' /0 - Kassenärztliche Vereinigung Hessen · d tjg tjg " & ! $ # ! " # ! " # b " & ! $ #

44
STANDPUNKT Opioidtherapie: Gefangen in der Schmerzmittelwolke FORSCHUNG & PRAXIS Evidenzpyramide: Fehleranfälligkeit hängt auch vom Studientyp ab NACHRICHTEN Arzneimittelsicherheit: „Blaue Hand“ für Schulungsmaterial Kommt ein neuer Goldstandard? Diabetestherapie Pharmakotherapie Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis Jahrg. 22, Nr. 2 | Juni 2017 Informationsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen aktuell

Transcript of ' /0 - Kassenärztliche Vereinigung Hessen · d tjg tjg " & ! $ # ! " # ! " # b " & ! $ #

STANDPUNKTOpioidtherapie: Gefangen in der Schmerzmittelwolke

FORSCHUNG & PRAXISEvidenzpyramide: Fehleranfälligkeithängt auch vom Studientyp ab

NACHRICHTENArzneimittelsicherheit: „BlaueHand“ für Schulungsmaterial

Kommt ein neuerGoldstandard?

Diabetestherapie

PharmakotherapieRationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis Jahrg. 22, Nr. 2 | Juni 2017

Informationsdienst derKassenärztlichen VereinigungHessenaktuell

2 KVH aktuell 2|2017

Richtig verordnentrotz unklarer Belege

Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege,neben einer Übersicht über die aktuelle Studienlage der neuen Medikamentenklassen in der Diabetestherapie beschäftigen uns diesmal vor allem zwei Themen: zum einen die Verordnung vonCannabis-Produkten zulasten der gesetzlichen Krankenkassen seit dem 10. März. Cannabis wird bei einer Vielzahl von Krankheiten und Symptomen eingesetzt, wobei es nur wenige Belege/Studien für anhaltende Therapieeffekte gibt. Die Nebenwirkungen können beträchtlich sein. Bei chronischenSchmerzen, Übelkeit durch Zytostatika ist Cannabis daher kein Arzneimittel der ersten Wahl. Bei

Gewichtsverlust – zum Beispiel bei HIV, Tumorerkrankungen oder Morbus Alzheimer – ist die Wirksamkeit nicht sicher belegt. Bei Schizophrenie, MorbusParkinson, Tourette-Syndrom, Epilepsie, Kopfschmerzen und chronisch entzündlichenDarmerkrankungen liegt eine völlig unzureichende Beurteilung der Therapie vor.Zudem kommen immer mehr Patienten mit anderen Krankheiten wie einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in die Praxen und wollenmit Cannabis behandelt werden. Oft sind die Voraussetzungen für dessenEinsatz aber nicht voll gegeben. Diese Situation ist – nicht von unsÄrzten – gewollt und wird vermehrt zu Diskussionen mit den Patienten führen. Die Ausweitung der Therapie lässt sich

sicherlich nicht bremsen, da die Krankenkassen diese nur in begründeten Einzelfällen ablehnen dürfen. Zur Therapie stehen Cannabisblüten, Dronabinol und Fertigarznei -mittel zur Verfügung. Die verschiedenen Cannabisblütenprodukte – zurzeit 14 – habenalle einen unterschiedlichen Wirkstoffgehalt und müssen einzeln mit Dosierungsan -gaben rezeptiert werden. Es stellt sich die Frage, warum man nicht vorwiegend oder ausschließlich vorliegende Fertigarzneimittel beziehungsweise Dronabinol alsRein substanzrezeptur zur Therapie einsetzt. Eine ausführliche Analyse liefert der Beitrag von Stefan Grenz.

Unser zweites Thema betrifft den Beschluss des LandessozialgerichtsBerlin- Brandenburg zur Mischpreisbildung. Dieser sieht vor, dass derzwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband verhandelte wirtschaft-liche Mischpreis bei Arzneimitteln mit Subgruppen mit und ohneZusatznutzen für die Subgruppe ohne Zusatznutzen nicht zulässigist. Das Urteil steht noch aus. Es würde zu einem faktischen The-rapieausschluss innovativer Arzneimittel, massiver Reduzierung unserer Therapiefreiheit, vor allem aber zu einer erheblichen Verschlechterung der Versorgung unserer Patienten sowie möglicherweise zu Regressverfahren führen. Lesen Sie hierzuden Artikel von Jürgen Bausch.

Eine informative Lektüre wünscht Ihnen Ihr

Dr. med. Wolfgang LangHeinrich

Bei jeder neuen Therapie ist es wichtig

zu prüfen, ob es eine Alternative mit besserbelegtem Nutzen gibt.

EDIT

OR

IAL

KVH aktuell 2|2017 3

Inhalt

SCHWERPUNKT SEITEN 4–13

Substanz-Check Antidiabetika: Zukunftsträchtig therapieren

NACHRICHTEN SEITEN 14–16

Wechselwirkungen: Kombination Amiodaron und Anastrozol?

Arzneimittelsicherheit: „Blaue Hand“ für Schulungsmaterial

Recht: BSG-Urteil zu Arzneimittelverordnungen

Nebenwirkung: Sehnenschäden durch Fluorchinolone

STANDPUNKT SEITEN 17–34

NSAR: Bei Kindern besser vermeiden

Opioidtherapie: Gefangen in der Schmerzmittelwolke

LSG-Beschluss: Aus für Mischpreise?

Evidenz – Glaube – politische Adelung: Positionen zur sogenannten Komplementärmedizin

Placebo und Nocebo: Just in Mind?

Cannabis: Lipophil, hochpreisig und politisiert

FORSCHUNG & PRAXIS SEITEN 35–39

Evidenzpyramide: Fehleranfälligkeit hängt auch vom Studientyp ab

Kniearthroskopie oder Unterschenkelgips: Heparin unwirksam!

DIALOG SEITEN 40–42

Choosing wisely: Top-5-Empfehlungen für die Endokrinologie

Impressum

2|2017

Hinweis: Angaben zu möglichen Interessenkonflikten der Autoren dieses Magazins können bei der Redaktion ([email protected]) erfragt werden. Nachdruckeausgewählter Fachbeiträge erfolgen dagegen ohne nochmalige Prüfung möglicher Interessenkonflikte. In KVHaktuell genannte geschützte Produktnamen sind, unabhän-gig davon, ob sie als solche gekennzeichnet sind, Marken und/oder Warenzeichen der jeweiligen Rechteinhaber und somit nicht frei verwendbar. Auf eine Kennzeichnungder Produktnamen mit einem Warenzeichen wird daher verzichtet.

4 KVH aktuell 2|2017

SCHWER

PUNKT

ANTIDIABETIKA

ZukunftsträchtigtherapierenDie Zahl der neu erkrankten älteren Typ-2-Diabetes-Patienten steigtpro Jahr geschätzt um 270.000 (Gesundheitsbericht Diabetes 2015) –und damit auch die Notwendigkeit einer effizienten und bezahlbarenBehandlung. Der Beitrag analysiert zwei der wichtigsten neueren antidiabetischen Wirkstoffgruppen: DPP-4-Hemmer und SGLT-2-Hemmer. Die erste Substanzgruppe wirkt über Darmhormone (Inkretine), die zweite über die Nieren. Beide werden in der Regelmit Metformin kombiniert. Eine dritte Substanzgruppe, die GLP-1-Rezeptor agonisten, wird an dieser Stelle abschließend beurteilt, sobald die Bewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses zu den Ergebnissen der LEADER-Studie (Daten zur therapeutischen Relevanz des umsatzstärksten Inkretinanalogons Liraglutid) vorliegt.Diese wird frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2017 erwartet.

KVH aktuell 2|2017 5

SCHWER

PUNKT

SCHWER

PUNKT

Für den Beginn einer medikamentösen Therapiedes Typ-2-Diabetes gilt Metformin weiterhin als

erste Wahl. Doch der Typ-2-Diabetes ist eine chro-nisch progrediente Erkrankung und im Verlaufstellt sich daher bei der Mehrzahl der Betroffenendie Frage nach einer geeigneten Kombinations-therapie. Während sich nationale und internatio-nale Leitlinien einhellig auf Metformin als erstesAntidiabetikum festlegen, ist die Auswahl des geeigneten zweiten Präparats eher offen. Auch evi-denzbasierte Leitlinien können dafür als Entschei-dungshilfe nicht mehr bieten als eine Würdigungder zum Zeitpunkt ihrer Erstellung publizierten Evi-denz. Und so gibt es bis heute keine prospektive,randomisierte Studie zu der Fragestellung, ob eineKombinationstherapie mit Metformin plus „X“ einer anderen Kombination von Metformin plus„Y“ im Hinblick auf harte Endpunkte, wie Mortali-tät oder Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall,überlegen ist. Es gibt lediglich eine Vielzahl vonrandomisierten Vergleichsstudien, die sich mitdem Effekt unterschiedlicher Kombinationsthera-pien auf Surrogatparameter, wie HbA1c, Blutzu-cker nüchtern und postprandial, Körpergewicht,Hypoglykämierisiko, Blutdruck etc. befassen. Istnun die ärztliche Interpretation von Studiendatenoder eher das aggressive Marketing der Pharmain-dustrie der Hauptgrund dafür, dass in den letztenJahren die Sulfonylharnstoffpräparate von denDPP-4(Dipeptidylpeptidase-4)-Inhibitoren als amhäufigsten verordnete Kombinationspartner fürMetformin abgelöst wurden?

Sitagliptin und SaxagliptinVon den in chronologischer Reihenfolge ab 2007 inDeutschland eingeführten DPP-4-Inhibitoren Sitagliptin, Saxagliptin, Vildagliptin und Linagliptinsind aktuell nur noch Sitagliptin und Saxagliptin aufdem deutschen Markt erhältlich, und zwar jeweilsals Monotherapie sowie in fixer Kombination mitMetformin. Im vergangenen Jahr verursachte Sita-

gliptin als Monosubstanz in Deutschland für die gesetzliche Krankenversicherung Kosten von 234,4Mio. Euro und als Fixkombination mit Metforminnochmals von 281,2 Mio. Euro. Für Saxagliptin(27,1 Mio. Euro) bzw. die Fixkombination Saxaglip-tin plus Metformin (28,4 Mio. Euro) lagen die Aus-gaben zwar deutlich darunter, aber insgesamt sinddie Gesamtkosten von über 570 Millionen Euro fürden Gesamtmarkt der DPP-4-Inhibitoren in derGKV beträchtlich.

DPP-4-Inhibitoren wirken auf eine Protease, dieden schnellen Abbau von Inkretinen bewirkt, derenwichtigster Vertreter wiederum das „Glucagon-likepeptide-1“ (GLP-1) ist. Infolge der daraus resultie-renden Erhöhung der Inkretinspiegel kommt es inAbhängigkeit vom Blutzucker zu einer verstärktenInsulinfreisetzung sowie einer Abnahme des kon-trainsulinär wirkenden Hormons Glucagon. DPP-4-Inhibitoren haben jedoch keinen wesentlichen Einfluss auf die Insulinresistenz. In placebokontrol-lierten Studien fand sich unter der alleinigen Gabevon DPP-4-Inhibitoren kein relevant erhöhtes Hypo-glykämierisiko, was einen fundamentalen Unter-schied zu Sulfonylharnstoffen darstellt, die über einen anderen Mechanismus die Insulinsekretionsteigern. Die antihyperglykämische Potenz der ein-zelnen DPP-4-Inhibitoren wurde in den zahlreichenStudien maßgeblich vom Ausgangs-HbA1c beein-flusst und liegt im Bereich von 0,4–0,9 ProzentHbA1c-Senkung. Beim Einsatz gemäß aktuellenLeitlinien (ab Überschreitung eines HbA1c-Zielkorri-dors von 6,5–7,5 Prozent) ist eine HbA1c-Senkungum 0,5–0,6 Prozent zu erwarten. Im direkten Ver-gleich erwiesen sich DPP-4-Inhibitoren gegenüberSulfonylharnstoffpräparaten als nicht unterlegen,während ihre blutzuckersenkende Wirkung signifi-kant schwächer ist als jene von SGLT-2-Inhibitorenund GLP-1-Rezeptoragonisten. Relevante Unter-schiede zwischen den einzelnen DPP-4-Inhibitorenim Hinblick auf die Wirkstärke lassen sich aus denpublizierten Studiendaten nicht extrahieren. Eine

6 KVH aktuell 2|2017

GLIPTINE

Was sind die wichtigsten Aspekte zu Status, Nutzen und Risikoeiner Kombinationstherapie mit DPP-4-Hemmern?

DPP-4-Inhibitoren:Analyse und Ausblick

Dosistitration ist grundsätzlich nicht erforderlich.Die einmal täglich erfolgende Gabe ist ausreichend,nur aus Gründen der Praktikabilität erfolgt die Ein-nahme in fixer Kombination mit Metformin wegendessen kürzerer Halbwertszeit zweimal täglich. DerEffekt von DPP-4-Inhibitoren auf Körpergewichtund Blutdruck ist neutral. Die Standarddosis von100 mg Sitagliptin beziehungsweise 5 mg Saxaglip-tin kann bei eingeschränkter Nierenfunktion bis zueiner eGFR von ≥ 50 ml/min eingesetzt werden. Beihöhergradiger Niereninsuffizienz kann die Dosisauf 50 mg (eGFR 30–50 ml/min) sowie 25 mg (eGFR < 30 ml/min) Sitagliptin beziehungs-weise auf 2,5 mg Saxagliptin reduziert werden.

SicherheitsstudienFür drei DPP-4-Inhibitoren liegen Endpunktstudienvor (siehe Tabelle). Ihnen gemeinsam ist, dass sienach den gültigen Vorgaben der FDA als Sicher-heitsstudien konzipiert wurden, um eine Nichtun-terlegenheit gegenüber der Vergleichstherapie imHinblick auf harte (kardiovaskuläre) Endpunktenachzuweisen. In SAVOR-TIMI 53 wurde Saxaglip-tin im Vergleich zu Placebo bei 16.492 Patientenmit Typ-2-Diabetes und kardiovaskulärer Vorer-krankung oder hohem kardiovaskulärem Risikountersucht (mittleres Alter 65,0 Jahre, BMI 31,1kg/m2, Diabetesdauer 10,3 Jahre, Ausgangs-HbA1c 8,0 Prozent).1 Primärer Endpunkt war eineKombination von kardiovaskulärem Tod, nichttödlichem Myokardinfarkt sowie ischämischemSchlaganfall. Während einer medianen Beobach-tungszeit von 2,1 Jahren traten 613 Ereignisse unter Saxagliptin (7,3 Prozent) und 609 unter Pla-cebo (7,2 Prozent) auf. Entsprechend erwies sichSaxagliptin in Bezug auf den primären zusammen-gesetzten Endpunkt formal als kardiovaskulär sicher (nicht unterlegen, p < 0,001), jedoch nicht

als überlegen. Es fand sich unter Saxagliptin jedocheine signifikant höhere Rate an Hospitalisierungenwegen Herzinsuffizienz (3,5 vs. 2,8 Prozent, Hazard Ratio 1,27; p = 0,007). Bei geringer Ereig-niszahl (22 vs. 16) war die Häufigkeit von akuterPankreatitis nicht signifikant unterschiedlich(p = 0,42). Schwere Hypoglykämien traten im Saxagliptin-Arm signifikant häufiger auf (2,1 vs.1,7 Prozent, p = 0,047).

In TECOS wurde Sitagliptin im Vergleich zu Placebo bei 14.671 Patienten mit Typ-2-Diabetesund kardiovaskulärer Vorerkrankung untersucht(im Mittel: Alter 65 Jahre, BMI 30,2 kg/m2, Diabe-tesdauer 11,6 Jahre, Ausgangs-HbA1c 7,2 Pro-zent).2 Primärer Endpunkt war eine Kombinationvon kardiovaskulärem Tod, nicht tödlichem Myo-kardinfarkt, nicht tödlichem Schlaganfall sowieHospitalisierung wegen instabiler Angina Pectoris.Während einer mittleren Beobachtungszeit von3,0 Jahren traten 839 Ereignisse unter Sitagliptin(11,4 Prozent) und 851 unter Placebo (11,6 Pro-zent) auf. Entsprechend erwies sich Sitagliptin alskardiovaskulär sicher (nicht unterlegen, p < 0,001),jedoch nicht als überlegen. Es fand sich unter Sita -gliptin keine höhere Rate an Hospitalisierungen wegen Herzinsuffizienz (p = 0,98). Bei geringer Ereigniszahl war unter Sitagliptin eine akute Pan-kreatitis tendenziell häufiger nachweisbar (23 vs.12 Ereignisse, p = 0,07). Die Häufigkeit von Pan-kreaskarzinomen (p = 0,32) sowie schweren Hypoglykämien (p = 0,33) war in beiden Grup-pen nicht signifikant unterschiedlich. Für denEndpunkt Retinopathie zeigte sich ein statistischsig nifikanter Nachteil für Sitagliptin mit einer Erhöhung des relativen Risikos um 30 Prozent (p = 0,012).

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auchin der EXAMINE-Studie mit dem in Deutschland

SCHWER

PUNKT

KVH aktuell 2|2017 7

JAHRESTHERAPIEKOSTEN DPP-4-INHIBITOREN (IN DEUTSCHLAND)

Den größten Anteil am Gesamtmarkt der DPP-4-Inhibitoren zulasten der gesetzlichen

Krankenversicherung (GKV) verursachten die Kosten für Sitagliptin als Monosubstanz

mit 234,4 Mio. Euro bzw. 281,2 Mio. Euro für die Fixkombination mit Metformin. Dazu

kamen die Kosten für Saxagliptin (27,1 Mio. Euro) bzw. die Fixkombination Saxagliptin

plus Metformin (28,4 Mio. Euro). Quelle: Insight-Health

570 Millionen

SCHWER

PUNKT

8 KVH aktuell 2|2017

nicht auf dem Markt befindlichen DPP-4- InhibitorAlogliptin bei Patienten mit Typ-2-Diabetes undakutem Koronarsyndrom kurz vor Studienein-schluss kein signifikanter Unterschied beim primä-ren Endpunkt zwischen Alogliptin und Placebobeobachtet wurde. Auch hier wurde also das Kriterium der kardiovaskulären Nichtunter -legenheit erfüllt.3

Risiken und NebenwirkungenDie überraschende Beobachtung eines erhöhtenRisikos für eine Hospitalisierung wegen Herzinsuf-fizienz unter der Behandlung mit Saxagliptin inSAVOR-TIMI 53 warf die Frage nach einem mög -lichen Klasseneffekt auf. Zudem fand sich in derEXAMINE-Studie mit Aloglip-tin zwar insgesamt kein erhöhtes Risiko für Hospitali-sierung infolge Herzinsuffi-zienz, wohl aber im Rahmeneiner Post-hoc-Analyse einum 76 Prozent höheres Risikoin der Subgruppe von Patien-ten, bei denen zuvor keineHerzinsuffizienz bekanntwar.4 In TECOS gab es jedochfür Sitagliptin kein derartigesSignal, sodass Sitagliptin imGegensatz zu Saxagliptin undAlogliptin als unbedenklich im Hinblick auf das Risiko für Herzinsuffizienz angesehen werdenkann. Eine große multizentrische Beobachtungs-studie mit annähernd 1,5 Mio. Patienten zum Herz-insuffizienzrisiko unter Inkretin-basierten Therapienfand kein erhöhtes Risiko für eine Hospitalisierunginfolge Herzinsuffizienz unter DPP-4-Inhibitoren,machte jedoch keine Angaben zu den einzelnenSubstanzen, mit denen die Patienten jeweils behandelt worden waren.5 Es kann vermutet wer-den, dass auch hier von den verfügbaren DPP-4-Inhibitoren bevorzugt Sitagliptin eingesetzt wurde.

Kontrovers diskutiert wird seit jeher ein mögli-cherweise erhöhtes Risiko für Pankreatitis undPankreaskarzinom unter einer Inkretin-basiertenTherapie. Die dadurch gesteigerte Aufmerksam-keit führt vermutlich zu einem „reporting bias“,das heißt, es werden eher Fälle von Pankreatitisoder Pankreaskarzinomen unter DPP-4-Inhibitorenbzw. GLP-1-Rezeptoragonisten als unerwünschteNebenwirkungen gemeldet als unter der Therapiemit anderen Antidiabetika. Insofern helfen uns fürdie Bewertung des Risikos am ehesten die Ergebnisse aus den Sicherheitsstudien weiter,auch wenn ihre mittleren Beobachtungszeiten vonmaximal 3,0 Jahren speziell im Hinblick auf eineInterpretation des Karzinomrisikos deutlich zukurz sind. Folglich ergibt auch die Metaanalyse bei

insgesamt 9 vs. 14 Fällen von Pankreaskarzinomenin allen drei Studien zusammen keinen signifikantenUnterschied, wobei das relative Risiko mit 0,54 (p =0,07) unter DPP-4-Inhibitoren sogar tendenziellniedriger ausfiel.6 Während in den einzelnen Studi-en SAVOR-TIMI 53, EXAMINE und TECOS jeweilskein signifikant erhöhtes Risiko für eine akute Pankreatitis beobachtet wurde, kommen Meta -analysen aller drei Studien zu anderen Ergebnis-sen.6, 7 Danach ist das relative Risiko für eine akutePankreatitis um 79 Prozent (p = 0,013) höher alsunter der Therapie mit anderen Antidiabetika. Esmuss allerdings erwähnt werden, dass bei insge-samt sehr geringem Risiko für eine akute Pankrea-titis in den Studienkollektiven diese drastische Er-

höhung des relativen Risikosnur einer vergleichsweise geringen Erhöhung des abso-luten Risikos um 0,13 Prozententspricht. Dennoch ist insbe-sondere bei Patienten mit einem über das bei Diabetes ohnehin erhöhte Risiko für eineakute Pankreatitis hinausge-henden Risiko sowie bei jenenmit einer akuten Pankreatitisin der Vorgeschichte große Zu-rückhaltung geboten, was denEinsatz von DPP-4-Inhibitoren

betrifft. In Anbetracht einer hinreichenden Zahlvon alternativen Substanzen gibt es keine plausi-ble Begründung, warum Patienten hier einem zu-sätzlichen Risiko ausgesetzt werden sollen.

