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historischer Gleichzeitigkeit

Herausgegebenvon Andreas Speer und David Wirmer

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,La Vie de saint Louis' von Jean de Joinville

BRIGITIESTARK(Bonn)

1. Hintergründe

1. Louis IX, KiinigvonFrankreich

Louis IX. (Ludwig der Heilige), König von Frankreich (1214-1270) wurdeim Jahr 1297 kanonisiert. Damit erkannte ihm die von Bonifaz VIII. eingesetzteUntersuchungskommission ein nach streng christlichen Grundsätzen geführtesLeben zu und bestätigte etwa 330 Wunder und Heilungen, die der heilige Königzu seinen Lebzeiten und nach seinem Tod bewirkt hat. Die Faszination, die vonihm ausgeht, beruht nicht allein auf Wundertaten, die eine naturwissenschaftli-che Erklärung ausschließen 1. .

Als Wunder im Sinne einer übermenschlichen Leistung erscheint es den Zeit-genossen und der Nachwelt, daß Louis IX. trotz seiner tiefen Frömmigkeit undOpferbereitschaft ein überaus erfolgreicher Politiker ist und seine Dynastie, dieKapetinger, zu höchstem Ansehen führt: Er schließt Frieden mit den Fürstender benachbarten Länder, vergrößert das königliche Territorium, beendet undverhindert die Fehden seiner Vasallen und erläßt zahlreiche Verordnungen, diedie Rechtslage des einfachen Volkes verbessern. In seiner Regierungszeit erlebtFrankreich mit dem Bau der gotischen Kathedralen und dem Höhepunkt derscholastischen Philosophie an der Universität Paris sein erstes "großes Jahrhun-dert": "Im 13.Jahrhundert ist Frankreich das auserwählte Reich Gottes, undParis ist ein neues Jerusalem."2

Eine enge Beziehung pflegt der heilige König zu den Orden der Franziskanerund Dominikaner (den Mendikanten) und es gelingt ihm, während seiner überdreißigjährigen Regierungszeit das Gleichgewicht zwischen päpstlichen Macht-ansprüchen und der Autorität der französischen Krone zu erhalten.

Trotz seines überzeugten Eintretens für den Frieden fühlt sich Louis berufen,in den Jahren 1248 bis }254 einen Glaubenskrieg zu führen, um strategischbedeutende Gebiete in Agypten zurückzuerobern. Dieser siebte Kreuzzug istzum Scheitern verurteilt und der König gerät für kurze Zeit in Gefangenschaft;

1 Von 66 Heilungswundern berichtet Guillaume de Saint-Pathus, der Beichtvater von Louis' Ge-mahlin Marguerite de Provence, in seinen ,Miracles de Saint Louis', ed. P. B. Fay, Paris 1931.

2 M.-D. Albert, La Sainte-Chapelle ou les fastes de la foi, in: Le Figaro, 1.6. 2001, 11; der Artikelwurde anläßlich der Ausstellung der Schätze der Sainte-Chapelle veröffentlicht.

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beim Rückzug können die Kreuzfahrer jedoch die Stellung der christlichen Herr-scher im Heiligen Land erfolgreich festigen. Unter dem Eindruck der erlittenenNiederlage legt sich Louis nach seiner Rückkehr in die Heimat die Verpflichtungauf, noch konsequenter für Frieden, Ordnung und Gerechtigkeit einzutreten.Zugleich treibt ihn die Vision, als vorbildlicher christlicher Herrscher einen wei-teren Glaubenskrieg zu unternehmen, der seinem Reich und der gesamten Chri-stenheit aber auch dem eigenen Seelenheil zugute kommen soll. 1270 bricht ermit einem neucn Heer von Kreuzfahrern nach Nordafrika auf. Dieser Kreuzzugendet im August desselben Jahres mit dem Tod des Königs vor Tunis.

2. lIagiographische Schriften über Louis IX

Bereits in den Jahrcn 1272 bis 1275 verfaßt der Dominikaner Geoffroi deBeaulien eine kurze lateinische Biographic Louis' IX. unter dem Titel ,Vita etsancta conversatio piae mernoriae Ludovici quondam regis Francorum', DieseSchrift wird von Gregor IX. und dem Dominikanerorden in Auftrag gegebenund soll der Vorbereitung des Karionisierungsprozesses dienen). Gcoffroi, derl.ouis' Beichtvater war, ihn auf dem Kreuzzug nach Tunis begleitete und inseinen letzten Stunden bei ihm war, preist den frommen Lebenswandel desKönigs, In die Vita des Königs fügt Geoffroi eine ins Lateinische übersetzteKurzfassung der .Enscigncments' (Lehren) ein, die der König in der Volksspra-che für seinen Sohn, den späteren Philippe I1I., aufgezeichnet hat4• Der politi-schen Tätigkeit des Herrschers widmet der Autor nur eins von 52 Kapiteln. Dertypologische Vergleich mit dem alttestamentlichen König Josias führt Geoffroizu der Schlußfolgerung: "Er ist würdig, in die Reihe der Heiligen aufgenommenzu werden." Eine Fortsetzung der Vita von Geoffroi de Beaulieu schreibt derDominikaner Guillaume de Chartrcs'', der ebenfalls am zweiten Kreuzzug teilge-nommen hat 7.

) Geoffmi de Beaulieu, Vita et .ancta conversatio piae memorise Ludovici quondam regis Franco-rum, in: Recueil de. J listorienl de la France 20 (1%8), 3 - 26. Einen Überblick über die hagiogra-phiKlKn Schriften über Louis IX. und die Charakteristik der einzelnen Werke findet man beiJ.l..e Goff,lIcml du Moyen Aw:. Le Saint et le Roi, Paris 2()()4, 452-466.

4 In der Tradition der Minlil1 du prince (fUrstenspiegel), die bis in die Karollngerzeir (und bis indie Antike) zurückgeht, achreibt LuuislX. zwischenJunl1267 und Februar 1268 die ,Enscigne-nlenla' fur leinen Sohn, den zukünftigen KlInig Philippe Ill. Das Original in der Volksspracheöt verloren gegangen. Dill Genua war im 13.Jahrhundert lehr verbreitet, doch ist Louis IX.dc-r dnl.ige Herrscher, der einen Miroir fUr .dnen Sohn selbst verfaßt und auch ein verglcichba-In ßuch fUr leine Tochter Isabelle schreibt. Cf. G. Jlasenohr [e. I.) (eds.), Dictionnaire desI~trn (~ai~, vol. 1: Le Moyen Age, Paris 1964, 961 sq.

t Le Goff, mrol (nt. 3), 457.• Ibid., 458 sq., Eintn Überblick über die hlsturiachen Schriften über "oui. IX. - dazu gehören zum Beispiel

die: Kal'itcl im ,src:culum histuriale' de. Vinzenz von Besuvais und die Chronik dei Mönchs"'" Saint·[knia, Guillaume de Nangi. - gibt J. Monfrin, Vie de .aint I .ouis, Paris 1995,CXX"-CXXVI.

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Über dreißig Jahre nachdem Louis IX. verstorben war und fünf Jahre nachseiner Heiligsprechung erscheint auf Anregung einer seiner Töchter eine weitereVita. Blanche de France (gest, 1314/1316) beauftragt den Franziskaner Guil-laume de Saint-Pathus, der als Beichtvater seit 1277 in relativenger Verbindungzur Königsfamilie steht, Louis IX. jedoch nicht persönlich gekannt zu habenscheint. In seinem Werk ,La Vie et les miracles de saint Louis' beruft er sich aufDokumente aus der zweiten Befragung im Kanonisierungsprozess, auf 38 Aus-sagen zum Leben des Königs und auf 330 Zeugnisse zu seinen Wundern. Auchin diesem Buch ist eine Fassung von Louis' ,Enseignements' überliefert; hierhandelt es sich um eine längere Version. Der gesamte Bericht, der aus denJahren 1302 bis 1303 stammt,liegt in französischer Sprache vor; man geht davonaus, daß die erste Fassung auf Latein erschien",

J. Von der Ilagiograpbie zur {Alllo-)Biograpbie: ,La ,'ie nostn sainl my LooJ's'von jean de joinvi/le

Nachdem alle diese Werke abgeschlossen sind, die auf Ersuchen des Papstes,der Orden und der Königsfamilie zum Andenken an Louis IX. verfaßt wurden,und sein offizielles Bild durch die Bulle und die beiden Predigten Bonifaz' VIII.festzustehen scheint, beginnt ein über achtzigjähriger Laie, seine Erinnerungenan den heiligen König zu diktieren.Jean de Joinville (1225 -1317), der Seneschall der Champagne, verfaßt sein

Buch im Auftrag der Königin Jeanne de Navarre", die als Gräfin der Champagneseine Lehnsherrin und zugleich die Gemahlin des regierenden Königs PhilippeIv' von Frankreich ist to. Jeanne kennt den Seneschall seit ihrer frühesten Jugendund sie weiß, daß er ein zuverlässiger Gewährsmann ist, der im Gefolge vonLouis IX. gelebt und in den dramatischen Ereignissen des siebten Kreuzzugessein Vertrauen und seine Freundschaft gewonnen hatte. Auch gehört er zu denwichtibrsten Zeugen, die im Jahr 1282 beim Kanonisierungsprozeß angehörtwurden. Möglicherweise hat Jeanne de Navarre schon vor der Heiligsprechungden Seneschall zum ersten Mal mit der Niederschrift seiner Erinnerungen beauf-tragt, um den Prozeß zu fördern. 1309 schließt Joinville sein Werk ab und wid-met es - da Jeanne im Jahr 1305 verstorben ist - ihrem Sohn, Louis de Na-varre, dem zukünftigen König Louis X.

Das Buch trägt den Titel ,Le livre des saintes paroles et des bons faiz nostresaint roy Looys' (§ 2); in der Widmung (§ 19) nennt Joinville es kürzer ,La vienostre saint roy Looys"! t. Es unterscheidet sich von den zuvor verfaßten hagio-

• cr. nr, 3., J()hanna von Navarra (1273-1305) ist eine Großnichre von Louis IX.10 Philippe IV, (1268-1314), ein Enkel dei heiligen Königs, hat den Beinamen ..I'hilippc le Bel"

(philipp der Schöne).11 Im folgenden Text wird das Buch wie in der Edition von Jacques Munfnn (cf. nt, 7) kurz als

,Vie de saint Louis' bezeichnet.

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graphischen Schriften durch die persönliche Beziehung zwischen dem Autorund seinem König und durch eine differenzierte Art der Berichterstattung.Durch die Vermittlung von Jean de Joinville kennen wir eine Reihe von Aussprü-chen und von Gesprächen, die Louis IX. mit vertrauten Personen geführt hat.Der Leser gewinnt annäherungsweise einen Eindruck von der "parole", demgesprochenen Wort, und von der erstaunlichen Einfachheit ("simplicite"), mitder sich der König in der Volkssprache auszudrücken pflegte. In der ,Vie desaint Louis' sind biographische, autobiographische und hagiographische Ele-mente eng miteinander verbunden. Eine Reihe von Szenen ist in Anlehnungan fiktionale Werke wie Heldenepen (Chansons de geste) und Kreuzzugsliederentstanden. Darstellungen des Königs in seiner Funktion als exemplum stehen inder Tradition der Fürstenspiegel (Miroirs du prince), und in Louis' religiösenund moralischen "Lehren" ist eine Affinität zur Predigt zu erkennen. Die Erzäh-lung vom siebten Kreuzzug schließlich leistet einen bedeutenden Beitrag zurhistoriographischen Literatur.

Auf Grund der Vielfalt der Quellen und Einflüsse ist es nicht möglich, dasBuch einer Literaturgattung zuzuordnen. Der Bericht setzt sich aus kurzenEpisoden zusammen, die Joinvilles persönlichen Erinnerungen, mündlichen Be-richten anderer Zeugen oder der Lektüre von schriftlichen Dokumenten ent-stammen. Die Einheit des Buches entsteht aus dem Gedächtnis und der Vor-stellungskraft des Autors, der die Eindrücke und Erlebnisse beim mündlichenVortrag oder Diktat miteinander verknüpft. Die Unmittelbarkeit des lebendigenErzählens erkennt der Adressat häufig an der Verwendung einfacher Formelnder mündlichen KommunikationP. Diese weisen die Erinnerungen des Sene-schalls als ein Dokument des Übergangs von der mündlichen Erzählung zurVerschriftlichung aus.

