Über die Kocherwiese bläst ein frischer Wind · In einer Harley-Werkstatt in Waiblingen haben sie...

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n In einer Harley-Werkstatt inWaiblingen haben sie sich vorzwanzig Jahren kennengelernt:Tim, Brian und Pit. Die beiden Ame-rikaner Tim und Brian wollten aufHarleys Europa erkunden und hat-ten eine Reparatur durchzufüh-ren, Pit kam eher zufällig vorbei.

Nachdem sie aber, wie sich Pit erin-nert, den Bierautomaten geleertund anschließend das Bluesfest be-sucht hatten, war’s eine Freund-schaft fürs Leben. Ein Mal jährlichtrifft man sich und das 20-jährigeJubiläum wurde selbstredend, aufder Kocherwiese gefeiert.

n Bernhard Stangl aus Weiden inder Pfalz und die Jungs aus Duis-burg waren übrigens auch wiederda. Sie haben sich vor Jahrzehntenauf dem Bluesfest kennengelerntund planen seitdem ihre Urlaubenach der Kulturschmiede. Ein Ri-tual sei auch die Bestellung desRostbratens im Löwen geworden,sagt Heinz Trappmann, Bezirks-amtsleiter im Ruhestand. Sie er-folgt telefonisch, kurz vor dem Ein-treffen. Vom Bluesfest habe man ir-gendwann mal gelesen und habedie Programm-Auswahl interes-sant gefunden. Der Rest ist Ge-schichte.

n Stangl reserviert gerne Plätzefür seine Kumpels, indem er selbstgebastelte Presseschilder auf die Ti-sche klebt – die RUNDSCHAU freutdas, weil da gibt’s immer Platz, vondem man nicht wegdiskutiert wer-den kann. Am Tisch nebenan klebtfreilich auch schon Selbstgebastel-tes und wer jetzt an Hotelpoolsund Badetücher denkt, liegt nichtganz falsch. Freilich kann es auchpassieren, dass ein höflicher Fra-ger, dem man netterweise einPlätzchen einräumt, sofort ein Ru-del zentnerschwerer Silberrückenheranwinkt: Hier gibt’s Platz!

n Mit dem Gläser-Abräumen hat’sheuer prima geklappt. Weil keinePfandmärkchen vergeben wur-den, machten Scharen von Dreikä-sehochs den Umsatz ihres Lebens.Fairerweise muss angefügt wer-den, dass sie sich nicht selbst be-dient haben, sondern, soweit wirdas im Blick hatten, immer höflichfragten, ob sie abräumen dürfen.Die Musik hat sie natürlich keinenDeut interessiert. rif

20. Jahrestag auf dem Bluesfest:Tim, Pit aus Stuttgart, Brian. Foto: pv

n Hinterm Bühnenzelt ist’s in denUmbaupausen schön ruhig, dakann man also gut dumme Fragenstellen. Ana Popovic beispiels-weise, die’s richtig „cool“ findet,dass es hier eine Zeitung gibt, er-klärt sich schnell bereit fürs Inter-view. Leider kommt, gerade alsman bei der Schallplattensamm-lung ihres Vater angelangt ist, einkinderstubenvergessener Zeitge-nosse vorbei. Er muss sie anschwär-men, sorry, und zwar jetzt und un-verzüglich, und auch wenn ernicht viel zu sagen hat, braucht erdafür ungefähr so lange wie dieBühnencrew zum Umbauen. Andieser Stelle dafür ein herzlichesDankeschön, Dösbaddel!

n Deitra Farr ist eine abgebrühteInterviewpartnerin. „Jetzt“, fragtsie überrascht, und dann lässt sieden auf Gaildorfensia erpichtenJournalisten grandios auflaufen.Weißt du, meint sie, als das Ge-spräch auf ihre Erinnerungen anden Bluesfest-Auftritt mit „Missis-sippi Heat“ kommt, „wir wurdendamals einfach rangekarrt und aufdie Bühne getrieben.“ Chapeau!