LeitlinienDie Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) für dieTherapie des Typ-2-Diabetes8 listet DPP-4-Inhibito-ren als mögliche Option für die Monotherapie beiMetformin-Unverträglichkeit bzw. relevantenKontraindikationen für den Einsatz von Metfor-min. Bei Nichterreichen des individuellen HbA1c-Ziels werden die DPP-4-Inhibitoren in beiden Algorithmen der NVL (DEGAM/AkdÄ beziehungs-weise DDG/DGIM) als eine von mehreren gleich-berechtigten Optionen für die Kombinationsthe-rapie mit Metformin aufgeführt, ohne dass unterden jeweils zur Auswahl gestellten Kombinatio-nen eine Rangfolge erstellt wird. Es muss aller-dings erwähnt werden, dass die redaktionelle Arbeit für die erstmals im August 2013 erschiene-ne NVL bereits erfolgte, bevor Endpunktstudienzu DPP-4-Hemmern, Empagliflozin und GLP-1- Rezeptoragonisten veröffentlicht wurden. Undauch, bevor es überzeugende Daten zu oralen Dreierkombinationen gab. Die jährlich aktualisier-ten Praxisempfehlungen von DDG und DGIM sindzwar an die NVL angelehnt, berücksichtigen

Die Attraktivität der DPP-4-Inhibitorenresultiert nicht zuletztaus der gleichzeitigenZufriedenheit von Arzt und Patient –

auch wenn es in vielen Fällen wirksamere Alternativen gibt.

SCHWER

PUNKT

jedoch auch im weiteren Verlauf publizierte Evi-denz. Dennoch sind auch in der aktuellen Versionder Praxisempfehlungen von 2016 weiterhin dieOptionen für eine Zweierkombination von Anti-diabetika mit Metformin alphabetisch gelistet, oh-ne dass eine Präferenz angegeben wird.9 Auch dasweit verbreitete Konsensuspapier von Europäi-scher und Amerikanischer Diabetes-Gesellschaft(EASD bzw. ADA) gibt für die Kombinationsthera-pie keine Präferenz zu den einzelnen Substan-zen.10 Allen Leitlinien und Empfehlungen ist gemeinsam, dass eine individualisierte Therapie unter Berücksichtigung von Alter, Diabetesdauer,vorhandenen Diabeteskomplikationen und Komor-biditäten, Therapieziel und etlichen weiteren Fak-toren empfohlen wird. In Deutschland führtenderartige Überlegungen bei der Ärzteschaft zuletzt dazu, dass der Einsatz von DPP-4-Inhibito-ren bei ca. 1,5 Mio. Patienten mit Typ-2-Diabetes jeweils sinnvoller erschien als die Verordnung vonzur Verfügung stehenden Alternativen.

Gemeinsamer BundesausschussBemerkenswert sind die kontinuierlich angestie-genen Verordnungen von DPP-4-Inhibitoren nichtzuletzt vor dem Hintergrund eines von 2008 bis2016 bestehenden Therapiehinweises durch denGemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Der G-BAhat sich letztmalig am 15.12.2016 mit den DPP-4-Hemmern befasst und seine vormaligen Beschlüs-se aus dem Jahr 2013 geändert.11, 12 Ein geringerZusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Ver-gleichstherapie wird befristet für Sitagliptin in der freien Kombination mit Metformin gesehen,jedoch in keinem der anderen zugelassenen Anwendungsgebiete von Sitagliptin und zudem

KVH aktuell 2|2017 9

auch nicht in jeglicher zugelassenen Fixkombinati-on mit Metformin. Die Entscheidung des G-BA aufEmpfehlung des IQWiG, wonach die freie Kombi-nation von Sitagliptin und Metformin im Gegen-satz zur Fixkombination einen Zusatznutzen erhält, mag bei formalistischer Interpretation vonStudiendaten begründbar sein. Angesichts derTatsache, dass gerade bei multimorbiden Patien-ten mit Polypharmazie der Einsatz von Fixkombi-nationen die Therapietreue fördern kann, geht eine solche Bewertung an einer sinnvollen Versor-gungsrealität vorbei. Für Saxagliptin wurde vomG-BA in keinem der zugelassenen Anwendungs-gebiete ein Zusatznutzen gegenüber der jeweiligenVergleichstherapie gesehen, egal ob in Verordnungals Monosubstanz oder in fixer Kombination mitMetformin. Es bleibt abzuwarten, welche Konse-quenzen sich aus den laufenden Preisverhand -lungen zwischen den Herstellern und dem GKV- Spitzenverband ergeben.

Subjektive Sicht des DiabetologenNicht Blutzucker- und HbA1c-Kosmetik ist das Zielder antidiabetischen Therapie, sondern die Verhin-derung mikro- und makrovaskulärer Folgeschädenbei möglichst guter Lebensqualität und normalerverbleibender Lebenserwartung. Auch zehn Jahrenach erstmaliger Einführung bleiben die DPP-4-Hemmer im Gegensatz zu etlichen anderen aufdem Markt befindlichen Antidiabetika (Metformin,Glibenclamid, Pioglitazon, Empagliflozin, Liraglu-tid) den Nachweis schuldig, dass durch ihren Ein-satz harte Endpunkte günstig beeinflusst werdenkönnen. Im Sinne der Anforderungen an diedurchgeführten Endpunktstudien kann aber dendort untersuchten DPP-4-Inhibitoren zumindest

1 tägliche Dosis in Abhängigkeit von der eGFR / 2 in der jeweiligen Verum-Gruppe / 3 für die jeweilige Verum-Gruppe, 95 % CI = 95-%-Konfidenzintervall / 4 Lancet 2015; 385: 2067–2076.

Endpunktstudien mit DPP-4-Inhibitoren

SAVOR-TIMI 531 TECOS2 EXAMINE3, 4

DPP-4-Inhibitor Saxagliptin 5 bzw. 2,5 mg1 Sitagliptin 100 bzw. 50 mg1 Alogliptin 25, 12,5 bzw. 6,25 mg1

Teilnehmer 16.492 14.671 5.380

Einschlusskriterium kardiovaskuläre Vorerkrankung kardiovaskuläre Vorerkrankung akutes Koronarsyndrom innerhalb oder multiple kardiovaskuläre der letzten 15–90 TageRisikofaktoren

mediane Beobachtungszeit 2,1 Jahre 3,0 Jahre 1,5 Jahrekardiovaskuläre Endpunkte n = 613 (7,3 %) n = 839 (11,4 %) n = 305 (11,3 %)(MACE)2 1,00 (0,89–1,12) 0,98 (0,88–1,09) 0,96 (≤ 1,16)Hazard Ratio3 (95 % CI) p = 0,001 (Nichtunterlegenheit) p < 0,001 (Nichtunterlegenheit) p < 0,001 (Nichtunterlegenheit)

Hospitalisierung n = 289 (3,5 %) n = 228 (3,1 %) n = 106 (3,9 %)wg. Herzinsuffizienz2

Hazard Ratio3 (95 % CI) 1,27 (1,07–1,51), p = 0,007 1,00 (0,83–1,20), p = 0,98 1,19 (0,90–1,58), p = 0,220

Todesfälle2 n = 420 (4,9 %) n = 547 (7,5 %) n = 112 (4,1 %) Hazard Ratio3 (95 % CI) 1,11 (0,96–1,27), p = 0,15 1,01 (0,90–1,14), p = 0,88 0,88 (0,71–1,09), p = 0,23

10 KVH aktuell 2|2017

kardiovaskuläre Sicherheit attestiert werden. Undwenn sich Substanzen bei Patienten mit hohemkardiovaskulärem Risiko als sicher erweisen, dannkann diese Sicherheit auch für Patienten mit niedri -gerem Risiko angenommen werden. Als Diabetolo-ge in Praxis und Klinik freue ich mich über möglichstvielfältige Optionen für die Therapie meiner Patien-ten mit Typ-2-Diabetes, da diese Vielfalt eine we-sentliche Voraussetzung für die Individualisierungder Therapie darstellt. Selbst bei sehr wohlwollen-der Betrachtung innovativer Therapiestrategien inder Diabetologie stimmt mich jedoch die oft unkri-tische Verordnung von Sitagliptin und Saxagliptinals bevorzugte Kombinationspartner von Met -formin zunehmend nachdenklich. Ich frage mich daher, warum bundesweit der relative Anteil vonPatienten unter Therapie mit DPP-4-Inhibitorendeutlich höher ist als in dem von mir selbst behandelten Patientenkollektiv. Was erklärt die Beliebtheit der DPP-4-Inhibitoren insbesondere imhausärztlichen Bereich?

Das massive Marketing in Form von Anzeigen,industriefinanzierten Fortbildungen und regelmä-ßigen Besuchen rhetorisch geschulter Außen -dienst mitarbeiter hat hierfür sicher einen maßgeb-lichen Beitrag geleistet. Darüber hinaus resultiertdie Attraktivität der DPP-4-Inhibitoren nicht zuletztaus der gleichzeitigen Zufriedenheit von Arzt undPatient: kein intrinsisches Risiko für Hypoglykä-mien, keine Gewichtszunahme und sehr gute Verträglichkeit mit wenig akuten Nebenwirkun-gen, die eindeutig der Einnahme von Sitagliptinoder Saxagliptin geschuldet wären. Insofern wer-den wir Ärzte von unseren so behandelten Patien-ten nur in seltenen Ausnahmefällen mit lästigenNebenwirkungen und daraus resultierender Unzu-friedenheit konfrontiert. Die Häufigkeit von sub-jektiven Nebenwirkungen unter DPP-4-Inhibitorenerscheint ähnlich niedrig wie bei AT1-Antagonistenund damit deutlich niedriger als für Sulfonylharn-

stoffe, SGLT-2-Hemmer oder GLP-1-Rezeptorago-nisten, von Metformin ganz zu schweigen. Undnatürlich erhöht eine gute Verträglichkeit die The-rapietreue. Dafür wird offenbar die im Vergleich zueinigen anderen Alternativen schwächere Wirkungvon DPP-4-Inhibitoren auf Blutzucker und HbA1c

akzeptiert. Dagegen kosten vorsorgliche Gespräche mit

Patienten über mögliche Hypoglykämien unter Sulfonylharnstoffen Zeit, ebenso wie die Themati-sierung von Balanitis oder vaginaler Candidiasis unter SGLT-2-Inhibitoren oder von Übelkeit unterGLP-1-Rezeptoragonisten. Dennoch führe ich dieseGespräche, weil aus meiner subjektiven Sicht dieGabe eines DPP-4-Inhibitors bei der Mehrzahl meiner Patienten nicht die beste Option ist, wennMetformin allein nicht mehr ausreicht. Das gilt ins-besondere für Patienten mit kardiovaskulären Vor-erkrankungen und/oder Herzinsuffizienz. Auch inder Kombination mit Insulin sind DPP-4-Inhibito-ren weitaus weniger hilfreich als andere zur Verfü-gung stehende Präparate. Am ehesten erscheinensie unter Beachtung der altersadaptierten Therapie-ziele in der geriatrischen Therapie sinnvoll, wenn andere Präparate weniger gut verträglich, wenigersicher (z. B. wegen des Hypoglykämierisikos), weni-ger praktikabel oder gar im Einzelfall kontraindiziertsind. Die trotz ihrer sehr guten Verträglichkeit nurgeringe Bedeutung der DPP-4- Inhibitoren in meinerPraxis könnte sich jedoch wieder ändern, wenn inder aktuell noch laufenden CAROLINA-Studie eineÜberlegenheit des DPP-4-Inhibitors Linagliptin imdirekten Vergleich zu Glimepirid als Kombinations-partner von Metformin nachgewiesen wird. Bis dahin wird der Anteil meiner Patienten unter einerTherapie mit DPP-4-Inhibitoren vermutlich nochweiter abnehmen, da mir die Behandlung mit denzur Verfügung stehenden Alternativen in vielen Fällen besser begründbar erscheint. �

PROF. DR. MED. ANDREAS HAMANN

Literatur:1. N Engl J Med 2013;

269: 1317–1326.2. N Engl J Med 2015;

373: 232–242.3. N Engl J Med 2013;

369: 1327–1335.4. Lancet 2015; 385:

2067–2076.5. N Engl J Med 2016;

374: 1145–1154.6. Diabetes Care 2017;

40: 164–170.7. Diabetes Care 2017;

40: 284–286.8. awmf.org/leitlinien/

detail/ll/nvl-001g.html.9. Diabetologie 2016; 11:

S117–S129.10. Diabetes Care 2015;

38: 140–149.11. BAnz AT 16.01.2017

B4.12. BAnz AT 18.01.2017

B1.

FAZITDer hohe Anteil von Patienten mit Typ-2-

Diabetes unter einer Therapie mit Sitagliptin

und Saxagliptin in Deutschland ist vornehm-

lich durch die gute Verträglichkeit dieser

Substanzen zu erklären. Zudem weisen die

Daten aus Endpunktstudien insbesondere für

Sitagliptin auf kardiovaskuläre Sicherheit hin.

Den Nachweis eines langfristigen Nutzens im

Hinblick auf klinisch relevante Endpunkte

sind uns die DPP-4-Inhibitoren jedoch im

Gegensatz zu etlichen anderen Antidiabetika

schuldig geblieben. Im Sinne einer evidenz-

basierten Medizin sollte jeder einzelne Fall

einer Therapie mit DPP-4-Inhibitoren dahin

gehend kritisch überdacht werden, ob es

nicht eine medikamentöse Alternative mit

besser belegtem Nutzen für den jeweiligen

Patienten gibt.

SCHWER

PUNKT

KVH aktuell 2|2017 11

SCHWER

PUNKT

Während für die Behandlung von Hypertonieund Hypercholesterinämie zahlreiche Studi-

en für die unterschiedlichen zur Verfügung stehen-den Medikamente vorliegen, fehlten lange Zeitgroße internationale Studien zur Überprüfung derWirksamkeit hinsichtlich der Reduktion/Vermei-dung mikro- und makrovaskulärer Komplikationeneinzelner Medikamentenklassen oder -wirkstoffe.In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre wurden inder UGDP-Studie erstmals verschiedene Medika-mente – Diät vs. Insulin (variable Dosis) vs. Insulin(Fixdosis) vs. Sulfonylharnstoff Tolbutamid – gegen-einander getestet. Aufgrund vieler gravierenderSchwächen dieser Studie sind die Ergebnisse jedoch schwer auf unsere heutigen Verhältnisseübertragbar.1 Danach war bis zur Veröffentlichungder UKPDS-Daten2 knapp 30 Jahre später keinegrößere Studie zur Behandlung des Typ-2-Diabeteserschienen. Die UKPDS war aber, ebenso wie dieACCORD-, ADVANCE- und VADT-Studie, keine Medikamentenstudie, sondern sie verglich zwei unterschiedliche Therapiestrategien hinsichtlich desNüchternblutzuckers und dessen Auswirkungenauf Diabeteskomplikationen miteinander.3 Dieswird jedoch immer wieder in Diskussionen und Ver-öffentlichungen schlicht unterschlagen. Insofernsind all die Aussagen, dass die UKPDS bewiesen habe, dass Metformin, Sulfonylharnstof-fe (Chlorpropamid, Glibenclamid) und Humaninsu-lin Langzeitsicherheit und -nutzen aufweisen wür-den, unter den Kriterien der evidenzbasierten Medizin schlicht falsch, da dies gar nicht die Frage-stellung der Studie war. Die erste „echte“ Arznei-mittelstudie für ein Medikament zur Behandlungdes Typ-2-Diabetes war die PROACTIVE-Studie mitPioglitazon, die aufgrund methodischer Schwächenjedoch schwierig zu interpretieren ist und im primä-ren Endpunkt kein positives Ergebnis erbrachte.4

Im Jahr 2007 schreckte eine Metaanalyse zuRosiglitazon Diabetologen und Zulassungsbehör-den auf, die eine Steigerung der kardiovaskulärenKomplikationen unter dieser Substanz gesehen

haben wollte.5 Der Hersteller des Rosiglitazonmusste dann in einer prospektiven Studie nach-weisen, dass die Metaanalysedaten prospektivnicht reproduzierbar waren.6 Die Vorgänge rundum Rosiglitazon veranlassten die FDA, pharma-zeutischen Unternehmen aufzugeben, in der Regel nach der Zulassung eines Antidiabetikums sogenannte „Sicherheitsstudien“ durchzuführen,die als „Nichtunterlegenheitsstudien“ gegenüberetablierten medikamentösen Therapieoptionendurchgeführt werden, sodass wir in Zukunft zumindest „Nichtunterlegenheitsdaten“ für die neuen Antidiabetika erhalten werden. Überlegen-heitsstudien, wie wir sie für die Antihypertensivaund Statine kennen, sind zum Teil auch in Arbeit.Die „Nichtunterlegenheitsstudien“ müssen auchdie seit 2012 bzw. 2014 in Deutschland verfügba-ren SGLT-2-Inhibitoren Dapagliflozin (Forxiga) undEmpagliflozin (Jardiance) nachweisen. Bisher lie-gen diese Daten nur für Empagliflozin vor.

WirkweiseIn der Niere des Menschen wird die im Primärharnfiltrierte Glukose im Normalzustand vollständigrückresorbiert. Dies geschieht über Natrium-Glu-kose-Transporter (Sodium-glucose-cotransporters= SGLT), die in zwei Formen vorkommen: SGLT-1im Segment 3 des Tubulus mit hoher Affinität undgeringer Kapazität (10 Prozent der Rückresorption)und SGLT-2 im Segment 1 des Tubulus mit geringerAffinität und hoher Kapazität (90 Prozent derRückresorption). Bei steigenden Blutzuckerwertenerhöht die Niere ihre Rückresorptionskapazität, sodass die „Nierenschwelle“ für Glukose ansteigt.7

Durch die Hemmung von SGLT-2 wird die Glukose-und Natrium-Ausscheidung gesteigert. Die Gluko-seausscheidung erfolgt insulinunabhängig und istin ihrer Höhe vom aktuellen Blutzucker abhängig,das heißt, in der Initialphase einer Therapie ist diedurch die Glukosurie ausgelöste Diurese stärker.Dieser Effekt lässt mit sinkender Blutglukose nach.Darüber sollten Sie Ihre Patienten informieren. Die

GLIFLOZINE

Welche aktuellen Hintergrundinformationen und Empfehlungengibt es zum Umgang mit den SGLT-2-Hemmern?