4. Das wahrhaftige Zeugnis

In 768 Paragraphen werden "die heiligen Worte und die ritterlichen Taten"("saintes paroles et bons faiz") aufgezeichnet, die Joinville persönlich miterlebt,mit eigenen Augen gesehen und selbst gehört hatl3• Durch seine Einleitung miteiner quasi-juristischen Formel verleiht er dem Bericht eine hohe Glaubwürdig-

12 Beispielsweise in § 6: "comme vous orrez ci apres" ~,wie ihr gleich hören werdet") oder in § 60:"en la maniere que je vous ai dit devant" ~,so wie ich euch zuvor berichtet habe").

13 Im Altfranzösischen bedeutet ,parole' ,Wort', aber auch ,Sprache', ,Sprechweise', ,Gespräch',.Rede', ,Erzählung', ,Bericht', ,Versprechen', ,Gebot', cf. W. Foerster, Wörterbuch zu Kristianvon Troyes' sämtlichen Werken, Tübingen 1973. Im Neufranzösischen haben sich Bedeutungund Gebrauch kaum geändert: ,Wort', ,Ehrenwort', Versprechen', ,Sprache', ,Ausspruch',,Sprechakt", cf. Langenscheids Handwörterbuch Französisch, Teil I, Berlin+München 2001.Mit den "saintes paroles" von Louis IX. sind sowohl seine Aussprüche gemeint als auch seineSprechweise.

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keit!". M. Zink bemerkt zu dieser Textstelle, daß Joinville der erste volkssprach-liche französische Autor ist, der das Pronomen "je" verwendet und nicht in derdritten Person von sich spricht'>,

"En nom de Dieu le tout puissant, je, Je-han, sire de Joyngvi1le, seneschal de Cham-paigne, faiz escrire la vie nostre saint rayLooys, ce que je vi et oy par l'espace de VIans que je fu en sa compaignie DU peleri-nage d'outre mer, et puis que nous reveni-mes," (§ 19)

"Im Namen Gottes, des Allmächtigen,lasse ich, Jean, Herr von Joinville und Se-neschall der Champagne, das Leben unse-res heiligen Königs Louis aufschreiben:das was ich gesehen und gehört habe ineinem Zeitraum von sechs Jahren, die ichauf der Pilgerfahrt ins heilige Land undnach unserer Rückkehr in seinem Gefolgeverbrachte."

Beobachtungen und Erfahrungen im Gefolge von Louis IX. hat Joinville auchvor und nach der "Pilgerfahrt jenseits des Meeres" gemacht, doch sind es diesesechs Jahre, die für die gegenseitige Wertschätzung und die Entwicklung derengen Beziehung zwischen den beiden Männern entscheidend waren. Rückblik-kend wird dem Autor bewußt, wie ihn die Gespräche mit dem zehn Jahre älterenLouis IX. geprägt und beeinflußt haben, wieweit er dem exemplum des Königsfolgt und sich mit ihm identifiziert, aus welchen Anlässen und zu welchemZeitpunkt er sich von ihm distanziert. Zwar ist er sich immer des großen Ab-stands bewußt, der ihn - den einfachen Christen - von der Größe und Erha-benheit ,seines' Königs trennt, doch verwendet er häufig das vertraute Possessi-vum, wenn er von ihm spricht; so nennt er ihn beispielsweise "nostre saint royLooys" - ein Zeichen für seine enge persönliche Beziehung und für die allge-meine Verehrung, die der König im Volk genießt 16.

Saint Louis verkörpert in seiner Person zwei Ideale seiner Zeit: das Amt desKönigs, der sich durch seine Weihe und übernatürliche Gaben vor allen Men-schen auszeichnet 17, und die Würde des kanonisierten Heiligen. Als König ister der erste unter seinen Vasallen und ein Vorbild an ritterlicher Tapferkeit undGroßmut ("chevalerie"), als Heiliger zeichnet er sich durch Selbstlosigkeit undOpferbereitschaft in der Nachfolge Christi aus. Daß er nicht dem geisdichen

14 D. Bautet, Ordre, desordre et paradoxe dans le prologue et l'epilogue de la ,Vie de Saint Louis'de Joinvil1e, in: J. Dufournet (ed.), Si a parle par moult ruiste vertu. Melanges de litteraturemedievale offerts a Jean Subrenat, Paris 2000, 73-81, hier 79.

15 Cf. M. Zink, La subjectivite Iitteraire, Autour du siede de saint Louis, Paris 1985, 219.16 Joinvil1e beginnt einen Brief an Louis X. mit den Worten ,,A son bon signour Loys, par la grace

de Deu, ray de France" und redet ihn mit "Chiers sire" an. Cf. Jean de Joinvil1e, Histoire deSaint Louis, Credo et Lettre a Louis X. Texte original, accornpagne d'une traduction par N. deWailly,Paris 1874, 448sqq.

17 Die französischen (und auch die englischen) Könige hatten die Gabe, Menschen, die an Skrofelnerkrankt waren, durch die Berührung mit ihren Händen zu heilen. Über die wunderbaren Hei-lungen wurde lange Zeit Schweigen bewahrt, doch nach dem Tod von Louis IX. wagten eshochgestellte Geistliche, das alte Schweigegebot zu brechen. C£ M. Bloch, Die wundertätigenKönige, München 1998, 158 sq.

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Stand angehörte und dennoch ein einzigartiges und heiligmäßiges Leben geführthat, hält Joinville für besonders erwähnenswert.

"Et ces autres choses ai je fait escrire aussia l'onneur du vrai cors saint, pour ce quepar ces choses desus dites en pourra veoirtout cler que onques homme lay de nostretemps ne vesqui si saintement de tout sontemps, des le commencement de son regnejusques a la fin de sa vie." (§ 4)

"Und diese anderen Dinge habe ich auchzu Ehren dieses wahren Heiligen auf-schreiben lassen, denn durch die oben ge-nannten Dinge wird man ganz klar erken-nen können, daß niemals ein Laie unsererZeit ein so heiliges Leben führte, zeit sei-nes Lebens, vom Beginn seiner Herrschaftbis zum Ende seines Lebens."

In seinem Bericht von der Todesstunde des Königs beruft er sich - da ernicht selbst zugegen war - auf das Zeugnis von Louis' Sohn, des zukünftigenKönigs Philippe Ill. Nach Auffassung Joinvilles hat Louis IX. nicht nur alsBekenner gelebt, sondern verdient die gloria passionis des Märtyrers.

"Et de ce me semble il que en ne li fistmie assez quant en ne le mist ou nombredes rnartirs, pour les grans peinnes que ilsouffri ou pelerinage de la croiz par I'e-space de VI anz que je fu en sa compaig-nie, et pour ce meismement que il ensuiNostre Seigneur ou fait de la croiz; car seDiex morut en la croiz, aussi fist il carcroisiez estoit il quant il mourut a Thu-nes." (§ 5)

"Und was dies angeht, scheint mir, daßman keineswegs genug für ihn tat, als manihn nicht in die Reihe der Märtyrer auf-nahm, wenn man die großen Leiden be-denkt, die er während des Kreuzzugs er-trug im Lauf von sechs Jahren, als ich michin seinem Gefolge befand. Und besondersweil er unserem Herrn bis zum Kreuzfolgte. Gott starb am Kreuz und der Königebenfalls, denn er war auf dem Kreuzzug,als er in Tunis starb."

Der Glaube, daß der Tod auf einem Kreuzzug unter bestimmten Vorausset-zungen als Märtyrertod zu deuten sei, war allgemein verbreitetl'', Der Königselbst und andere seiner Zeitgenossen teilten diese Auffassung, die sich im Ka-nonisierungsprozeß nicht durchsetzen konnte. Joinville vertritt sie auch aufGrund eigener Erfahrungen, da er die Leiden und Gefahren, denen Louis IX.ausgesetzt war, mit ihm gemeinsam und am eigenen Leib erlebt hat. In derKreuzzugserzählung spricht er von "persecucions et tribulacions" ("grausameVerfolgungen und Trübsal"), denen er ausgesetzt war (§ 406). Diese Wortwahlpaßt ebenso wie die krassen Bilder von tödlichen Krankheiten und grausamenVerletzungen eher zu einer Märtyrerlegende als in die Beschreibung einer "Pil-gerfahrt" .

18 E. H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie desMittelalters. Stuttgart 1992, 251: "Ein Kreuzfahrer, der für den christlichen Glauben gegen dieUngläubigen kämpfte und im Dienste des Königs Christus für die Sache des Heiligen Landesstarb, war nach allgemeinem Glauben berechtigt, seinen sofortigen Einzug in das himmlischeParadies und als Lohn für die Opferung seines Lebens die Märtyrerkrone zu erwarten. ll/uequicumqu« tenderit, / Alor/uus ibi fuerit, / Caeli bona reeeperit / Et cum sanctis permanserit"; cf. G. M.Dreves (ed.), Analeeta hymnica medii aevi, vol. 45b: Cantiones et muteti, Leipzig 1904, 78.

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5. Die Widmung an Louis de Navarre

Joinville bringt seine Einstellung zu aktuellen Ereignissen meist nur indirektzum Ausdruck. Er betont, daß ihn die Königin, die er von Jugend an als Mentorbegleitet hat, "sehr liebte". Dagegen ist seine Haltung zu ihrem Gemahl Phi-lippe rv. sehr distanziert. AIs Vermächtnis an alle Nachkommen von Saint Louiswidmet er seine Erinnerungen dem Sohn der verstorbenen Königin, Louis deNavarre, und dessen Brüdern. Sie sind ausnahmslos potentielle Herrscher, undtatsächlich werden alle drei die Königsherrschaft innehaben: Louis de Navarrevon 1314 bis 1316 unter dem Namen Louis X. ("Louis le Hutin", "der Zänki-sche"); sein Bruder Philippe V. ("Philippe le Long") von 1316 bis 1322; Char-les IV. G,Charles le Bel") von 1322 bis 1328. Es scheint, als habe der erfahreneSeneschall die zukünftige Gefahrdung und Unbeständigkeit der Dynastie voraus-gesehen. Daß er den regierenden König Philippe le Bel in seiner Zueignungübergeht, wird vielfach als indirekte Kritik an dessen Regierungszeit gewertet.Dagegen schlägt Jacques Monfrin vor, der Auslassung keine große Bedeutungzuzumessen 19.

"Or diz je a vous, mon seigneur le roy deNavarre, que je promis a ma dame la roynevostre mere, a cui Diex bone merci face,que je feroie cest livre, et pour moy aqui-tier de ma promesse l'ai je fait. Et pour ceque ne voi nullui qui si bien le doie avoircomme vous qui estes ses hoirs, le vousenvoie je pour ce que vous et vostre frereet les autres qui l'orront y puissent prenrebon exemple, et les exemples mettre aoevre, par quoy Dieu leur en sache gre."(§ 18)

"Nun sage ich Euch, Herr König von Na-varra, daß ich meiner Herrin, der Königin,Eurer Mutter - Gott schenke ihr sein Er-barmen - versprach, dieses Buch zuschreiben. Und um mein Versprechen zuhalten, habe ich es geschrieben. Und da ichniemanden sehe, der so viel Recht daraufhat wie Ihr, die Ihr ihr Erbe seid, widmeich es Euch, damit Ihr und Euer Bruderund die anderen, die es hören, daran einBeispiel nehmen können und das Beispielin die Tat umsetzen, so daß Gott an ihnensein Wohlgefallen hat."

Im Zusammenhang mit dieser Widmung liegt die Frage nahe, aus welchenGründen die Königin Jeanne de Navarre dem Seneschall ihren Auftrag erteiltund welche Intentionen dieser mit der Niederschrift seines Buches verbindet.