n Raphael Wressnig, Kopf undGründer von „Soul Gift“, die inGaildorf mit Deitra Farr als Gail-dorf All Stars aufgetreten sind,geht ohne seine Hammond B 3 of-fenbar nicht aus dem Haus. Unddas ist auch gut so: Als das Instru-ment, das fürs Bluesfest bereit ge-stellt wurde, den Geist aufgab,war er gerüstet. In dieser Forma-tion seien sie übrigens zum erstenMal unterwegs, berichtet Wress-nig. Gaildorf sei ein guter Ort, umneue Projekte aufs Publikum zuhetzen: „Die brennen auf Neues!“

n „Death Letter Jubilee“ heißtdie erste Platte der „Delta Saints“und das Titelstück war auch aufdem Bluesfest zu hören. Aus demText heraus erklärt sich das Stückfreilich nur bedingt: Er fühle, dasses ein guter und richtiger Text sei,sagt der Sänger und Texter Ben Rin-gel, er habe aber bisher noch nichtdie geeigneten Worte gefundenum den Text zu erklären. Im We-sentlichen gehe es um Dinge, dieman als wohl erzogener Menschüber andere nicht denken solle,und um die Freude daran: Das Festder bösen Gedanken. Da fällt unsdoch was dazu ein . . . rif

Von Gaildorf aus ziehen sie los:Durch Deutschland, nachSkandinavien, Spanien,

Frankreich. Schaut man sich dieTourpläne der Bands an, die am ver-gangenen Wochenende beim 23.Bluesfest in Gaildorf gespielt ha-ben, erhält man eine Ahnung vonder Wertigkeit dieses Festivals, des-sen Macher den großen B.B. King si-cherlich nicht von der Bettkante sto-ßen würde, im Zweifelsfall aber im-mer den Musiker von Weltklassedem Weltstar (da gibt es einen Un-terschied) vorziehen würden.

Traditionell geht’s auf der Kocher-wiese freitags rund und samstagszur Sache, will sagen: Am ersten Tagmuss eine lange bluesfestlose Zeitkompensiert werden und da wird’sdann auch gerne lauter, währendman am zweiten Tag eher Entde-ckungen machen kann. HeurigeTendenz: Die Bluesrocker kommen.

Aber der Reihe nach: Mansollte schon eine gewisseGrundaggressivität mitbrin-

gen, wenn man ein Festival wie dasGaildorfer Bluesfest zu eröffnenhat. Ein gewaschener Profi wie derDäne Thorbjørn Risager weiß, dass

er bei diesem eher undankbarenJob punkten muss. Und bei der Kul-turschmiede weiß man, was Risagernicht weiß: Nämlich, dass das Publi-kum nach zwei Jahren Bluesfest-Abstinenz eher gierig als ausgehun-gert ist – da kommt also was zusam-men an diesem Freitagabend.

Der Gitarrist und Sänger, dessenStimme lange im Ohr bleibt, lässtfreilich auch nichts anbrennen. Ihrseid schön und alles wird gut, sagter. Und die siebenköpfige Band star-tet mit Swing und Boogie und be-hält diese Tempo-Nummern zu-nächst auch bei, für aufregende Soliund damit’s was zum Jubeln gibt.Nicht zuletzt dank der beiden Blä-ser Peter Kehl (Trompete) und Kas-per Wagner (Saxofon), die immerwieder wuchtige Akkordflächen inden Groove hineinkanten, entwi-ckelt sich ein enormer Sog, der auchdann noch wirkt, als das Tempo re-duziert wird. Die besten Nummernschließlich suppen fast träge durchsZelt – plötzlich gibt’s Zeit. Und mansteht und staunt: Thorbjørn Risagerund seine Band haben ein auf Blues-party gepoltes Publikum zum Zuhö-ren gebracht.

Vorübergehend. Die GaildorfAllstars des Hammond-Orga-nisten Raphael Wressnig, die

außerhalb der Schenkenstadt als„Soul Gift Revue“ reüssieren, tretensichtlich mit den gleichen Erwartun-gen an wie das Publikum: Hungertrifft Gier. In diesem rasanten Soul-blues-Konzert sind keine leisenTöne zu hören: Wressnigs Monster-instrument wird diesen Abendschreiend verbringen, Sax GordonBeadles Saxofon ausschließlichüberblasen zu hören sein – und dereigentlich gelassen agierende En-rico Crivellaro wird seine Gitarreschließlich mit dem Fuß traktieren.Auch die Sängerin Deitra Farr, diebereits vor 18 Jahren mit „Missis-sippi Heat“ in Gaildorf aufgetretenist, vergisst schnell ihre Blues-queen-Routine. Und strahlt.

