Post on 11-Mar-2016
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Tom Kirchgäßner
1789
STURMAUF DIEBASTILLE
Wir haben keine Waffen. Sind ungefährlich. Ein Haufen Bau-
ern, Huf- und Werkzeugschmiede, Köche, Metzger, Steinhau-
er, sogar Schreiber und Musiker. Chaos. Ich umklammere
den Holzgriff der Hacke, die mein Vater immer für sein Gemüsebeet nutzte,
bevor er vor einigen Wochen starb. Die Angst. Und der Hunger. Wer kann
es ihm übel nehmen? Vor den Toren dreißigtausend Soldaten. In der Stadt
die Bastille mit ihren schweren Kanonen, die schon seit Wochen auf die
Vorstadt gerichtet sind. Dazwischen wir.
Ludwig. Du Schwein.
Alle sind auf den Straßen. Auf dem Weg zum Rathaus müssen
wir über Stühle klettern. Tische, Schränke, Heuwägen und Kis-
ten. Wenn sie die Stadt stürmen, sollen sie wenigstens an diesen
Barrikaden ein paar Verluste ertragen. Den Hunger habe ich längst verges-
sen. Trotzdem sollten wir uns beeilen. Nur eine Frage der Zeit, bis wir alle
einfach umfallen. Das Rathaus ist schlecht bewacht. Die feigen Hunde ha-
ben sich in ihre Höhlen verkrochen. Und das Schießpulver haben sie mitge-
nommen. Ein zurückgelassener Wachsoldat stirbt fast vor Angst. Aber seine
Loyalität gibt er nicht auf. Ich muss mich mächtig ins Zeug legen, bis er uns
erzählt, dass die Armee das Pulver in die Bastille gebracht hat. Um es vor
unserem Zugriff zu schützen. Ich überlasse ihn denen, die sich nichtmehr
zurückhalten können. Was nun? Einige Fässer Pulver haben die Schweine
übersehen. Es reicht für unsere wenigen Waffen. Plötzlich ein Ruf. „Mar-
chons à la Bastille!“.
Das Ziel ist klar.
Gouverneur De Launay. Wir alle kennen ihn. Ein Feigling ohne
Kampferfahrung. Aber loyal. Wir müssen Verhandeln. Wir müs-
sen gut Verhandeln. Denn De Launay ist nicht alleine. Die De-
legation bleibt lange. Wir verschanzen uns vor der Bastille. Finden Schutz
hinter Wägen, hinter Fassaden und in Wohnungen der Bourgoisie. Hier gibt
es auch kein Brot. Aber immerhin bequeme Betten. Für einige Stunden fin-
de ich Schlaf. Dann Schreie. Die Delegation verlässt die Bastille. Sie lachen.
De Launay hat eingewilligt. Er dreht die Kanonen herum und wird nicht
schießen. Erleichterung macht sich breit. Wenn wir diesen Militär überzeu-
gen konnten, gibt es vielleicht noch Hoffnung für uns.
Vielleicht.
Auf den Donnerschlag folgt Stille. Irgendwo in der östlichen Vorstadt hört
man die Granate einschlagen. Dann Geschrei. Chaos und Aufruhr. „Stürmt
die Bastille!“. Ich schließe die Augen.
Es geht los.
Sie stürmen los. Reden ist zwecklos. Ich stürme mit. Stürmt die
Bastille! Es ist unsere einzige Chance. Wenn sie nur noch nicht die
Brücke hochgezogen haben. Auf dem Waffenplatz vor der Bastille
passiert es. Ich entreiße noch einem Sterbenden sein Gewehr. Dann laufe
ich. Nur weg von hier. Zusammen mit einigen Kerlen, die ich noch aus der
Schule kenne, f inde ich Schutz hinter einer Mauer.
Ludwig von Flühe. Wieso sind es immer die Ludwigs, die uns das Leben so
schwer machen? Er und seine Schweizer Gardisten sind als Elitekommando
auf der Bastille stationiert. Ein anderes Kaliber als der Feigling De Launay.
Sie schießen. Und sie schießen gut. Erst als der letzte Schrei verklungen ist,
wage ich einen Blick über den Waffenplatz. Es sind bestimmt hundert. Män-
ner, Frauen. Für sie ist die Revolution vorbei, bevor sie angefangen hat. Was
geht in der Bastille vor? Hat De Launay den Schießbefehl gegeben? Oder
ist dort längst auch das Chaos ausgebrochen? Wenn wir die Bastille nicht
einnehmen können, sind wir verloren. Es ist der letzte Ort in der gesamten
Stadt, an dem Vorräte lagern könnten.
Der Hunger.
Offizier Hulin. Er und einige Dutzend seiner Nationalgardisten ha-
ben dem König den Rücken gekehrt. Und sie haben Kanonen mitge-
bracht. Das Blatt wendet sich. Gestärkt und mit neuem Mut greife ich zu
meiner Waffe. Die Kanonen sind in Stellung.
Wir feuern. Zweimal treffe ich. Aufruhr in der Bastille. Dann end-
lich. Eine Flagge. Und eine Botschaft. Alle Augen richten sich auf
die Delegation. Die reden. Dann klappt die Zugbrücke herunter.
Die Tore öffnen sich.
Dahinter De Launay und die Wachmannschaft der Bastille. Die De-
legation hat ihnen freies Geleit versprochen. Den Anderen ist das
egal. Sie haben heute nicht diesen Sieg über das Ancien Régime errungen,
um jetzt Befehle von Ihresgleichen anzunehmen. Ein Metzger übernimmt
die Aufgabe stellvertretend für das Volk. Es ist der Anfang der Revolution.
Wir sind wieder gefährlich. Und wir haben Waffen.
Am 14. Juli 1789 gelang es dem Volk von Paris die Bastille, die vorher als Gefängnis
und Garnison genutzt wurde, in ihre Gewalt zu bringen. Dieses Ereignis gilt als Be-
ginn der französischen Revolution und Anfang vom Ende des „Ancien Régime“. Der
14. Juli ist heute Nationalfeiertag in Frankreich.
Tom Kirchgäßner
WS 2010/11
Illustration
Prof. André Rösler