unterlippe des darüberliegenden Profils verweist auf
Leonardos Zeichnungen eines ähnlichen weiblichen Profiltypus. In dem Prachtband über
Leonardo da Vinci ist in einer direkt neben den "Fünf grotesken Köpfen" abgebildeten
Zeichnung das Profil einer häßlichen alten Frau mit fliehender Stirn, platter Nase, großen
Nasenlöchern, dicker Unterlippe und fliehendem Kinn einer Profilreihe von Männern mit
besonders großen "cäsarischen" Hakennasen gegenübergestellt (Abb. 6.129). Diese Ka-
rikaturen Leonardo da Vincis stellen alle ein "affengleiches" Profil einem "römisch-cä-
sarischem" gegenüber. In Leonardos Vergleichen werden beide Profilarten als häßlich
dargestellt; in einer Tradition solcher Gegenüberstellungen vom Klassizismus des
18. Jahrhunderts bis hinein ins 20. Jahrhundert fungieren sie jedoch als Kontrastierung 573 Clark, Bd. 1, 86.
163
des "Idealschönen" mit dem "Idealhäßlichen", des Guten mit dem Bösen. So übernimmt
eine Abbildung in Shuffeldts rassistischen Buch America's Greatest Problem: The Negro
von 1915 genau diese Gegenüberstellung und beschriftet die Profile zusätzlich mit "Ne-
gro Of Congo" und "Cäsar" (Abb. 6.130). Ersetzen wir nun also in Untitled das "Alter
ego" Basquiats mit einem negroiden Profil, sind wir zugleich an die Ursprünge und an
die Folgen des Vergleiches von "cäsarischem" und negroidem Profil zurückgeführt. Bas-
quiat rekurriert durch das Zitieren von Leonardo da Vincis Zeichnung der "Fünf grotes-
ken Köpfe" auf die seit dem 18. Jahrhundert äußerst vorbelastete Darstellung des
Schwarzen im Profil, die im Verlauf der europäischen Konstruktion des "Anderen" nicht
nur als Beweis der ästhetischen, sondern auch der biologischen Minderwertigkeit der
Schwarzen benutzt wurde. Für Johann Kaspar Lavater, der in seinen Physiognomischen
Fragmenten (1775-78) in einer Fortsetzung der antiken Physiognomik von der Anatomie
eines Schädels auf die Charaktereigenschaften des Menschen schloß, sind eine große
Nase das Kennzeichen von Intelligenz, eine kleine hingegen das Merkmal von Dumm-
heit!
Eine weitere Gegenüberstellung von europäiden und negroiden Profil, von Hakennase
und platter Nase findet sich auch in Basquiats ein Jahr früher entstandenen Siebdruckse-
rie "Anatomy". In dem Blatt Untitled (Hyoid Bone) (Abb. 6.131) ist die Seitenansicht
eines Schädels um die charakteristische Cäsar-Nase erweitert, das Kennzeichen der
anatomischen Superiorität kann selbst der Tod nicht tilgen! Umsomehr wird in Untitled
(Styloid Process) (Abb. 6.132) durch die Alliterationen von NASAL NASAL NOTCH
NASAL auf das Fehlen einer großen Nase aufmerksam gemacht und somit eine negroide
Physiognomie evoziert.
In der Zeichnung 50 Cent Piece von 1982/83 (Abb. 6.133) erprobt Basquiat die Fusion
von negroidem und cäsarischem Profil. Der Bildtitel verweist auf die jamaikanische
Fünfzig-Cent-Münze, auf der der Nationalheld Marcus Garvey im 3/4 Profil abgebildet
ist (Abb. 6.134). Das Portrait Garveys und die darüber situierte Beschriftung RT EXC
LL N E sind direkte Übernahmen dieser Münze. Mit der SIDE VIEW OF A FIFTY
CENT PIECE, SIDE VIEW OF MARCUS GARVEY, MARCUS GARVEY© bezeich-
neten Profildarstellung im linken unteren Bildfeld scheint Basquiat zu fragen, was ge-
schieht, wenn man die 3/4 Darstellung der jamaikanischen Münze in ein Profil umwan-
delt. Denn während die braune Hautfarbe, die wulstigen Lippen, die betonten Nasenlö-
cher (NOSTRIL) und der betonte Kiefer (THE JAW©) eine rassistische Repräsentation
des Schwarzen denotieren, erinnern die große Hakennase (die sich in dem Francois Du-
valier zugeordneten Profil in der linken oberen Bildecke wiederholt) zusammen mit der
164
geraden hohen Stirn (FORE HEAD) an ein römisches Profil. Diese Fusion von negro-
iden und "cäsarischen" Gesichtszügen ist als ein Verweis auf die römischen Münzpor-
traits als dem Ursprung des "cäsarischen" Profils zu lesen. Denn während sich die euro-
päische Tradition der Profildarstellungen auf den U.S.-amerikanischen Münzen fortge-
setzt hat, sind sämtliche jamaikanischen Münzportraits im 3/4 Profil gehalten!