6. Zweiteilung des Titels - Dreiteilung der Erzählung

Die Überschrift des Berichts, die - wie Joinville in § 2 versichert - vonJeanne de Navarre selbst vorgeschlagen wurde, läßt eine Zweiteilung in "saintesparoles" ("heilige Worte") und "bons faiz" Louis' IX. erwarten, und der Autorerklärt, daß im zweiten Teil nicht von "guten", sondern von "großen ritterli-

19 Monfrin, Vie de saint Louis (nt, 7), XVI.

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ehen Taten und großen Schlachten" berichtet wird. Mit den ritterlichen Tugen-den wird er einen anderen thematischen Schwerpunkt setzen als die Hagiogra-phen. Von der vorgegebenen Gliederung weicht er jedoch gleich am Anfangdes Buches ab, indem er denkwürdige Taten vorausnimmt, beispielsweise dieSituationen, in denen Louis IX. sein Leben für andere Menschen aufs Spielsetzt.

Möglicherweise will Joinville mit dieser Verflechtung zeigen, daß für ihn dieWorte und Taten des Königs untrennbar verbunden sind. Dieses Prinzip bringtes mit sich, daß die chronologische Reihenfolge nicht immer beachtet wird, daeine Reihe von Episoden, Szenen, Gesprächen und Belehrungen sowohl imersten als auch im zweiten Teil erscheinen. Auf diese Weise behandelt der Autordie Themen, die ihm besonders am Herzen liegen, mehrfach beziehungsweisebringt er sie mehrfach ,zur Sprache'.

Der Wechsel der Perspektive, die Technik von Vorausnahme und Verweisbeziehungsweise Wiederholung erinnert daran, daß der Text diktiert wurde -ein Faktum, das Joinville mehrmals erwähnt und durch die Verwendung narrati-ver Formeln bestätigt-", Auch liegt die Vermutung nahe, daß der Niederschriftzahllose mündliche Berichte von den Abenteuern des Kreuzzugs vorausgegan-gen sind.

Was die Länge anbetrifft, so unterscheiden sich die beiden Teile erheblich: Inder Edition von Jacques Monfrin umfaßt der erste Teil 68 Paragraphen, derzweite 699, das heißt er ist mehr als zehnmal so lang21• Untersucht man denInhalt des zweiten Teils, so erkennt man ein weiteres Strukturprinzip: Die "ritter-lichen Taten" des siebten Kreuzzugs werden in einem langen und relativ homo-genen Text dargestellt (§§ 106-654), darauf folgen eine Reihe von Episoden,die sich nach der Rückkehr nach Frankreich ereignet haben, Bemerkungen zurpersönlichen Entwicklung des Königs - dazu gehören wieder einige seiner "pa-roles" sowie wörtliche Zitate aus seinen ,Ordonnances' und den ,Ens eigne-ments' an Louis' Sohn - und historiographische Informationen, nämlich diePlanung des achten Kreuzzuges, der Tod und die Kanonisierung des Königs.Das Buch schließt mit einem Traum des Autors, einer Bitte an den zukünftigenKönig und einer Widmung mit der Jahreszahl 1309 (§§ 766-769). Aus dieserÜbersicht ist eine Dreiteilung des Buches zu erkennen: Die Erinnerungen anden siebten Kreuzzug stehen als zusammenhängende und gewichtige Erzählungin der Mitte des Werkes. Sie werden von den wesentlich kürzeren Anfangs-und Schlußkapiteln eingerahmt, in denen der König überwiegend durch knappeEpisoden und durch seine politischen und juristischen Entscheidungen charak-terisiert wird.

20 Cf. nt. 1221 Die Einteilung in Paragraphen folgt der Ausgabe von Monfrin, Vie de saint Louis (nt. 7). Mon-

frin übernimmt sie aus der Edition von N. de Wailly,Histoire de Saint Louis. Suivie du credo et dela lettre It Louis X. Texte ramene It l'orthographe des chartes du sire de Joinville, Paris 1868.

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7. Theorien ifir Datierung des Buches

Ein entscheidender Anhaltspunkt für die Datierung der ,Vie de saint Louis'ist die Jahreszahl 1309, die im letzten Kapitel (§ 769) genannt wird: "Ce fuescript en l'en de grace mil .CCc. et .IX. ou moys d'octovre" ("Dies wurdegeschrieben im Jahr des Heils 1309, im Oktober"). Mit diesem Satz schließt einsder wenigen erhaltenen Manuskripte, das Manuskript aus Brüssel. Darin wirddie Fertigstellung des Buches datiert oder - was weniger wahrscheinlich ist -die des Manuskripts, von dem das Brüsseler Manuskript kopiert wurde=', AufGrund dieser Zeitangabe, die als relativ verläßlich gilt, wird im folgenden Beitragder Versuch gemacht, die ,Vie de saint Louis' nicht nur als Bericht über einevergangene Epoche zu lesen, die etwa fünfzig Jahre zurückliegt, sondern auchals Reaktion auf den Wandel, der sich seit dem Tod des heiligen Königs vollzo-gen hat.

Was Beginn und Dauer der Niederschrift betrifft, so gibt Joinville darüberkeine Auskunft; auch ist bisher kein anderes Dokument bekannt, das dazu ein-deutige Anhaltspunkte bietet. Auf die Frage nach der genauen Datierung suchtman seit über hundert Jahren eine überzeugende Antwort. Anhand scharfsinni-ger Text- und Quellenanalysen - beispielsweise durch den Vergleich von Le-bensdaten - wurden zwei Hypothesen aufgestellt: Die erste besagt, daß dasWerk etwa in den Jahren 1305 (dem Todesjahr der Jeanne de Navarre) bis 1309ohne wesentliche Unterbrechungen aufgeschrieben wurde; diese Theorie wurdezuerst 1874 von Natalis de Wailly anläßlich einer bedeutenden Rekonstruktionund Edition des Originaltextes vertreten+'. Bereits 1894 stellte Gaston Parisdagegen die These auf, daß Joinville seine Erinnerungen in zwei Phasen verfaßtund die Episoden des Kreuzzugs schon in den Jahren 1272 bis 1273 spontanund zunächst nur für sich selbst und seine Freunde aufgeschrieben habe-". Diepersönlichen Erinnerungen seien im mittleren Teil des Buches (§§ 110-666)enthalten. Nach dem Auftrag der Königin seien die wenig kohärenten Anfangs-und Schlußkapitel offenbar in Eile hinzugesetzt worden. Auf Passagen der,Grandes Chroniques de France' habe Joinville mangels eigener Informationenzurückgegriffen (und einige Kapitel habe er erst im Zusammenhang mit derWidmung an Louis de Navarre geschrieben). G. Paris stützt seine Theorie unteranderem auf sprachliche Beobachtungen; so fehle beispielsweise das Adjektiv"saint" in den vor der Kanonisierung entstandenen Kapiteln. Seine Thesen blie-ben auf Grund seiner großen Autorität als Mediävist lange unangefochten. Jo-seph Bedier25 und Alfred Foulet-" schlossen sich allerdings nach eingehenden

22 Monfrin, Vie de saint Louis (nt. 7), LXVI.23 de Wailly,Histoire des Saint Louis (nt. 21), 480 sq.24 G. Paris, La Composition du livre de JoinvilIe sur saint Louis, in: Romania 23 (1894), 508 - 524.25 J. Bedier,Jean de JoinvilIe, in: J. Bedier/P Hazard (eds.), Litterature francaise, Paris 1948 [Erst-

veröffentlichung 1923), 108-112.26 A. Foulet, When Did JoinvilIe Write his ,Vie de saint Louis'?, in: Romanie Review 32 (1941),

233-243.

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philologischen Erwägungen wieder der Meinung von N. de Wailly an. AuchJ. Monfrin gelangt im Vorwort seiner fundierten neuen Edition des Textes zudem Ergebnis, das Buch sei in den letzten Monaten des Jahres 1305 begonnenworden27• Auf seine These berufen sich die Autoren des Sammelbandes ,LePrince et son hisrorien'F", in dem die Erinnerungen Joinvilles unter verschiede-nen Gesichtspunkten analysiert werden. In neuester Zeit unterstützt die Histori-kerin Carolin Smith in ihren Untersuchungen zu den Kreuzzügen wieder dieThese von Gaston Paris29•

8. Fragestellungen und Themen: der Stand der Forschung

Die romanistische Forschung widmet sich - abgesehen vom Problem derDatierung und der Struktur des Buches - vorzugsweise dem Einfluß andererLiteraturgattungen und der Bestimmung des Übergangs von der mündlichenÜberlieferung zur schriftlichen Literatur. Für die Historiker bietet die Analyseder Quellen, die Joinville benutzt hat, ein reiches Betätigungsfeld.

Dominique Boutet deutet die Wiederholungen und Verweise im Prolog nichtals strukturellen Mangel, sondern als bewußt eingesetztes Verfahren, das durchdie enge Verknüpfung von subjektiver Erfahrung und objektiv überprüfbarenFakten eine hohe Authentizität garantiert-", Karl D. Uitti nimmt an, daß dietraditionsreiche Literaturproduktion am Hof der Champagne einen nachhaltigenEinfluß auf Joinville hatte. In der ,Vie de saint Louis' vermutet er daher Affinitä-ten zu Romanen von Chretien de Troyes, in denen sich aus der Not oder Nieder-lage des Helden eine erfreuliche Situation und eine Lösung seines Problemsentwickelt. Er bezeichnet Joinvilles Buch allerdings nicht als Roman sondern als"woWgeordnete Anthologie autobiographischer Novellen">'. Um 1980 verfaßtMichel Zink mehrere Untersuchungen zur Bedeutung von Subjektivität in der"Poetik" Joinvilles. Sein Interesse an der Äußerung und dem Verschleiern vonEmotionen, seine tiefenpsychologische Deutung der Träume Joinvilles verstehter als Herausforderung an die Einseitigkeit strukturalistischer Interpretationsver-fahren='. Jacques Le Goff würdigt in seinem monumentalen Werk über SaintLouis wiederholt die Bedeutung Joinvilles als Biograph, der sich um Wahrhaftig-

27 Monfrin, Vie de saint Louis (nt. 7), LXXVI.28 J. Dufournet/L. Harf (eds.), Le Prince et son historien. La Vie de saint Louis de Joinville, Paris

1997.29 C. Smith, Crusading in the Age of Joinville, Aldershot 2006.30 C£ Boutet, Ordre (nt. 14).31 K. D. Uitti, Nouvelle et structure hagiographique: le recit historiographique nouveau de Jean

de ]oinville, in: Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois.Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Kolloquium Würzburg 1984, Mün-chen 1985, 380-398.

32 Zink, La subjectivite litteraire (nt. 15); id., ]oinviJIe ne pleure pas mais il reve, in: Poetique, Revuede theorie et d'analyse litteraires 33 (1978), 28 - 45.

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keit bemühe. Zugleich erkennt er die Problematik der Illusion, daß Joinville das,wahre' Bild des Königs vermittle. Besonders verdienstvoll sei Joinvilles Doku-mentation von Aussprüchen des Königs in der Volkssprache->, Franceise Lau-rent wählt bewußt ein anderes Verfahren als Le Goff, indem sie lediglich Situa-tionen analysiert, in denen der König seinen Gesprächspartner bekehren undvon Glaubensfragen überzeugen Will34•

Unter dem Titel Jean de Joinville: de la Champagne aux royaumes d'outre-mer' erschienen unter anderem zwei ausführliche Aufsätze über die Familie Join-ville und ihre enge Verbindung zu ihrer Heimat, der Grafschaft Champagne ",Im selben Band thematisiert Franck Collard die Haltung Joinvilles zu Phi-lippe Iv. Durch eine Lektüre "auf zwei Ebenen" entdeckt er hinter zahlreichenKommentaren und Bemerkungen zu Louis IX. eine versteckte Kritik an derPolitik und Rechtsprechung des regierenden Königs. Collards systematische Un-tersuchung geht - ähnlich wie die vorliegende Studie - von dem Zeitfensterder Jahre 1305 bis 1309 aus, konzentriert sich jedoch ausschließlich auf denBereich der Politik36•

Die Historikerin Mary Slatterly orientiert sich bei der Analyse der QuellenJoinvilles an dessen bewußter Unterscheidung zwischen mündlichen und schrift-lichen Quellen37• Zu den "mündlichen Quellen" zählt sie einerseits volkstümli-che Mythen und archaische Vorstellungen vom Königtum, andererseits Joinvillespersönliche Erlebnisse und Beobachtungen, da sie annimmt, daß er sie zuerstin narrativer Form - wahrscheinlich am Hof der Champagne - vorgetragenund möglicherweise in den Jahren um 1270 schriftlich aufgezeichnet hat. Siestellt fest, daß die mündlichen Quellen das Bild des charismatischen Königs undHeerführers zeichnen, der über der menschlichen Hierarchie steht und dazubestimmt ist, Gottes Willen zu erfüllen. In den schriftlichen Quellen dagegenerscheine Louis IX. als bürokratischer Monarch, der das Territorium seines Lan-des in einer Regierungszeit von 36 Jahren vergrößert und in Verwaltung undJustiz wesentliche Reformen eingeführt habe.

