Wenn jeder Diät-Fehler Gehirnzellen kostet · ben.FürdiePharmaindustrie sinddiesekauminteressant....

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Münchner Merkur Nr. 256 | Montag, 7. November 2011

Redaktion Medizin: (089) 53 06-425wissenschaft@merkur-online.de

Telefax: (089) 53 06-86 61 17Leben

sprechen in einigen Fällen zu-mindest zum Teil an, und dieDiät kann gelockert werden.

Etwas später konnte dieGenomforschung dann auchzeigen, wie das Medikamentwirkt: Bei einem Projekt imRahmen des Bayerischen Ge-nomforschungsnetzwerks ge-lang es meiner Arbeitsgruppenachzuweisen, dass es sich beider PKU um eine sogenannteProteinfaltungserkrankunghandelt. Proteine haben imKörper viele Aufgaben, vor al-lem steuern sie chemische Re-aktionen. Eine davon ist derAbbau von Phenylalanin. Da-zu muss das Protein aber einebestimmte dreidimensionaleStruktur einnehmen. Schonkleine Fehler bei der Faltunghaben große Auswirkungenauf die Funktion. BH4 verbes-sert die Faltung des Enzymsund steigert so seine Aktivität.

Im Jahr 2008 wurde BH4dann von der EuropäischenArzneimittelbehörde zugelas-sen. Damit hat sich für vieleBetroffene das Leben mitPKU erheblich verbessert.Doch das ist nicht alles: DieErgebnisse könnten bald auch

al und die Mechanismen derKrankheitsentstehung in dereinzelnen Zelle kennen.

Ein erster Durchbruch fürPatienten mit PKU gelang voretwa zehn Jahren in Japan.Meine Münchner Arbeits-gruppe konnte wenig späterbestätigen, dass eine körperei-gene Substanz, Tetrahydro-

Doch kann eine schlichteDiät eine schwere Behinde-rung verhindern? Das klingteinfacher, als es ist. Die Diäterfordert viel Disziplin und istkostspielig. Die Patienten er-halten zudem täglich bis zu ei-nen Liter synthetisch herge-stellter Eiweißkonzentrate,die geschmacklich extrem un-angenehm sind. Doch nur soist ein gesundes Wachstum so-wie die Entwicklung und Aus-bildung eines funktionieren-den Immunsystems möglich.Unermesslich ist zudem dieBelastung der Eltern-Kind-Beziehung. Denn jeder Diät-fehler kann zu einer Schädi-gung des Gehirns führen. Da-rüber hinaus ist jede banaleInfektion, jede Impfung, jedeStresssituation mit der Gefahreiner Stoffwechselentgleisungverbunden.

50 Jahre lang gab es außerder Diät keine alternative Be-handlung. Denn leider sindviele angeborene Stoffwech-selerkrankungen nur wenigoder gar nicht erforscht. Dochum Therapien zu entwickeln,muss man die zugrunde lie-genden Defekte im Erbmateri-

typischen Geruch führt.Bei der Geburt zeigen die

Babys noch keine Symptome.Bleibt die Erkrankung unbe-handelt, sammelt sich aberPhenylalanin im Organismusan und schädigt vor allem dasGehirn. Dies führt zu schwe-ren neurologischen Störun-gen mit epileptischen Anfäl-len und geistiger Behinderungmit fast vollständigem Verlustder Intelligenz.

Eine frühe Therapie kanndas verhindern: Vor 60 Jahrenentdeckte der deutsche Kin-derarzt Dr. Horst Bickel, dasssich die schweren Symptomeder PKU vermeiden lassen.Notwendig ist eine strikt ei-weißarme Diät, die die Betrof-fenen ein Leben lang einhal-ten müssen. PKU wird daherheute beim sogenannten Neu-geborenenscreening erfasst.Alle Babys werden am 3. Le-benstag getestet.

VON ANIA MUNTAU

Viele haben es wohl schonmal auf einer Verpackung ge-lesen: „Enthält eine Phenyl-alaninquelle.“ Doch nur we-nige wissen, an wen sich dieAufschrift richtet. Phenylke-tonurie, kurz PKU genannt,zählt zu den seltenen Erkran-kungen. Unter diesen ist esaber eine der häufigen: PKU-Patienten leiden unter einerangeborenen Stoffwechsel-störung. In Deutschland sindetwa 15 000 Menschen be-troffen.