Der von der Superiorität der weißen Rasse überzeugte Joseph Virey erweiterte seinen
Thesen über die Nasengröße auch auf Stirn und Kiefer. Zu einer in seiner Histoire natu-
relle du genre humain (1801) abgebildeten Profilreihe (Abb. 6.135) schreibt er:
The more an organ extends, the more powerful and active it becomes; in likemanner, the more it contracts, the more it looses its activity and power (...) Inour white species, the forehead is projecting, and the mouth retreating, as if wewere rather designed to think than to eat; in the negro species, the forehead isretreating, and the mouth is projecting, as if he were made rather to eat than tothink. Such a particularity is much more remarkable in inferior animals .... 574
Diese Annahme Vireys fand durch Petrus Campers (1770-1850) Entdeckung des Ge-
sichtswinkels ihre wissenschaftliche Bestätigung. Camper glaubte durch den Grad des
Gesichtswinkels eine stufenweise Reihung von den Tieren bis hinauf zum schönsten
Menschen aufstellen zu können (Abb. 6.136).575 Der Grad dieses Winkels, der durch
eine Linie von der Stirn zu den Lippen und eine Linie vom Nasenansatz zum Ohr gebil-
det wurde, wurde zum Grad der ästhetischen Vollkommenheit. Campers Entdeckung
war 1850 zu dem am häufigsten benutzen Mittel des "wissenschaftlichen" Beweises der
Superiorität des Europäers geworden.576 Während Camper selbst betonte, daß Schwarze
und Affen nur eine oberflächliche Ähnlichkeit im Hervorstehen ihrer Kiefer hätten, in-
strumentalisierten besonders der amerikanische Polygenist White und der französische
Anatom Cuvier den Gesichtswinkel für ihre rassistischen Thesen.577
Die Rekurrenz des Kiefermotivs in Basquiats Werk und seine Aneignung durch das Co-
pyright-Zeichen beziehen sich auf diese rassistischen Verallgemeinerungen des
19. Jahrhunderts.578 Die Zeichnung Untitled (External Capsule) von 1983
(Abb. 6.137) zeigt, wo den rassistischen Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts zufolge
das Hirn des "Negers" sitzt. Unter der Subüberschrift - CEREBRUM - weist die Dupli- 574 Bugner, 6.1, 18.575 Martin, 269.576 Visser In: Mann, 332.577 Visser In: Mann, 330, 332.578 So z.B. in Untitled (Sea Monster), 1983 (Cheim, Nr. 68), Rose Thorn, 1983 (Marseille, 102), SideView of an Oxens Jaw, 1983 (Haenlein 1986, 68) und Brown Jaw, 1986 (Haenlein 1986, 78).
165
zierung der Worte SUBSTANTIA NIGRA auf einen Unterkiefer hin. Das Wesen des
"Negers" offenbart sich also eben nicht in dem unter einer edel gewölbten Stirn liegenden
denkenden Hirn (CEREBRUM), sondern im Anfang des Verdauungsapparates - das
vegetative Nervensystem wird vom HYPOTHALAMUS gesteuert. Basquiat bezieht sich
hier also auf die von Virey aufgestellte rassistische Behauptung über den Zusammenhang
von Schädelform und Denkvermögen. Vireys populäre These über die kausale Relation
der Größe eines Organs zu seiner Aktivität wurde auf die Relation von Hirn- zu Schä-
delgröße und dem damit verbundenen intellektuellem Leistungsvermögen ausgeweitet.