Caroline Smith geht der Frage nach, wie Laien im 13.Jahrhundert für dieKreuzzugsidee geworben wurden und sich mit ihr identifizieren konnterr=. Sievergleicht Predigten und fiktionale Texte - Chansons de geste und Kreuzzugs-lieder - mit authentischen Berichten, wobei sie der ,Vie de saint Louis' einenhohen Informationswert für die Geschichtsschreibung zuerkennt.

33 J. Le Goff, Saint Louis, Paris 1996; id., Heros (nt. 3).34 F. Laurent, La parole de foi dans le livre de paroles de la Vie de saint Louis de Jean de Joinville,

in: Moyen Age 1to (2004), 253 - 273.35 J. Lusse, D'Etienne a Jean de Joinville: L'ascension d'une famille seigneuriale champenoise, in:

D. Queruel (ed.), Jean de Joinville: de la Champagne aux royaumes d'outre-mer, Langres 1998,7-47; D. Queruel, "Nous de Champaigne ..... , in: ibid., 49-72.

36 F. Collard, Quand l'apologie nourrit le requisitoire: une lecture en negatif des Memoires deJoinville, in: Queruel (ed.), Jean de Joinville (nt. 35), 131-142.

37 M. Slatterly, Myth, Man and Sovereign Saint. King Louis IX in Jean de Joinville's Sources, NewYork - Bern - Frankfurt 1985.

38 Smith, Crusading (nt. 29).

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11. Die ,Vie de saint Louis' als Reaktionauf die Jahre 1305 bis 1309

Die folgende Studie ist ein Versuch, Joinvilles Bericht als Reaktion auf Ereig-nisse der Jahre 1305 bis 1309 zu verstehen. Anläßlich der Verfolgung der Temp-ler werden Joinvilles nachträgliche Deutung des siebten Kreuzzuges und seineErfahrungen mit diesem Orden untersucht. Einige Textstellen zu politischenund religiösen Prinzipien Louis' IX werden hervorgehoben und ihr Einfluß aufden Biographen untersucht. Abschließend soll die Frage nach der Intention derAuftraggeberin und des Autors gestellt werden.

1. Wczrnzeichenin der Politik (1305-1309)

In der Zeit, in der Joinville an der ,Vie de saint Louis' arbeitet, sieht er sich mitgrundlegenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert.Dramatische Ereignisse häufen sich im ersten Jahrzehnt des 14.Jahrhunderts,das heißt in der Zeitspanne, in der er sich ohne Zweifel der Niederschrift gewid-met hat. Wir können mit Sicherheit annehmen, daß sich Joinville persönlichund als Feudalherr der Champagne von diesen Ereignissen betroffen fühlt. ImGegensatz zu seinem Großvater Louis IX. versteht es der regierende KönigPhilippe IV. nicht, kriegerische Auseinandersetzungen mit benachbarten Län-dern zu vermeiden. Der Krieg in der Guyenne mit England und die Niederlagegegen Flandern 1302 stürzen Frankreich in eine schwere Finanzkrise, die eineGeldentwertung und erhebliche Steuerlasten zur Folge hat. Eine große Erschüt-terung erlebt Joinville zweifellos, als Jeanne de Navarre im Alter von 32 Jahrenunter mysteriösen Umständen stirbt-". Nicht zuletzt darf man voraussetzen, daßder offene Machtkampf zwischen Philippe Iv. und den Päpsten den Seneschalltief beunruhigt.

Angesichts des rücksichtslosen Vorgehens gegen den Templerorden in denJahren 1307 und 1308 besteht für Joinville und seine Zeitgenossen kein Zweifel,daß sich Philippe Jv. in seiner etwa zwanzigjährigen Regierungszeit von denmoralischen und politischen Maßstäben seines Großvaters weit entfernt hat. DieSorge um den Bestand der Kapetingerherrschaft bringt Joinville am Anfangder ,Vie de saint Louis' unverschlüsselt zum Ausdruck. Er fügt einer ernstenErmahnung, die Louis IX. zu Beginn des Kreuzzugs ausgesprochen hat, einenKommentar zur aktuellen Situation des Landes hinzu. Der heilige König hatteauf der Überfahrt nach Zypern eine knapp überstandene Seenot als einen Fin-

39 Jeanne fiel möglicherweise einem Akt persönlicher Rache zum Opfer. Der angeklagte ehemaligeBischof Guichard de Troyes sagte in einem Prozeß aus, sie sei verhext worden. Cf. E. Lavisse/Ch.-V. Langlais (eds.), Saint Louis, Philippe le Bel, les derniers Capetiens directs (1226-1328)(Histoire de France depuis les origines jusqu'ä la revolution, vol, 3, 2), Paris 1901, 207 sqq.

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gerzeig Gottes gedeutet, der die Menschen an die Notwendigkeit erinnere, ihrLeben zu ändern.

,,A oeuvre devons nous mettre ceste me-nace que Dieu nous a faite en tele maniereque se nous sentons que nous aions en noscuers et en nos cars chose qui desplese aDieu, aster le devons hastivement. Etquanque nous cuiderons qui li plese nousnous devons esforcier hastivement duprenre.[... ] apres la menace quant le mauvais ser-jant ne se veut amender, le seigneur le fiertou de mort ou de autres greingneurs me-scheances, qui piz valent que mort." (§ 41)

"Wir sollen aus dieser Drohung Gottes auffolgende Weise Nutzen ziehen: Wenn wirin unseren Herzen oder an unserem Leibetwas entdecken, das Gott mißfallen kann,so sollen wir es schnell entfernen. Und umalles, wovon wir glauben, daß es ihm ge-fällt, sollen wir uns bemühen, daß wir esschnell ergreifen.[... ] wenn sich der schlechte Diener nachder Bedrohung nicht bessern will, schlägtihn der Herr entweder mit dem Tod odermit anderem Unglück, das schlimmer istals der Tod."

Diese Warnung, die Louis allgemein formuliert und in der Art einer Predigtvorträgt, überträgt Joinville auf den regierenden König und dessen "mesfais"(Missetaten).

"Si y preingne garde li roys qui ore est, caril est eschape de aussi grant peril ou deplus que nous ne feimes; si s'amende deses mesfais en tel maniere que Dieu nefiere en li ne en ses chases cruelment."(§ 42)

,,Also nehme sich der König, der jetzt re-giert, in acht, denn er ist einer ebenso gro-ßen oder größeren Gefahr entronnen wiewir. Und er möge sich in seinem schlech-ten Verhalten [in seinen Missetaten] bes-sern, so daß Gott ihn weder in seiner Per-son noch in seinen Angelegenheiten aufgrausame Weise schlage."

Mit der "großen Gefahr, der der König kürzlich entronnen ist", spielt ereventuell auf die Schlacht bei Mons-en-Pevele an, bei der Philippe vom Pferdgeworfen wurde40• Die Lokalisierung und die Datierung der Szene spielen beider Suche nach der Intention des Buches eine untergeordnete Rolle. Bemerkens-wert ist die Offenheit, mit der Joinville die "mesfais" des Königs erwähnt. Erriskiert es, Philippe IY. als einen Monarchen darzustellen, der nicht dem Ideal-bild der Fürstenspiegel und den Vorstellungen seiner Untertanen entspricht: DerKönig soll sich von Jugend an vorbildlich verhalten und nach den Tugendeneines Herrschers - wie Weisheit und Friedfertigkeit - streben, um dem Idealseines Amtes möglichst nahe zu kommen. Dies gilt sowohl für seine privateLebensführung als auch für sein politisches Handeln, zwei Bereiche, die un-trennbar miteinander verbunden und von den Geboten der Religion bestimmtsind.

40 CE J. Favier, Philippe le Bel, Paris 1978, 245.

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Daß Louis IX. diese Erwartungen in vollem Maße erfüllt, hebt Joinville schonim Prolog des Buches - unmittelbar nach der ersten Anrede an Louis de Na-varre - hervor.

"La premiere partie si devise comment ilse gouverna tout son tens selonc Dieu etselonc l'Eglise et au profit de son regne."(§ 2)

"Der erste Teillegt dar,wie er sein ganzesLeben langseinVerhaltenauf Gott, auf dieKirche und zum Wohl seinesReichesaus-richtete."

In der Hierarchie Gott - Kirche - Königreich faßt Joinville das Prinzipzusammen, dem sich Louis IX. in seiner gesamten Lebens- und Regierungszeitverpflichtet sieht: Er ordnet die weltliche Macht und Herrschaft, die er besitzt,nicht nur den Geboten Gottes, sondern auch der Autorität der Kirche unter.

Mit seiner Sorge um das Reich und das Bewahren der Herrschaft stehtLouis IX. in der Tradition seiner Dynastie der Kapetinger, die ihren Aufstiegund ihre dauerhafte Autorität auf ihre vorbildliche Lebensführung und den Re-spekt vor den Geboten Gottes zurückführen. Ihr Sendungsbewußtsein stütztsich auf Theorien, die man aus den Schriften des Kirchenvaters Augustinusableitete+'. Das Verhältnis von Kirche und Staat wurde etwa seit dem 7. Jahrhun-dert auf der Grundlage vereinfachter augustinischer Gedanken neu definiert.Die Verantwortung des Königs vor Gott ist eine grundlegende These des soge-nannten "Augustinismus". Gott verlange vom König Rechenschaft und könneihm sein Amt entziehen. Die korrekte Ausübung des Amtes sei selbstverständ-lich, dagegen werde ein Fehlverhalten des Herrschers bestraft.

Unter der Herrschaft von Philippe IV. hat sich die Auffassung vom Verhältniszwischen der französischen Krone und der päpstlichen Autorität grundlegendgewandelt: Die Vormachtstellung und Entscheidungsgewalt des Heiligen Vaterswird in mehreren theoretischen Schriften angefochten, ja dem Papst wird sogareine untergeordnete Funktion zugewiesen - beispielsweise für den Fall einerRückeroberung des Heiligen Landes unter der Führung des französischen Kö-nigs42• Man kann davon ausgehen, daß Joinville die grundsätzliche Anerkennungder Oberhohheit der Kirche durch Louis IX. bewußt an den Anfang seinesBuches stellt, um seine Zuhörer oder Leser auf diese Veränderung in den politi-schen Auffassungen aufmerksam zu machen.

Louis IX. ist für ihn das exemp/um des verantwortlichen Monarchen, der fürdas Wohl des Volkes und zugleich für den Bestand seiner Dynastie sorgt. Na-hezu jede Episode, die Joinville aufzeichnen läßt, vervollständigt das Bild desidealen Königs. Auf diese Weise entsteht für die nachfolgenden Generationenein .Miroir du prince', der sich an einer individuellen Person orientiert. Oft

41 Nach einer Definition von H.-X. Arquilliere hat der sogenannte Augustinismus die "Tendenz,das Naturrecht der übernatürlichen Gerechtigkeit, das Staatsrecht dem Kirchenrecht unterzuord-nen." H.-X. Arquilliere, L'augustinisme politique, Paris 1955, 54.