Ursache der Erkrankung istein Gendefekt. Dieser führtzu einer Funktionsstörungdes Enzyms Phenylalaninhy-droxylase. Im gesunden Kör-per baut es einen bestimmtenEiweißbestandteil, die Ami-nosäure Phenylalanin, ab. BeiPKU-Patienten ist dieserStoffwechselweg vollständigoder teilweise blockiert. DerName der Erkrankung leitetsich dabei von bestimmtenStoffwechselprodukten ab,den Phenylketonen. Die Be-troffenen scheiden diese mitdem Urin aus, was zu einem

Durchbruch bei seltener Erkrankung: Viele können wieder normal essenPatienten mit anderen ange-borenen Stoffwechselstörun-gen helfen. Denn der Wirkme-chanismus ist durchaus über-tragbar. Derzeit werden neueMedikamente für drei weitereschwere Stoffwechselerkran-kungen entwickelt. Mit hoherWahrscheinlichkeit ist dasneue Therapiekonzept in Zu-kunft auch auf weit verbreite-te Volkskrankheiten anwend-bar. Dazu gehört die Choles-terinerhöhung, bestimmteFälle von Krebs sowie Alters-diabetes.

Doch auch aus Sicht derPharmafirmen lohnt sich dieForschung, zumal die betrof-fenen Patienten das Mittel einLeben lang schlucken müs-sen. Zudem werden durch dieneuen Therapien Behinde-rungen – und damit nicht nurmenschliches Leid – sondernauch hohe Kosten verhindert.Patienten, die bisher wegender Seltenheit ihrer Erkran-kung auf der Schattenseite derMedizin leben mussten, erhal-ten eine Chance.

Fragen an die Expertin:wissenschaft@merkur-online.de

biopterin, kurz BH4, dieFunktion des Enzyms wiederherstellen kann – die Krank-heitssymptome verschwin-den. Insgesamt sprechen etwa60 Prozent der Patienten da-rauf an. Viele können hier-durch vollständig auf die Diätverzichten. Patienten, die be-sonders schwer erkrankt sind,

Verwirrende Faltung: das Enzym, das Phenylalanin abbaut.

Strikt eiweißarme Diätmuss ein Leben langeingehalten werden

Als Chefarzt im MünchnerKlinikumGroßhadernerlebeich täglich, wie wichtig medi-zinische Aufklärung ist. Mei-ne Kollegen und ich(www.fa-cebook.de/UrologieLMU)möchten den Lesern daherregelmäßig ein Thema vor-stellen, das für ihre Gesund-heit bedeutsam ist. Im Zen-trum steht heute Phenylketo-nurie, kurz PKU. Die Exper-tin des Beitrags ist Prof. Dr.Ania Muntau. Sie leitet amHaunerschen Kinderspitalder Universität München dieAbteilungen für angeboreneStoffwechselerkrankungenund für Molekulare Pädia-trie (www.molekularepae-diatrie.de). Mit ihrer Arbeits-gruppe hat sie wesentlich zurEntwicklung einer neuenPKU-Therapie beigetragen.

Prof. Dr. Christian Stief

Stichwort: SelteneErkrankungenPhenylketonurie gehört – wiefast alle angeborenen Stoff-wechselerkrankungen – zu densogenannten Waisenerkran-kungen. So nennt man Leiden,die bei weniger als einer von2000 Personen auftreten. Nurwenige Hundert der etwa 6000seltenen Krankheiten sind da-bei medizinisch genau beschrie-ben. Für die Pharmaindustriesind diese kaum interessant.Denn wenige Patienten bedeu-ten in der Regel wenig Gewinn –aber die gleichen Forschungs-kosten. Insgesamt kennt manheute 289 angeborene Stoff-wechselstörungen. Die einzel-nen sind zwar selten, insgesamtleidet hierzulande aber einesvon 500 Kindern an einer ange-borenen Stoffwechselstörung.Eine starke Lobby für diese Pa-tienten gibt es dennoch nicht.Wer die Forschung für erkrankteKinder unterstützen möchte,kann dies mit einer Spende andie Prinz Lennart von Hohen-zollern-Stiftung tun.Kontoverbindung:StOK Bayern/LMUHypoVereinsbank MünchenBLZ 700 20 270Konto Nr. 80143Verwendungszweck: „Kap.9896/28273 – Erforschungangeborener Stoffwechsel-krankheiten“

war. „Er war freundlich“, sagtsie. Doch die geistige Behin-derung lässt sich nicht verber-gen. Ihr Sohn soll ein anderesSchicksal haben. „Sie habeneinen Superjob gemacht“,lobt Muntau die Mutter.

Dann, Johannes ist zwölf,ein Einschnitt. Er nimmt aneiner Studie am HaunerschenKinderspital teil. „Wir woll-ten die Forschung unterstüt-zen“, sagt Georg Feldl, Johan-nes’ Vater. Es geht um einneues Medikament. Um zutesten, ob es wirkt, muss dieKonzentration des Phenylala-nins im Blut erst mal anstei-gen. Johannes erinnert sichkaum an die Zeit. Ein Bild hater aber sofort vor sich: Er isstmit seinen Eltern Tagliatelle –zum ersten Mal.