SGLT-2-Inhibitoren:Einsatz in der Praxis

12 KVH aktuell 2|2017

SCHWER

PUNKT

Steigerung der Natrium- und Wasserausscheidungentspricht in etwa dem Effekt von 25mg Hydro-chlorothiazid (HCT).8 Dadurch ist bei einigen Patien-ten, die HCT zur Hochdrucktherapie erhalten, derVerzicht auf diese Substanz möglich. Weitere inStudien nachgewiesene Effekte einer Therapie mitSGLT-2-Hemmern sind:

� vermehrte Ketogenese� Senkung des kardialen O2-Bedarfs� Senkung des Harnsäurespiegels� Reduktion der arteriellen Steifigkeit� Reduktion von Mikro- und Makroalbuminurie� Reduktion der Fettleber und des viszeralen

Fettgewebes9, 10

Diese neben der Blutzuckersenkung sehr rasch ein-tretenden Effekte werden auch zur Erklärung desrasch einsetzenden Effekts der Mortalitätssenkungherangezogen. Insbesondere die vermehrte Keto-genese und Veränderungen des kardialen Energie-stoffwechsels werden diesbezüglich diskutiert.20, 21

Klinische StudienFür Dapagliflozin werden die Daten aus einer„Nichtunterlegenheitsstudie“ für 2019 erwartet.11

Bis dahin gibt es für die Beurteilung des Effekts von Dapagliflozin neben den Zulassungsstudien eine Reihe von kleineren Studien zur Beeinflussungkardiovaskulärer Risikofaktoren und des Surrogat-parameters HbA1c

12 sowie Kohortenanalysen13, 22,die einen positiven Effekt von Dapagliflozin möglicherscheinen lassen. Für die zweite in Deutschlandverfügbare Substanz, Empagliflozin, liegt die„Nichtunterlegenheitsstudie“ in Form der EMPA-REG-Studie vor. Diese wurde in KVH aktuell, Heft 4,2016, bereits ausführlich hinsichtlich der kardio -vaskulären Endpunkte besprochen.25 Die in diesemArtikel aufgeworfenen Fragen zu EMPA-REG-Datensind zumindest teilweise zu beantworten. Hinsicht-lich der stillen Myokardinfarkte waren es wohlGründe der sauberen Definition und der zum Teilnicht ausreichend vorliegenden Diagnostik (zumBeispiel nur EKG), die zur Herausnahme aus demprimären Endpunkt geführt haben. Dies ist in denGremien der FDA ausführlich diskutiert und publi-ziert worden.23, 24 Daten liegen daher nur für 51 Pro-zent der Patienten vor. Diese zeigen eine numeri-sche, aber keine statistisch signifikante Erhöhungder stillen Myokardinfarkte. Die sicherheitsbezoge-ne Interimsanalyse wurde entgegen den Aussagendes Autors des oben genannten Artikels nicht gestrichen, sondern durchgeführt. Es zeigte sich dabei kein Signal einer kardiovaskulären Risikoerhö-hung.23 Bezüglich der spekulativen Fragen zu Ver-blindungsverletzungen und vorzeitigen (der FDAnicht angezeigten) Datenanalysen möchte ich mich

eines Kommentars enthalten. Interessant ist die Fra-ge, ob der im Laufe der Studie im Placebo-Armmehr als doppelt so häufig notwendig gewordeneEinsatz von Sulfonylharnstoffen und Insulin zu demErgebnis der Studie beigetragen hat.23 Wenn diesder Fall wäre, wäre die Einstufung dieser Substanz-klassen durch den Gemeinsamen Bundesausschuss(G-BA) als „Antidiabetika mit gesicherter günstigerBeeinflussung klinischer Endpunkte“26 schlichtfalsch. Zur Klärung dieser Frage sind weitere Studienwünschenswert. Für Patienten mit Nephropathieliegen inzwischen auch Daten vor, die unter Empa-gliflozin eine Verbesserung der Nierenfunktion bzw.Reduktion der Eiweißausscheidung zeigen.14 DieDaten der EMPA-REG-Studie haben dazu geführt,dass der G-BA seine erste Nutzenbewertung, die

� Ausreichend trinken (lassen): mindestens zwei Liter/Tag

� Hygiene: Normale Genital -hygiene ist ausreichend

� Vor Therapiebeginn: Ausschluss einer Phimose

� Aufklären: über eigenständiges Absetzen der Medikation beiBauchbeschwerden, Übelkeit, Erbrechen und/oder Fieber

� Keine kohlenhydratreduzierteKost: Diese wirkt zusätzlich ketogen

� Begleittherapie mit Hypoglykä-mie-auslösenden Substanzen:insbesondere bei Insulin daraufhinweisen, dass die Dosis zumTeil massiv (bis 75 Prozent) abgesenkt werden muss; Sulfonylharnstoffe unter Umständen ganz absetzen

RESTRISIKO FÜR UAWMINIMIEREN!

Literatur:1. Leibel, B, C.M.A. Jour-

nal/August 7, 1971/Vol.105: 292–294.

2. Ann Intern Med.1998;128(3):165–175

3. Diabetologia (1983) 24:404–411.

4. Lancet Vol 366, No9493: 1279–1289, 8October 2005.

5. N Engl J Med 2007;356: 2457–71.

6. Lancet 2009 Jun20;373(9681): 2125–35.

7. Diabetic Medicine2010; 27: 136–142.

8. Clinical therapeutics,Oct 2016, Vol 38, Issue10: 2248–2264.

9. Eur Heart J (2016) 37(42): 3192–3200.

10. Expert Opinion onPharmacotherapy; Vol 18, 2017 – Issue 5:517–527.

11. clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT01730534?term=dapagliflozin&rank=70.

12. clinicaltrials.gov/ct2/results?term=Dapagli-flozin+cardiovascu-lar&Search=Search.

13. doi.org/10.1210/jc.2016–3446.

14. DOI: 10. 1056/NEJMoa1515920.

15. DOI: 10.1056/NEJMoa1504720.

16. fda.gov/Drugs/DrugS-afety/ucm505860.htm.

KVH aktuell 2|2017 13

SCHWER

PUNKT

dem Wirkstoff keinen Zusatznutzen zuerkannt hat-te, revidierte und eine neue Nutzenbewertung, beider die Patienten in zehn Subgruppen eingeteiltwurden, vorgenommen hat. Die Abbildung (sieheKasten) zeigt die Bewertung für die einzelnen Sub-gruppen, wobei die Gruppen mit zuerkanntem beträchtlichem Zusatznutzen grün, die Subgruppemit zuerkanntem geringem Zusatznutzen gelb unddie Subgruppen ohne vom G-BA zuerkannten Zusatznutzen rot unterlegt sind.

ArzneimittelnebenwirkungenDie wichtigste Nebenwirkung (UAW), die in einernennenswerten Quantität auftreten kann, ist eineurogenitale (Pilz-)Infektion.15 Eine sehr seltene,aber potenziell lebensbedrohliche Komplikation istdie Ketoazidose. Studien zeigen, dass sie auch bei normalen Blutzuckerwerten möglich ist.17, 18 EinTeil der betroffenen Patienten war wohl an einemTyp-1-Diabetes erkrankt. Für diese Patientengrup-pe ist das Ketoazidose-Risiko deutlich erhöht unddie Anwendung von SGLT-2-Hemmern kontraindi-ziert.19 Neben einer Ketoazidose kann es zudem,trotz des in der EMPA-REG-Studie nachgewiese-nen Nutzens für Patienten mit Nephropathie, auchzu einem akuten Nierenversagen kommen.16

FazitMit der Substanzklasse der SGLT-2-Inhibitoren stehterstmals für die Behandlung des Typ-2-Diabetes eine Medikamentenklasse zur Verfügung, aus derfür eine Substanz, Empagliflozin, ein patientenrele-vanter Nutzen hinsichtlich Todesfällen nachgewie-sen wurde. Für die zweite in Deutschland verfüg -bare Substanz, Dapagliflozin, liegen Hinweise aufeine positive Wirkung vor. Die entsprechende End -punkt studie läuft, wird aber voraussichtlich erst2019 Daten liefern. Interessant ist, dass der positiveEffekt nicht aus einer HbA1c-Absenkung zu erklärenist. Damit stellt nach ACCORD, ADVANCE und

VADT jetzt eine vierte Studie den Wert des HbA1c

als Zielparameter für die Reduktion kardiovaskulä-rer Ereignisse infrage. Andere Parameter wie dieReduktion des abdominellen (Leber-)Fettes und desKörpergewichts, die glykämische Last und eine Hyperurikämie werden beeinflusst. Sie sind damitmöglicherweise zukünftig neue Zielparameter einer modernen Diabetestherapie. Allerdings soll-ten die oben genannten Sicherheitsmaßnahmengegen UAW beachtet werden, da dies für eine sehrgut verträgliche, sichere und wirksame Diabetes-therapie notwendig ist. Ich setze Empagliflozin auf-grund der derzeitigen Datenlage ein bei:

1. Patienten mit gesicherter kardiovaskulärerErkrankung� als zweiten Kombinationspartner zu

Metformin,� als zweiten Kombinationspartner zu Insulin,� als dritten Kombinationspartner zu

Metformin und Insulin,� ggf. in der oralen Tripelkombination, wenn

Patienten eine injizierbare Therapie ablehnen,� bei sehr adipösen Patienten in Kombination

mit Liraglutid;

2. Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankung� bei sehr adipösen Patienten als

Kombinationspartner zu Metformin (laut G-BA: geringer Zusatznutzen).

Für Dapagliflozin gilt ein zwischen GKV und Herstel-ler vereinbarter Preis. Ich ziehe daher dessen Einsatzbei Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankungen inBetracht, die unter einem der oben genannten The-rapieregime stehen und bei denen die Begleitwir-kungen des SGLT-2-Hemmers auf Blutdruck undGewicht ein relevantes Therapie(neben)ziel seinkönnen. �

DR. MED. CHRISTIAN KLEPZIG

Nutzenbewertung nach Subgruppen (G-BA, 15. September 2016)

Wirkstoffkombination ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung kardiovaskuläre Vorerkrankung

Empagliflozin-Monotherapie, kein ZN kein ZNwenn Metformin-Monotherapie (im Vergleich zu SH) (im Vergleich zu SH)nicht möglich

Empagliflozin + Metformin geringer ZN beträchtlicher ZN (im Vergleich zu Metformin + SH) (im Vergleich zu Metformin + SH)

Empagliflozin + eine andere kein ZN beträchtlicher ZNMedikation (nicht Insulin/SH) (im Vergleich zu Metformin + SH) (im Vergleich zu Metformin + SH)

Empagliflozin + mindestens kein ZN beträchtlicher ZNzwei andere BZ-senkende (im Vergleich zu Metformin (im Vergleich zu MetforminMedikamente + Humaninsulin) + Humaninsulin)

Empagliflozin + Insulin kein ZN beträchtlicher ZN (im Vergleich zu Metformin (im Vergleich zu Metformin+ Humaninsulin) + Humaninsulin)

ZN = Zusatznutzen, SH = Sulfonylharnstoff, BZ = Blutzucker

17. www.bfarm.de/Shar-edDocs/Risikoinforma-tionen/Pharmakovigi-lanz/DE/RHB/2016/in-fo-sglt2.html.

18. fda.gov/safety/medw-atch/safetyinformati-on/ucm481084.htm

19. care.diabetesjournals.org/content/40/Supplement_1/S64.

20. Diabetes Care2016;39: 1108–1114.

21. Diabetes Care2016;39: 1115–1122.

22. onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/dme.37_13304/full.

23. www.fda.gov/Advisor-yCommittees/Commit-teesMeetingMaterials/Drugs/Endocrinologi-candMetabolicDrugs-AdvisoryCommittee/ucm510016.htm.

24. nejm.org/doi/suppl/10.1056/NEJMoa1504720/suppl_file/nejmoa1504720_protocol.pdf.

25. kvhessen.de/fileadm-in/media/documents/Mitglieder/Publikatio-nen/KVH_aktuell_Phar-makotherapie/KVH_ak-tuell_Pharma_2016/KVH_aktuell_Pharmako_4-2016.pdf.

26. g-ba.de/downloads/39-261-2466/2016-01-21_DMP-A-RL_Diabe-tes-Typ2_Anlage-1-u-8_BAnz.pdf.

NACHRICHTEN

14 KVH aktuell 2|2017

WECHSELWIRKUNGEN

Amiodaron und Anastrozol: kombinierbar zur parallelen Verwendung?

Folgende Frage erreichte uns aus der Praxis:Meine 72-jährige Patientin hat seit fünf Jahren eineabsolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern undnimmt deshalb seit vier Jahren Amiodaron 200 mg,5 x 1 Tablette pro Woche, mit guter Kontrolle dertachykarden Phasen. Nun wurde sie vor Kurzemam Mammakarzinom operiert. Eine fünfjährigeTherapie mit dem Aromatasehemmer Anastrozolsoll folgen. Was könnten Sie zu der Wechsel wirkung zwischenAmiodaron und Anastrozol sagen?

Die Antwort gibt der Pharmakotherapie-Informa-tionsdienst aus Tübingen. Von einer therapeutischrelevanten Interaktion zwischen Amiodaron undAnastrozol ist nach derzeitigem Kenntnisstandnicht auszugehen. Dafür gibt es folgende Gründe:� Pharmakodynamische Interaktionen sind nachden Wirkprofilen nicht zu erwarten.

� Zu pharmakokinetischen Interaktionen gibt esnach aktueller Recherche und Fachinforma-tionen keine Studien, weder in vitro noch invivo, für diese spezifische Wirkstoff-Paarung.In solchen Fällen betrachtet man dann dieAbbau- und Transportwege für beide Wirk-stoffe und schaut nach Überlappungen als etwaigen Orten für etwaige Interaktionen,insbesondere nach Inhibitoren oder Indukto-ren sowie gemeinsamen Substraten.

Das Entscheidende: Es geht dabei, wenn über-haupt, um Hemmungen dieser Enzyme, nicht umInduktionen. Da Anastrozol kein Prodrug, sondernselbst aktiv ist, würde eine Hemmung eines odermehrerer Abbauwege in einer Erhöhung derWirkspiegel resultieren. Eine Gefährdung der Wir-kung ist dann nicht zu erwarten. Von einem erhöhten Nebenwirkungsrisiko ist angesichts des Sicherheitsbereichs von Anastrozol und Amioda-ron ebenfalls nicht auszugehen.

Sollte die Patientin wegen Vorhofflimmerns auchein Antikoagulans nehmen?Sowohl Phenprocoumon als auch beispielsweiseRivaroxaban sind Substrate von P-gp (P-Glycopro-tein, einem Transporter an Epithelien), und Amio-daron hemmt P-gp mittelstark. Eine solche Inter-aktion erkennt man bei Phenprocoumon auchquantitativ leicht an der INR und kann die Phen-procoumon-Dosis problemlos anpassen. Für diedirekten (oder „neuen“) oralen Antikoagulanzien(NOAK) haben wir einen validen Wirkparametervergleichbarer Aussagekraft leider noch nicht zurVerfügung. Für diese Situation (Amiodaron- Komedikation) erscheint Phenprocoumon daherderzeit vorteilhafter.

Fazit: Wir sehen keine Bedenken gegen die gemeinsame Anwendung von Amiodaron undAnastrozol. �

Quelle:Verordnungsforum 40,Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg

ARZNEIMITTELSICHERHEIT

Die „Blaue Hand“: Neues Symbol kennzeichnetSchulungsmaterial für Arzneimittel

Seit dem 1. Dezember 2016 kennzeichnet die„Blaue Hand“ angeordnetes und behördlich genehmigtes Schulungsmaterial. Das neue Sym-bol ist dem Logo der „Roten Hand“ nachempfun-den, mit dem auf sicherheitsrelevante Informatio-nen zu Arzneimitteln hingewiesen wird. Dadurchsollen die Unterlagen einen höheren Wiederer-kennungswert bekommen. Ärzte, Apotheker,Pflegepersonal und Patienten können das Schu-lungsmaterial leichter erkennen. Zukünftig mussSchulungsmaterial für solche Arzneimittel erstelltwerden, bei denen die Informationen in derFachinformation oder Packungsbeilage alleinnicht ausreichen, um das Risiko bei der Anwen-dung zu minimieren. Es muss vom jeweiligenpharmazeutischen Unternehmer in der vomBundesinstitut für Arzneimittel und Medizinpro-dukte (BfArM) bestimmten Art (Broschüre, Patientenkarte oder Video) zur Verfügung gestelltwerden. Die vom BfArM geprüften Materialienwerden mit der Aufschrift „behördlich geneh-migtes Schulungsmaterial“ gekennzeichnet.Durch Bereitstellen dieser Unterlagen soll dieArzneimittelsicherheit weiter verbessert werden.Bei den Materialien kann es sich beispielsweiseum Checklisten, Anwendungsleitfäden oder Patientenpässe zur Verlaufskontrolle handeln.Anlass für die neue Kennzeichnung waren Hin-weise der Arzneimittelkommission der deut-schen Ärzteschaft (AkdÄ), dass beauflagtes

Schulungsmaterial bei den Zielgruppen offenbarleicht mit Werbung verwechselt wird. In einemkonkreten Fall wurde medizinisches Fachpersonaldurch entsprechendes Schulungsmaterial vorabüber die Änderung der Wirkstärke eines Arznei-mittels informiert. So sollten Überdosierungendurch Medikationsfehler vermieden werden. DieÄrzte hielten das Schulungsmaterial jedoch fürWerbung, die entsorgt wurde. In der Folge kames zu Nebenwirkungen durch Überdosierung imZusammenhang mit der neuen Wirkstärke. �

Schulungsmaterial findet sich auch auf den Homepages des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte(BfArM) und des

Paul-Ehrlich-Instituts (PEI)sowie der entsprechen-den pharmazeutischen

Unternehmen.

kvh.link/1702001

kvh.link/1702002

INTERNET

KVH aktuell 2|2017 15

NACHRICHTEN

behördlich

genehmigtes

Schulungsmaterial

16 KVH aktuell 2|2017

NACHRICHTEN

NEBENWIRKUNGEN

Sehnenschäden durch Fluorchinolone

Seit Mitte der 90er-Jahre ist bekannt, dass Fluor -chinolone neben anderen gravierenden Neben -wirkungen (psychische Störungen) auch Sehnen-schäden in Form von Entzündungen und Rupturenverursachen können. Nach den Ergebnissen präkli-nischer sowie epidemiologischer Studien ist das Risiko für Sehnenschäden unter den verschiedenenMitgliedern der Fluorchinolon-Klasse (Nor floxacin,Ciprofloxacin, Ofloxacin, Moxifloxacin, Levofloxa-cin) allerdings ungleich verteilt. Levofloxacin scheintmehr betroffen zu sein als andere Fluorchinolone.Das Risiko für eine ein- oder beidseitige Entzün-dung und/oder Ruptur der Achillessehne ist ins -besondere bei älteren Patienten erhöht. Die Symp-tomatik kann bereits innerhalb weniger Stundennach Behandlungsbeginn, aber auch erst mitmehrwöchiger Latenz nach Therapieende auftre-

ten. Das Risiko steigt mit zunehmendem Alter sowie durch eine Komedikation mit Kortikostero -iden an. Das Bundesinstitut für Arzneimittel undMedizinprodukte (BfArM) hat daher Anfang diesesJahres ein euro päi sches Risikobewertungsverfahrenfür Fluorchinolone und Chinolone initiiert.

Fazit: Fluorchinolone sollten insbesondere bei alten Menschen nur bei zwingenden Indikationen(z. B. schwerer Harnwegsinfektion, Sigmadiverti-kulitis) gegeben werden. Für banale Infekte wieleichte Atemwegsinfektionen stehen andere, risi-koärmere und billigere Antibiotika zur Verfügung.Bei jedem Verdacht auf eine Tendinitis oder Rupturder Achillessehne ist zudem eine genaue Medika -men ten anamnese erforderlich. �

Quellen:Bericht der Arzneimittel-kommission der dt. Ärzteschaft (AkdÄ)kvh.link/1702014Pressemeldung des BfArM kvh.link/1702015

RECHT

BSG-Urteil zu Arzneimittelverordnungen

Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom28. September 2016 entschieden, dass Vertrags-ärzte nicht verpflichtet sind, vor Ausstellung einerArzneimittelverordnung ohne konkreten Anhalts-punkt zu überprüfen, ob sich der Patient in statio-närer Behandlung befindet und dadurch schonmit Arzneimitteln versorgt wird. Nach Auffassungdes BSG darf ein Vertragsarzt im Normalfall davonausgehen, dass sein Patient nicht gleichzeitig auchstationär behandelt wird. Nur wenn konkrete Anhaltspunkte für einen Krankenhausaufenthaltvorlägen und der Arzt dennoch ein Arzneimittel -rezept ausstellte, würde er sich schuldig machen.Ein solcher Einzelfall könnte sich nach Ausführungdes BSG beispielsweise ergeben, wenn ein Patient

telefonisch um Ausstellung eines Folgerezepts füreine Dauermedikation bittet und dieser Patientgegenüber dem Arzt die Absicht eines stationärenAufenthalts geäußert hat.

Fazit: Es besteht keine generelle Verpflichtungder Vertragsärzte, sich vor Ausstellung einer Arz-neimittelverordnung zu vergewissern, dass derVersicherte, für den die Verordnung ausgestelltwird, sich zu diesem Zeitpunkt nicht in einer sta-tionären Krankenhausbehandlung befindet. DasUrteil ist rechtskräftig. �

Quelle:BSG: Urteil vom 28. September 2016, AZ: B 6 KA 27/16 B

KVH aktuell 2|2017 17

Über viele Jahre galt Paracetamol als Standard-wirkstoff für die Behandlung von Schmerzen

oder zur Fiebersenkung bei Kindern. Inzwischenwird es aber zunehmend von Präparaten aus derGruppe der nicht-steroidalen Antirheumatika ver-drängt: So erfreut sich der Wirkstoff Ibuprofen (alle Präparationen und Indikationen) in Deutsch-land mit rund 26,7 Millionen Verordnungen (eineZunahme von 4,6 Prozent gegenüber 2014) vorDiclofenac mit rund 9,4 Millionen Verordnungenim Jahr 2015 zunehmender Beliebtheit. Nun haben italienische Untersucher den Zusammen-hang zwischen gastrointestinalen Blutungen undNSAR-Einnahme ins Visier genommen. Sie berich-ten über eine Serie von 51 Kindern, die in 8 Kin-derkliniken zwischen 2005 und 2013 wegen Ver-dacht auf gastrointestinale Blutungen nach Behandlung mit NSAR endoskopisch untersuchtwurden. Die Zahl der Patienten wuchs im unter-suchten Zeitraum an. Das mittlere Alter der Kin-der betrug 7,8 Jahre. Der mit Abstand am häu-figsten verwendete Wirkstoff war Ibuprofen mitrund 69 Prozent, gefolgt von Ketoprofen mit rund10 Prozent. Der Einsatz erfolgte bei rund 40 Pro-zent wegen Fieber und bei circa 60 Prozent wegenSchmerzen. Die mediane Zeit bis zum Eintritt derBlutung betrug vier Tage, wobei in etwa der Hälfteder Fälle die Dosierung korrekt erfolgt war. Unterden Kindern litten 33 Prozent unter Hämatemesis,31 Prozent litten unter Bauchschmerzen, 25 Pro-zent entwickelten eine Anämie, 8 Prozent Mälenaund rund 2 Prozent litten unter Schwindel und Erbrechen. Dabei waren die Kinder mit Hämateme-sis jünger als der Durchschnitt. Bei der Endoskopiezeigten sich bei 62 Prozent der Kinder Erosionender Magenschleimhaut, bei 33 Prozent Erosionendes Duodenums und bei 15 Prozent Erosionen derSpeiseröhre.