42 Cf. J. Krynen, L'empire du roi, Ideologies et crayances politiques en France. XIIIe-xve siede,Paris 1993, 107.

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werden die Lehren und Überzeugungen von Louis IX. in Gesprächen vermittelt.In einem Fall stellt er selbst seinen Kindern die Verantwortung des Herrschersvor Augen.

Avant que il se couchast en son lit, il fe-soit venir ses en fans devant li et leur recor-doit les fez des bons rays et des bons em-pereurs, et leur disoit que a ticx gens de-voient ilprenre bon exemple; et leur recor-doit aussi les fez des mauvez riches homesqui par leur luxure et par leur rapines etpar leur avarice avoient perdu leur royau-meso ,Et ces choses', fesoit il, ,vous ramen-toif je pour ce que vous vous en gardez,par quoy Dieu ne se courausse a vous'."(§ 689)

"Bevor er zu Bett ging, ließ er seine Kinderzu sich kommen und erzählte ihnen vonden Taten der guten Könige und der gutenKaiser. Und er sagte ihnen, daß sie sichan solchen Menschen ein Beispiel nehmensollten. Er erzählte ihnen auch von den Ta-ten der schlechten Herrscher, die durchihre Ausschweifungen, Raub und Hab-sucht ihre Herrschaft verloren haben. ,Undan diese Dinge erinnere ich euch', sagte er,,damit ihr euch davor hütet, um nicht denZorn Gottes auf euch zu ziehen'."

Die Formulierung "prenre bon exemple" aus der Widmung an Louis de Na-varre wird hier wiederholt (cf § 18). Im Prolog ist es der Autor, der Louis'Urenkel ermahnt, sich die Geschichte ihres Vorfahren zum Vorbild zu nehmen;hier am Ende der Vita spricht der heilige König selbst zu seinen Kindern vonpositiven und negativen Beispielen. Zwei von den drei Lastern, die er anpran-gert, zählen zu den sieben Todsünden: luxuria und avaritia. "Rapine" ("Raub")ist als Teilaspekt beziehungsweise als Folge von avaritia anzusehen. Todsündensind schwere Verfehlungen, die nach der kirchlichen Lehre zu ewiger Verdamm-nis führen, wenn der Sünder nicht rechtzeitig Buße tut. Ein König, der sicheiner Todsünde schuldig macht, läuft zudem Gefahr, seine Herrschaft zu verlie-ren. Ein theologisches Kriterium wird hier zur politischen Waffe43• WährendLouis IX. sich an Beispielen aus der Geschichte orientiert, liegt es für seinenBerichterstatter Joinville nahe, den Vorwurf der ataritia mit Philippe IV. in Ver-bindung zu bringen.

2. Bedrohung durd: Todsünde

Mit der Warnung vor auatitia und luxuria kommt Joinville auf das Thema derTodsünde ("pechie mortel") zurück, das in den Rahmenkapiteln wie ein Leitmo-tiv immer wiederkehrt. Die Angst vor der Todsünde scheint Louis IX. tief zubeunruhigen. Es geht ihm nicht um die genaue Bestimmung des Begriffs, der

43 Diese Theorie vertritt beispielsweise Sedulius Seotus (ed. J.-P. Migne, Patrologiae cursus comple-tus, Series latina, vol. 103, Paris 1851, col. 329): "dem König kann wegen moralischer Verfehlun-gen sein Amt entzogen werden"; eine extreme Position nimmt Aegidius von Rom im Jahr 1301ein: ,,Dkemus mim mm Augustino, 11, De dzitate Dei, (ap. XXI, quod vera autem justitia non est nisi inea republica mjus est conditor reäorque Christus", Aegidius van Rom, De ecclesiastica potestate Il, 7,zitiert nach Arquilliere, L'augustinisme (nt. 41),66.

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in der Kirchenlehre eher eine Reihe von Lastern als konkrete Vergehen bezeich-net?", sondern um die Bedrohung durch die Todsünde, die das ewige Heil seinesGesprächspartners gefährdet. Dieses für einen König ungewöhnliche Engage-ment beschreibt Joinville in einer ausführlichen disputatio, bei der Louis ihm undden übrigen Zuhörern die Gefahren der ewigen Verdammnis vor Augen führt.Kurz vor diesem Gespräch hatte sich der junge Joinville als guter famulus durchdie treffende Antwort auf die Frage "Was ist Gott?" ausgezeichnet:

"Sire, c'est une chose si bonne, que rneil-leur ne peut estre." (§ 26)45

"Majestät, er ist etwas so Gutes, daß esnichts Besseres geben kann."

Doch in seiner Einstellung zur Todsünde verrät er eine gefährliche Unwissen-heit. Dadurch daß Joinville dieses Thema unmittelbar auf die Frage nach GottesWesen folgen läßt, weist er ihm eine existentielle Bedeutung zu:

",Or vous demande je', fist il, Jequel vousarneries miex, ou que vous feussies me-siaus ou que vous eussies fait un pechiemorte!?' Et je, qui onques ne li menti, lirespondi que je en ameraie miex avoir fait.xxx. que estre mesiaus. Et quant les fre-res s'en furent partis, il m'appe!a tout seulet me fist seoir a ses piez et me dit: ,Com-ment me deistes vous hier ce?' Et je li dizque encore li disoie je. Et il me dit: ,Vousdeistes comme hastis musarz, car vous de-vez savoir que nulle si laide meze!erie n'estcomme d'estre en pechie mortel, pour ceque l'ame qui est en pechie morte! est sern-blable au dyable, par quoy nulle si laidemeselerie ne peut estre. Et bien est voirque quant l'omme meurt, il est gueri de lameselerie du cors, mes quant l'omme qui afait le pechie mortel meurt, il ne sceit pasne n'est certeins que il ait eu en sa vie telerepentance que Dieu li ait pardonne, parquoy grant poour doit avoir que celle me-zelerie li dure tant comme Diex yert enparadis. Ci vous pri', fist il, ,tant comme jepuis que vous metes vostre euer a ce, pourl'amour de Dieu et de moy, que vous amis-siez miex que tout meschief avenit au cors

"Jetzt frage ich Euch', sagte er, ,was Ihrvorzieht, aussätzig zu sein oder eine Tod-sünde begangen zu haben?' Und ich, derich ihn niemals belogen habe, antworteteihm, daß es mir lieber sei, 30 begangen zuhaben als aussätzig zu sein. Und als dieMönche gegangen waren, ließ er michganz allein zu sich kommen, ließ mich zuseinen Füßen sitzen und sagte mir: ,Wiekonntet Ihr mir das gestern sagen?' Undich sagte ihm, daß ich ihm das wieder sa-gen würde. Und er sagte mir: ,Ihr habt wieein übereilter Dummkopf geredet, dennIhr müßt wissen, daß es keinen Aussatzgibt, der so entsetzlich ist wie der Zustandder Todsünde, da die Seele in diesem Zu-stand dem Teufel ähnlich ist; deshalb kannes keinen Aussatz geben, der ebenso ent-setzlich ist. Und es ist wohl wahr, daß derMensch, wenn er stirbt, vom körperlichenAussatz geheilt wird; aber wenn einMensch, der eine Todsünde begangen hat,stirbt, weiß er nicht und ist nicht sicher, ober in seinem Leben so sehr bereut hat, daßGott ihm vergeben hat. Deshalb muß ergroße Angst haben, daß dieser Aussatz beiihm so lange anhält, wie Gott im Paradies

44 Einen Katalog der sieben Hauptsünden stellt Thomas von Aquin, Summa theologiae1- Il,q. 84, a. 4 auf.

45 Mit dieser Definition ist das Summum bonum umschrieben.BeiAnselm von Canterbury findetman die Definition "SummIIm bonum et summa essentia Dells est', cf. Libri SanctiAnselmi ,CurDeus homo?', prima forma inedita,ed. E. Druwe, Rom 1933, c. 39, 37.

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de meze!erie et de taute autre maladie quece que le pechie morte! venist a l'ame devous'." (§§ 27 sq.)

sein wird. Ich bitte Euch inständig', sagteer, ,daß Ihr Eurer Herz bereit macht - umder Liebe Gottes willen und der Liebe zumir -, lieber jede Art von Unglück fürEuern Leib, sei es Aussatz oder jede an-dere Krankheit, anzunehmen als zuzulas-sen, daß die Todsünde in eure Seelekommt'."

Die Szene besitzt eine besondere Aussagekraft, da Louis in seinen WortenStrenge und Autorität ausdrückt, in seinen Gesten dagegen auch Freundschaftund Nachsicht zeigt. Er tadelt seinenfamu/us zwar heftig wegen seines Irrtums,den dieser mit naiver Ehrlichkeit vertritt, und wegen der Beharrlichkeit, mit derer daran festhä1t, aber er hat einen Tag lang darauf gewartet, mit ihm alleinsprechen zu können, da er ihn nicht vor denfra/res beschämen will46•

Daß er Joinville zu seinen Füßen sitzen läßt, macht den vertrauten und priva-ten Charakter des Gesprächs, aber auch die Distanz des Schülers zu seinemLehrmeister sichtbar. Louis weist dem Seneschall den Platz zu, den er selbst zuFüßen Bonaventuras innehatte, als dieser ihm eine Lektion erteilte. In der Hier-archie der Lehrmeister nimmt er offenbar eine Vermittlerrolle ein, die seinerhumi/itas entspricht. Wie ein Bußprediger warnt er den jungen Mann vor derBedrohung durch Todsünde, die ihn ins ewige Verderben stürzen könne, wäh-rend die furchtbarste aller denkbaren Krankheiten mit dem irdischen Tod einEnde habe. Übereinstimmend mit der kirchlichen Lehrmeinung vergleicht erden Zustand der Seele, die in Todsünde gefallen ist, mit dem Zustand des Teu-fels, das heißt eines gefallenen Engels ".

Der Autor weist sich mit einer gewissen Selbstironie die Rolle des unwissen-den Narren zu, und er ist sicher, daß die Hörer oder Leser für seinen spontanenWiderwillen gegen die Lepra Verständnis haben. Er gibt zu, daß er wie dernatürliche Mensch" denkt und handelt, von dem Paulus sagt: "anima/is autem"homo non percipit ea quae sunt Spiritus Del' (1 Kor 2,14) und daß die Heiligkeit deshomo spiritua/is für ihn unerreichbar erscheint. Dennoch hat er seine Lektiongelernt, wie der Hörer anläßlich einer Begegnung der Kreuzfahrer mit einemfranzösisch sprechenden Renegaten erfährt. Louis IX. wendet sich ostentativvon dem Mann ab, während Joinville ihn nach seiner Herkunft fragt und erfahrt,

46 Mit derselbenDiskretion teilt Louis IX. dem Seneschallunter vier Augenmit, daß er ihm ineinem Streit mit Robert de Sorbon recht gebe. Robert hatte Joinvilleden Vorwurfgemacht,vornehmer gekleidetzu sein als der König.Joinvilleverteidigtesich, indem er auf seine edleHerkunft hinwies,und tadelteRobert de Sorbon, daß er als ein Mann von einfacherHerkunftzuvielAufwandtreibe.LouiserklärtJoinvillespäter, er habe den Geistlichenverteidigt,weil erihn nicht noch mehr beschämenwollte.Er akzeptierees, daß man sich schön kleide,um denFrauen zu gefallen.Zuletzt sprichtder Königvom Ideal des "prud'homme", der jedeÜbertrei-bung vermeidet (§§ 35 - 38).

"1 Zum Mythos vom Engelssturz cf. R. Warning,Funktion und Struktur: die AmbivalenzendesgeistlichenSpiels,München 1974, 135.

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daß er nach einem der früheren Kreuzzüge in Ägypten geblieben und dort zuWohlstand gekommen sei und sich verheiratet habe.

