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Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.)
Was ist Bildkompetenz?
Studien zur Bildwissenschaft
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Uber <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
Band 10 der Reihe Bildwissenschah, die bis 2001 im Scriptum Verlag, Magdeburg erschienen ist.
1. Auflage Dezember 2003
Alle Rechte vorbehalten © Springer Fachmedien Wiesbaden 2003 Ursprunglich erschienen bei Deutscher Universitiits-Verlag/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2003
Lektorat: Ute Wrasmann
www.duv.de
Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschUtzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzuliissig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfiiltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main
Gedruckt auf siiurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
ISBN 978-3-8244-4498-4 ISBN 978-3-663-11814-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-11814-5
Inhalt
Klaus Sachs-Hombach
Einleitung ............................................................................................................................... 9
Grundlagen der Bildkompetenz
Roland Posner
Ebenen der Bildkompetenz ....... ........... ...... ......................... ........... ...... ......... ...... ............... ..... 17
Wolfgang Schnotz
Bild- und Sprachverarbeitung aus psychologischer Sicht ....................................................... 25
Dietfried Gerhardus
Vom visuellen Material zum Bildmedium. Ein produktionstheoretischer Ansatz ................. 43
Peter Schreiber
Der Begriff "Darstellende Geometrie im weiteren Sinn" ....................................................... 51
Podiumsdiskussion I:
Kompetenz durch Geschichte - Verhältnis der Disziplinen ................................................... 61
Anwendung der Bildkompetenz
RudolfPaulus Gorbach
Bilder verwenden - Praxisbericht aus der Gestaltung von Druck- und Bildschirmprojekten 81
Marcel Goetze, Eberhard Högerle & Thomas Strothotte
Informationsdarstellung für Analphabeten .............................................................................. 91
Tina Seufert
Kohärenzbildung beim Wissenserwerb mit multiplen Repräsentationen ............................. 117
Michael Scheibel
Hyperimage - Bild und Bildkompetenz im Internet .............................................................. 131
Podiumsdiskussion 11
Bildkompetenz im Internet - Visualität und Virtualität ......................................................... 141
Zukunft der Bildkompetenz
Heiko Hecht
Bildkompetenz als Wahrnehmungskompetenz am Beispiel virtueller Räume ..................... 157
Hans Dieter Huber
"Kein Bild, kein Ton? Wir kommen schon." - Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter ... 177
Dagmar Schmauks
Der Pfeil und sein Ziel- Geschichte und Funktion eines Richtungshinweises ................... 189
Podiumsdiskussion III
Bildkompetenz und Bildwissenschaft - Fragen zur Institutionalisierung ............................ 20 I
Klaus Sachs-Hombach
Ausblick: Bild und Bildung .................................................................................................. 213
Anhang
Personenregister .................................................................................................................... 221
Sachregister ........................................................................................................................... 225
Abbildungsverzeichnis ......................................................................................................... 227
Autorenverzeichnis ................................................................................................................ 229
Ebenen der Bildkompetenz
ROLAND POSNER
Eine allgemeine Zeichentheorie kann helfen, die bei den Gefahren der Bildwissenschaft, die Kommunikationsfixierung und die Kunstfixierung, zu übenvinden. Notwendig dafUr ist die Verwendung einer umfassenden Typologie der Zeichen- und
Zeichenprozesstypen auf semiotischer Basis, in der auch die Zeichenprozesse unterhalb der Komplexität von Kommunikati
on erfasst werden. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Besonderheiten der bildbezogenen Zeichenprozesse anhand von Ebenen der Bildkompetenz charakterisieren.
A general sign theory cao help to Qvercome tbe two dangers ofirnage science: namely, the fixed view on communication and
on art. It is therefore necessary to use an extensive typology of sign- and sign-process~types that is based on semiotics. Such
a theory could register sign processes that are below the complexity of communication. Against this backdrop, peculiarities of pictarial sign processes can be marked thraugh the different levels of image campetence.
1. Einleitung: Die Stellung der Semiotik Die Semiotik spielt im gegenwärtigen System der Wissenschaften vom Leben eine paradoxe
Rolle. Sie bietet Prinzipien, Begriffe und Methoden zur Analyse, Beschreibung und Erklärung
aller Zeichenkomplexe und Zeichenprozesse an, muss aber die empirische Erforschung spe
zieller Typen von Zeichenkomplexen und Zeichenprozessen den betreffenden Einzelwissen
schaften überlassen. Das Einzige, was sie verlangen kann, ist, dass die Einzelwissenschaften
das transdisziplinäre wissenschaftliche Instrumentarium der Semiotik aufgreifen und ihre spe
ziellere Begrifflichkeit und ihre Hypothesen an die der Semiotik anschließbar halten. Das er
fordert ein gegenseitiges Aufeinanderzugehen von bei den Seiten.