Für den deutschen Anatom Sömmering war die Schönheit eines Kopfes folglich abhängig
von seinem Gehirnvolumen, und auch Herder sah in der griechischen Form des Kopfes
das Indiz eines freien Gehirns.579 Hinter der fliehenden Stirn und dem kleinen Hinterkopf
des Schwarzen konnte sich, so die allgemeine Annahme, folglich nur ein kleines Hirn
verbergen.580
Die in der Zeichnung 50 Cent Piece (Abb. 6.133) erfolgte Substitution der Kopfteile des
linken unteren Profils durch ihre Bezeichnungen (BRAIN) BRAIN, NOSTRIL und THE
JAW© verweisen nochmals exemplarisch auf dieses angenommene Entweder-Oder-
Schema des 19. Jahrhunderts. Das Hirn wird zwar durch die Methode zur Visualisierung
der Anatomie im 20. Jahrhundert, dem X-RAY-PHOTO, sichtbar gemacht, bleibt jedoch
beschränkt, in Klammern gesetzt (wobei das Interesse an seiner wissenschaftlichen Un-
tersuchung durch CEREBRUM und MEDULLA betont wird). Der Kiefer wird jedoch
durch das Copyright-Zeichen als Teil der historischen Konstruktion des schwarzen
"Ichs" markiert.
579 Martin, 269.580 Jordan, 506.
166
7. Ausblick
His [Basquiat's] attempt to link his work to black jazz musicians was not an as-sertion of his own musical or artistic ability. It was a declaration of respect forthe creative genius of jazz. ..... Celebrating this sense of connection in his work,Basquiat creates a black artistic community that can include him. In reality, hedid not live long enough to search out such a community and claim a space ofbelonging. The only space he could claim was that of shared fame.581
Basquiat reiht sein Werk durch den Prozess des Niederschreibens, Nennens und Erin-
nerns von Personen, Ereignissen und Orten "schwarzer" Kultur und Geschichte in eine
kulturelle Genealogie der Afro-Amerikaner ein. Durch dieses "naming" hat Basquiat ein
visuelles Archiv der Problematik des "Schwarzseins" in der westlichen Welt geschaffen.
Über das vor 1980 von der afro-amerikanischen Kunst und Literatur Geleistete hinaus
hat Basquiat in seinen Arbeiten die europäische und amerikanische Kunst, Geschichte
und Populärkultur auf ihre impliziten Rassismen hin untersucht. Er hat damit in sein
Werk Themen integriert, die bislang nur von der afro-amerikanischen Soziologie, Poli-
tikwissenschaft, Geschichte, Literatur- und Kunstwissenschaft behandelt wurden und die
erst in der politischen Kunst der Neunziger Jahre zu expliziten Themen von Künstlern
wie Renée Green, Glenn Ligon, Lyle Ashton Harris, Carrie Mae Weems oder Lorna
Simpson geworden sind. Basquiats Arbeiten könnten daher heute durchaus als didakti-
sches Anschauungsmaterial für einen Einführungskurs in "black studies" dienen, der sich
mit so weit gefächerten Gebieten wie Pan-Afrikanismus, Afrozentrismus, Primitivismus,
afrikanischer und afro-amerikanischer Geschichte, Rassismus in der amerikanischen Po-
pulärkultur und der Repräsentation von Schwarzen beschäftigt.
Die vorliegende Arbeit hatte das Ziel, anhand einzelner Bildlektüren und ihrer Kontex-
tualisierung innerhalb der afro-amerikanischen Kultur und Geschichte die bis auf wenige
Ausnahmen noch unbearbeitete afro-amerikanische Ikonographie im Werk Basquiats zu
erschließen. Sie hat den kunsthistorischen Forschungsstand und die Ausstellungsge-
schichte Basquiats diskutiert, zeigte das "Phänomen Basquiat" anhand seiner Biographie
und Julian Schnabels Film Basquiat auf und erläuterte seine Rezeption innerhalb der
"black community". Sie hat Basquiats Collage-, Zitat- und Codierverfahren innerhalb
einer Geschichte der Collage situiert und sein Collageverfahren als eine visuelle Fortset-
zung der musikalischen Technik des "Sampling" interpretiert. Basquiats Zitatverfahren
wurde innerhalb dieser musikalischen Strategie kontextualisiert, sein Codierverfahren als
eine Anwendung der afro-amerikanischen Rhetorik des "Signifying" diskutiert. Basquiat
581 hooks In: Art in America, 74.