"Et je li diz: ,Ne savez vous pas bien quese vous rnouries en ce point, que vous se-riez darnne et iriez en enfer?' Et il dit:.Oyl', car il estoit certein que nulle loi n'es-toit si bone comme la chrestienne; mais jedoute, se je aloie vers vous, la povrete laou je seroie, et le reproche; toute jour mediroit l'en: ,Veez ci le renoiel' Si aimmemiex vivre riche et aise que je me meisseen tel point comme je vois. Et je li dis quele reproche seroit plus grant au jour du Ju-gement, la ou chascun verroit son mesfait,que ne seroit ce qu'il me contoit. Moult debones paroles li diz, qui guerez ne valu-rent." (§§ 395 sq.)

"Und ich sagte ihm: ,wißt Ihr nicht, daßIhr, wenn Ihr in diesem Zustand sterbenmüßtet, verdammt wärt und in die Höllekämt?' Und er sagte: Ja', denn er war si-cher, dass kein Gesetz so gut wie daschristliche sei. Aber ich fürchte, wenn ichzu Euch käme, die Armut und den Vor-wurf. Den ganzen Tag würde man zu mirsagen: ,Seht den Renegaten an!' Dahermöchte ich lieber reich und angenehm le-ben, als mich in die Lage begeben, die ichvoraussehe. Und ich sagte ihm, daß derVorwurf am Tag des Gerichts noch größersein würde, wenn jeder sein Vergehen se-hen könnte, und wenn es nur das wäre,was er mir erzählte. Ich sagte ihm vielegute Worte, die aber nicht viel nützten."

Wie Louis IX. setzt sich Joinville für die Verbreitung und Erhaltung deschristlichen Glaubens ein. An diesem Ziel arbeitet er auch während seines Auf-enthaltes in Akkon (Acre) in den Jahren 1250 bis 1251: Er entwirft und diktiertein kleines Credo, das die sterbenden Kreuzfahrer in ihrem Glauben festigen undgegen die Macht des Teufels schützen sollte'".

3. Bilder des KreuZifigs: Rückblick und neue Pläne

Die ,Chronik' des siebten Kreuzzugs nimmt einen beherrschenden Platz inder Mitte des Buches ein. Der Autor erzählt die Ereignisse in ihrer chronologi-sehen Reihenfolge, doch setzt er den Bericht auch hier aus einer Vielzahl vonEpisoden und einzelnen Erlebnissen und Beobachtungen zusammen. In seinerErinnerung ist der sechsjährige Feldzug von hervorragender Bedeutung, da ereine Wende im Leben Louis' IX. und seiner Kreuzfahrer herbeiführt und auchseinen persönlichen Werdegang und die Entwicklung seiner Freundschaft mitdem König nachhaltig beeinflußt. Für den Erzähler bietet er Momente der Span-nung, die für die Adressaten zweifellos fesselnder sind als die didaktischen Anek-doten und Gespräche.

48 C£ Die Edition van L. J. Friedman, Text and Iconography for Joinville's Credo, Cambridge(Mass.)1958.

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3.1. Entscheidung für den Kreuzzug

Bei der Entscheidung für den Kreuzzug zeigt sich wieder, daß Louis IX. nichtwie ein ,natürlicher Mensch' - beispielsweise wie sein Biograph Joinville - lebtund handelt. Nach einer Krankheit, die beinahe tödlich verlaufen wäre, ,nimmter das Kreuz' im wörtlichen Sinn:

,,[... ] une grant maladie prist le roy a Paris,dont il fu a tel meschief, si comme il ledisoit, que rune des dames qui le gardoitli vouloit traire le drap sus le visage et di-soit que il estoit mort, et une autre damequi estoit a l'autre part du lit ne li souffrimie, aincois disoit que il avoit encore l'ameou cors. Comment que iloist le descort deces .ü. dames, Nostre Seigneur ouvra en liet li envoia sante tantost, car il estoit es-muys et ne pouoit parler. Il requist que enli donnast la croix et si fist on. Lors laroyne sa mere oy dire que la parole li estoitrevenue, et elle en fist si grant joie commeelle pot plus; et quant elle sot que il fucroisie, ainsi comme ilmeismes le contoit,elle mena aussi grant deul comme se ellele veist mort." (§§ 106 sq.)

,,[... ] der König wurde in Paris schwerkrank, und es ging ihm so schlecht, wieer sagte, daß eine der Frauen, die bei ihmwachte, ihm das Gesicht mit dem Bettuchbedecken wollte und sagte, er sei tot. Undeine andere Frau, die an der anderen Seitedes Bettes stand, ließ das nicht zu undsagte, seine Seele sei noch im Körper. Wieauch immer er das Gespräch der beidenFrauen gehört hatte, bewirkte Unser Herrund Gott, daß er sogleich gesund wurde.Denn er war stumm und konnte nichtsprechen. Er verlangte, man solle ihm dasKreuz geben, und das tat man. Als die Kö-nigin, seine Mutter, hörte, daß er seineSprache wiedererlangt hatte, freute sie sichso sehr sie konnte; und als sie erfuhr, daßer das Kreuz genommen hatte, zeigte sie,so wie er selbst es erzählte, eine so großeTrauer, als wenn sie ihn tot gesehen hätte."

In diesem für das Schicksal seines Landes entscheidenden Augenblick ist derKönig dem irdischen Leben weit entrückt. Seine Genesung, der Verlust und daswunderbare Wiederflnden der Sprache, das an biblische Szenen erinnerr'", unddie Geste des Kreuznehmens werden durch das unerklärliche Handeln Gottesbewirkt. Daß Louis IX. damit den Leidensweg Christi wählt, bleibt unausgespro-chen, doch wird es an seiner Geste sichtbar und an den Reaktionen seinerMutter, die von übergroßer Freude und heftigem Schmerz zerrissen wird, dasie nach dem Bild der schmerzensreichen Madonna die Passion ihres Sohnesvorauszusehen scheint. Der Erzähler beruft sich zweimal darauf, daß der Königselbst den geheimnisvollen Vorgang enthüllt hat; daher ist es möglich, daß auchder Zuhörer davon erfährt und daß auf diese Weise ein Mythos entsteht.

Auf Seiten der Vasallen gibt es keine Aussage über Beweggründe und denMoment der Entscheidung für den Kreuzzug. Sie folgen offenbar dem exemplumdes Königs und ihrer Vorfahren, von denen viele im Gefolge ihres Königs oder

49 Eins unter mehreren Beispielenfindet sich im Lukasevangelium(1,18sqq.):Zachariasverliertdie Sprache,da er dem EngelGabrielnichtglaubt,der ihm dieGeburt einesSohnesprophezeit.

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Lehnsherrn das Kreuz genommen habea'", Joinville übergeht auch die sorgfälti-gen Vorbereitungen des Feldzugs, die sich immerhin über vier Jahre hinziehen.Sein Interesse gilt den illustren Teilnehmern, zu denen er selbst gehört und vondenen er elf namentlich aufführt (§ 108). Dann steht für ihn seine persönlicheSituation im Vordergrund und praktische Aufgaben, die er vor seinem Aufbrucherledigen muß: Nachdem er die Geburt seines Sohnes Jean, Sire d'Ancerville,mit Verwandten und befreundeten Edelleuten gefeiert hat, regelt er alle Verbind-lichkeiten und bezahlt seine Schulden "ohne zu diskutieren" (§§ 110 sq.). Auchverpfändet er seine Ländereien, um niemanden mit den Ausgaben für denKreuzzug zu belasten. Auch in dieser Situation folgt er dem Beispiel des Königs,der sich nicht nur durch Freigebigkeit bei der Verteilung von Almosen, sondernauch durch Korrektheit und Großzügigkeit bei der Finanzierung seiner Hofhal-tung und seiner Kreuzzüge auszeichnet (cf. §§ 33, 105, 726)51.

Den Augenblick, in dem der Kreuzzug beschlossen wird, stellt Joinville alsein mysterium dar, das sich zwischen Gott und dem zukünftigen Heiligen abspielt.Unter politischen Gesichtspunkten handelt es sich um eine erwartbare Entschei-dung, die die Politik der Vorfahren des Königs und seiner Lehnsleute fortsetzt.Der Aufbruch ins Heilige Land ist in vielen adligen Familien eine Tradition, dieseit dem ersten Kreuzzug (1096-1099) besteht; gleichwohl wird sie hier nocheinmal legitimiert.

50 Das trifft auch auf Joinville zu. In seiner Familie hatte zuerst sein Urgroßvater Geoffroy Ill. alsSeneschall von Henri le Liber~ (Heinrich dem Freigiebigen) am zweiten Kreuzzug (1147 -1149)teilgenommen. Cf. Lusse, D'Etienne (nt. 35).

51 Die Finanzierung eines Krieges darf nach Auffassung von Louis IX. die Vasallen und die Unter-tanen nicht belasten. Nach einer bewaffneten Auseinandersetzung mit dem englischen KönigHenry Ill. - es ging um dessen Ansprüche auf französisches Territorium - äußern sich dieheimkehrenden Kriegsteilnehmer über die großzügigen Geschenke des französischen Königsund über die faire Aufteilung der Kosten:"Et en eel ost centre le roy d'Angleterre etcontre les barons, le roy en donna de gransdons, si comme je l'oy dire a ceulz qui en vind-rent. Ne pour dons ne pour despens que l'enfeist en eel host ne autres desa mer ne dela, leroy ne requist ne ne prist onques aide des siensbarons n'a ses chevaliers n'a ses hommes ne ases bones villes, dont en ce plainsist. Et cen'estoit pas de merveille, car ce fesoit il par leconseil de la bone mere qui estoit avec li, dequi conseil il ouvroit, et des preudeshomes quili estoient demeure du tens son pere et dutemps son ayoul." (§ 105)

"Und in diesem Feldzug gegen den König vonEngland und die Barone war der König äußerstfreigebig, wie ich von denen sagen hörte, diedavon zurückkehrten. Und weder für Ge-schenke noch für Ausgaben, die man bei die-sem Feldzug und bei anderen diesseits und jen-seits des Meeres machte, forderte oder nahmder König weder von seinen Baronen nochvon seinen Rittern, noch von seinen Leutenoder seinen treuen Städten Abgaben, über dieman sich hätte beklagen können. Und das warkein Wunder, denn er tat dies auf den Rat derguten Mutter, die bei ihm war und nach derenRat er sich richtete, und auf den Rat der prud'-hommes, die er aus der Zeit seines Vaters undseines Großvaters behalten hatte."

Joinville bezieht sich auf eine mündliche Information, die den Ruf Louis' IX. als eines maßvollenund vorbildlichen Politikers verbreitete. Dieses positive Bild wird sicher als Kritik an Phi1ippeIv. aufgefaßt, der hohe Abgaben forderte und die Ratgeber seines Vaters und Großvaters ab-schaffte.

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3.2. Bilder des Elends und der Opferbereitschaft

Die Zuhörer erwarten von der Kreuzzugserzählung die Heldentaten des Kö-nigs und seiner Männer, die wie in einer Chanson de geste dargestellt und gefei-ert werden52, geht es doch um die Sache der Christenheit, der Franzosen undnicht zuletzt um den Ruhm der eigenen Dynastie. Der wenig ruhmvolle Verlaufruft möglicherweise eine bittere Enttäuschung hervor, obgleich Joinville ihnschon im Prolog (§§ 7-16) angekündigt hat. Auf die anfängliche Euphorie desSieges folgen die Demütigung der Gefangenschaft, die selbst der König erdul-den muß, die spannungsreichen Verhandlungen um Lösegeld und Befreiung unddie Resignation des Rückzugs. In dem Maße wie der politische Erfolg des Feld-zuges in Frage gestellt ist, werden die menschliche Größe des zukünftigen Heili-gen und die Loyalität seiner verbliebenen Kampfgenossen sichtbar.

In den ersten Szenen stellt Joinville den König und sein Heer in der Glorieder strahlenden Sieger dar. Die Bravourstücke der einzelnen Ritter erfüllen denAutor nachträglich mit großer, geradezu rauschhafter Begeisterung. Vielen Män-nern setzt er ein Denkmal, indem er ihre Namen überliefert und sie "prud'hom-mes" nennt. Diese Ehrenbezeichnung verdienen sie in der Schlacht wenigerihrer moralischen Maßstäbe und ihres maßvollen Handelns wegen - so wie esdem Ideal des "prud'homme" entspricht= - sondern, weil sie ihre fortitudoin den Dienst des Kreuzzugs, das heißt einer gerechten Sache gestellt haben(§ 560)54.