Das Problem ist klar erkennbar im Verhältnis zwischen der Semiotik und den Linguistiken.
Historisch hat die Semiotik, das ist unbezweifelbar, sehr viel gelernt von der Sprachwissen
schaft, denn diese war früher stark ausgebaut und verfügte bereits über differenzierte Begriffe
und Methoden, als die neuere Semiotik noch in den Kinderschuhen steckte. Dadurch entstand
die Gefahr, dass die Semiotik linguistische Befunde überverallgemeinerte und spezifisch
sprachwissenschaftliche Begriffe und Analysemethoden auch nichtsprachlichen Zeichenkom
plexen und Zeichenprozessen aufzwang. Die Semiotik hat sich in einem langen und interes
santen Diskussionsprozess seit SAUSSURE aus solchen Einseitigkeiten emanzipiert, so dass
diese Gefahr heute als überwunden gelten kann. Ein Beispiel ist der Textbegriff LOTMANS,
der in der Kultursemiotik heute auf alle kulturellen Zeichenphänomene angewandt wird, aber
dabei alle spezifisch sprachbezogenen Merkmale verloren hat und nur noch Artefakte mit
konventionellem Zweck und kodierter Bedeutung meint (vgl. POSNER 1989 und 2003).
18 Roland Posner
2. Semiotik und Bildwissenschaft In der Bildwissenschaft besteht eine analoge Gefahr einer zu starken linguistischen Orientie
rung, insofern es Bildanalysen gegeben hat, die das sprachwissenschaftliche Begriffsinstru
mentarium unkritisch einsetzen und dadurch zu Fehlschlüssen verleiten. Solche Tendenzen
kann die Semiotik aus eigener Erfahrung vermeiden helfen.
Vergleicht man Bilder mit anderen Zeichensorten, so ist zunächst der kommunikativisti
sche Fehlschluss zu bekämpfen, alle Bilder seien Kommunikationsmittel in der Art von Sät
zen. Wer ein Bild malt, muss es nicht zum Kommunizieren benutzen.
Ein weiterer gängiger Fehler, der häufig im Rahmen der Kunstgeschichte und der Musik
geschichte gemacht wird, ist der ästhetistische Fehlschluss, Bilder seien insgesamt oder im
Wesentlichen Kunstwerke. Wer ein Bild anfertigt, tut das in den seltensten Fällen, um es im
Rahmen des Kunstbetriebs in Galerien, Museen oder öffentlichen Gebäuden aufhängen zu
lassen.
Alle Bilder jedoch sind Zeichen, die in Zeichenprozessen auftreten und darin bestimmte
Funktionen haben. Bevor es Bilder gab, die als Mitteilungen in Kommunikationsakten benutzt
wurden. dienten Bilder als Mittel zur Beschwörung der Präsenz von Ahnen, Göttern, Tieren
oder Pflanzen (also zu magischen Zwecken) und als Ausdrucksmittel fur Gefuhlsäußerungen
(also zu emotiven Zwecken); erst später wurden sie fur den Zweck der Organisation von Ko
operation zwischen Menschen adaptiert.
Dies müsste in einer Bildwissenschaft heute dazu fuhren, dass die einseitige Fixierung auf
Kommunikation im Sinne der Sprachwissenschaft aufgegeben wird, die ja auch bereits in der
Sprachwissenschaft fehl am Platze ist, auch wenn Linguisten das oft übersehen. Es müsste
weiter dazu fuhren, dass die einseitige Fixierung auf Kunst im Sinne der Kunstgeschichte und
Musikgeschichte überwunden wird, die auch bereits dort fehl am Platze ist, und stattdessen
das Gebrauchsbild des Alltags (also Schilder, Piktogramme, Plakate, technische Zeichnungen
und die Bildgebungsverfahren der diversen Berufs- und Wissenschaftsdisziplinen) in den
Vordergrund der Betrachtung gestellt wird, von dem sich das künstlerische Bild durch zusätz
liche Eigenschaften unterscheidet.