FazitEin erschreckendes Ergebnis, wenn man bedenkt,dass gastrointestinale Blutungen auch einen töd-lichen Ausgang nehmen können. Erschreckendauch deshalb, weil wir Ärzte eher darauf fixiertsind, dass vor allem alte Menschen von gastroin-testinalen Blutungen durch NSAR gefährdet undjüngere Menschen oder gar Kinder weniger bedroht seien. Möglicherweise ein folgenschwe-rer Irrtum! Stattdessen sollte man auf das bewährte Paracetamol zurückgreifen und Ibupro-fen und andere NSAR bei Kindern vermeiden. Da-bei darf nicht vergessen werden, dass auch Paracetamol unzählige Menschen wegen verse-hentlicher Überdosierung das Leben gekostethat. Bei dessen Einsatz sollte regelhaft und immerwieder betont werden, wie wichtig die Kontrolleder Maximaldosis ist. Dies gilt sowohl für Kinderals auch für Erwachsene. Die bessere Alternativeist die korrekte Indikationsstellung. So ist emp-fehlenswert, die beiden Medikamente in erster Linie für die eigentliche Indikation zu verwenden:zur Schmerzstillung. Die routinehafte, reflektori-sche Gabe bei Fieber sollte unterlassen werden.Der Sinn und Nutzen einer Fiebersenkung bei Infekten ist fragwürdig bzw. nach unserer Kennt-nis nicht belegt. �

DR. MED. JOACHIM SEFFRIN

STANDPU

NKT

Neue Studien zeigen, warum man bei Kindern nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) sehr zurückhaltend einsetzen sollte.

PÄDIATRIE

Besser vermeiden!

Literatur:1. ncbi.nlm.nih.gov/pmc/ articles/PMC4724619/.2. Arzneiverordnungs-Report 2016.

Mehr Verordnungen, mehr Auswahl, mehr Konsum – vernebeltuns der Analgetika-Rausch den Blick auf geeignete Indikationenfür diese Substanzgruppe?

OPIOIDTHERAPIE

Gefangen in derSchmerzmittelwolke

DR. MED. FLORIAN BRENCK

Allein im Jahr 2014 kamen in den USA über19.000 Menschen (2013: 16.0001) durch die

Überdosis eines opioidhaltigen Schmerzmittelsums Leben. Zusätzlich sollen es nach Angaben desCenter of Disease Control (CDC) 10.000 Heroin-Tote gewesen sein (2013 landesweit noch 8.200).Dafür gibt es zwei Erklärungsversuche: Zum einengibt es Hinweise darauf, dass die teils frei verkäuf-lichen Analgetika den Einstieg in einen Opiatmiss-brauch bedingen können. Vier von fünf Heroin-konsumenten in den Vereinigten Staaten hattenihre Drogenkarriere durch den Missbrauch vonverschreibungspflichtigen Medikamenten begon-nen, ließ der vorherige Präsident Barack Obama ineiner Ansprache im Herbst 2015 in West Virginiawissen.1 In den USA sterben demnach jedes Jahrbereits mehr Menschen an einer Überdosis dieserMedikamente als bei Autounfällen. Zum anderenlässt sich daraus belegen, dass die Verordnungund der Konsum opiathaltiger Schmerzmittel kon-tinuierlich zunehmen. Die Anzahl der Verschrei-bungen für Rezepte mit Opioid-Schmerzmittelnwird für das Jahr 2012 mit 259 Millionen angege-ben.2 Ungeachtet aller Probleme mit opioidhalti-gen Analgetika3 bilden diese die Therapiegrundla-ge chronischer Schmerzen in Amerika.4, 5

Die Situation in DeutschlandBei einem Blick in die Verschreibungspraxis vergan-gener Jahre scheint das Lamentieren über gestie -gene Opioid-Verbrauchsmengen so alt wie das Beklagen der Verrohung der Jugend. Vor 15 Jahrenbereits hieß es in einem Artikel in der Fachzeitschrift„Schmerz“, dass der weltweite Verbrauch vonOpiaten dramatisch gestiegen sei.6 Dabei muss beiallen Statistiken beachtet werden, wie diese Zahlenausgewiesen werden. Die Angaben variieren vonGesamtmengen in Gramm pro Jahr über DefinedDaily Doses (DDD) oder die Anzahl der Verord -nungen bzw. Morphin-Äquivalente (ME), denen

wiederum unterschiedliche Umrechnungsfaktorenvon Opiat zu Opiat zugrunde liegen. Trotzdem istnicht von der Hand zu weisen, dass auch inDeutschland die konsumierten Mengen an Anal-getika und Opioiden – wie auch immer gerechnet– kontinuierlich ansteigen. Nach den Statistikendes International Narcotics Control Board der UN (INCB), dem gegenüber die jeweilige Regierungeine Meldepflicht hat, beträgt der absolute erwar-tete Bedarf an Morphin für Deutschland 1.800.000Gramm (oder 1,8 Tonnen) – zum Vergleich: fürGroßbritannien 5.090.152, die USA 80.000.000 –sowie an Fentanyl 600.000 Gramm in Deutschlandversus 100.000 in UK und 1.750.000 in den USA.So beeindruckend diese Zahlen auch sind, soschwer sind sie direkt vergleichbar, da in Deutsch-land mit Tilidin ein Me dikament in hohen Dosen(53.000.000 Gramm) eingesetzt wird, das in vie-len anderen Ländern eine eher marginale Rollespielt.7 Deutschland ist damit unter den acht Län-dern weltweit, deren S-DDD (DDD für statistischeAuswertungen) pro Millionen Einwohner und Tagfür Opioide über 10.000 liegt.8 Im Jahr 2002 über-traf die Zahl der abgegebenen Tagesdosen anOpioiden erstmals die der Nichtopioid-Analgetika.9 Anders ausgedrückt wurden zwi-schen 2000 und 2010 mehr als zehn MillionenBtM-Rezepte an ambulant tätige Ärzte ausgege-ben. Dies entspricht einer Verdoppelung innerhalbvon zehn Jahren.10 Auch in der stationären Versor-gung lassen sich hierzulande Spuren dieses Trendserkennen. In den letzten 15 Jahren ist die Zahl derPatienten, bei denen psychische Störungen undVerhaltensauffälligkeiten durch Opioide (ICD-CodeF11) zur Krankenhauseinweisung geführt haben,von 22.293 auf 34.916 angestiegen.11

Zu beachten ist, dass es sich hier um einenTrend handelt, der sich auf entwickelte Länder bezieht. Während in diesen die Mengen steigen,fehlen im Rest der Welt Opioide selbst für die

STANDPU

NKT

18 KVH aktuell 2|2017

STANDPU

NKT

KVH aktuell 2|2017 19

zweifelsfreien Indikationen. Die Wahrheit ist, dass92 Prozent des weltweiten Morphins von 17 Pro-zent der Weltbevölkerung konsumiert werden.8, 12

Das Problem weitet sich ausZur steigenden Zahl der Langzeitverordnungen undwachsenden Zahl von Patienten, die mit Opioidenbehandelt werden, gesellen sich bereits Folgepro-bleme. Mischverordnungen mit Benzodiazepinennehmen stark zu und potenzieren damit die Risikengesundheitlicher Schäden. In den USA fand sich ineiner Stichprobe von Daten Privatversicherter 2013bereits ein Anteil von 17 Prozent von Opioidanwen-dern, die gleichzeitig auch Benzodiazepine einnah-men (2001 waren es noch 9 Prozent). Dadurch bestand bei Patienten mit dieser „Kombinations-therapie“ ein um den Faktor 2,14 erhöhtes Risikofür das Aufsuchen einer Notaufnahme oder derstationären Behandlung im Vergleich zu Patienten,die nur Opioide anwendeten.23

Alles nur ein Missverständnis?Auf der Suche nach Erklärungsmodellen für denTrend steigender Patientenzahlen und Opioid-mengen zeigt sich, dass es sich bei den liberalenVerordnungen und dem zunehmenden, unkriti-schen Konsum um eine überschießende Gegenre-gulierung von Ansichten der Siebzigerjahre desletzten Jahrhunderts handelt. Seinerzeit führte dieUS-Regierung einen intensiven „War on drugs“.Der Versuch, mit allen zur Verfügung stehendenMitteln die Einfuhr und Verbreitung aller Artenvon Drogen in den USA zu unterbinden, führteauch dazu, medizinische Opioide äußerst verhal-ten einzusetzen. Mit steigender Verhältnismäßig-keit der Mittel sank aber die Hemmschwelle fürden therapeutischen Einsatz. Eine gewollte Umkehr in der Verordnungspraxis von Opioiden inDeutschland fußt unter anderem auf der stärker inden Fokus gelangten Behandlung von Palliativpa-

20 KVH aktuell 2|2017

STANDPU

NKT

dem Einzug oraler Opioide in die Akutschmerzthe-rapie wird die Gewöhnung der Patienten an dieseWirkstoffe gebahnt, während Hemmschwellenund Berührungsängste abgebaut werden.

Vereinfachte AnwendungDie große Gefahr besteht in der Entlassung unterOpioidmedikation, die dann im niedergelassenenBereich beendet werden muss (z. B. Zalviso, FirmaGrünenthal). Vor diesem Hintergrund und der veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung im Sinne des Herausholens der Opioide aus derSchmuddel ecke der Junkies ist der Griff zu denOpioiden einfacher geworden. Immerhin werden diese oft vergleichsweise gut vertragen. Die Anwendung wird Arzt und Patient von den phar-mazeutischen Anbietern zusätzlich so leicht wiemöglich gemacht. Wie sonst lassen sich steigendeVerordnungszahlen gerade der transdermalen Sys-teme („Schmerzpflaster“) erklären, die letztlichauch aus Sicht der kassenärztlichen Verordnungs-richtlinien erst sehr weit am Ende der therapeuti-schen Optionen stehen sollen. Allein Hexal bietetFentanylpflaster mit drei verschiedenen Klebematri-zes mit bis zu sieben Wirkstärken an: Die höchstegibt mit 150 µg/h ( 34,65 mg Fentanyl/Pflaster)24 h = 350 Milligramm Morphinäquivalente(MME)20 bezüglich der Empfehlungen des Centerof Disease Control (CDC) geradezu astronomischeDosen ab. CDC-Warnung: „Carefully reassess evi-dence when increasing to 50 MME, avoid increa-sing dosage to 90 MME.“

Wenige gesicherte IndikationenSo unstrittig der Einsatz von Opioiden in der Be-handlung des Tumorschmerzes und in der Palliativ-medizin ist, so heftig tobt die Auseinandersetzungum die Sinnhaftigkeit bei der Bekämpfung von chro-nischen nichttumorbedingten Schmerzen (CNTS).Zwar gibt es in der S3-Leitlinie zur Langzeitbehand-lung von nichttumorbedingten Schmerzen mit Opi oiden zahlreiche Krankheitsbilder, bei denender Einsatz dieser Stoffgruppe als individueller

tienten, die seinerzeit als unterversorgt galten.13

Immer wieder begegnet einem das WHO-Stufen-schema zur Eskalation einer analgetischen Thera-pie. Schon auf der zweiten der drei Stufen soll einOpioid für die Behandlung genutzt werden. Flan-kierende Maßnahmen bleiben völlig außen vor.Viel zu häufig wird dabei allerdings übersehen,dass dieses Schema bereits vor über 30 Jahren ver-öffentlicht wurde und sich lediglich auf die Thera-pie des tumorbedingten Schmerzes bezieht.14

Trend zur OpioidtherapieAuch die wachsende scheinbare Alternativlosigkeitin der pharmakologischen Schmerztherapie lässtdie Verordnung von Opioiden ansteigen. Immerhäufiger geraten zudem die Nichtopioide insKreuzfeuer der kritischen Langzeitanalyse. Die Liste der Neben- und Wechselwirkungen ist ebenauch bei den häufig eingesetzten nicht-steroidalenAntirheumatika (NSAR) lang: Neben dem renalenund gastrointestinalen ist vor allem auch das kar-diovaskuläre Risiko bei der Verschreibung vonNSAR zu berücksichtigen.15 Vier Rote-Hand-Briefezwischen 2010 und 2013 zu beliebten Nicht-Opio-id-Wirkstoffen in der Behandlung von Schmerzenunterstreichen, dass es sich hierbei um nicht ganzunproblematische Alternativen zum Opioid han-delt. Beispiel sind kardiovaskuläre Risiken durch Diclofenac16 und Dosisanpassungen bei Leberschä-digungen durch Paracetamol 2010 und 2012.17

Auch das in der Akut- und Langzeitbehandlungmuskuloskelettaler Beschwerden ehemals sehr beliebte Tolperison (zentral wirkendes Muskelrela-xans) war davon betroffen (strenge Indikationsein-schränkungen bei Tolperison)18. Nicht zuletzt kannein gewisser Einfluss der Pharmaindustrie auf denTrend zur Opioidtherapie verantwortlich gemachtwerden. So sind Ärzte und Mitarbeiter in sorgfältiggeplanten Maßnahmen immer wieder mit bestimmten Produkten in Kontakt gebracht wor-den.19 Zudem wird der Einsatzbereich von Opioi-den immer weiter gefasst, neue Produkte bietenvordergründig mehr Behandlungsoptionen. Mit

VON 2000 BIS 2010 AN NIEDERGELASSENE ÄRZTE AUSGEGEBENE BTM-REZEPTE

10 MillionenQuelle: International Narcotics Control Board der UN (INCB)

STATIONÄRE FALLZAHLEN MIT F11-DIAGNOSE(PSYCHISCHE UND VERHALTENSSTÖRUNGEN DURCH OPIOIDE)

KVH aktuell 2|2017 21

STANDPU

NKT

Anz

ahl d

er K

rank

enha

uspa

tient

en in

Deu

tsch

land

Jahr

Quelle: eigene Recherche, Aufarbeitung von GENESIS-Daten11

40.000

35.000

30.000

25.000

20.000

15.000

10.000

5000

02000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

Männer

Gesamt

Frauen

Therapieversuch durchgeführt werden kann. Klar istaber auch, dass dies zunächst nur für vier bis zwölf Wochen erfolgen soll. Die Freigabe für Behand-lungsphasen über 26 Wochen hinaus ist jedoch umstritten, da Studien über die Wirksamkeit undSinnhaftigkeit solch langer Zeiträume fehlen. Klarist außerdem, dass „starke Opioide (BtM-pflichtig)möglichst nur im Rahmen eines multimodalenTherapiekonzeptes und in Zusammenarbeit mitschmerztherapeutischen Fachleuten einzusetzensind“.21 Die Bedeutung des Themas lässt sich unter anderem dadurch erkennen, dass seit 2009 eine S3-Leitlinie zur Langzeittherapie mit Opioi-den bei nicht tumorbedingten Schmerzen exis-tiert, die erst 2014 unter Beteiligung von 22 Fachgesellschaften aktualisiert wurde.22

Wenig hilfreiche Handlungs-empfehlungenDen steigenden Verordnungs- und Mortalitätszah-len Einhalt zu gebieten versucht in den USA dasCDC mit Richtlinien zur Verschreibung von Opioi-den gegen chronische Schmerzen.24 Beachtlich istbeim Blick in diese Empfehlungen die eindeutigeAussage, zu Beginn einer Behandlung mit Opioiden

zu schnell und kurz wirksamen Galeniken zu grei-fen. Lang wirksame Opioide und Retardformensollten erst in der weiteren Phase der Therapie ein-gesetzt werden. Dies steht in klarem Kontrast zuden Empfehlungen der deutschen Fachgesellschaf-ten, um stark ansteigende und abfallende Opioid-spiegel und die damit einhergehenden Gefahren zuvermeiden. Hierzulande betritt – durch das Inkraft-treten des Gesetzes zur Änderung der betäubungs-mittelrechtlichen und anderer Vorschriften am 10.März 2017 – mit Cannabis nun ein weiteres BtMdie Bühne, wenngleich kein Opioid. Damit wird dieTür für die Akzeptanz von Substanzen mit großerGefahr für Gewöhnung, eingeschränkte Vigilanzund Rausch noch weiter geöffnet. Es bleibt abzu-warten, wie sich die Verordnungszahlen für Canna-bis entwickeln. Das Thema ist gesellschaftlich populär, politisch gewollt, der Wirkstoff aber wis-senschaftlich wenig erforscht und umstritten. Gegen die Verdichtung des Nebels durch weitereBtM-Substanzen kommt der in Fachkreisen vielfachangemahnte und in Leitlinien jedweder Ausgestal-tung empfohlene, mittlerweile zudem mit Evidenzgeschmückte multimodale Behandlungsansatzwohl noch zu kurz.21, 22, 25–27

22 KVH aktuell 2|2017

Rettung in Sicht?Hohe Opioiddosen, fehlerhafte Indikationsstel-lungen und unkritische Langzeitverordnungenführen bei einer immer größeren Zahl von Pa tienten zu Folgeproblemen. Eines davon ist dieAbhängigkeit. Mit großen finanziellen Anstren-gungen wird seit einiger Zeit versucht, eine Lösung zu vermarkten, die den Teufel mit demBeelzebub austreiben will – aber keinesfalls derenUrsachen. Durch die Vermarktung von Buprenor-phin in Verbindung mit Naloxon sollen die „bösenOpiate“ wie µ-Rezeptor-Vollagonisten (wie Mor-phin, Oxycodon oder Fentanyl) mit ihrer euphori-sierenden Wirkung durch die Anwendung eines„guten Opiats“ in Form des Partialagonisten Buprenorphin (verminderte euphorisierende Wirkung und Ceiling-Effekt) besiegt werden. DieKombination mit Naloxon soll zudem den Miss-brauch der intravenösen Verabreichung unter -binden. Das Prinzip existiert seit den 1990ern, doch hat sich die Vermarktung des Präparats aufgrund des zu erwartenden Kundenkreises

erheblich erhöht. Der Markt selbst sieht also Hand-lungsbedarf – was nachdenklich stimmen sollte.

FazitSicherlich ist ein erhöhter Bedarf an hochpotentenAnalgetika in einer alternden Gesellschaft nach-vollziehbar. Trotzdem gilt auch für Opioide derMaßstab der Verhältnismäßigkeit, die Orientie-rung an Leitlinien und im kassenärztlichen Bereichdie Maßgabe der Wirtschaftlichkeit: Statt Opioidean immer mehr Patienten in immer höheren Dosierungen zu verordnen, sollten sie in ein Gesamtbehandlungskonzept eingebettet sein. EineLangzeittherapie empfiehlt sich nur, wenn diesgut begründet ist – wie etwa bei tumorbedingtemSchmerz. Die aus der Opioidtherapie möglicher-weise resultierenden Probleme, wie Missbrauch,Abhängigkeit, Dosissteigerungen oder Kombina-tionsverordnungen, sollten regelmäßig kritischüberprüft werden (siehe Kasten). Im Zweifelsfallsollte der Patient an einen Schmerzspezialistenüberwiesen werden. �

Empfehlungsgrad A*: Starke Empfehlung („soll“)

Die Opioidtherapie soll regelmäßig reevaluiert werden, bei akuten nichtspezifischen Kreuzschmerzen nach spätestens vier Wochen, bei chronischen Kreuzschmerzen nach spätestens drei Monaten.

Opioide sollen zur Langzeitbehandlung chronischer nichtspezifischer Kreuzschmerzen nur im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts angewendet werden.

Die Opioidtherapie soll beendet werden, wenn das vereinbarte Therapieziel nicht erreicht wird.

Transdermale Opioide sollen nicht zur Behandlung akuter und subakuter nichtspezifischer Kreuzschmerzen angewendet werden.

Empfehlungsgrad 0*: Offene Empfehlung („kann“)

Opioide können zur Behandlung chronischer nichtspezifischer Kreuzschmerzen als eine Therapieoption für vier bis zwölf Wochen angewendet werden.

Opioide können zur Behandlung chronischer nichtspezifischer Kreuzschmerzen auch als langfristige Therapieoption angewendet werden, wenn unter einer zeitlich befristeten Therapie (vier bis zwölf Wochen) eine klinisch relevante Reduktion der Schmerzen und/oder des körperlichen Beeinträchtigungserlebens bei fehlenden oder geringen Nebenwirkungen eingetreten ist.

Opioide können zur Behandlung akuter nichtspezifischer Kreuzschmerzen bei fehlendem Ansprechen oder Vorliegen von Kontraindikationen gegen nichtopioide Analgetika angewendet werden.

Leitliniengerechter Umgang mit Opioiden (Beispiel: Kreuzschmerz)

STANDPU

NKT

Unter dem folgendenKurzlink gelangen Sie

zur aktuellen S3-Leitlinie„Langzeitanwendungvon Opioiden bei nicht-

tumorbedingten Schmerzen – LONTS“

kvh.link/1702003

HINTERGRUND

* Einstufung der Empfehlungsgrade nach der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Nicht-spezifischer Kreuzschmerz.21 Dort existiert auch ein Empfehlungsgrad B („sollte“), der in diesem Beispiel keine Berücksichtigung findet.

KVH aktuell 2|2017 23

Literatur:1. Obama B. Remarks by the President at Community Forum at East End Family Resource Center.

https://obamawhitehouse.archives.gov/the-press-office/2015/10/21/remarks-president-community-forum-east-end-family-resource-center.