Eine Rechtfertigung des Krieges ist die Voraussetzung für seinen erfolgrei-chen Ausgang, und auch die Sünden der Kriegführenden können eine unglückli-che Wende bewirken. Die Niederlage von Mansura und den Verlust der erober-ten Stadt Damiette erklärt Joinville beispielsweise dadurch, daß die siegreichenKreuzfahrer nicht dem Beispiel ihres Königs folgten: Sie "vergaßen Gott", ga-ben sich dem Wohlleben hin und gingen nicht verantwortungsvoll mit ihrenRessourcen um (§ 166).

52 Die Affinitäten der ,Vie de saint Louis' zur Chanson de geste werden in der folgenden Untersu-chung behandelt: M. de Combarieu du Gres, La chanson du roi Louis, in: Queruel (ed.), Jeande Joinville (nt. 35), 109-129.

53 Zur Herkunft und Bedeutung des \'('ortes cf. 1.. Spitzer, Joinville erymologiste ("preu horne -preudome"), in: Modem Language Notes 62 (1947), 505-514; ,prud'homme' ist die neufranzö-sische Form von altfranzösisch ,preudome', das in der Bedeutung ,trefflicher Ritter', ,Edelmann'gebraucht wird. Das altfranzösische Adjektiv ,prod' oder ,preu' (,tapfer', ,gut') leitet sich vonlateinisch prodess« (nützen) ab. Cf. W. von Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch.Eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes, vol, 9, Basel 1958, 417 sqq. Dem Idealdes prud'homme entspricht in der klassischen Antike der vir bon»: (cf. Quintilian, Institutiooratoria II. 1, 3sq.) und im Alten Testament der ,Gerechte'.

54 Eine Rechtfertigung der Kreuzritter spricht Bernhard von Clairvaux in seinem Traktat für dieTempler aus: ,,0 Vert sanctaet tsta militia", denn im Unterschied zum weltlichen Rittertum isthier nicht zu befürchten, eine Sünde zu begehen, wenn man den Gegner tötet, und genausowenig, ob eines ungerechten Kampfes in Sünde zu sterben, wenn man ihm unterliegt. Bernhardvon Clairvaux, Ad milites templi 1, 1 = Ill, 215, 8, zitiert nach P. Dinzelbacher, Bernhard vonOairvaux, Darmstadt 1998, 119.

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Bereits im Prolog steht die Geschichte unter den Vorzeichen von Niederlageund Erniedrigung. Vier Szenen aus der Kreuzzugserzählung werden aus demZusammenhang gelöst, vorausgenommen und dadurch in ein helles Licht ge-rückt. Sie illustrieren die Bereitschaft des Königs, sein Leben aufs Spiel zu set-zen, um sein "Volk", das heißt das Heer der Kreuzfahrer, zu retten. Der Ver-gleich mit dem Opfertod Christi ist für den Autor naheliegend.

,,[... ] et y apparut en ce que aussi commeDieu morut pour l'amour que il avoit enson peuple mist il son cors en avanture parpluseurs foiz pour I'amour que il avoit ason peuple ; et seen feust bien soufers seil vousist, si comme vous orrez ci apres,"(§ 20)

,,[ ... ] und das zeigte sich, als der König -ebenso wie Gott aus Liebe zu seinem Volkstarb - sein Leben mehrere Male ausLiebe zu seinem Volk riskierte; und wie ihrnoch hören werdet, hätte er darauf gut ver-zichten können, wenn er gewollt hätte."

Die erste Episode ereignet sich nach der Eroberung von Damiette: Gegenden Rat seiner Leute springt der König vom Schiff ins Meer und erreicht alseiner der ersten das Ufer. Wie der Autor mit Recht anmerkt, riskiert Louis damitsein Leben und zugleich den Erfolg der gesamten militärischen Operation. Esscheint, daß sich JoinviIIe in seiner Erinnerung an seinen siegestrunkenen An-führer hinreißen läßt, die unbesonnene Geste mit Opferbereitschaft zu erklären(§ 8). Die zweite Szene zeigt Louis beim Rückzug aus Mansura: Er ist lebensge-fährlich erkrankt, lehnt es jedoch ab, sich auf einer Galeere evakuieren zu lassen,solange das Schicksal seiner Armee ungewiß bleibt (§§ 9 sq.). Hier wird zumersten Mal in der ,Vie de saint Louis' ein Porträt des Königs gezeigt. Nach demDesaster von Mansura befindet er sich in einem Zustand äußerster Schwäche.Wie viele seiner Vasallen und Ritter schwebt er in Lebensgefahr, dennoch lehnter es ab, seine Leute zu verlassen.

,,[... ] et especialment ce conseil li fudonne pour le meschief de son cors ou ilestoit par pluseurs maladies, qui estoientte1es car i1 avoit double tierceinne et me-noison moult fort et la maladie de I'ost enla bouche et es jambes. I1ne voult onquesnullui croire, aincois dist que son peuplene lairoit i1 ja, mez feroit tele fin comme i1feroient. Si li en avint ainsi que par la me-noison qu'il avoit que il li couvint le soircouper le fons de ses braiez, et par la forcede la maladie de I'ost se pasma il le soirpar pluseurs foiz, aussi comme vous orrezci apres." (§ 10)

,,[... ] dieser Rat wurde ihm besonderswegen seines schlechten Gesundheitszu-standes gegeben, in dem er sich wegenmehrerer Krankheiten befand: einem dop-pelten Wechselfieber, einem heftigen Durch-fall, Skorbut [?] an Mund und Beinen. Erwollte auf niemanden hören und sagte, erverlasse sein Volk nicht, sondern bleibe biszum Ende bei ihm. Wegen des Durchfalls,den er hatte, passierte es ihm, daß manabends seinen Hosenboden aufschneidenmußte. Und der Skorbut [?] war so heftig,daß er am Abend mehrmals ohnmächtigwurde, so wie ihr es nachher hören wer-det."

In der dritten Episode stellt er das Wohl des Volkes über seine eigene Sicher-heit, als er seine Abreise aus dem heiligen Land bis zur Befreiung der gefangenen

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Landsleute aufschiebt (§ 11).Die vierte Szene spielt sich auf der Rückreise derKreuzfahrer nach Frankreich ab: Auf der Insel Zypern beschließt Louis IX., dieReise auf einem angeschlagenen Schiff fortzusetzen, "um sein Volk zu retten",das bedeutet für ihn: die Besatzung nicht auf Zypern zurückzulassen (§§ 13-16).

Unbegrenztes Gottvertrauen und Opferbereitschaft des Königs werden vier-mal unter Beweis gestellt. Die dritte dieser Szenen verdient eine genauere Ana-lyse, da Joinville darin eine Rolle spielt, die ihn mit Louis IX. verbindet und dasgegenseitige Vertrauen vertieft. Bei seinem Aufenthalt in Akkon (1250-1251)teilt der König seinen Brüdern und anderen Männern von hohem Rang in einerVersammlung mit, daß seine Mutter, die während seiner Abwesenheit die Regie-rungsgeschäfte in Frankreich übernommen hat, ihn wegen der Gefahr einesKrieges mit England bittet, schnell nach Frankreich zurückzukehren. Bevor ereine Entscheidung trifft, will der König den Rat seiner Leute hören, denn ersieht voraus, daß das Heilige Land für die Christen verloren sei, wenn er eszu diesem Zeitpunkt verlasse. Wie nach der Erfahrung von Niederlage undGefangenschaft zu erwarten ist, plädiert die Mehrheit dafür, daß der König mitseinen Kreuzfahrern möglichst bald heimfahrt, um danach mit einem neuenHeer wiederzukommen und die erlittene Schmach zu rächen. Jean de Joinvillehat - obgleich er zu den Jüngsten zählt - den Mut, eine abweichende Ansichtzu vertreten, da er befürchtet, daß das einfache Volk, das sich noch in derGefangenschaft der Sarazenen befindet, niemals befreit würde, wenn sie dasLand jetzt verließen. Bei diesem Argument, das ihm aus einem weit zurücklie-genden Gespräch mit einem Verwandten in Erinnerung ist, beginnen alle Anwe-senden zu weinen (§§ 419-427). Nach der Beratung bittet der König wie ge-wohnt um eine Bedenkzeit. Joinville fühlt ein großes Unbehagen, da er sichgegen die Meinung der Mehrheit ausgesprochen hat. Wider Erwarten gibt ihmder König unter vier Augen und durch eine freundschaftliche Geste zu verste-hen, daß er seinen Rat für gut hält und ihn befolgen will (§§ 430-434). Einevergleichbare Situation der Bestätigung hat der junge Seneschall schon einmalvor Jahren erlebt, als ihm Louis IX. nach einem Streit mit Robert de Sorbonnachträglich Recht gab 55.

Bei der Debatte um den längeren Verbleib im Heiligen Land hat die Zustim-mung des Königs eine weit größere Bedeutung. Durch das Vorbild des Königs(und das weit zurückliegende Gespräch mit seinem Verwandten) wird sich Join-ville seiner Verantwortung für seine Leute bewußt. In dieser Situation scheintes ihm sogar, als habe er den König beeinflußr=. Daher ist er entschlossen, imFalle einer Abreise des Königs im Land zu bleiben und am Hof des Prinzen vonAntiochien auf eine günstige Gelegenheit für die Freilassung der Gefangenen zuwarten. Er ist notfalls bereit, sich von Louis IX. zu trennen, um nach dessen

55 Ci nt.46.56 CoIlard, Quand l'apologie (nt. 36), 135, erinnert daran, daß der übereilte Rückzug des Königs

Philippe Auguste aus dem Heiligen Land als Schande angesehen wurde.

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Vorbild für das "Wohl des einfachen Volkes" zu sorgen. In dieser Situationbesteht die Identifizierung mit dem Herrscher paradoxerweise in der Möglich-keit, eine verantwortliche Entscheidung ohne ihn zu treffen.

Viele Jahre später, als Louis IX. seinen zweiten Kreuzzug vorbereitet, wirdJoinville die schmerzhafte Trennung vollziehen und dem König die Gefolgschaftversagen, da er seine Provinz, die Champagne, nicht ein zweites Mal verlassenwill. Der Verzicht auf die Teilnahme am achten Kreuzzug steht im Widerspruchzu der Loyalität und Freundschaft, die Joinville dem König viele Jahre langentgegengebracht hat, und ist zweifellos als Bruch in der Biographie des Sene-schalls aufzufassen. Zu den Gründen Joinvilles hat man einige Hypothesen auf-gestellt. Möglicherweise deuten sie auf unausgesprochene Spannungen mit Louishin oder auf einen Zweifel am Sinn des Kreuzzugs. Seine Erklärung, er dürfe dieProvinz nicht noch einmal der Willkür königlicher Administratoren überlassen,scheint jedenfalls kein leerer Vorwand zu sein. Eine indirekte Kritik an derzentralistischen Verwaltung ist hier unübersehbar. Der Seneschall vertritt dieInteressen des Feudalherrn, die in diesem Fall mit denen seines Königs nichtvereinbar sind. Joinville läßt sich - wie es dem Ideal des prud'homme ent-spricht - von vernünftigen und maßvollen Erwägungen leiten, während beiLouis IX. das religiöse Pflichtgefühl den Ausschlag für die politische Entschei-dung gibt.

3.3. Kontakte mit den Templern

Im Verlauf der Kreuzzugserzählung kommt es wiederholt zu Begegnungenmit Tempelrittern. Unter den Männern, die an den blutigen Schlachten teilneh-men, gibt es zahlreiche Mitglieder des Ordens, deren Namen Joinville überliefert.Sie fallen durch große Unerschrockenheit, zuweilen auch durch Disziplinlosig-keit auf und sind als Kenner des Landes und seiner Gepflogenheiten willkom-mene Berater bei Verhandlungen mit dem Gegner. Allerdings wird nicht einervon ihnen bei Joinville "prud'homme" genannt. Diese praeteritio einer fast stereo-typ verwendeten Ehrenbezeichnung ist vermutlich ein Ausdruck der Distanzie-rung. Die Präsenz des Ordens scheint jedoch selbstverständlich zu sein undwird immer wieder erwähnt.