167
wurde als ein Erforscher, Archivar und Vermittler afro-amerikanischer Kultur und Ge-
schichte dargestellt; seine Thematisierung des Topos "Wissen" wurde innerhalb des
Kontextes der afro-amerikanischen Bildungsproblematik situiert. Basquiats intensive
Beschäftigung mit afrikanischer Kultur und Geschichte wurde anhand der Thematik des
"Primitivismus" in seinem Werk diskutiert; sein Bildvokabular innerhalb einer Geschichte
der afro-amerikanischen Kunst des 20. Jahrhunderts kontextualisiert. Es wurde aufge-
zeigt, daß der Topos "Afrika" im Zentrum von Basquiats kultureller Definition als einem
afro-amerikanischen Künstler steht. Basquiats Behandlung von Geschichte wurde inner-
halb einer afro-amerikanischen intellektuellen Tradition der Auseinandersetzung mit der
eigenen Geschichte situiert. Einen großen Stellenwert legte die Arbeit schließlich auf die
Diskussion der Problematik der Repräsentation des "Schwarzen" in Basquiats Werk.
Basquiats Selbstportraits wurden als eine visuelle Fortsetzung von Ralph Ellisons Ro-
manfigur des "Invisible Man" gelesen und Basquiats Beschäftigung mit den rassistischen
Repräsentationsformen der Afro-Amerikaner in der amerikanischen Populärkultur aufge-
zeigt. Abschließend wurde Basquiats Kenntnis der Geschichte des wissenschaftlichen
Rassismus in Europa; seine Kritik der weißen Repräsentation schwarzer Sexualität sowie
seine Thematisierung der rassistischen Anatomie des 18. und 19. Jahrhunderts diskutiert.
Basquiats Werk wurde durch die vorliegende Arbeit in einem bislang von der Literatur
kaum bearbeiteten Zusammenhang diskutiert. Basquiat wurde als ein kontextuell arbei-
tender Künstler dargestellt, der seine extensiven Recherchen zu afrikanischer, karibi-
scher, afro-amerikanischer und europäischer Kultur und Geschichte in seine Arbeiten auf
Leinwand, Zeichnungen und Skulpturen umgesetzt hat. Im Gegensatz zu den meisten
bislang erfolgten kunstkritischen/kunsthistorischen Einordnungsversuchen wurde in die-
ser Arbeit darauf Wert gelegt, Basquiat nicht als einen Graffitischreiber oder neo-ex-
pressionistischen Maler zu kategorisieren, sondern seine inhaltliche Nähe zur Kontext-
Kunst der Neunziger Jahre deutlich zu machen. Dieses Anliegen hat die Arbeit in weiten
Bereichen zu einer "Decodierung" von Basquiats Bildinhalten werden lassen. Dies war
notwendig, um eine Grundlage für weitere Forschungen zu legen, da von der Literatur
bislang kaum wirklich auf Basquiats Arbeiten "geschaut" wurde.
Die vorliegende Arbeit hat einen inhaltlich zentralen Aspekt von Basquiats Werk be-
handelt. Seine Kontextualisierung innerhalb der afro-amerikanischen Kultur hatte jedoch
nicht die Absicht, Basquiat zu einem ausschließlich "schwarzen" Künstler werden zu
lassen. Es gibt neben der in dieser Arbeit vorgenommenen Lesart noch andere Lesarten,
die seinem Werk ebenfalls angemessen sind. Dazu zählt eine ernsthafte Beschäftigung
mit Basquiat als einem Zeichner, Maler und Collagisten innerhalb des Kontextes "west-
168
licher Kunst" von den Dadaisten über Mattisse hin zu Pollock, DeKooning, Rauschen-
berg, Kiefer, Holzer und Kruger. Aber auch andere Aspekte von Basquiats Werk wären
eine weitere kunsthistorische Auseinandersetzung wert. Dazu zählen seine frühen Graffi-
tiarbeiten unter dem Pseudonym "Samo", das "Phänomen Basquiat" und seine Ver-
marktung, die Rezeption Basquiats in der weißen Presse und die Rezeptionsbarrieren der
schwarzen Intelligenzija, sowie sein kritisches Verhältnis zur amerikanischen Malerei seit
Jackson Pollock. Es wäre erfreulich, wenn in den nächsten Jahren die bisher relativ ein-
seitige Beschäftigung mit Basquiat sich zugunsten einer vorurteilsfreien und differen-
zierten Sichtweise auf sein Werk öffnen würde. Ich würde mich freuen, wenn meine Ar-
beit zu einer Veränderung der Sichtweise auf Basquiats Arbeiten ein Stück beigetragen
hätte.
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