Eine allgemeine Zeichentheorie, wie ich sie 1996 im Artikel "Sprachphilosophie und Se
miotik" des "Handbuchs Sprachphilosophie" dargestellt habe (vgl. POSNER 1996), kann so
wohl die Kommunikationsfixierung als auch die Kunstfixierung in der Bildwissenschaft über
winden helfen. Notwendig dafur ist die Verwendung einer umfassenden Typologie der Zei
chen- und Zeichenprozesstypen auf semiotischer Basis, zum Beispiel die Unterscheidung
zwischen Signal, Anzeichen und Ausdruck sowie zwischen Signalisieren, Anzeigen und Aus
drücken und außerdem zwischen Signalisieranzeichen, Anzeigeanzeichen und
Ausdrucksanzeichen. All diese Zeichentypen treten u. a. auch in Kommunikationsprozessen
auf, fuhren aber nicht automatisch zu Kommunikation im Sinne von SEARLES
Sprechakttheorie. Es handelt sich vielmehr um Zeichenprozesse unterhalb der Komplexität
von Kommunikation, und gerade deshalb sind sie fur die Erfassung dessen, was mit Bildern
Abb I· Bild der Spiegelung Im Bruchteil einer Sekunde von Hausfassaden Im Was.ser emer holländischen Gracht, das auf
der piktoralen Ebene emen WasserbLiffel darstellt, aber auf der referentiellen Ebene auf kem besllmmtes Individuum ver
weist Die Haussplcgclung Im Wasser entsteht auf ReflexIonsstufe 0, d. h. auf natürliche Welse Sie entsteht auf Jeden Fall,
ob emer sie als Zeichen wahrnImmt oder meht Erst der Photograph greift sie aus dem Kontmuum semer Umweltwahmeh
mungcn heraus und produzlCrt em paplcmes Abbild dieser Spiegelung (ReflexIOnsstufe I). Indem er dieses bel Jemandem
an die weiße ZImmerwand hängt, wIll er auf Grund der bestehenden BIldkonventIOnen den Betrachter zu der Memung
bnngen, dass es als Abbild mtendlert Ist (ReflexIonsstufe 2) ÄsthetIsch relevant wird das Bild durch den stufenubergrel
fenden Widerspruch zWischen der Zufalhgkclt der abgebildeten Farb-Fonn-Konfiguratlon und der vom Betrachter empfun
denen Emladung des Photographen. er solle sie als Darstellung von etwas (also mit DarstellungsabsIcht produziert) anse
hen Diese Emladung bnngt auch emen Betrachter. der selbs.t vorher als Spazlerganger selen Blick arglos über das Wa~~er
dieser Gracht hat schweIfen lassen, dazu, etwas zu konstrUIeren. was 111 diesem Bild darges.tellt wIrd, und da~ Dargestellte
wegen der syntaktischen Struktur semer Farb- und Form-KonfiguratIOn als WasserbLiffel zu 1I1tcrprctlcren (Photo. ROLAND
POSNER 2002)
und gerade deshalb sind sie für die Erfassung dessen, was mit Bildern geschieht, so überaus
wichtig.
Gebrauchsbilder lassen sich entsprechend ihrer Reflektiertheit auf einer nach oben offenen
Skala anordnen. Auf der Reflexionsstufe 0 liegen ereignishafte Bilder wie Schatten, Spiegel
bilder und die Fußspuren von Tieren, die ohne menschliches Zutun auf natürlichen Ober
flächen entstehen, aber von (erwachsenen) Menschen spontan in ihrer Eignung als Abbild der
entsprechenden Objekte - und das heißt als Anzeichen - erkannt werden. Auf der Reflexions
stufe I werden solche Abbilder nicht in der Natur entdeckt, sondern absichtlich von Men
schen erzeugt. Es geht um Anzeichenproduktion, also Anzeige. Hierher gehört das Bild im
Spiegel, da dieser eigens zum Erzeugen von Spiegelbildern geschaffen wurde und jene folg
lich seinen Artefakt-Status ,erben'. Auf der Reflexionsstufe 2 wird ein solches Abbild zusätz-
20 Roland Posner
lieh mit der Absicht erzeugt, dass der Betrachter glaubt, dass es als Abbild intendiert ist -
man kann folglich von einem "institutionalisierten Abbilden", d. h. vom Anzeigen der Anzei
chenproduktion sprechen. Hier spielt in der abendländischen Tradition der Bilderrahmen eine
Rolle, denn er ist es, der ein Bild charakterisiert als mit der Absicht erzeugt, dass der Betrach
ter glaubt, dass es als Abbild intendiert ist. Auf Reflexionsstufe 3 schließlich wird die Ab
sicht, den Betrachter glauben zu machen, dass das Eingerahmte als Abbild intendiert ist,
selbst zum Thema. Ästhetisch relevant wird diese Absicht, wenn das Eingerahmte de facto
gar keine Abbildung von Gegenständen oder aber eine Abbildung ist, die die jeweils gängigen
Gegenstandsabbildungskonventionen verletzt. Mit diesem stufenübergreifenden Widerspruch
stehen wir, wenn er den Bildbetrachter in seinen Erwartungen auf sinnvolle Art überrascht, an
der Schwelle vom Gebrauchsbild zur Bildkunst. Hinzugefügt sei, dass auch die Bildkunst vie
lerlei Konventionen entwickelt hat, die in analoger Weise auf sinnvolle Art verletzt werden
können, wodurch noch höhere Reflexionsstufen erreichbar sind.