2. Schmitt-Sausen N. Heroin überschwemmt die USA. Dtsch Arztebl 2015; 112(51–52): A2198–9.3. Seffrin J. UAW im Blick: Analgetika. KVH aktuell 2017;(1): 30–1.4. Trang T, Al-Hasani R, Salvemini D, Salter MW, Gutstein H, Cahill CM. Pain and poppies: The good, the bad, and

the ugly of opioid analgesics. J Neurosci 2015; 35(41): 13879–88.5. Hsu ES. Medication overuse in chronic Pain. Current pain and headache reports 2017; 21(1): 2.6. Schuler M, Oster P. Zunehmende Bedeutung der Opioide in der Geriatrie. Der Schmerz 2005; 19(4): 302–7.7 International Narcotics Control Board. Narcotic drugs: estimated world requirements for 2017 – Statistics for

2015; 2017. www.incb.org/documents/Narcotic-Drugs/Status-of-Estimates/2017/EstFeb-17.pdf.8. International Narcotics Control Board. Availability of narcotic drugs for medical use.

www.incb.org/incb/en/narcotic-drugs/Availability/availability.html.9. Werber A, Schiltenwolf M. Morphine werden immer sorgloser verschrieben. Dtsch Arztebl 2015; 112(3): A87–8.10. Schwarzer A, Maier C. Schmerztherapie, Folge 2. Opioide bei Nicht-Tumorschmerzen. MMW Fortschr Med

2011; 153(21): 51–3.11. GENESIS Online-Datenbank. Krankenhauspatienten: Deutschland. Wiesbaden; 2017.12. Albrecht H. Schmerzhaft ungerecht: Schwerkranke in Entwicklungsländern bekommen zu selten Opioide,

das muss sich ändern. Die Zeit 2016(18). www.zeit.de/2016/18/opioide-medizin-schwerkranke-entwicklungs laender.

13. Zenz M, Zenz T, Tryba M, Strumpf M. Severe undertreatment of cancer pain: a 3-year survey of the German situation. J Pain Symptom Manage 1995; 10(3): 187–91.

14. World Health Organization. Cancer pain relief. Genf; 1986.15. Wirth H-P, Hürlimann R, Flückiger T. NSAR und COX-2-Hemmer: die häufigsten unerwünschten Wirkungen.

Schweizerisches Medizin-Forum 2006; 6(12): 284–9.16. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Rote-Hand-Brief zu Diclofenac-haltigen Arzneimitteln:

Kardiovaskuläre Risiken; 2013. www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2013/rhb-diclofenac.pdf?__blob=publicationFile&v=5.

17. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Rote-Hand-Brief zu Perfalgan 10 mg/ml Infusionslösung (Paracetamol i. v.): Risiko einer versehentlichen Überdosierung; 2012. www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinfor-mationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2012/rhb-perfalgan.pdf?__blob=publicationFile&v=4.

18. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Rote-Hand-Brief zu tolperisonhaltigen Produkten: Risikovon Überempfindlichkeitsreaktionen; 2013. www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigi-lanz/DE/RHB/2013/rhb-tolperison.pdf?__blob=publicationFile&v=3.

19. Armstrong D. Secret trove reveals bold ‘crusade’ to make Oxycontin a blockbuster. STATNews.com 2016 Sep 22.www.statnews.com/2016/09/22/abbott-oxycontin-crusade/.

20. Opioidrechner: Simplicity GmbH; 2010. http://usb.x-service.ch/rechner.html.21. NVL-Programm von BÄK, KBV, AWMF. Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz (S3) nvl-007; 31.12.2006.

www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-007l_S3_Kreuzschmerz_2017-03.pdf.22. Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen –

LONTS (S3-Leitlinie) 145/003; 13.01.2015. www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/145-003l_S3_LONTS_2015-01.pdf.

23. Sun EC, Dixit A, Humphreys K, Darnall BD, Baker LC, Mackey S. Association between concurrent use of prescription opioids and benzodiazepines and overdose: retrospective analysis. BMJ (Clinical research ed.) 2017;356(j760).

24. Dowell D, Haegerich TM, Chou R. CDC Guideline for prescribing opioids for chronic pain – United States, 2016.JAMA 2016; 315(15): 1624–45.

25. Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe e. V. (DGPFG). Chronischer Unterbauchschmerz der Frau (S2k-Leitlinie) 016-001; 30.11.2015. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/016-001.html.

26. Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgie -syndroms (S3-Leitlinie) 145-004; 17.03.2017. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145-004.html.

27. Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e. V. (DGPM). Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden (S3-Leitlinie) 051-001; 15.04.2012.www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-001.html.

STANDPU

NKT

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat die Mischpreisbildung für Arzneimittel im März 2017 für rechtswidrig erklärt. Dies gilt für Präparate, bei denen der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seinem Nutzenbewertungsbeschlusszugleich Patientengruppen mit und ohne Zusatznutzen bildet.

REGRESSRISIKO

Aus für Mischpreise?

24 KVH aktuell 2|2017

STANDPU

NKT

Die Folgen der LSG-Entscheidung sind offen.Konkrete Beispiele zeigen das mögliche Kon-

fliktpotenzial dieses Beschlusses.

Rabattverträge und Regressrisiken Auch für den Laien ist gut nachvollziehbar, dassder Arzt bei einem hilfesuchenden Patienten immer die Überlegung anstellt: Wie kann ich dasvorhandene Gesundheitsproblem am besten lösen? Gibt es dafür eine medikamentöse Ant-wort? Danach verordnet der Arzt gegebenenfallsein Arzneimittel, das im deutschen Markt zugelas-sen und verfügbar ist. Als Vertragsarzt ist er dazuerzogen, aus dem Indikationsfeld der verfügbarenArzneimittel jenes zu wählen, das bei gleicherWirksamkeit zu den preiswerten Marktvariantenzählt. Außerdem hat er sich in den letzten 10 Jah-ren daran gewöhnt, dass der Apotheker berechtigtist, die konkrete Verordnung auf dem Rezept füreinen konkreten Patienten durch ein anderes Han-delspräparat auszutauschen – sofern dies aus demRabattvertrag der Kasse des Patienten hervorgeht.Ärzte können dem Verlust ihrer Verordnungsho-heit durch Rabattverträge ausweichen, indem siedurch ein Kreuz auf dem Rezept die Apotheker-substitution ausschließen. Das geschieht jedoch imPraxisalltag äußerst selten, denn aus Kassensichtist eine derartige Handlungsweise des Arztes un-wirtschaftlich. Die Folge ist ein „Prüfantrag“, derZusatzarbeit macht und in einem Regress endenkann, was keine Freude aufkommen lässt. Nir-gendwo in Europa gibt es solche Regelungen.

Zusatznutzen oder Festbetrags -regelungDie frühe Nutzenbewertung (FNB) in Deutschlandgemäß AMNOG (Gesetz zur Neuordnung des Arz-neimittelmarktes) hat uns neben vielen Vorteilenseit 2011 ein neues, vom Parlament so nicht vor-hergesehenes zusätzliches Problem beschert: Esfehlt eine klarstellende Regelung im AMNOG. Einneues, in einer klar umschriebenen Indikation von

der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zugelassenes Medikament ist auf dem deutschenMarkt deswegen verfügbar, weil es im Zulassungs-prozess bewiesen hat, dass es wirkt. Ohne einenWirknachweis und ohne eine nachgewiesene Unbedenklichkeit in Sachen Qualität und Sicher-heit gibt es keine Zulassung. Aber das AMNOGgeht einen Schritt weiter und fordert auch denNachweis, dass das neue Arzneimittel einen kli-nisch relevanten Mehrnutzen für die Patienten hat,wenn man es mit dem aktuellen Therapiestandardvergleicht. Diesen Standard legt der G-BA als„zweckmäßige Vergleichstherapie“ (ZVT) fest. Istdie neue Therapie besser als die ZVT, folgen diePreisverhandlungen mit dem Spitzenverband Bundder Krankenkassen (SpiBu). Besteht kein Zusatz-nutzen, dann kommt das neue Produkt in die Fest-betragsregelungen, so vorhanden. Oder es gibt einen neuen Preis, der nicht höher als der Preis derZVT sein darf. So weit, so gut und bekannt. Undvom Parlament auch vorhergesehen.

Nutzenbewertung nach SubgruppenNicht vorhergesehen waren jedoch insbesonderezwei Fallkonstellationen:

a) Kein Zusatznutzen musste häufig als formalkorrekt, aber als medizinisch falsch konstatiertwerden, weil die dafür erforderlichen Ver-gleichsstudien nicht vorlagen. Denn man kannein Urteil inhaltlich nur fällen, wenn sich durchStudienbelege beweisen lässt, welchen Patien-tennutzen ein neuer Wirkstoff hat. Der Nutzeneines neuen, von der EMA zugelassenen Medi-kaments kann enorm gut oder grottenschlechtsein. Belegen lässt sich dies nur durch belastba-re Studienergebnisse, nicht aber durch eine for-mal und prinzipiell richtige Feststellung: „keineStudien, kein Nutzen belegt“.

Den gesamten Text des LSG-Beschlusses finden Sie unter:

kvh.link/1702004

HINTERGRUND

STANDPU

NKT

b) Sehr viel häufiger ist in der frühen Nutzenbewer-tung jedoch, dass für einen neuen Wirkstoff ineiner Patientensubgruppe ein Zusatznutzen (erheblich, beträchtlich, gering) belegt ist, in einer anderen aber nicht – meist, weil einediesbe zügliche Studie fehlte. Zwangsläufig hatsich dadurch die Mischpreisproblematik entwi-ckelt. Das AMNOG hat hierzu keine klarstellen-den Regelungen getroffen. Der Beschluss desLSG Berlin-Brandenburg hat das Potenzial, einen wichtigen Teil des AMNOG zu sprengen.Wenn er denn rechtskräftig wird und nicht imBundessozialgericht (BSG) durchfällt. Denn der Regelfall in der frühen Nutzenbewertung ist die Subgruppenbewertung. Bis zu 12 Subgruppenpro Wirkstoff sind bekannt geworden.

Beispiele für das Mischpreis-Dilemma1) Proteinkinaseinhibitor Afatinib (Giotrif): Dasnicht-kleinzellige Lungenkarzinom (NSCLC) istnach den vergleichsweise gut zu behandelndenhormonabhängigen Tumoren der Brust und derProstata und des Colonkarzinoms die dritthäu-figste maligne Tumorart in Deutschland. FünfJahre nach Erstdiagnose leben nur noch 20 Pro-zent der Patienten. Lungenkarzinome habendie höchste Letalität und führen die Todesursa-chenstatistiken an vorderster Stelle an. Es gibtnur geringe Fortschritte in der Therapie. Der G-BA hat in der Bewertung in der Subgruppe„Erstlinientherapie, guter Allgemeinzustand,Nachweis einer Deletion 19“ (Deletion 19 ist eingenetisches Tumormerkmal) am 5.11.2015 einen erheblichen Zusatznutzen gegenüber derVergleichstherapie festgestellt. In der gleichenSitzung fand der G-BA in einer anderen Sub-gruppe des Lungenkrebses, „Erstlinienthera-pie, guter Allgemeinzustand, Nachweis einerMutation L858R", keinen Zusatznutzen. DieInformationsplattform „Oncopedia“ derDGHO-Fachgesellschaft (Deutsche Gesell-schaft Haemato-Onkologie) bestätigt, dass imVergleich zur Standardtherapie, die aus denbeiden Chemotherapeutika Cisplatin und Pe-metrexed besteht, das Gesamtüberlebendurch das neue Medikament nicht verlängertwird, also in diesem Punkt Wirkungsgleichheitbesteht. Das progressionsfreie Überleben, dieSteigerung der Remissionsrate und die Rückbil-dung krankheitsassoziierter Symptome seiendagegen positiv zu verzeichnen. Der Beschlussdes LSG wird zur Folge haben, dass diese neue,deutlich besser verträgliche Therapieoption denPatienten nicht mehr zur Verfügung stehenwird. Und das, obwohl der klinisch relevanteNutzen für Fachleute feststeht. Das Regressrisi-ko ist stark angestiegen, wenn man den Text in

der Begründung des LSG („kein Zusatznutzenist gleich unwirtschaftlich“) ernst nimmt. Es seidenn, der Arzt verordnet den neuen Wirkstoffprivat oder veranlasst die stationäre Therapie,weil dort der LSG- Beschluss wirkungslos ist.Dieser Sachverhalt bedeutet: Patienten mit einem bestimmten Lungenkrebs wird eine ver-trägliche Therapie verweigert, weil der regress-bedrohte Arzt dieses hohe finanzielle Verord-nungsrisiko nicht tragen kann.

2) Diabetestherapie Sitagliptin/Metformin: Am15.12.2016 hat der G-BA beschlossen, dassdas orale Antidiabetikum Sitagliptin einen Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzenzusammen mit Metformin hat. Beide Wirkstof-fe wurden in einer Studie als Tabletten getrennteingenommen. Der Beschluss ist befristet. Dasbedeutet für den Vertragsarzt: Er kann dieseWirkstoffe verordnen, wenn er sie zur Behand-lung des Diabetes seiner Patienten benötigt.Zugleich hat der G-BA in der Subgruppe für dieFixkombination von Sitagliptin mit Metforminden Zusatznutzen verneint, da in dieser Sub-gruppe keine Studien vorgelegt wurden.

Beide Beispiele, die natürlich keine Einzelfällesind, schreien nach einer Klarstellung im AMNOGhinsichtlich der Legitimität der Mischpreisbildung.Auch wenn dadurch in negativ bewerteten Sub-gruppen ein höherer Preis entstehen kann als derder in der zweckmäßigen Vergleichstherapie. ImArzneimittel versorgungs stärkungsgesetz (AMVSG)kann ja seit Neuestem vom ZVT-Preis in Ausnah-mefällen nach oben abgewichen werden. DieseNeuregelung bezieht sich zwar nicht auf dasMischpreisproblem, zeigt aber an, dass das Parla-ment Flexibilität besitzt.

FazitTrotz vereinbarter Medikamentenpreise sollte derVerordner immer überprüfen, ob die jeweilige Indikation einer Subgruppe mit Zusatznutzen entspricht. �

DR. MED. JÜRGEN BAUSCH

KVH aktuell 2|2017 25

Das Gesundheitswesen muss sich seit Jahrhunderten�mit Behand-lungskonzepten auseinandersetzen, die sich als Alternative zurakademischen Medizin verstehen. Demgegenüber haben sich seit gut zwanzig Jahren Verfahren unter dem Begriff der Komple-mentärmedizin (Complementary and Alternative Medicine, CAM) zusammengefunden, die eine wissenschaftliche Fundierung undweitere Forschungsförderung für�sich behaupten.

EVIDENZ – GLAUBE – POLITISCHE ADELUNG

Positionen zur sogenannten Komplementärmedizin

26 KVH aktuell 2|2017

STANDPUNKT

Der Anspruch lautet: Integration in die Medizin.Diese Entwicklung ist gefährlich, weil das Kon-

strukt CAM entgegen allen Verlautbarungen im Irrationalen verhaftet bleibt. Die Debatte um CAMgewinnt auch in Deutschland an Fahrt. Politik, medizinische Fakultäten, Ärzteschaft und gesetzli-che Krankenversicherung sind gefordert, Antwor-ten zu geben.

Lohnt sich die Auseinandersetzungmit CAM überhaupt?Begriffe sind mächtig. „Komplementärmedizin“ fas-ziniert Millionen Menschen und viele Tausend Ärz-tinnen und Ärzte. Die Beschäftigung mit CAM ist insofern ein bedeutendes, vielschichtiges For-schungsthema, geht es doch am Ende um die Ver-ständigung, was gute Medizin ist und worauf Kran-ke vertrauen können. Die Frage ist nicht zuletzt, wiees sein kann, dass die Politik etwa in DeutschlandVerfahren wie die Homöopathie oder die Mistel gesetzlich schützt, obwohl es sich um zweihundertJahre alte, von Beginn an unbewiesene Verfahrenhandelt. CAM präsentiert neben vielen eher schlichtgestrickten Lobbyisten und Kaufleuten immer wie-der auch wortgewaltige Vertreter im vollen Ornatder Wissenschaft. Unter den Mitgliedern des soge-nannten Dialogforums „Pluralismus in der Medizin“befinden sich zehn Professorinnen und Professorenmedizinischer Provenienz, darunter der verstorbenedamalige Präsident der Bundesärztekammer. Sieschreiben Artikel mit dem Titel „Ärztliche Profes-sionalität und Kom ple mentärmedizin: Was ist seriöses Therapieren?“ (DÄ� 2010; 107(12): A-548/

B-477/C-469). Hierin finden sich rhetorische Nebelkerzen folgender Art: „Es gibt einen Pluralis-mus von Erklärungsmöglichkeiten mit komple-mentären und konkurrierenden Erklärungsmodel-len und verschiedenen Modellebenen sowie aucheinen Pluralismus der Evidenzarten; und es gibt inder Gemeinschaft der Wissenschaftler unter-schiedliche Denkstile und Denkkollektive.“ Manliebt es, Galilei, Kant und Einstein zu zitieren, undbeeindruckt damit offenkundig auch relevante Tei-le des Bildungsbürgertums, die auf permanentenReisen der Sinnsuche sind und der Medizin hochskeptisch gegenüberstehen.

Spricht etwas für die CAM-Variantenals Heilmethode?CAM ist nicht positiv definierbar. Es geht um Hei-lungsversprechen, die dem Prinzip der Selbst -zuweisung gehorchen. Einzelne Elemente, diemöglicherweise morgen oder übermorgen ein vernünftiges Nutzen-Schaden-Verhältnis belegenkönnten, gehören dann zur Medizin. Es gilt derGrundsatz: Behandlungsmethoden mit spürbaremNutzen lassen sich in klinischen Studien leicht herausfinden. Die Masse an Verfahren von Anthro-posophie und Aromatherapie über Kinesio logie,Ayurveda, Craniosacrale Therapie hin zu unzähli-gen „Psycho-Verfahren“ lebt von selbstbewussterEigenwerbung und einer Mischung aus Protest gegen die Medizin und Stolz über die vermeintlicheÖffnung neuer Welten der Therapie. Kritik an CAMprallt bei den Heilern und ihrer Anhängerschaft inder Regel ab, weil das notwendige Insistieren auf

Prof. Dr. med. Norbert Schmacke

ist Hochschullehrer amInstitut für Public Healthund Pflegeforschung der Universität Bremenund stellvertretendes unparteiisches Mitgliedim Gemeinsamen Bundesausschuss.

KONTAKT

STANDPUNKT

nachvollziehbaren Belegen mittels zweier Varian-ten abgewehrt wird: Entweder folgt die evidenz -basierte Medizin (EbM) einer reduktionistischen naturwissenschaftlichen Logik oder ignoriert vorlie-gende Studien, die endgültig gezeigt haben sollen,dass CAM von der sonst negativ konnotierten„Schulmedizin“ integriert werden müsse. Im Alltagüberwiegen oft eine tiefe Ablehnung biometri-schen Denkens und ein hochgradig irrelevantesFesthalten an der Überzeugung, es lasse sich ebenauf dieser Welt nicht alles erklären. Damit ist CAMim Kern der Magie zuzurechnen. Sie ist ebenso populär und unbelehrbar wie die Astrologie. Um zuzeigen, dass CAM den Vergleich mit der so etiket-tierten Schulmedizin nicht zu scheuen braucht, wirdin eigenen Medien und Institutionen in regelmäßigenAbständen über sensationelle Fortschritte berichtet,so jüngst in Bremen bei der Jahrestagung der Homö -opathen. Im Forschungsbericht von WissHom, der eigens gegründeten wissenschaft lichen Gesellschaftder Homöopathen, heißt es: „Eine zusammenfassen-de Betrachtung klinischer Forschungs daten belegthinreichend einen therapeutischen Nutzen der ho-möopathischen Behandlung. Die Ergebnisse zahl-reicher Placebo-kontrollierter Studien sowie Experi-mente aus der Grundlagenforschung sprechen da-rüber hinaus für eine spezifische Wirkung poten-zierter Arzneimittel.“ Dass alle dort vorgestelltenStudien einschlägig bekannt sind und dass selbstkritische Bewertungen in den präsentierten Metaa-nalysen verschwiegen werden: Welche Journalis-ten, Politiker, Ärzte und Patienten können dasdurchschauen? Man muss sich wundern, dass eineVertreterin der Homöopathie wie die langjährigeVorsitzende des Zentralvereins der Deutschen Homöopathen mit folgendem Versprechen werbendarf: „Ein sorgfältig ausgewähltes homöopathi-sches Arzneimittel heilt schnell, sanft, sicher, nebenwirkungsfrei und dauerhaft auch schwere,akute und chronische Erkrankungen, wie Migräne,Neurodermitis, Asthma bronchiale, Colitis, Rheu-matismus u.v.a., für die sonst nur Linderung, aberkeine Heilung möglich ist. Dies gilt auch für akuteKrankheiten bakterieller oder viraler Natur. Solangeder Organismus zu einer Reaktion auf die Arzneifähig ist, kann ein homöopathisches Mittel heilen“(http://www.arztpraxis-bajic.de/homoeopathie.html).