Ana Popovic trägt ein hautengesKleid und kurz ist es auch. Sie trägtaber auch eine Gitarremist sich undhat eine sechsköpfige Band undzwei Background-Sängerinnen da-bei. Ihre eigene Stimme hat wenigTiefe, was aber kein Mangel ist: Inschnellen Funkblues-Nummernwie „Can you stand the heat“ wirkt

sie knackig und perkussiv, in melo-diebesoffenen Balladen wie „Mo’Better Love“ frisch, jung und abge-klärt. Popovic erweist sich zudemals gewiefte Solistin und gescheiteBandleaderin – die Band agiert aufden Punkt. Und sie spielt auch denBlues: In „You Better Leave“ empörtsich eine Oma über einen Laden-schwengel, der ihren Enkel beimKeksklauen erwischt hat und nichtmehr aufhören will, ihn zu triezen.Es ist eine Alltagsgeschichte und Po-povics brüllender Blues der reineZorn und eine Offenbarung.

Mitternacht ist vorüber,nicht aber die Nacht derRampensäue, als Ronnie

Baker Brooks zusammen mit demBassisten Carlton Armstrong unddem Schlagzeuger C. J. Tucker dieBühne betritt. In den ersten Reihensieht man beseelte Gesichter, wei-ter hinten wird über Effekthasche-rei gemault. Tatsächlich setzt sichBrooks zwischen alle Stühle: Klas-sik-Zitate fehlen so wenig wie dieMuddy Waters- und die John LeeHooker-Hommage, zwischendrinwird gerappt und schließlich auchgerockt – dieses Konzert ist ein State-

ment gegen den Genredünkel. Allesist möglich bei diesem Ausnahmegi-tarristen, der schließlich noch einausgiebiges Bad in der Mengenimmt. Und hinter der Bühne er-klingt jener mütterlicher Satz, derdiesen Bluesfest-Freitag exakt aufden Punkt bringt: „Deswega kom-met se doch so gern!“

Am Samstag ist die Meute satt.Oder besser: Der größte Hun-ger ist gestillt – Zeit zum Zu-

hören. Henry Heggen, MichaelMaas und Brian Barnett treten mitHarp, Schlagzeug und Gitarre, alsosozusagen in Minimalbesetzung an.Die „Crazy Hambones“ sind, zumin-dest was die Besetzung anbelangt,die ursprünglichste Bluesband die-ses Festivals. Das ist allerdings nurformall von Interesse. Der Blues istfür die „Crazy Hambones“ die Es-senz, aus der sich alles zubereitenlässt. Ihre Musik schmeckt nachBluegrass, Country und Rock ’n’Roll – und aus der „HipHop Evolu-tion“ tröpfelst der Spiritual.

Bei den „Delta Saints“, der mut-maßlich jüngsten Band, die sich je-mals auf einem Bluesfest in Gaildor-fer verausgabt hat, ist der Blues

nicht mehr Form und Idee, sondernbereits Bestandteil der DNA. DasQuintett aus Nashville bläst in gro-ßer Ernsthaftigkeit frische Luft indie Szene: Hier gibt’s die große Operund die volle Dröhnung. Tanzwü-tige werden mit vertrackten Rhyth-men gebannt und mit schrägenTempi-Wechseln zur Strecke ge-bracht, Refrains dröhnen im durchSlides erhitzten Fortissimo. Unddann zeigen die Saints, wie der Pop-song „Crazy“ von „Gnarls Barkley“klingen kann. Nämlich so, dass esauch noch den abgeklärtestenBluesklassikerplattensammler füreinen unvergesslichen Momentvom Hocker reißt – endlich frei!

Das wäre eine schöne Schlus-spointe gewesen. Das Blues-fest aber ist noch lange

nicht am Ende. Soul und Soulbluessind das Metier des Sängers undHarpspieler Curtis Salgado, nachdem der von Cab Calloway gespielteHausmeister in dem Film „TheBluesbrothers“ benannt wurde. Sal-gado wurde und wird mit allerlei Me-riten behangen, und das liegt mögli-cherweise daran, dass er Routinenicht kann oder will, zumindest

nicht beim Bluesfest. Der Mannkann schmachten, er kennt aberauch den hitzigen Süden, das Landder „Redbeans and Slotmachines“und er lässt seinen Pianisten CraigStevenson in einem grandiosenSolo ein Fenster zum Jazz öffnen.Und als er – „mal sehen, wo das hin-führt!“ – selbst für ein langes Solozur Harp greift, sind die Genregren-zen ohnehin vergessen.