3. Zehn Ebenen der Bildkompetenz Der beschriebene theoretische Ansatz kann zur Erfassung aller Kulturprodukte dienen. Er gilt
für Gebrauchstexte und literarische Texte genauso wie für Gebrauchsmusik und Kunstrnusik
und ebenso für Bilder, wenn auch die Mittel zur Erreichung höherer Reflexionsstufen (zum
Beispiel die Rahmung) jeweils medienspezifisch sind. Um nun die Besonderheiten der bild
bezogenen Zeichenprozesse zu charakterisieren, mächte ich das in den Vordergrund stellen,
was einer können muss, wenn er etwas als Bild wahrnehmen soll. lch möchte dazu zehn Ebe
nen der Bildkompetenz postulieren.
1. Wer blind ist, dem fehlt die perzeptuelle Kompetenz, ein Bild als solches wahrzunehmen.
Blinde vermögen dagegen sehr wohl Musik zu produzieren und zu rezipieren und an Ge
sprächen teilzunehmen.
2. Wer die ihn umgebenden Gegenstände als Farb-Form-Konfigurationen sehen, aber sie
nicht als Körper im Raum erkennen kann, dem fehlt die plastische Kompetenz, ein Bild
als solches wahrzunehmen. Er kann Flächen nicht von ihrer Umgebung unterscheiden und
wird so auch den visuellen Eigenschaften einer Bildfläche nicht gerecht.
3. Wer zwar Gegenstände getrennt voneinander wahrnehmen kann, aber einen Gegenstand
nicht als Zeichen aufzufassen vermag, das auf etwas anderes verweist, dem fehlt die
signitive Kompetenz, ein Bild als solches wahrzunehmen. Tiere haben laut HANS JONAS
dieses Vermögen im Allgemeinen nicht. Sie abstrahieren in der Wahrnehmung automa
tisch von Spiegelungen oder verwechseln Spiegelungen mit realen Individuen.
4. Wer eine Farb-Form-Konfiguration nicht in Segmente zerlegen und in ihnen eine Ord
nung erkennen kann, dem fehlt die syntaktische Kompetenz, ein Bild als solches wahrzu
nehmen. Es bleibt für ihn chaotisch, selbst wenn es als Ganzes für etwas anderes zu ste
hen scheint.
Bildsemantik 21
5. Wenn jemand ein gegenständliches Bild zwar als syntaktische Struktur auffassen kann,
die sich von ihrer Umgebung unterscheidet und auch auf etwas verweist, er aber kein Su
jet in ihr zu erkennen vermag, dann fehlt ihm die piktorale Kompetenz, ein Bild als sol
ches wahrzunehmen. Statt Gegenstandstypen sieht er auf dem Bild nur Farb-Form
Strukturen.
6. Wenn jemand auf einem referierenden Bild zwar Gegenstandstypen, also ein Sujet, er
kennt, aber nicht eine bekannte Person oder Situation als durch das Bild bezeichnet iden
tifizieren kann, dann fehlt ihm die referentielle Kompetenz, ein Bild als solches wahrzu
nehmen. Er vermag in Familienphotos nur Genreszenen zu sehen, und ihn interessieren an
einem Passphoto keine individuellen, sondern nur biologische Merkmale wie die Kopf
form u. dgl.
7. Wer auf einem Bild zwar Farb-Form-Konfigurationen, Gegenstandstypen und bezeichnete
Individuen erkennen kann, aber nicht sieht, was das Bild direkt oder metaphorisch exem
plifiziert, dem fehlt die exemplifikationale Kompetenz, das Bild als Bild wahrzunehmen.