Es sollte nicht das letzteMal sein. Das Medikamentwirkt, viel besser, als es selbstdie Ärzte erwartet hatten. DasMittel hält die Phenylalanin-Werte niedrig, auch bei ei-weißreicher Kost. Die Kinderder Studie lernen, wie es sichanfühlt, normal zu essen. DerErfolg ist durchschlagend.Doch bis die Kinder das Mit-tel dauerhaft bekommen kön-nen, muss es erst zugelassenwerden. Das dauert Jahre.

„Ich musste es allen wiederwegnehmen“, erzählt Muntaunoch immer betroffen. Dennjetzt wird die gewohnte Diätzur Qual. Alle Eltern habengroße Probleme, die Kinderwieder an die eiweißarmeKost zu gewöhnen. „Es warein Drama“, sagt Muntau.Auch Johannes hat die Nasevoll, vor dem Essen ewig zurechnen. „Und du hast auchmal genascht“, sagt die Mut-ter vorwurfsvoll. Johannesschweigt. Ist das Gehirn aus-gewachsen, hat ein Diätbruchnicht mehr so schwere Fol-gen, wirkt aber noch immernegativ. In der Schule fällt esdem Jungen oft schwer, sichzu konzentrieren. Er rutschtvom Gymnasium auf die Re-alschule ab – und hat selbstdort Probleme.

Doch dann, die Wende:Sechs Jahre nach der Studieist das Mittel zugelassen. Einpaar Tabletten täglich – undJohannes kann essen, was erwill. Was er besonders mag?„Einfach alles“, sagt er. Auchdie Konzentrationsproblemesind weg. Er macht jetzt dasAbitur. Nur langsam beginntseine Mutter zu glauben, dassdie Krankheit nicht mehr dasLeben beherrscht. Das vonJohannes und das der Fami-lie. Denn von PKU sind alleMitglieder betroffen, obkrank oder gesund.

Sie stecken in Brot, Nudeln,Reis und Süßigkeiten. Obstund Gemüse müssen abgewo-gen, Brot zudem aus eiweißar-mem Mehl selbst gebackenwerden. Eine Packung Spezi-allebensmittel, die es nur imVersand gibt, kostet 400 Euro.Johannes braucht eineinhalbim Monat. Die Krankenkasseübernimmt davon nicht einenEuro. Schließlich handelt essich nicht um Medikamente.Die lebenswichtigen Eiweiß-drinks schmecken widerlich.„Wenn man das Glas nichtauswäscht, riecht es nach Er-brochenem“, beschreibt Jo-hannes’ Mutter.

Rita Bonholzer-Feldl hatdie Heftchen aufgehoben, indenen sie den Speiseplan ih-res Sohnes notiert hat, Tag fürTag. Auf den Seiten steht jedesGramm, das er gegessen hat:92 Gramm Breze, selbstgeba-cken aus Spezialmehl. Minus4 Gramm – Johannes hat sienicht aufgegessen. 37 GrammButter, 8 Gramm Salzstangen.

Doch die strenge Diät istnicht das Schlimmste. „Mangewöhnt sich. Dann ist einem

ist das Kind nicht in unmittel-barer Gefahr. „Der Schlüssel-satz muss sein: Es ist ernst.Aber es gibt eine gute Thera-pie.“

Verhindern lässt sich dieErkrankung indes kaum. PKUist eine angeborene Stoff-wechselstörung und wird ver-erbt. Das heißt aber nicht,dass die Eltern ebenfalls er-krankt sind. Auch Johannes’Eltern sind gesund. Doch

trägt etwa jeder 50. gesundeErwachsene das veränderteGen in sich, ohne es zu mer-ken. Nur wenn beide ElternTräger sind, kann es sein, dassdie Krankheit bei den Kindernausbricht. Aber auch dannsind nicht zwingend alle Kin-der des Paares betroffen: ImSchnitt erbt eines von vierenden Gendefekt von beiden El-tern – und erkrankt.

Auch Johannes hat zwei ge-sunde Geschwister. Doch in

Fleisch ist für ihn Gift,auch Milch und sogar Ge-treide. Der Körper von Jo-hannes Feldl kann einenEiweiß-Baustein nicht ab-bauen. Der junge Mannleidet an Phenylketonu-rie. Früher konnte nur ei-ne Diät Schäden verhin-dern. Ein neues Medika-ment brachte jetzt denDurchbruch – und Johan-nes ein normales Leben.