Sie spielen auch bei RobbenFord keine Rolle mehr. DasKonzert dieses Ausnahmegitar-

risten, der von dem Kontrabassis-ten David Pilch, dem Organisten Ri-cky Peterson und, kleine Überra-schung am Rande, dem Schlag-zeug-Star Harvey Mason begleitetwird, ist eine Wohltat. Es sind nichtdie Stücke – das Quartett spieltBluesnummern wie „Birds NestBound“ und „Fool’s Paradise“ebenso wie eingängigen Jazzrock –die dieses Konzert so bemerkens-wert machen. Es ist die Haltung:Ford und seine Mitmusiker faszinie-ren durch ihre entspannte Hingabean das Wesen der Musik. Und ihrSound ist brillant: Nicht die leisesteKlangfärbung geht verloren.

Dafür gerät beim Auftritt der„Royal Southern Brotherhood“ vorü-bergehend die Stimme von Cyril Ne-ville abhanden. Leider geschiehtdies bei „Fired Up!“, der geschmei-dig groovenden ersten Nummer derAllstar-Band aus den Südstaaten,die damit um einen echten Knall-Ef-fekt gebracht wird.

Neben Neville gehören die Gi-tarristen Mike Zito und De-von Allman, der Bassist

Charlie Wooton und der Schlagzeu-ger Yonrico Scott zu dieser Bruder-schaft, die sich ganz unverfrorenselbst die „Königlichen“ nennt.Dür-fen die das? Sie dürfen. In der blues-getränkten Musik der „Brother-hood“ kulminiert die Blues- undRockgeschichte zu etwas Neuem,Zeitgemäßen. Und doch klingt Vie-les, als sei es in der Welt, seit dieerste E-Gitarre eingestöpselt wurde– nicht alt, unsterblich. „Fire on theMountain“ etwa, das ein gemeinsa-mes Gitarrensolo von Allman undZito enthält. Der letzte Ton löst sichin einem vielstimmigen Schrei austausend Kehlen, wie man ihn beimBluesfest noch nicht vernommenhat: „Boah!“ Richard Färber

Soul in Bewegung: Der Soul-Sänger und Harpspieler Curtis Salgado mit dem Bassis-ten Curtis Arrington, hinten verdeckt der Gitarrist Vaysa Dodson.

Über die Kocherwiese bläst ein frischer Wind23. Bluesfest: Der Bluesrock dominiert und die jungen „Delta Saints“ zeigen neue Wege auf – Meisterliches von Thorbjørn Risager, Ana Popovic und Robben Ford

Yonrico Scott, Grammy-Gewinner undSchlagzeuger der „Brotherhood“.

Craig Stevenson, Pianist und Organistder Curtis Salgado Group.

2 3 . G A I L D O R F E R B L U E S F E S T

RUNDSCHAU-Fotos:Peer Hahn

Short Cuts

Der Gitarrist Ronnie Baker Brooks hat nicht zum ersten Mal auf dem Bluesfest gespielt. Seine Auftritt am frühen Sams-tagmorgen war ein nach allen Richtungen offenes Statement gegen den Genredünkel.

Am offenen Herzen: Reparaturen wur-den life durchgeführt.

Mitreißend: Henry Heggen von den „Crazy Hambones“.

Devon Allman, Sohn des legendären Gregg Allman, von der „Royal Southern Brotherhood“: Die „Königlichen“ dürften diegewichtigsten Vertreter der gegenwärtigen Renaissance des Bluesrock sein.

Gelassener Virtuose: DavidPilch, Bassist von Robben Ford.

Blue Notes

Will nur spielen: Carlton Armstrong,Bassist von Ronnie Baker Brooks.

Ben Ringel, Sänger der „Delta Saints“,die das Bluesfest durchlüfteten.

Raphael Wressnig von den Gaildorf Allstars, die ein ekstatisches Soulblues-Konzerthinlegten. Hinten: Schlagzeuger Silvio Berger.

Hat Spaß, meint’s aber ernst: David Su-pica, Bassist der „Delta Saints“

Ben Azzi, Schlagzeuger und Perkussio-nist der „Delta Saints“.

Ein Ausnahmegitarrist in einem Ausnahmekonzert: Robben Ford lehrtedas aufgeheizte Bluesfest-Publikum die Kunst der Gelassenheit.

Peter Kehl, Kasper Wagner und EmilBalsgard, Thorbjørn Risager Group.

Das wasch’ ich nie wieder ab: Curtis Sal-gado schreibt Autogramme.

Ihr Blues ist der reine Zorn: Die Gitarris-tin und Sängerin Ana Popovic.

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Deitra Farr mit dem Gitarristen Enrico Crivellaro und dem Saxofonisten Sax GordonBeadle. Alle Drei bringen jede Menge Gaildorf-Erfahrung auf die Bühne.

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