Er kann u.a. dem Stil, der Stimmung, dem Anmutungscharakter des Bildes nicht gerecht
werden.
8. Wer nicht erkennt, welchem Zweck das auf einem Bild piktoral, referentiell oder exempli
fikational Mitgeteilte dienen soll, dem fehlt die funktionale Kompetenz, ein Bild als Bild
wahrzunehmen. Die Bildinhalte versteht er, aber deren besondere Aufgabe bzw. in der
Kommunikation deren illokutive Kraft bleibt ihm unzugänglich. Er ist nicht dagegen ge
feit, eine Warnung vor dem Hund als Tierportrait und ein Museumsgemälde als An
dachtsbild misszuverstehen.
9. Wer zwar das auf der piktoralen, referentiellen, exemplifikationalen und funktionalen
Ebene durch ein Bild Mitgeteilte versteht, es aber nicht situations bezogen interpretieren
kann, dem fehlt die pragmatische Kompetenz, ein Bild als Bild wahrzunehmen. Er ver
mag keine Bildimplikaturen zu konstruieren, die das im Bild Gezeigte auch in abgewan
delten Situationen sinnvoll erscheinen lassen. Die Bedeutungsproduktion durch Karikatu
ren bleibt ihm verschlossen.
10. Wer nicht merkt, ob das auf der piktoralen, referentiellen, exemplifikationalen, funktiona
len und pragmatischen Ebene Mitgeteilte als real oder fiktional verstanden werden soll,
dem fehlt die modale Kompetenz, ein Bild als Bild wahrzunehmen. Er verwechselt Ab
bildungen in Fachbüchern mit solchen in Märchenbüchern und kann das Portrait eines
Zeitgenossen (z.B. Bundeskanzler Schröder) nicht angemessen unterscheiden von dem
eines mythischen Helden (z.B. Odysseus) oder eines Gottes (Wotan, Zeus) bzw. Heiligen
(Nikolaus) oder einer erfundenen Figur (Donald Duck, Lara Croft).
Diese zehn Kompetenzen erscheinen mir notwendig und hinreichend dafür, dass jemand
einem Gegenstand als Bilp gerecht zu werden vermag. Wie spezifisch sie für die verschieden
artigen Bildphänomene sind, zeigt sich, wenn man sie mit den einschlägigen Kompetenzen
der Sprachbeherrschung und des Musikverstehens vergleicht (vgl. CALABRESE 2003; PETERS
22 Roland Posner
2003; SCHOLZ 2003 und MAZZOLA 2003). Zusammenfassend fonnuliert, verhält es sich so,
dass die niederen Bildkompetenzen auf der perzeptuellen, plastischen und signitiven Ebene
völlig spezifisch für Bilder sind: Jemand, der sie nicht hat, vennag nicht mit Bildern, aber
sehr wohl mit Sprache und mit Musik kompetent umzugehen. - Die syntaktische, piktorale
und referentielle Kompetenz sind ebenfalls bildspezifisch, denn Bildstrukturen gehorchen an
deren Prinzipien als Satzstrukturen und Musikstrukturen, die bildliche Abbildung von Ge
genstandstypen geschieht auf andere Weise als die sprachliche und musikalische, und bildli
ches Referieren auf Individuen erfolgt anders als sprachliches und musikalisches Referieren.
Doch kann man sagen, dass das Ergebnis dieser unterschiedlichen Prozesse, nämlich die
Wahrnehmung einer syntaktischen Struktur, die Abbildung von Gegenstandstypen und die
Referenz aufIndividuen für das Verstehen von Bildern ebenso erforderlich ist wie für das von
Sprache und sogar von Musik. - Noch näher sind sich die drei Medien in Bezug auf die höhe
ren Kompetenzen auf der exemplifikatorischen, funktionalen, pragmatischen und modalen
Ebene. Denn hier folgt das Bildverstehen teilweise denselben Prinzipien wie das Sprachver
stehen und das Musikverstehen. Das zeigt sich auch in unseren Redeweisen. So lassen wir uns
durch ein Bild ebenso anmuten wie durch einen Text oder eine musikalische Passage; so fol
gen wir bei Bildern ebenso ihrer Funktion wie bei Texten und bei Klangproduktionen und
klassifizieren diese Funktionen teilweise auf gleiche Art; so sprechen wir bei Bildern ebenso
von übertragener Bedeutung wie bei Texten und bei Klangproduktionen; so unterscheiden wir
Charakterisierungen realer Situationen von Charakterisierungen fiktiver Situationen bei Bil
dern ebenso wie bei Texten und bei Klangproduktionen.