Warum ist CAM populär?Uwe Heyll spricht in seiner Deutung der neueren„Alternativmedizin“, die er mit Mesmers Magnetis-mus aufkommen sieht, von der Inszenierung einesSchauspiels, in dem die Heiler sich selber und ihrePatientinnen und Patienten täuschen. Die Akzep-tanz der Heilsbotschaften lässt sich danach vor allemdadurch erklären, dass in der Auseinandersetzungmit Krankheit die Suche nach Bedeutungen eine

wichtige Rolle spielt. Und diese Sinnstiftung ver-missen die einen offenkundig sehr, während sie anderen als übergriffig erscheint. Der Rückgriff aufGlauben und Überzeugungen und die extrem hoheWertschätzung spektakulärer Geschichten von Heil-erfolgen gehen bei dem harten Kern der Anhängervon CAM mit dem Unvermögen und teils auch einer dezidierten Ablehnung der Beschäftigung mitwissenschaftlichen Methoden einher. Die wissen-schaftliche Debatte um Placeboeffekte bzw. Kon-textfaktoren in der Behandlung (von der DrogeArzt bis zum Abfackeln von Weihrauch) wird nichtzur Kenntnis genommen oder nicht verstanden.Das alles geschieht in einer Welt, die Spontanver-läufe von Erkrankungen fast nicht mehr kennt, inder Abwarten als Unentschlossenheit erscheint unddas Geschäft mit der Krankheit blüht. CAM gibteinfache Antworten für alle Situationen, in denenKranke sich überfordert und zum Teil von der Medizin allein gelassen fühlen. Die Sprachlosigkeitvieler Ärztinnen und Ärzte gegenüber der Perspek-tive ihrer Patientinnen und Patienten ist ein dauer-hafter und ertragreicher Nährboden für CAM. In-zwischen zahlen die privaten und gesetzlichen Kas-sen einiges, vieles fließt aber direkt aus der Geld-börse der Kranken in die Schreibtischschublade der CAM-Propheten.

Die eigentliche Integration vonCAM: die Adelung�durch Politik undTräger�des GesundheitswesensNun war es erstaunlicherweise immer so, dass diejenigen, die die Schulmedizin attackieren, am Ende doch auf die Akzeptanz ihrer Verfahren durcheben diese verschmähte me dizinische Autoritätschielen. Und die Liste der „alternativen“ Verfahren,die passager oder auch längerfristig verschämtenbis offenen Einzug in die Institutionenund Ver fahren der Medizin gefundenhaben, ist lang. Das liegt auch andem unverblümten wirtschaftlichenInteresse von Teilen der Ärzteschaft.Aus gutem Grund muss man deshalbauf die Adelung von CAM durch Politik, Forschung, Ärzteverbände,Kammern und Krankenkassen ach-ten, da immer wieder aufs Neue die Grundlagendafür geschaffen worden sind, CAM-Verfahren als diskutable Varianten der Medizin anzuerkennen. InDeutschland gilt dies in spezieller Weise für die sogenannten besonderen Therapierichtungen (Homöopathie, anthroposophische Medizin und Phytotherapie), um die der Gesetzgeber einenSchutzzaun gezogen hat. Im Schutz der Approbati-onsordnung, der Weiterbildungsordnung der Ärzteund der Fortbildungsangebote der Kammern wieauch durch wettbewerblich motivierte Ange bote

KVH aktuell 2|2017 27

Quelle des Beitrags: Gesundheit und Sozialpolitik 6/2016.

Der Nachdruck erfolgtmit freundlicher Geneh-migung der Nomos Verlagsgesellschaft, DOI: 10.5771/1611-5821-2016-6-60.

CAM ist im Kern der Magie zuzurechnen: Sie ist ebenso populärund unbelehrbar wie die Astrologie.

28 KVH aktuell 2|2017

STANDPUNKT

der Krankenkassen hat sich ein weites Feld von esoterischen Heilme-thoden breitgemacht. Dass auch einzelne Universitäten teils direkt, teils über Kooperationen CAM-Verfahren gewissermaßen nebenOrthopädie und Innerer Medizin als weiteres reguläres For-schungsfeld aufgenommen haben und in Institutsambulan-zen anbieten, ist die wahre Krönung für CAM. Im Medizin-studium taucht CAM als Wahlfach auf und wird selbst an vorbildlichen forschungsintensiven Einheiten wie dem Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurtam Main von Esoterikern unterrichtet. Und im normalen Klinikalltag haben Globuli einen ersten großen Siegeszug in der Geburtshilfe ange -treten. Kranke und Ratsuchende, die nicht schonvorher vom Nutzen von CAM- Verfahren über-zeugt waren, müssen erst einmal annehmen,dass ihnen insoweit seriöse Medizin angebo-ten wird. Diese Irritation bis Zerstörung derVertrauens beziehung zwischen der Ärzte-schaft und ihren Patientinnen und Patientenist ein vielleicht un ter schätztes Kernproblemvon CAM. Das Standardar gument von CAM, inder Medizin sei ja eigentlich auch nur wenig gesichert und es gehe im Wesentlichen um die Interessen der Pharmaindustrie, fällt heute vielfachauf fruchtbaren Boden, so wenig die Debatte umStärken und Schwächen der Medizin auch dabei verstanden wird und so wenig dabei zu irritierenscheint, dass der Bundesverband der pharmazeu -tischen Industrie sich für Homöopathie und anthropo-sophische Medizin verzehrt.

Es gibt keine Alternative zu einer klarenHaltung gegenüber CAMWas immer ins Feld geführt wird, um CAM jenseits von historischer, ethischerund sozialwissenschaftlicher Forschung als erklärbar darzustellen, demkann nur eines entgegengehalten werden: Es ist notwendig, an dem Gebot einer einheitlichen, wissenschaftlich fundierten Medizin fest zu -halten, die sich weder Rationalität noch Empathie abkaufen lässt. Marcia Angell und Jerome Kassirer, beide Pioniere der evidenzbasier-ten Medizin und unbestechliche Kritiker jedweder Manipulation inklinischen Studien, haben hierzu das Notwendige gesagt: „Es ist Zeit für die Wissenschaft damit aufzuhören, der Alternativmedizin das Trittbrett-Fahren zu erlauben. Es kann nicht zwei Arten vonMedizin geben – konventionelle und alternative. Es gibt nur Medizin, die angemessen untersucht worden ist oder eben nicht,Medizin, die wirkt, und Medizin, die nur vielleicht oder garnicht wirkt.“ �

Die Zerstörung der Vertrauensbeziehungzwischen der Ärzteschaft und ihren

Patienten ist ein vielleicht unterschätztesKern problem von CAM.

Literatur:1. Angell M, Kassirer JP.Alternative Medicine –The Risks of Untestedand Unregulated Reme-dies. The New EnglandJournal of Medicine1998;339: 839–841.

2. Ernst E, Heyll U. FranzAnton Mesmer, Benja-min Franklin und dieGeburt der alternativenMedizin. In: SchmackeN (Hg.). Der Glaube andie Globuli. Berlin2015, 17–79.

3. InformationsnetzwerkHomöopathie. OffizielleErklärung des INH zurVeröffentlichung derWissHom: „Der aktuelleStand der Forschungzur Homöopathie“.Freiburg 2016.www.netzwerk-homoeopathie.eu/standpunkte/118-stellungnahmewisshomreader.

4. Schmacke N. BesondereTherapieverfahren: diezweite Welt im Sozial-gesetzbuch.�Auf denSpuren magischer Ver-fahren –�das BeispielHomöopathie. IMPLI-CONplus – Gesund-heitspolitische Analy-sen 2016. Heft 1: 1–7.

5. Singh S, Ernst E. Gesund ohne Pillen.Was kann die Alterna-tivmedizin? München2009.

6. WissHom. Der aktuelleStand der Forschungzur Homöopathie. Köthen 2016. www.wisshom.de/index.php?menuid=102&downloadid=507&reporeid=0.

KVH aktuell 2|2017 29

STANDPUNKT

Eine Patientin, die schon seit vielen Jahren über multiple körperliche Beschwerden klagte, nahm an einer Untersuchung

zu positiven und negativen Effekten von Infrasound in einemAkustiklabor teil. Es wurde ihr mitgeteilt, dass diese Akustiks-timulation gegebenenfalls manche negativen, wohl aberauch viele positive Effekte haben könne. Nach der Expositi-on kam die Patientin mit Tränen des Glücks in den Augenaus der Versuchskabine: Sie habe in den letzten Jahren alle medizinischen Möglichkeiten versucht, um ihre Beschwerden zu behandeln – jedoch erfolglos. Daserste Mal seit vielen Jahren fühle sie sich heute be-schwerdefrei. Später stellten die Versuchsleiter fest,dass die Patientin in der Kontrollgruppe war undkeinerlei akustische Stimulation erhalten hatte.Wie können solche Placebo-Effekte entstehenund welche Bedeutung haben sie für die klinische Forschung und Praxis?

Effekte der SuggestionModernes klinisches Handeln geht auf wis-senschaftlich fundierte Behandlungsempfeh-lungen zurück, die auf kontrollierten klinischen

Studien basieren. In diesen Behandlungsempfeh-lungen findet man kaum Hinweise auf den Einflussvon Placebo- und Nocebo-Effekten. Andererseitssind diese Effekte in den klinischen Studien oftmalsgrößer als die spezifischen, zum Beispiel auf ein Medikament zurückzuführenden Effekte. Am bestenwurde dies bei Analgetika untersucht. Selbst dieschmerzlösende Wirkung hochpotenter Opioide wie

Remifentanil kann komplett ausgeschaltet werden, wennbehandelnde Ärztinnen und Ärzte eine ungünstige Instruk -

tion geben. Andererseits kann durch günstige Instruktionen dieschmerz lindernde Wirkung von Placebos so gesteigert werden, dass sie gut mit aktiven Medikamenten konkurrieren können. Bei Antidepressiva gehen die eher medikamentenfreundlicheren Schätzungen davon aus, dass mindestens zwei Drittel ihrer Erfolge auf Placebo-Wirkungenzurückzuführen sind. Kritischere Analysen, die auch unpublizierte Studien berücksichtigen, nivellieren die Unterschiede zwischen dem Antidepressiva- und Placebo-Arm fast vollständig. Aber auchbei Antihypertensiva und zahlreichen anderen Medikamenten -gruppen sind starke Placebo-Effekte nachgewiesen. Selbst bei Interventionen wie chirurgischen Maßnahmen spielen diese Effekte eine große Rolle. Placebo-Effekte treten nicht nur bei patientenberichteten Variablen auf, sondern auch bei objek -tiven, zum Beispiel physiologischen Maßen. Einzelstudien belegen sogar, dass manche positiven Placebo-Effekte auch

Wie Erwartungen und Erfahrungen den Behandlungserfolg beeinflussen können.

PLACEBO UND NOCEBO

Just in mind?

Prof. Dr. Winfried Rief

Klinische Psychologieund Psychotherapie, Universität Marburg.

Leiter der DFG-geförder-ten Forschergruppe zuPlacebo- und Nocebo-Mechanismen, Co-Chairder WHO-assoziierten

Gruppe zur Verbesserungder Klassifikation chroni-scher Schmerzsyndrome

in ICD-11.

KONTAKT

30 KVH aktuell 2|2017

STANDPUNKT

nach Absetzen stabil bestehen bleiben, währendnach Absetzen vieler Medikamente Rebound- Effekte auftreten.

Aber auch für die Schattenseite des Placebo- Effekts, den sogenannten Nocebo-Effekt (negati-ve Effekte oder Nebenwirkungen bei Gabe vonScheinmedikamenten) gibt es zahlreiche Beispiele.Placebo-Gruppen in klinischen Studien zeigen oftmals das Nebenwirkungsprofil, das Patientenfür das aktive Medikament erwarten. Medien-Berichte über vermutete Gefährdungen durchbestimmte Medikamente führen zu einerdrastischen Steigerung der Nebenwirkungs-meldungen an die entsprechenden Behörden,die sich in der Regel nach Abklingen dieser öf-fentlichen Berichte wieder normalisieren. Ver-mutlich kennt jeder niedergelassene Arzt genü-gend solcher Beispiele, bei denen Patienten überNebenwirkungen berichten, die medizinisch nichterklärbar sind.

Prägende ErfahrungenIn den letzten 20 Jahren wurden die Forschungs-aktivitäten deutlich erhöht, um die Biologie undPsychologie solcher Effekte besser zu verstehen.Für die psychologischen Prozesse wurden vor allem drei wichtige Faktoren identifiziert:

1. Erwartungen, also Informationen und Instruktionen, die der Patient erhält, zumBeispiel durch den behandelnden Arzt, dasInternet oder Angehörige

2. Vorerfahrungen mit ähnlichen oder ähnlichaussehenden Medikamenten und medizini-schen Maßnahmen

3. Qualität der Arzt-Patient-Beziehung

Die Rolle von Vorerfahrungen lässt sich zum Bei-spiel gut mit Paradigmen untersuchen, die an dieklassische Konditionierung nach Pawlow erin-nern. Erhalten Probanden über mehrere Tage dasnebenwirkungsinduzierende AntidepressivumAmitriptylin, später jedoch Placebo-Pillen, so beschreiben sie nach Einnahme von Placebo- Pillenzahlreiche Amitriptylin-typische Nebenwirkungen.Diese und ähnliche Untersuchungen machendeutlich, dass die Wirkung von Medikamentenstark von früheren Erfahrungen abhängig ist. Patienten können in der Vergangenheit gelernthaben, gute „Responder“ zu sein, genauso wiesie gelernt haben können, „Nebenwirkungsres-ponder“ zu sein. Placebo-Paradigmen bieten aucheine gute Plattform, um die Rolle der ärztlichenBeziehung experimentell zu untersuchen. Ist derArzt in der Interaktion mit dem Patienten kurz

ange-bunden(„Wir müs-sen gar nichtviel reden; ichhabe alles überSie in der Akte gele-sen“), kann die Wirkungmedizinischer Maßnahmen aufweniger als die Hälfte zurückfallen, imVergleich zu einem empathischen, auf den Patien-ten eingehenden Arzt. Gleichzeitig berichten Patienten nach einer positiven Arzt-Patient-Inter-aktion deutlich weniger Nebenwirkungen von Medikamenten als bei sachlicheren Arzt-Patient-Interaktionen.

Biologische RelevanzViel Aufsehen haben in den letzten Jahren auchStudien erregt, die zeigen konnten, dass Placebosauch positive Wirkung entfalten, selbst wenn Patienten darüber informiert wurden, nur eine„Zuckerpille“ einzunehmen. Dies haben beispiels-weise Studien bei Patienten mit Migräne oder Reiz-darmsyndrom erbracht. Da damit das ethische Problem der Täuschung entfällt, bieten sich hier inder Zukunft vielleicht noch mehr Chancen zu einer klinischen Nutzung des Placebo-Effekts. Sindsolche Phänomene nun „just in mind“, ohne jegliche biologische Relevanz? Beileibe nicht. Ge-rade Lernprozesse im Sinne der Konditionierung

KVH aktuell 2|2017 31

STANDPUNKT

lassensich im

Immunsys-tem genauso

nachweisenwie im kardiovas-

kulären System oderbei gastrointestinalen

Funktionen. Jedoch gibt es auchzu den biologischen Mechanismen am

meisten Erkenntnisse im Schmerzbereich. Die Erwartung, Schmerzen zu erleben, aktiviert im Gehirn fast die identischen Areale wie bei einer rea-len Schmerzstimulation. Erwartungen bahnen undsensibilisieren somit auch neurophysiologisch fürdie ungünstigen, erwarteten Empfindungen. Bio-chemisch verwenden Placebo-Effekte oftmals ähn-liche Wirkungspfade wie die realen Medikamente,mit denen zuvor Erfahrungen gemacht wurden(wie die Aktivierung des opioidergen Systemsdurch Placebos, wenn zuvor Opiate eingenommenwurden, oder die Aktivierung des cannabinoidenSystems auf Placebos, wenn zuvor nicht-steroidaleEntzündungshemmer eingenommen wurden).

Effekte im klinischen AlltagIn einer eigenen Studie in Kooperation mit derHerzchirurgie in Marburg (Leiter Prof. Dr. R. Moos-dorf) konnte der klinische Nutzen dieser Forschungbeeindruckend gezeigt werden. Bevor die Patien-ten einer Bypass-Operation unterzogen wurden,

führte man mit ihnen vier Gespräche (zwei live,zwei am Telefon), um ihre Erwartungen bezüglichdes Genesungsverlaufs nach der Operation zu optimieren. Im Vergleich zur üblichen Prozedur inder Herzchirurgie, aber auch im Vergleich zu psy-chologischen Kontrollbedingungen (ebenfalls vierGespräche, die jedoch besonders auf die Gefühleund Ängste vor der Operation eingingen), zeigtendie Patienten der Erwartungsgruppe einen deut-lich besseren Verlauf. Sechs Monate nach der OPwaren sie durch die Herzerkrankung deutlichweniger in ihrer Lebensführung beeinträch-tigt. Ähnlich liegen bereits erste Ergebnissevor, dass eine Erwartungsoptimierung zumBeispiel bei Frauen nach Brustkrebs-OP dazuführt, dass sie weniger Nebenwirkungen bei

der nachfolgenden Behandlung mit Aromatase-Hemmern entwickeln.

FazitFür den klinisch tätigen Arzt lassen sich aus diesenBefunden mehrere Implikationen ableiten: Die Erwartungen von Patienten an den Behandlungs-erfolg sowie die Furcht vor möglichen Nebenwir-kungen sind von zentraler Bedeutung und solltenroutinemäßig berücksichtigt werden. Zeigen sichhier besondere dysfunktionale Einstellungen,empfiehlt es sich, diesen entgegenzuwirken. ImFall von Nebenwirkungen kann die Erwartung verstärkt werden, dass die Patienten selbst dieKompetenz entwickeln, besser mit diesen umzu -gehen. Zudem wird dieBedeutung von Behand-lungsvorerfahrungenbetont – auch wenn diefrüheren Medikamenteeiner anderen bioche-mischen Gruppe ange-hörten. Als Drittes un-terstreicht diese Forschung einmal mehr, wie wich-tig das ärztliche Gespräch ist. Wenn alle diese Effekte in der wissenschaftlichen Medizin ausge-klammert werden, darf man sich nicht wundern,wenn Behandlungskosten steigen und/oder Patien-ten in die Alternativmedizin abwandern. Es ist dieAufgabe des gesamten Gesundheitssystems, die-se wissenschaftlich gut belegten Effekte sinnvollin die Behandlungspläne zu integrieren und zumWohle der Patienten auszunutzen. �

WeiterführendeLiteratur:1. Enck P, Bingel U,Schedlowski M, Rief W.Minimize, maximize orpersonalize? – What todo with the placebo response in medicine?Nature Review DrugDiscovery. 2013;Vol.12: 191–204.

2. Rief W, Shedden- MoraMC, Laferton J, AuerC, Petrie KJ, SalzmannS, Schedlowski M,Moosdorf R. Preopera-tive optimi zation of patient expec tationsimproves long-termoutcome in heart surgery patients: Results of the rando -mized controlled PSY- HEART trial. BMC Medicine. 2017;15: 4.

Das ärztliche Gespräch entscheidet mit über Erfolg oder Misserfolgeiner Behandlung.

Seit März 2017 können cannabishaltige Fertigarzneimittel, Cannabisextrakte und deren Rezepturen sowie Medizinal-Cannabisblüten leichter zulasten der Krankenkassen verordnetwerden. Voraussetzung ist das Vorliegen einer schwerwiegendenErkrankung.

CANNABIS

Lipophil, hochpreisigund politisiert

DR. MED. STEFAN GRENZ

32 KVH aktuell 2|2017

STANDPUNKT

Durch das sogenannte Cannabis-Gesetz ist„Cannabis als Medizin“ in allen Zubereitun-

gen Teil der Regelversorgung der gesetzlichenKrankenversicherung (GKV). Zum Hintergrund:Cannabis extrakte und -trockenblüten besitzenkeine Arzneimittelzulassung. Sie wurden dahervon den Krankenkassen auch bisher nicht erstat-tet. Verordnet wird Cannabis als Medizin aufBtM- Rezept. Der bisherige Antrag des Patientenauf Ausnahme erlaubnis zur Selbsttherapie ent-fällt. Nur für die Erstverordnung muss der Arzteine Genehmigung bei der Krankenkasse desPatienten einholen (die Antwort der Kasse mussabgewartet werden). Weiterhin muss der Kassen -patient einer anonymisierten Begleiterhebungzustimmen, die der Arzt an das Bundesinstitutfür Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)schickt.1, 2 Verordnungsfähig sind derzeit die Fer -tigarzneimittel Sativex (Nabiximols) und Cane-mes (Nabilon), der Wirkstoff Dronabinol für Rezepturarzneimittel sowie Medizinal-Cannabis-blüten und Cannabisextrakte. Das dronabinol-haltige Fertigarzneimittel Marinol hat keinedeutsche Zulassung.2

Gesetzgeber lässt konkrete Indikationen offenCannabis als Medizin ist für Kassenpatienten erstattungsfähig bei Vorliegen einer schwerwie-genden Erkrankung. Dafür darf eine (andere) demmedizinischen Standard entsprechende Leistungnicht zur Verfügung stehen oder nach begründeter ärztlicher Einschätzung nicht anwendbar sein. Zudem muss eine „nicht ganzentfernt liegende“ Wirksamkeitsaussicht beste-hen.1 Konkrete Indikationen werden im Gesetznicht benannt. Zusätzliche Regelungen desGemein samen Bundesausschusses (G-BA) sieht das

Cannabis-Gesetz nicht vor und sie sind auch nichtzu erwarten. Phytocannabinoide sind der „medizi-nischen Wissenschaft allgemein bekannt“: Dieswar die Legaldefinition von „neuen Wirkstoffen“ inder AMNOG- Begründung. Cannabis als Me dizinindikationsbezogen nutzenbewerten zu lassen, istdem G-BA damit unmöglich. Lediglich für das Fer-tigarzneimittel Sativex existiert ein G-BA-Beschlussaus dem Jahr 2012 (geringer Zusatznutzen).Folglich besteht für Medizinal-Cannabisblüten,

Cannabisextrakte und deren Rezepturen nun einsehr breiter Indikationsspielraum. Auch Dronabi-nol (Firma Bionorica) hat als Rezepturarznei die-sen sehr breiten Indikationsspielraum. Dagegengelten für die beiden verfügbaren Fertigarznei-mittel zulassungsbedingt konkrete Indikationen:Das Präparat Sativex (Spray zur Anwendung inder Mundhöhle, Firma Almirall) ist zugelassenfür mittelschwere bis schwere Spastik aufgrundvon multipler Sklerose. Das Präparat Canemes(Hartkapseln zur oralen Anwendung, Firma AOPOrphan Pharmaceuticals AG) ist zugelassen fürdie chemotherapiebedingte Emesis und Nauseabei Krebspatienten. Ob der Hersteller Bionorica(nach der THC-Pharm-Übernahme alleinigerdeutscher Dronabinol-Anbieter) eine 2015 beantragte Zulassung für Dronabinol als Fer -tigarzneimittel weiterverfolgt, wird von Insidern wegen der dann zulassungsbedingt drohenden Indikationsbeschränkungen bezweifelt.