VON SONJA GIBIS

Es war ein Anruf, der aus ih-rem gesunden Baby ein kran-kes machte. Und wenn RitaBonholzer-Feldl davonspricht, könnte man glauben,das Telefon hätte erst gesterngeklingelt. Der Anruf kam vierTage nach der Geburt ihresSohnes. Im selben Jahr hattesie ein Kind verloren, eineTotgeburt. Jetzt hielt sie glück-lich ein scheinbar gesundesBaby in den Armen. Dochdann die Diagnose: Phenylke-tonurie. Nie zuvor hatte diejunge Mutter aus Wolfrats-hausen davon gehört. Dochsofort war klar: Es ist ernst.Unbehandelt, so erfuhr sie,führt die Stoffwechselstörungzu schweren Hirnschäden.Sie packte ihr Baby, fuhr mitihrem Mann in die Klinik. „Inmir war Chaos“, sagt sie.

Johannes, das Baby von da-mals, sitzt neben seinen Elternim Haunerschen Kinderspitalin München. Ein jungerMann, 19 Jahre alt. Dem An-schein nach völlig gesund.„Du bekommst ganz rote Ba-cken“, sagt er zu seiner Mut-ter. Doch wenn sie von derersten Zeit nach Johannes’Geburt erzählt, ist eben alleswieder da: die Angst, die Un-sicherheit, die Hilflosigkeit.

Etwa 1000 Eltern inDeutschland ergeht es jedesJahr wie Rita Bonholzer-Feldldamals. Wenige Tage nach derGeburt erhalten sie einen An-ruf von der Klinik. Der Test,für den allen Neugeborenenan der Ferse Blut entnommenwird, hat eine verborgeneKrankheit aufgedeckt. Seit1967 ist die UntersuchungRoutine. Damals war Phenyl-ketonurie, kurz PKU, die ein-zige Krankheit, auf die getes-tet wurde. Heute sind eszwölf. „Dieser Anruf ist danneine sehr sensible Sache“, sagtKinderärztin Prof. Ania Mun-tau, die Johannes seit vielenJahren behandelt. Einerseitsmuss klar sein: Eine Behand-lung ist zwingend nötig. Doch

Wenn jeder Diät-Fehler Gehirnzellen kostetMEINE SPRECHSTUNDE ..................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................

das wurscht“, sagt Johannesund zuckt mit den Schultern.Schlimmer ist das geringe Ver-ständnis von Verwandten, an-deren Eltern, selbst Lehrern.„Die dachten, die Mutterspinnt“, sagt Rita Bonholzer-Feldl. Wenn der Nikolaus inder Schule Süßes verteilt,steckt sie ihm zuvor ein Spe-zialsäckchen zu. „Und dieseverflixte Scheibe Wurst beimMetzger“, sagt sie. Dann die

Blicke, wenn sie Johannes dieScheibe wegnehmen muss. Je-der Kindergeburtstag, einDrama. Jede Klassenfahrt, ei-ne Herausforderung. Dazu dieständigen Blutabnahmen.

Doch Rita Bonholzer-Feldlweiß, dass sich die Mühelohnt. Bei einem Kochkursfür PKU-Betroffene lernt sieeinen Kranken kennen. Er isterwachsen, doch bei ihmwurde die Krankheit erst fest-gestellt, als er drei Jahre alt

seinem Körper läuft etwasschief. Ein Enzym funktio-niert nicht richtig. Normaler-weise sorgt es dafür, dass Phe-nylalanin abgebaut wird. BeiJohannes ist das nicht mög-lich. Die Konzentration vonPhenylalanin im Blut steigt –mit schlimmen Folgen. So ge-langen zu wenig andere wich-tige Stoffe ins Gehirn. Dochdie sind nötig, damit es sichgut entwickeln und richtigfunktionieren kann. Frühererreichten die Betroffenen sel-ten einen Intelligenzquotien-ten von mehr als 20, musstenihr Leben in der Psychiatrieverbringen. „Johannes hat ei-nen IQ von 138“, erzählt seineMutter stolz. Er liegt damitweit über dem Durchschnitt.

Das verdankt der Jungeauch der Disziplin seiner Mut-ter: Johannes muss auf Le-bensmittel verzichten, die be-stimmte Eiweiße enthalten.Zusätzlich erhält er spezielleEiweiß-Drinks. Das klingtsimpel. Doch im Alltag ist dashart: Gefährliche Eiweißesind nicht nur in Fleisch,Fisch und Milch enthalten.

Jeder 50. trägt denGendefekt in sich,ohne es zu wissen

Jeder Geburtstag wirdzum Drama, jede Reisezur Herausforderung

Blutabnahme – wie schon so oft: Prof. Ania Muntau piekst Johannes Feldl, um seinen Phenylalanin-Wert zu testen. BODMER