4. Fazit Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Aufgabe, das Bild nicht nur pauschal der Sprache,
der Musik und anderen Medien gegenüberzustellen, sondern die beteiligten Zeichenprozesse
bis in die Einzelheiten hinein vergleichend zu analysieren. Wenn man sich dabei auf die Be
grifflichkeit der Semiotik stützt, werden neben den Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten
und die Komplementaritäten der Medien erfassbar und systematisch beschreibbar. Das gilt
insbesondere auch für den ästhetischen Charakter von Bildern, Texten und Musikstücken. So
ist es in der experimentellen Bildkunst des 20. Jahrhunderts üblich geworden, Gegenstände zu
produzieren, die Eigenschaften von Bildern haben, deren angemessenes Verständnis aber
nicht das Zusammenwirken aller Bildkompetenzen, sondern gerade die Ausschaltung gewis
ser Bildkompetenzen verlangt. Schon seit je waren nichtreferierende Bilder bekannt; nun ka
men nichtgegenständliche (nichtpiktorale), nichtsignitive und nichtplastische ,Bilder' hinzu.
In analoger Weise hat auch die experimentelle Literatur und die experimentelle Musik des 20.
Jahrhunderts aus der gezielten Ausschaltung bestimmter Ebenen der medienspezifischen Ver
stehenskompetenz ästhetische Effekte bezogen.
Was nun den Rest betrifft, der bei intennedialen Übersetzungen jeweils unübertragbar
bleibt, so bin ich überzeugt, dass er sich in dem gerade von mir skizzierten Ansatz auf der
Bildsemantik 23
Metaebene beschreiben lässt, ohne dass man dabei zu Metaphern Zuflucht nehmen muss. Auf
diese Weise gelangen wir zu klaren Diagnosen des Eigenwerts der Medien, die uns bei der
Auswahl des richtigen Mediums für einen gegebenen Zweck die erforderliche Orientierung
bieten können. Dies ist ja ein eminent praktisches Problem. Denken Sie an den Opem-, Thea
ter- oder Filmregisseur, der ständig entscheiden muss, ob er eine mitzuteilende Botschaft da
durch produzieren soll, dass er sie mit Hilfe der Kulissen und Beleuchtungseffekte, der Kos
tüme, der Choreographie, der Gestik und Mimik, der sprachlichen Äußerungen, der Musik
oder durch das Zusammenwirken aller oder einiger dieser Mittel zum Ausdruck bringt. Das
sind alles Optionen, die gegeneinander abgewogen werden müssen, und dafür muss zunächst
konzeptuelle Vergleichbarkeit hergestellt werden. Wer soll das leisten, wenn nicht die Semio
tik?
Literatur CALABRESE, OMAR (2003): Semiotic Aspects of Art History: Semiotics of the Fine Arts, in:
POSNER, ROBERING & SEBEOK 1997-2004,3212-3233.
MAZZOLA, GUERINA (2003): Semiotic Aspects of Musiology: Semiotics of the Music, in:
POSNER, ROBERING & SEBEOK 1997-2004, 3179-3187.
PETERS, JÖRG (2003): Semiotische Aspekte der Sprachwissenschaft: Sprach semiotik, in:
POSNER, ROBERING & SEBEOK 1997-2004,2999-3027.
POSNER, ROLAND (1989): What is Culture? Toward a Semiotic Explication of Anthropologi
cal Concepts, in: KOCH, W. A. (ed.): The Nature ofCulture, Bochum: Brockmeyer, 240-
295.
POSNER, ROLAND (1996): Sprachphilosophie und Semiotik, in: DASCAL, M., GERHARDUS, D.,
LORENZ, K. & MEGGLE, G. (eds): Sprachphilosophie: Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin und New York: de Gruyter, 1658-1686.
POSNER, ROLAND (2003): Kultursemiotik, in: NÜNNING, A. & NÜNNING, V. (eds.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven, Stuttgart /
Weimar: Metzler, 39-72.
POSNER, ROLAND, ROBERING, KLAUS & SEBEOK, THOMAS A. (1997-2004) (eds.): Semiotik / Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichen theoretischen Grundlagen von Natur und Kultur / A Handbook on the Sign - Theoretic Foundations of Nature and Culture, Berlin / New
Y ork: de Gruyter.
SCHOLZ, OLIVER R. (2003): Semiotik und Hermeneutik, in: POSNER, ROBERING & SEBEOK
1997-2004,2511-2561.