Nur wenige Indikationen sind belegbarDas aktuelle Cannabis-Gesetz entspricht demTrend, das Anwendungsspektrum von Cannabi-noiden immer weiter auszudehnen. Die gängigenIndikationen sind chemotherapieinduziertes Erbrechen, Kachexie bei HIV/AIDS, Spastik bei

Begleiterhebung Hinweise des Bundes -instituts für Arzneimittelund Medizinprodukte(BfArM) finden Sie unter:

kvh.link/1702005

INTERNET

STANDPUNKT

multipler Sklerose oder Querschnittserkrankun-gen sowie neuropathische Schmerzen. Hierfürgibt es mehr oder weniger belastbare Studienbe-lege. Diese fehlen aber trotz gegenteiliger Versi-cherungen einzelner Protagonisten für Schizo-phrenie, Morbus Parkinson, Tourette- S yndrom,Epilepsie, Kopfschmerzen und chronisch entzünd-liche Darmerkrankungen.5 Therapieerfolge sollenauch bei z. B. Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom, hyperkinetischen Bewegungsstörungen, Auf-merksamkeitsstörungen, Zwangsstörungen, Tin-nitus, Juckreiz, Glaukom, Asthma/COPD, Depres-sion sowie in der Suchttherapie erzielt wordensein.3, 4

Allerdings sind die klinischen Studien (von denen viele aus den 1980er-Jahren stammen)nach Urteil der Arzneimittelkommission derdeutschen Ärzteschaft (AkdÄ) meist nur begrenzt aussagefähig. Sie seien häufig nur übereinen kurzen Zeitraum mit wenigen Patientendurchgeführt worden. Ihre Endpunkte würdendaher keine Aussagen über anhaltende Effekteerlauben. Außerdem sei we-gen der psychotropen Wirkun-gen der Cannabinoide eine Ver-blindung (von Patient und Arzt) häu-fig nicht möglich.5 Ein therapeutischerVorteil von Medizinal-Cannabisblütenund Cannabisextrakten gegenüber THC-haltigen Rezepturen oder Fertigarzneien besteht offenbar nicht.

Fettlöslicher HanfDie wesentlichen Wirkstoffe von Medizinalhanfsind Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) undCannabidiol (CBD). THC gilt als das wirksamstePhytocannabinoid. Die Namen Dronabinol, D9-THC und THC werden synonym verwendet. THC

KVH aktuell 2|2017 33

Bei Rezepturen erhebt die Apotheke gemäß Arzneimittelpreis-Verordnung einen Zuschlag von

90 Prozent plus Rezepturzuschlag auf den Einkaufspreis der Cannabisblüten oder -extrakte.

34 KVH aktuell 2|2017

STANDPUNKT

Literatur:1. Gesetz zur Änderungbetäubungsmittel -rechtlicher und anderer Vorschriften.Bundesgesetzblatt2017;11: 404–05.

2. Cannabis als Medizin.BfArM 2017;www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/Canna-bis/_node.html.

3. Müller-Vahl K, Groten-hermen F. Medizini-sches Cannabis. Die wichtigsten Änderungen. Deutsches Ärzteblatt2017;114–8: A352–6.

4. www.cannabis-med.org.

5. Cannabinoide in derMedizin. AkdÄ 2015.www.akdä.de.

6. Frei A. Dronabinol.pharma-kritik.2002;8(24): 29–31.

wird über die Lungen zu etwa 50 Prozent auf -genommen, bei oraler Applikation dagegen nur zu etwa 25 bis 30 Prozent. Die empfohlene Applikation von THC-haltigen Zubereitungen istdie Inhalation (siehe unten). Dagegen soll dasRauchen vermieden werden. Der THC- Wirkspiegel bei Cannabistherapie kann durch andere Arzneimitteln beeinflusst werden. THC istSubstrat von p-Glycoprotein (P-gp) und Cyto-chrom P450 (CYP 3A4). HIV-Proteasehemmer,Azol-Antimykotika, Clarithromycin und Pampel-musensaft können den THC-Wirkspiegel erhö-hen. Dagegen können zum Beispiel Barbiturate,Carbamazepin, Rifampicin, Omeprazol, Dexa-methason oder Johanniskraut den THC-Wirk-spiegel senken. THC ist lipophil mit sehr langsa-mer Elimination. Die Halbwertszeit beträgt sie-ben Tage mit völliger Elimination nach etwa 30Tagen (!). Plasma- oder Urinkonzentrationen sindnicht verlässlich.5, 6 Als Kontraindikationen geltenLeberinsuffizienz, Schwangerschaft, kardiale Ischä-mien und Psychosen in der Anamnese.5

VerordnungIndikation, Dosierung und Darreichungsform be-stimmt der behandelnde Arzt. Insbesondere beider Verordnung von Medizinal-Cannabisblütensind sortenspezifische Unterschiede im THC- Gehalt bzw. CBD-Gehalt zu beachten. Auf demRezept sind Sorte, Menge und Dosierung anzu-geben. Die Informationen muss die abgebendeApotheke liefern. Bei Verordnung von Cannabis-blüten bereitet die Apotheke die Cannabisblü-ten auf (zerkleinern und sieben) und portioniertsie. Cannabisblüten enthalten Wirkstoffe, dieerst durch Erhitzen pharmakologisch wirksamwerden. Daher kommen nur Applikationsfor-men infrage, bei denen die Blüten vor Aufnah-me thermisch behandelt wurden. Empfohlen

wird die Inhalation mittels Verdampfer oder dieEinnahme als Tee. Geeignete Verdampfer warenallerdings bis März 2017 im GKV-Hilfsmittelver-zeichnis noch nicht aufgeführt. Bei Verordnungeines Cannabisextrakts stellt die Apotheke einorales Rezepturarzneimittel her. Zumindest beiTherapiebeginn sollte von einer aktiven Teilnah-me am Straßenverkehr abgeraten werden.2

Europarechtlich notwendig, aber für die Ver-ordnungspraxis nicht relevant ist die Cannabis-agentur. Diese neue staatliche Stelle beim BfArMregelt den Anbau im Inland, übernimmt als for -maler Eigentümer der Ernte deren Vertrieb an Hersteller bzw. Apothekengroßhandel und bestimmt den Abgabepreis. Erklärter politischerWille ist der Anbau im Inland, begründet durcheine (damit automatisch) hohe Produktionsqua-lität. Auch Interessen aus dem Pharmadialog2016 mögen eine Rolle gespielt haben („Be-kenntnis und Stärkung des Forschungs- und Industriestandortes Deutschland“). Dass die heimische Produktion im Interesse von Patientenund Sozialkassen favorisiert wird, um Cannabisals Medizin kostengünstiger zu machen, ist dagegen wohl nicht beabsichtigt.2

Teuer in Rohstoff und VerarbeitungBei Rezepturen erhebt die Apotheke gemäß Arzneimittelpreis-Verordnung einen Zuschlagvon 90 Prozent plus Rezepturzuschlag auf denEinkaufspreis der Cannabisblüten oder -extrakte.Außerdem kann die Apotheke entstandene Son-derbeschaffungskosten geltend machen. NachRecherchen der „Arbeitsgemeinschaft Cannabisals Medizin“ kosten 500 mg Dronabinol im Ein-kauf etwa 210 Euro und im Verkauf etwa 460Euro.4 Bei Fertigarzneimitteln ist die Situationvergleichbar: Eine Originalpackung Sativex-Spray(3 x 10 ml) kostet etwa 600 Euro. �

FAZIT

Das Cannabis-Gesetz gibt dem Schwerkranken

und seinem Arzt ein nahezu bedingungsloses

Erstattungsversprechen – so scheint es. Dazu

müsste die „Genehmigung der Krankenkasse“

die wirtschaftliche Verordnung der Cannabis-

therapie vorbehaltlos bestätigen. Das ist aber

nicht der Fall. Eine entsprechende Schutzklausel

im Interesse der Verordner bleibt der Gesetz -

geber schuldig. Somit übernimmt der Arzt die

volle Verantwortung für Indikation, Schwere-

grad und Umstellungszeitpunkt für eine Arznei

ohne klassische Wirkstoffzulassung – und damit

ein erhebliches Kostenrisiko. Die Beleglage

von Cannabis als Medizin ist unvollständig,

bei vielen Indikationen mangelhaft. Das gibt

den Kostenträgern Gelegenheit, die ärztliche

Therapieentscheidung trotz Genehmigung in-

frage zu stellen.

KVH aktuell 2|2017 35

FORSCHUNG & PRAXIS

STUDIENASPEKTE

Für Studien, die unverzerrte, also aussagekräftige Ergebnisseund damit eine hohe interne Validität erzielen sollen, gelten bestimmte Gütekriterien.

Evidenzpyramide:Fehleranfälligkeithängt auch vom Studientyp ab

Je nach Studiendesign sind Fehleranfälligkeitund Ergebnissicherheit stärker oder schwächerausgeprägt. Randomisierte kontrollierte Studien(RCT, englisch: randomized controlled trial) erzie-len Studienergebnisse mit der höchsten internen

Validität. Denn die Randomisierung (siehe unten)schafft faire Bedingungen für einen Vergleich undgewährleistet zudem, dass die Gruppen zeitgleichbetrachtet werden können.

STUDIENASPEKTEZahlen und Fakten ausdem IQWiG 2016:

Der Nachdruck erfolgtmit freundlicher Geneh-migung des Instituts fürQualität und Wirtschaft-lichkeit im Gesundheits-

wesen (IQWiG). Hier finden Sie mehr zuStudienqualität, Fehler-anfälligkeit und Bias.

kvh.link/1702006

INFO

Fehleranfälligkeit

Systematische Reviews von RCT

AussagesicherheitRCT

Kohortenstudien

Fall-Kontroll-Studien

Fallserien, Fallberichte

Studien ohne Vergleichsgruppe

Expertenmeinungen

Quelle: IQWiG 2016

36 KVH aktuell 2|2017

FORSCHUNG & PRAXIS

WebtippAntes G et al.

Medizinisches Wissen –Entstehung, Aufberei-tung, Nutzung. Welt derKrankenversicherung2014; 9: 196–201.

Im Web zu finden beiCochrane Deutschland:

kvh.link/1702007

INTERNET

Schutz vor Bias. Nutzenbewertungen basierendarauf, dass Patientinnen und Patienten verschie-dene medizinische Untersuchungen oder Behand-lungen durchlaufen und die Ergebnisse miteinan-der verglichen werden. Diese Vergleiche könnendurch systematische Fehler (Bias) verzerrt werden.Man unterscheidet mehrere Bias-Typen, die unter-

schiedliche Phasen und Ebenen einer Studie be-treffen. Alle Bias-Formen beeinflussen die Gültig-keit der Studienergebnisse (interne Validität) unddamit deren Aussagekraft. Es gibt Schutzmaßnah-men, die die wichtigsten Bias-Typen verhindernoder in ihren Auswirkungen beschränken können(siehe Tabelle rechts). �

Der Begriff „Bias“ (deutsch „Verzerrung") benennt systema -tische Fehler, die Studienresultate verfälschen können.

Studienqualität: Wo kommt Bias vor?

1. Randomisierung:

Hierbei werden die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer per Zufall den Vergleichsgruppen zugeordnet.Ziel ist, ähnlich zusammengesetzte Patientengruppen zu erhalten, die sich einzig durch die Art der Behand-lung unterscheiden. So wird vermieden, dass die Gruppen nach inhaltlichen Kriterien, wie etwa Alter oderSchwere der Erkrankung, gebildet werden. Bekannte und unbekannte personengebundene Störgrößen verteilen sich so gleichmäßig auf die Gruppen. Die Aussagesicherheit der Ergebnisse ist deshalb hoch.

2. Standardisierung:

Erfolgt das therapeutische Vorgehen standardisiert, ist das Risiko von Verzerrungen minimiert. Insbesonderebei unverblindeten Studien ist Standardisierung wichtig. Sie sollte auf die klinische Realität abgestimmt sein,damit die Übertragbarkeit nicht beeinträchtigt wird.

3. Art der Datenanalyse:

Sie beeinflusst die interne Validität. Zum Beispiel berücksichtigt die Intention-to-treat-Analyse (ITT) alle Patientinnen und Patienten bei der Auswertung, auch jene, die zwischenzeitlich die Studie verlassen haben.Dadurch erhöht sich die Aussagesicherheit.

4. Verblindung:

Sie liegt vor, wenn die Durchführenden der Studie nicht wissen, welche Teilnehmer welcher Gruppe zuge -ordnet sind, und idealerweise auch die Teilnehmer und Auswerter der Daten dies nicht wissen. Solch eine Verblindung verringert das Risiko, dass Studienergebnisse bewusst oder unbewusst beeinflusst werden.

Gütekriterien für die Studienqualität

KVH aktuell 2|2017 37

WebtippCochrane Deutschland,Arbeitsgemeinschaft der

Wissenschaftlichen Medizinischen

Fachgesellschaften(AWMF).

Bewertung des Biasrisikosin klinischen Studien –Ein Manual für die Leitlinienerstellung. 1. Auflage 2016. Zu finden bei:

Cochrane Deutschland

kvh.link/1702008

und der AWMF

kvh.link/1702009

INTERNET

Quelle: IQWiG 2016

Diese wichtigste Bias-Form beschreibt den Umstand, dass

sich Personen, die eine Intervention anwenden, von sol-

chen, die sie nicht anwenden, systematisch unterschei-

den. Dies kann die Schwere der Krankheit oder Begleiter-

krankungen betreffen, vor allem aber schwer mess- oder

identifizierbare, z. B. soziale, Aspekte. Typischerweise

sind solche Aspekte mit der Prognose assoziiert.

Wenn Teilnehmer einer Studie diese vorzeitig wieder

verlassen, geschieht dies nicht zufällig, sondern aus

inhaltlichen Gründen (Auftreten von Nebenwirkungen,

Un zufriedenheit mit Effekten etc.). Da diese Gründe

auch Informationen über die untersuchte Intervention

enthalten, führt ein „Weglassen" dieser Patienten zu

einer verfälschten Aussage.

Die Teilnehmer einer Studie bekommen oft zusätzliche

Betreuung, Behandlungen oder Untersuchungen. Wenn

die Entscheidungen für solche Maßnahmen mit der

Kenntnis zusammenhängen, welcher Studiengruppe die

Teilnehmer angehören, können sie die Aussage über die

Studientherapie selbst verfälschen.

Die Erwartungshaltung der Teilnehmer und der beteilig-

ten Wissenschaftler wirkt sich auf ihre Wahrnehmung

von Studienverlauf und -ergebnissen aus. Insbesondere

betrifft dies die Ermittlung von Erfolg oder Misserfolg

einer Behandlung oder Untersuchung.

Durch eine unvollständige und gezielte Berichterstattung

kann ein verfälschtes Bild über ein Studienergebnis ent-

stehen. Dabei werden z. B. selektiv nur bestimmte

Aspekte in einer Publikation erwähnt oder Studien mit

negativen Ergebnissen werden gar nicht publiziert.

Oder sie werden seltener, später oder weniger hoch -

rangig berichtet als solche mit positiven Ergebnissen.

Selection Bias

Attrition Bias

Performance Bias

Detection Bias

Selective

Reporting Bias,

Dissemination

Bias,

Publication Bias

Die Zuordnung zu Inter-

ventionen erfolgt ohne

Berücksichtigung von

Eigenschaften der Person

(Randomisierung).

Alle Personen, die an

einer Studie teilnehmen,

gelangen auch in die

Auswertung (Intention-

to-treat-Auswertung).

Teilnehmer und Wissen-

schaftler sollten (soweit

möglich) nicht wissen, zu

welcher Studiengruppe

die Teilnehmer gehören

(Verblindung, doppelblin-

des Studiendesign).

Wesentliche Erhebungen

erfolgen ohne Kenntnis,

welche Interventionen

die einzelnen Teilnehmer

erhalten haben

(verblindete Erhebung

von Zielkriterien).

Studien sollten bei Beginn

registriert werden und in

dem Register sollte ein

vollständiger Studien -

bericht vorliegen (derzeit

noch nicht realisiert).

Welche Schutzmaßnahme greift wo?

Wichtige Erläuterung SchutzmaßnahmeBias-Formen

FORSCHUNG & PRAXIS

38 KVH aktuell 2|2017

FORSCHUNG & PRAXIS THROMBOSEPROPHYLAXE

After Knee Arthroscopy or During Lower-Leg Casting: Prophylaxis With Heparin Not Effective for Prevention ofThromboembolism

Kniearthroskopie oderUnterschenkelgips: Heparin unwirksam!

Orthopäden in Praxis und Klinik empfehlensehr oft die Fortsetzung der Thrombosepro-

phylaxe (meist mit niedermolekularem Heparin)für ambulante Patienten nach arthroskopischenEingriffen am Kniegelenk bzw. Unterschenkelgips.Und Hausärzte/-innen stehen nicht selten vor derFrage, ob sie dieser Empfehlung folgen sollen. Im-merhin stellen die endoskopischen Prozedurenweltweit die häufigsten orthopädischen Eingriffeüberhaupt dar. Was ist wissenschaftlich gesichert?

Gesichert erscheint, dass� das Risiko einer Thromboembolie nach

Arthroskopie des Kniegelenks bzw. Unter-schenkelgips erhöht ist und

� für die meisten (aber keineswegs für alle) orthopädischen Eingriffe der Nutzen einerHeparinprophylaxe das geringfügig erhöhteBlutungsrisiko übersteigt.

Ungesichert ist hingegen,� ob eine Heparinprophylaxe das erhöhte

Thromboserisiko nach arthroskopischem Eingriff am Kniegelenk bzw. Unterschenkel-gips signifikant vermindern kann. BisherigeStudien waren methodisch unzureichend, sodass deren Resultate keine allgemeine Akzeptanz erfahren haben.

Niederländische Epidemiologen aus Leiden undUtrecht haben soeben zwei randomisierte Studi-en vorgelegt, die zeigen, dass eine Prophylaxemit niedermolekularem Heparin (NMH) weder inden acht Tagen nach diagnostischem bzw. the-rapeutischem arthroskopischem Eingriff nochwährend der gesamten Zeitdauer der Immobili-sation durch einen Unterschenkelgips thrombo-embolische Komplikationen verhindern kann.

� Verglichen wurde die Behandlung mit NMH(einmal täglich) gegen keine Therapie bei allen infrage kommenden Patienten über 18 Jahre in zehn niederländischen Kranken-häusern.

� Ausschlusskriterien waren frühere Thrombo-embolie, Kontraindikationen gegen NMH,Schwangerschaft und eine aktuelleAntikoagula tion.

� Primärer Endpunkt war die Inzidenz einersymptomatischen tiefen Venenthromboseund/oder Lungenembolie innerhalb von zwölf Wochen.

� Verblindet waren alle mit Behandlung, Datenmanagement und Auswertung befass-ten Personen.

� Die Nachverfolgungszeit betrug drei Monate(danach nähert sich das Thromboserisiko derAusgangslage an).

Nachdruck aus DEGAM Benefits.Deutscher Ärzteverlag.Z Allg Med. 2017; 93(3): 99–100.Ausgewählt und ver-fasst von Prof. Dr. med.Michael M. Kochen,MPH, FRCGP, Freiburg.

In der Studie nach arthroskopischem Eingriff POT-KAST (76,9 Prozent Meniskektomien) wurden1.451 Patienten randomisiert. Obwohl sich keinsignifikanter Unterschied bei thromboemboli-schen Ereignissen zeigte, erlitten die behandeltenPatienten interessanterweise häufiger Thrombo-embolien (n = 5) als die Nichtbehandelten (n = 3).Ernsthafte Blutungen waren selten (n = 1 vs. n = 1).In der Studie nach Unterschenkelgips POT-CASTwurden 1.435 Patienten randomisiert (89,1 ProzentFrakturen, Rest: Achillessehnenriss, OSG-Distorsion,massive Prellung). Auch hier zeigte sich kein signi-fikanter Unterschied bei den Thromboembolien (n = 10 vs. n = 13). Ernsthafte Blutungen tratennicht auf.

Wer angesichts dieser Daten die Empfehlungender verschiedenen Leitlinien einsehen möchte, seiauf die entsprechenden Seiten verwiesen, bei-spielsweise auf:

� American Academy of Orthopaedic Surgeons(2011)www.aaos.org/research/guidelines/VTE/VTE_full_guideline.pdf

� American College of Chest Physicians (2012)www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3278063/

� National Institute for Health and Care ExcellenceNICE (2010; update 2015)www.nice.org.uk/guidance/Cg92

� S3-Leitlinie der AWMF (2015)www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/003-001l_S3_VTE-Prophylaxe_2015-12.pdf

In der S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft derWissenschaftlichen Medizinischen Fachgesell-schaften (AWMF) sind auch die Sondervoten derDeutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin undFamilienmedizin (DEGAM) aufgeführt, die sichnach länger dauernder arthroskopisch assistierterGelenkchirurgie gegen eine generelle medikamen-töse VTE-Prophylaxe und auch gegen die vorge-schlagene Zeitdauer ausspricht. Dem sogenanntenExpertenkonsensus liegen keine ausreichendenwissenschaftlichen Belege vor (Details siehe Seiten73–80 des Dokuments). Die Ergebnisse der POT-KAST-Studie widersprechen etlichen vorhergehen-den Untersuchungen, darunter auch einem 2008publizierten Cochrane-Review mit vier kleineren

RCTs (http://tinyurl.com/jjhbpgs). Die Autoren derniederländischen Studie erklären im Text detailliert(und meiner Ansicht nach überzeugend), warumihre Resultate eine bessere Evidenzbasierung ha-ben. Dort werden auch die Limitationen der Arbeitdiskutiert.

Quintessenz� Eine Prophylaxe mit niedermolekularem Hepa-

rin (NMH) verhindert weder in den acht Tagennach diagnostischem bzw. therapeutischem arthroskopischem Eingriff noch während dergesamten Zeitdauer der Immobilisation durcheinen Unterschenkelgips thromboembolischeKomplikationen.

� Ob eine höhere Dosis und/oder längere Dauerder Antikoagulation ausschließlich für Patien-ten mit hohem Risiko thromboembolischeKomplikationen vermindern könnte, bleibt vor-erst spekulativ. Zum Thema „erhöhtes Risiko“haben die Autoren 2015 eine Studie publiziert,die frei unter http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/jth.12996/epdf heruntergeladen werden kann. �

KVH aktuell 2|2017 39

FORSCHUNG & PRAXIS

Hier gelangen Sie zum(kostenpflichtigen)

Originalartikel „Throm-boprophylaxis after kneearthroscopy and lower-leg casting“ (N Engl JMed 2017;376: 515–525):

kvh.link/1702010

HINTERGRUND

DIALO

G

CHOOSING WISELY: IM PRAXISALLTAG

� Sobald die Zielwerte erreicht sind und die Ergebnisse der Selbstkontrollen bereits vorhersehbar sind, ist bei den meisten Patienten durch wiederholte Bestätigungs-tests wenig gewonnen.

� Es gibt Ausnahmen: die Ersteinstellung eines Patienten, akute Erkrankungen wie fieberhafte Infekte oder eine Umstellung der Therapie.

� Grundsätzlich ist Selbstmonitoring nur nütz-lich, wenn der Patient lernt, seine Therapiean die Ergebnisse anzupassen.

2. Solange ein Patient keine Hyperkalziämieoder eine verschlechterte Nierenfunktionhat, sollten Sie kein 1,25-Dihydroxy-Vitamin-D bestimmen! � Weil 1,25-Dihydroxy-Vitamin-D die aktiveForm von Vitamin D ist, halten viele Ärztedie Messung von 1,25-Dihydroxy-Vitamin-Dfür geeignet, um Vitamin-D-Speicher ein -zuschätzen und auf Vitamin-D-Mangelzu testen. Dies ist nicht korrekt. Aktuelle Leitlinien der endokrinologischen Gesell-schaften empfehlen Vitamin-D-Screenings nur bei Patienten mit nachgewiesenem Vitamin-D-Mangel-Risiko.

� Vitamin-D-Speicher sind in erster Linie durchdie Höhe des Parathormons reguliert, daswiederum durch die Kalziumkonzentrationund/oder Vitamin D reguliert wird. Bei

Vitamin-D-Mangel steigen (nicht sinken!)die Spiegel von 1,25-Dihydroxy- Vitamin-D.

Besser nicht!Mit unserer Choosing-wisely-Serie möchten wir dazu beitragen,überflüssige oder sogar gefährliche Untersuchungen oder Therapien zu vermeiden. Diesmal stellen wir Ihnen die Top-5-Empfehlungen aus dem Bereich der Endokrinologie vor.

Die Angaben orientieren sich wieder an einerweitestgehend textnahen Übersetzung der

Empfehlungen der US-amerikanischen Websitewww.choosingwisely.org (siehe Kasten nächsteSeite):

1. Erwachsene stabil eingestellte Typ-2-Diabe-tiker (ohne Medikamente, die eine Hypo-glykämie verursachen können) sollten nichtroutinemäßig eigenständige Blutzuckermes-sungen vornehmen!

40 KVH aktuell 2|2017

DIALO

G

� Die unkontrollierte Produktion von 1,25- Dihydroxy-Vitamin-D (wie bei Sarkoidoseoder anderen granulomatösen Erkrankun-gen) ist selten Ursache einer Hyperkalziämie. Der Verdacht ist angebracht, wenn dasSerum kalzium erhöht und Parathormon -spiegel erniedrigt sind und dies durch die Bestimmung von 1,25-Dihydroxy-Vitamin-Dbestätigt wird. Das Enzym, das Vitamin D aktiviert, wird in der Niere produziert, sodassdie Konzentration von 1,25-Dihydroxy- Vitamin-D ggf. bei Dialysepatienten oderMenschen mit präterminaler Niereninsuffi-zienz von Interesse sein kann.

� 25-Hydroxy- Vitamin-D wird in häufig sinn -losen Messungen zur Abklärung eines ver-meintlichen Vitamin-D-Mangels genutzt. DasProblem: Die Normalwerte sind sehr hoch angesetzt. Durch die Messungen findet sichbei vielen Menschen ein leichter „Mangel“.

3. Fordern Sie keinen Routine-Ultraschall derSchilddrüse bei Patienten mit auffälligenSchilddrüsen-Laborwerten, aber unauffälli-gem Tastbefund an!� Eine Ultraschalluntersuchung der Schilddrüsebraucht man, um Knoten der Schilddrüsedarzustellen. Sie gehört nicht zur Routine -evaluation von auffälligen Schilddrüsen-funktionstests (Über- oder Unterfunktion),solange der Patient keinen großen Kropfund keine knotige Schilddrüse hat.

� Zufällig entdeckte Knötchen der Schilddrüsesind weit verbreitet. Überzogener Gebrauchder Schilddrüsensonografie wird regelmäßigzur Entdeckung von Knötchen führen, dienichts mit der Schilddrüsenfunktion zu tunhaben. Gleichzeitig verführt die Sonografiedazu, diese Knoten abzuklären, statt dieFehlfunktion zu überprüfen.

� Bildgebung kann bei Thyreotoxikose nötigwerden. Allerdings ist dann ein Schilddrüsen -szintigramm und kein Ultraschall erforderlich,um die Ätiologie der Thyreotoxikose und eine mögliche fokale Autonomie eines Knotens abzuklären.

KVH aktuell 2|2017 41

4. Fordern Sie kein Gesamt- oder freies T3 imLabor an, um die T4-Dosis bei hypothyreotenPatienten festzulegen!� T4 wird in fast allen Organen auf zellulärerEbene in T3 umgewandelt. Intrazelluläres T3reguliert die Freigabe von TSH aus der Hypo-physe und bestimmt die Höhe des TSH- Serumspiegels wie auch die Wirkung vonSchilddrüsenhormon in multiplen Organen.

� Ein normaler TSH-Wert zeigt meist eineadäquate T4-Dosis an. Die Konversion vonT4 in T3 auf zellulärer Ebene muss sichnicht im T3-Serumwert widerspiegeln: Sokann der Gesamt-T3- oder freie T3-Wert imSerum irreführen (niedrig normal oder leicht erniedrigt).

� Bei den meisten Patienten zeigt ein normalerTSH-Wert eine korrekte T4-Dosierung an.

5. Verordnen Sie keine Testosteronbehand-lung ohne Labornachweis eines Testosteron-mangels!� Viele Symptome, die männlicher Gonaden-unterfunktion zugeschrieben werden, findensich üblicherweise bei normalem Alterungs-prozess beim Mann oder wenn Begleiter-krankungen vorliegen.

� Die Behandlung mit Testosteron birgt Risikenfür ernste Nebenwirkungen und stellt eineteure Behandlung dar. Deshalb ist nur bei klinischem Verdacht auf Gonadenunter -funktion ein Labornachweis wichtig.

� Aktuelle Leitlinien empfehlen die Bestim-mung des totalen Testosteronspiegels beiNüchternabnahme. Ein erniedrigter Wertsollte durch Kontrolle an einem anderen Tag bestätigt werden. In manchen Situa -tionen kann die Bestimmung des freien oder bioverfügbaren Testosterons von zusätzlichem Nutzen sein.

DR. MED. JOACHIM SEFFRIN

Die US-Initiative

Seit 2010 stellen medizinische US-Fachgesellschaften gemeinsam mit Patien-tenorganisationen Listenzusammen, in denen Ärzte und Patienten (Laien) recherchieren

können, welche der vor-gesehen Untersuchungenund Therapien nutzlosoder sogar gefährlich

sein könnten. Hier findet man die wichtigsten

Maßnahmen – geordnetnach Fachgebieten, Testverfahren oder

Beschwerden:

kvh.link/1702011

HINTERGRUND

42 KVH aktuell 2|2017

IMPRESSUMHerausgeber und verantwortlich für die Inhalte:Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Europa-Allee 90, 60486 Frankfurt am Main [email protected] | Tel.: 069 24741-6988 | www.kvhessen.de

Redaktionsstab:Dr. med. Joachim Fessler (verantw.), Dr. med. Christian Albrecht, Petra Bendrich, Dr. Florian Brenck, Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Prof. Dr. Andreas Hamann, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. Christian Klepzig, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld, Dr. med. Uwe Popert, Karl Matthias Roth, Dr. med. Joachim Seffrin, Dr. Christian Sommerbrodt, Dr. med. Gert Vetter, Dr. med. Michael Viapiano

Wissenschaftlicher Beirat:Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt; Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institutfür klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt

Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge;darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseigenen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken sich nichtzwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffent -lichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen-oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Ent wicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrungerweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Ausgabedes Magazins eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und Heraus -geber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung des Magazins entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommenwerden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.

Verlag:wdv Gesellschaft für Medien mbH & Co. OHG, Siemensstraße 6, 61352 Bad Homburg. Objektleitung: Karin Oettel; Redaktionsko -ordination: Dr. med. Detlef v. Meien-Vogeler; freie Mitarbeit: Dr. phil. nat. Andreas Häckel, Gestaltung: Steffen Klein, Udo Schankat;Bildredaktion: Corinna Gab; Herstellung: Dieter Kempiak; Vertrieb: Brigitte Hoemberg

Bildnachweise: Getty Images/Science Source/Jim Dowdalls (1); wdv/Oana Szekely (2); shutterstock/Sebastian Kaulitzki (4–5); Fotolia/Fiedels (14); BfArM (15); Getty Images/istockphoto/Firebach (17); Fotolia/poppystyle, Getty Images/istockphoto/rustemgurler/NikiLitov/didecs/luplupme/Altayb (19); Getty Images/iStockphoto/Kubkoo (28–31); Getty Images/istockphoto/pk74(33); Getty Images/istockphoto/karandaev (39); istockphoto/edge69 (40); Fotolia/pixtumz88 (40–41); Fotolia/bryafout2 (U3).

Redaktionsschluss: 31. Mai 2017

DIALO

G

SCHREIBEN SIE UNS!Das KVH-aktuell-Redaktionsteam freut sich über Ihre Meinung zu unseren Beiträgenund Ihren Therapieerfahrungen im Praxisalltag. Haben Sie beispielsweise in der letzten Zeit ein besonders umfangreiches oder ungewöhnliches Entlassungsrezept(Klinik oder Reha) auf den Schreibtisch bekommen? Dann schicken Sie uns bitteknappe Angaben zur Anamnese des betroffenen Patienten, zur Ausgangsdosierungder einzelnen Wirkstoffe und dazu, wie Sie diese umgestellt oder abgesetzt haben.

Die Redaktion bedankt sich schon jetzt für Ihre Statements, behält sich aber deren Veröffentlichung und das Recht der Kürzung vor. Außerdem möchten wir Sie darumbitten, mögliche Interessenkonflikte anzugeben.

Zuschriften per E-Mail oder Post an:

[email protected]ärztliche Vereinigung HessenEuropa-Allee 90, 60486 Frankfurt am Main

Wenn Sie diese Ausgabevon KVHaktuell auchauf Ihrem Smartphone

oder Tablet lesen möchten, scannen Sieeinfach den QR-Code.Sie kommen damit aufunsere Homepage

kvhessen.de.

kvh.link/1702012

INTERNET

FIBROMYALGIESYNDROM

Wenn Muskeln und Glieder dauerhaft schmerzen

PATIENTENINFORMATION

Liebe Patientin, lieber Patient, Sie haben seit Monaten anhaltende Schmerzen invielen Körperbereichen, Schlafprobleme und fühlen sich erschöpft? Möglicherweise wurde bis-her keine Ursache dafür gefunden. Vielleicht hatIhr Arzt auch den Verdacht auf ein Fibromyalgie-syndrom geäußert und Sie möchten nun mehrüber diese Erkrankung erfahren.

Die Erkrankung Das Fibromyalgiesyndrom (kurz: FMS) ist bei den

meisten Betroffenen eine dauerhaft bestehende

Erkrankung. Wörtlich übersetzt bedeutet Fibromyalgie

„Faser-Muskel-Schmerz“. Da bei dieser Krankheit

unterschiedliche Beschwerden zusammentreffen,

spricht man von einem Syndrom. Etwa zwei von 100

Menschen sind vom FMS betroffen, Frauen häufiger

als Männer. Die Beschwerden treten meist im Alter von

40 bis 60 Jahren auf, seltener bei Kindern, Jugendlichen

oder Senioren. Bis heute ist die Ursache nicht geklärt.

Man vermutet, dass die persönliche Veranlagung, be-

lastende Lebensereignisse, schlecht verarbeiteter Stress

und Überlastung eine Rolle spielen. Obwohl die

Schmerzen quälend und belastend sein können, führt

das FMS nicht zu Schäden an Muskeln, Gelenken oder

Organen. Die Lebenserwartung ist normal.

Was sind die Anzeichen für ein FMS? Die drei wichtigsten Krankheitszeichen sind:

� über mehr als drei Monate bestehende Schmer-

zen in mehreren Körperbereichen (Nacken-,

Rücken- oder Kreuzschmerzen und Schmerzen

im Brustkorb oder Bauch und Schmerzen in

beiden Armen und beiden Beinen),

Verantwortlich für den Inhalt:

Ärztliches Zentrum fürQualität in der Medizin(ÄZQ) im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung(KBV) und der Bundes-ärztekammer (BÄK)

www.patinfo.orgwww.aezq.de

� Müdigkeit, Erschöpfung und�

� Schlafstörungen beziehungsweise das Gefühl,

nicht ausgeschlafen zu sein.

Die Schmerzen können anhaltend, wiederkehrend

oder wandernd sein. Sie verstärken sich oft bei Stress,

Nässe, Kälte und längerem Sitzen oder Liegen.�Viele

weitere Krankheitszeichen können bei einem FMS

auftreten, zum Beispiel:

� Kopfschmerzen, schmerzhafte Muskelver -

spannungen am Brustbein, Kiefer oder Gesicht

� körperliche Beschwerden wie Regelschmerzen,

Herzrasen, Atem- oder Magen-Darm-Probleme

� Reizüberempfindlichkeiten, zum Beispiel der

Augen, Geräusch- oder Geruchsempfindlichkeit

� Konzentrationsstörungen oder Leistungsabfall

� seelische Beschwerden wie Nervosität, innere Un-

ruhe, Niedergeschlagenheit oder Angst gefühle

Wie wird ein FMS festgestellt?Ihr Arzt befragt Sie ausführlich, zum Beispiel zu Ihrenpersönlichen Lebensumständen, möglichen anderenErkrankungen oder Ihren Medikamenten. Anschlie-ßend untersucht er Sie körperlich. Meist führt Ihr Arztweitere Untersuchungen durch, zum Beispiel einenBluttest. Das dient dazu, andere Erkrankungen, wie etwa Gelenkentzündungen oder Stoffwechselkrank-heiten, auszuschließen. Dafür sind manchmal weiterefachärztliche Untersuchungen wichtig.

Die Behandlung Das FMS ist nicht heilbar. Ziel ist es daher, die

Beschwerden zu lindern. Allerdings gelingt dies selten

dauerhaft und vollständig. Da die Krankheit bei

jedem anders verläuft, richtet sich die Behandlung

FIBROMYALGIESYNDROM PATIENTENINFORMATION

Über diesen Kurzlinkkönnen Sie sich ein

PDF der Patienteninfor-mation „Fibromyalgie-

syndrom – Wenn Muskeln und Glieder

dauerhaft schmerzen“herunterladen:

kvh.link/1702013

INTERNET

nach Ihren persönlichen Beschwerden. Sie können ler-

nen, mit Ihren Schmerzen und Beeinträchtigungen

besser umzugehen. In einer Patientenschulung kön-

nen Sie viel über Ihre Erkrankung erlernen und prakti-

sche Hinweise zur Behandlung und zur Verringerung

von Stress erhalten. Experten empfehlen mehrmals

pro Woche leichtes Ausdauertraining, wie Walking,

Schwimmen oder Radfahren. Sanftes Kraft- und

Funktionstraining zweimal wöchentlich sind ebenfalls

wirksam, zum Beispiel (Wasser-)Gymnastik in Grup-

pen. Wichtig ist, Muskeln und Bänder regelmäßig zu

bewegen, ohne sie dabei zu stark zu belasten. Seeli-

sche Begleiterkrankungen sollen mit einer Psychothe-

rapie behandelt werden. Zudem sind hier manchmal

Medikamente hilfreich. Zum Beispiel haben einige

Studien gezeigt, dass das Arzneimittel Amitriptylin

helfen kann. Es kann niedrig dosiert für eine gewisse

Zeit eingesetzt werden. Häufige Nebenwirkungen

sind Benommenheit, trockener Mund und Kopf-

schmerzen. Wenn das nicht wirkt, können in Einzel-

fällen andere Arzneimittel infrage kommen. Sprechen

Sie mit Ihrem Arzt darüber. Bei einem schweren

Krankheitsverlauf kann eine Behandlung in einer

Schmerzklinik oder psychosomatischen Klinik helfen.

Folgende Behandlungen bringen oft keine Linderung

und werden daher nicht empfohlen:

� die meisten Schlaf- und Schmerzmittel,

� Spritzen in schmerzende Körperstellen,

� Hormone wie Kortison und

� einige physikalische Verfahren, zum Beispiel

Massage.

� Experten raten auch von speziellen Operationen

ab, die angeblich ein FMS heilen sollen.

Was Sie selbst tun können� Wahrscheinlich werden Sie nicht sofort einen

Erfolg der Behandlung spüren. Es kann einige

Zeit dauern, bis sie wirkt.

� Körperliche Bewegung tut gut. Da viele Übungen

mit Schmerzen verbunden sein können, sollten

Sie langsam beginnen und sich nur vorsichtig

steigern. Wählen Sie am besten etwas aus, das

Ihnen Freude macht.

� Es ist empfehlenswert, sich selbst zu beobach-

ten. Als Hilfe können Sie Ihre Beschwerden

in einem Tagebuch notieren. So können Sie

herausfinden, ob Ihnen eine Behandlung nutzt

oder nicht.

� Versuchen Sie, möglichst feste Schlafenszeiten

einzuhalten. Ruhezeiten im Alltag sind sinnvoll.

� Sie können lernen, sich zu entspannen und

Stress zu bewältigen. Entspannungsübungen

und meditative Bewegungstherapien, wie

Tai-Chi, Qi-Gong oder Yoga, können hier

unterstützend wirken.

� Sie können Ihre Erfahrungen mit anderen

Betroffenen austauschen, etwa in einer

Selbsthilfegruppe.

Auf einen Blick: Fibromyalgiesyndrom� Typische Beschwerden beim Fibromyalgie -

syndrom sind unter anderem: mehr als drei

Monate bestehende Schmerzen in mehreren

Körperbereichen, Erschöpfung und Schlaf-

störungen.

� Die Erkrankung führt nicht zu Schäden an

Muskeln, Gelenken oder Organen. Die

Betroffenen haben eine normale Lebens -

erwartung.

� Ziel der Behandlung ist, die Beschwerden zu

lindern, etwa mit körperlichem Training und

Schulungen.