Beim Ritt auf Damiette macht der Marschall der Templer Renaut de Vichiersmit seinen Ordensrittern trotz des ausdrücklichen Verbots des Königs eine über-raschende Attacke auf die feindlichen Reihen, weil er sich durch den Angriffauf einen seiner Männer provoziert fühlt. Das ganze Heer schließt sich ihm anund schlägt die "Türken" vernichtend. Dieses Bravourstück wird kommentarlosbeschrieben (§§ 185 sq.). Im Kampf um Mansura zeichnen sich der Ordensmei-ster GuilIaume de Sonnac und die kleine Schar seiner Ordensbrüder aus, die dieletzte Schlacht überlebt haben. Bei der Schilderung ihres todesmutigen Einsatzesbringt Joinville eine gewisse Anerkennung zum Ausdruck. Er berichtet, daß

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Guillaume im Kampf sein zweites Auge verliert und an den Folgen der Verlet-zung stirbt (§ 269).

Empfehlungen der Templer werden von den Kreuzfahrern befolgt, da manihre Erfahrungen zu schätzen weiß. So legen sie Louis IX. nah, die Stadt Naples(Nablus) zurückzuerobern, jedoch nicht selbst am Kampf teilzunehmen, umnicht mit seiner Person den gesamten Befestigungsplan im Heiligen Land inGefahr zu bringen. Der König schließt sich ihrem Rat an, auch wenn er seinemrisikofreudigen Temperament zuwider ist (§ 564). Bei dem bedrohlichen Besuchder Botschafter des "Alten vom Berg", des Anführers der Assassinen>", der vonLouis IX. einen Tribut fordert und gleichzeitig von seinen Abgaben an dieTempler und Hospitaliter befreit werden will, lernen die Franken das kompli-zierte Machtgefüge im Heiligen Land kennen. Die Großmeister beider Ordenerweisen sich als solidarische und unumgängliche Berater des Königs: Das er-presserische Ansinnen wird abgewehrt und ein freundschaftlicher Austausch vonGeschenken zwischen den beiden Herrschern in die Wege geleitet (§§ 451-463).

Die Machtposition des Tempelordens erlebt Joinville in dem Augenblick, alsdringend die Restsumme von 30000 Pfund als Lösegeld für den gefangenenKönig und seine Vasallen benötigt wird. In den langwierigen Verhandlungen umihre Freilassung hat Louis dem Gegner versprochen, 400000 Pfund für seineMitgefangenen zu zahlen und für die Befreiung seiner Person die eroberte StadtDamiette zurückzugeben, da er "so beschaffen sei, daß man ihn nicht mit Geldzurückkaufen könne" (§ 343). Ein ganzes Wochenende lang wird das Geld miteiner Waage abgewogen. Als am Ende der Übergabe 30000 Pfund fehlen,schlägt Joinville dem König vor, das Geld bei den Templern zu leihen. Diesesehen es keineswegs als Ehrensache an, die Summe für den König vorzustrek-ken, sondern behaupten kühl, das Geld ihrer Gläubiger nicht antasten zu kön-nen. So kommt es zu einem erregten Wortwechsel zwischen Joinville und Renautde Vichiers, dem Marschall der Templer, der Joinville nahe legt, ihm pro formaGewalt anzudrohen, damit er sein Gesicht als korrekter Bankier wahren kann.Auf diese Weise erhält der Seneschall den relativ geringen fehlenden Betrag, mitdem die Gefangenen losgekauft werden können. Kurz darauf wird auch derGraf von Poitiers, ein Bruder des Königs, den der Gegner als Geisel zurückbe-halten hatte, in die Freiheit entlassen.

Eine zweite Erfahrung mit den Bankgeschäften der Templer macht Joinvillebeim Aufenthalt in Akkon. Von dem Geld, mit dem er seine Leute unterhaltenmuß, vertraut er 36000 Pfund den Templern an. Als er einen Teil davon benö-tigt, ist das Geld unauffindbar. Renaut de Vichiers wirft Joinville unter heftigenBeschimpfungen vor, den Templern Diebstahl zu unterstellen. Erst nach vierTagen wird das Problem zur Zufriedenheit des Autors aufgeklärt. Anläßlichdieses ftnanziellen Abenteuers weist Joinville darauf hin, daß Renaut de Vichiers

57 Der Name ..Der Alte vom Berg" ("Le Vieux de la Montagne") ist eine falsche Übersetzungvom arabischen "Scheich al-Dschebel", "Gebieter des Gebirges".

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inzwischen Ordensmeister geworden sei, "mit Hilfe des Königs für den Gefal-len, den er ihm während der Gefangenschaft getan habe" (§§ 412 sq.).

Die letzte Episode, in der der Templerorden im Mittelpunkt des Interessessteht, berichtet Joinville aus Cäsarea, wo er vier Jahre im Gefolge des Königsverbringt. Als Augenzeuge erlebt er vier Fälle, in denen der König persönlichdie Buße für ein Vergehen auferlegt. Während es sich in zwei Fällen um eherbelanglose Streitigkeiten zwischen Rittern handelt und in einem Fall um eineFrage der Moral, ist der vierte Fall von politischer Bedeutung. Hugues de Jouy,der Marschall des Templerordens, hatte auf Befehl des Hochmeisters mit demSultan von Damaskus über die Teilung eines Territoriums verhandelt. Es wurdeein Abkommen getroffen unter der Voraussetzung, daß der König zustimmte.Hugues kommt in Begleitung eines Emirs, des Gesandten des Sultans, zurückund bringt die Abmachungen in Form eines rechtsverbindlichen Vertrages("monte foi") mit. Als der Großmeister dem König darüber Bericht erstattet,zeigt sich Louis IX. entsetzt über den eigenmächtigen Abschluß eines Vertragesund fordert die folgende Genugtuung: Vor den Augen des gesamten Lagersmüssen der Großmeister und alle seine Geistlichen barfuß zu ihm, dem König,kommen und sich vor ihm und dem Gesandten auf den Boden setzen. Louisbefiehlt dem Großmeister, den Gesandten für seine Vermessenheit um Ent-schuldigung zu bitten und den Vertrag zurückzugeben. Nachdem dies geschehenist, muß sich der Großmeister erheben, vor dem König niederknien, ihm einenZipfel seines Mantels reichen und ihm anheim stellen, nach seinem Ermesseneine Buße zu fordern. Als erstes bestimmt Louis, daß Hugues, der den Vertraggeschlossen hat, geächtet und aus dem Königreich Jerusalem verbannt wird.Weder der Großmeister noch die Königin, die sich für Hugues einsetzen, kön-nen ihn vor dem harten Urteil bewahren (§§ 511- 514).

Louis fordert dieses komplizierte Ritual des "adrecement" (Wiedergutma-chung), um dem Orden gegenüber seine Befehlsgewalt durchzusetzen. Daßseine Oberhoheit nicht selbstverständlich anerkannt wird, hat er bei den Ver-handlungen um das Lösegeld erfahren. Die Templer agieren eigenmächtig, dasie wissen, daß sie nur dem Papst unterstellt sind. Sie scheinen nicht damit zurechen, daß ein König, der sich nur zeitweise im Heiligen Land aufhält, sie zurVerantwortung ziehen kann. Offenbar sind die Kompetenzen von Papst undKönig nicht klar definiert.

Auf Grund dieser persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen kennt Join-ville die Macht des Templerordens und einige seiner eindrucksvollen Vertreter.Er erlebt sie als schlagkräftige Krieger und als geschickte Diplomaten und Bera-ter, die für die Kreuzfahrer zeitweise von großem Nutzen sind. Er erkennt aberauch einen gewissen Eigennutz, ihren Hochmut und ihre Unabhängigkeit vonFrankreich und vom französischen König. Ihre politische Rolle ist für den Autornicht immer durchschaubar. Während er an seinem Buch arbeitet, erfährt er mitSicherheit durch seine Kontakte zum Hof von den Verfolgungen, die den Temp-lern drohen, und von den Verhaftungen im Jahr 1307. Es ist anzunehmen, daßer den Vorwurf der Häresie nicht billigt und ebenso wenig das brutale Vorgehen

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,La Vie de saint Louis' von Jean de Joinville 263

des Königs, das in der Regierungszeit von Louis IX. undenkbar gewesen wäre.In seinem Buch nutzt er jedoch kaum die Möglichkeit, Stellung zu beziehen.Wenn er von "l\fissetaten" des Königs spricht, weist er nicht auf dieses konkreteUnrecht hin.

3.4. Finanzielle Probleme

Nicht nur bei den Begegnungen mit dem Templerorden erwähnt Joinville dieKosten des Kreuzzugs. Als Seneschall ist er mit ökonomischen Fragen vertrautund bemüht sich - wie auch der König - um große Gewissenhaftigkeit-''.Schon beim Aufbruch aus der Heimat hat er für seine materielle Unabhängigkeitvorgesorgt. In diesem Zusammenhang erfährt man, wie hoch seine Einkünftesind und daß er nur über einen Teil des Besitzes die Verfügungsgewalt hat, daseine Mutter noch lebt. Schon auf der ersten Etappe des Feldzugs, auf Zypern,neigt sich sein Vermägen dem Ende zu. Louis IX. nimmt ihn in seine Diensteund kommt für die Kosten auf, die für Joinville und seine zwölf Ritter aus derChampagne anstehen. Dies ist nur eine von vielen Situationen, in denen derKönig durch seine Freigebigkeit ("largesse") die Teilnahme seiner Landsleutesicherstellt.

Diese Eigenschaft von Louis IX., die zu den klassischen Tugenden einesHerrschers zählt, wird Joinville im Verlauf des Feldzugs mehrmals würdigen undan einigen Stellen sogar die benötigten Summen exakt angeben. Allerdings er-laubt er sich bei der Diskussion um die eventuelle Rückkehr (§§ 419 sqq), denKönig darauf hinzuweisen, daß der Sold für die Anwerbung neuer Ritter - sohabe er gehört - bisher nur aus dem Fonds der Geistlichkeit geschöpft wordensei und der König seine eigenen Mittel noch nicht angetastet habe. Dieses Argu-ment trägt dazu bei, daß der König den Aufbruch bis zur Befreiung der gefan-genen Landsleute aufschiebt. Offensichtlich hat der Seneschall einen Sinn fürwirtschaftliche Belange des Feldzugs, während der Königs für das Seelenheilseiner Leute, die Befreiung der Gefangenen, aber auch die Befestigung zerstörterStädte sorgt.

Die finanziellen Probleme löst Louis durch großzügige Zahlungen. Seine Ein-künfte aus den Ländereien und Besitztümern, die er von seinem GroßvaterPhilippe Auguste geerbt hat, scheinen unerschöpflich zu sein. Er schont seinVermögen nicht und ist auch im Hinblick auf die Finanzierung des Kreuzzugsein Mensch, der vor keinem Opfer zurückschreckt. Als Joinville seine Erinne-rungen aufschreiben läßt, hat sich die Finanzlage des französischen Königs je-doch dramatisch verschlechtert-".

58 Cf. nt. 51.59 Favier, Philippe le Bel (nt. 40), cap. 7: ,Les choix financiers', 170 sqq.

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4. Die Intentione» der Auftraggeberin und des Autors

Mit ihrer Initiative erweist die Königin Jeanne de Navarre dem betagten Sene-schall eine große Ehre. Es ist anzunehmen, daß ihr Interesse durch Joinvillesmündliche Berichte geweckt wurde, daß sie seine Begabung als Erzähler schätztund sein außergewöhnliches Gedächtnis bewundert; so verdankt das Buch seineEntstehung auch der vertrauten und freundschaftlichen Beziehung zwischen derKönigin und ihrem alten Mentor.Jeanne de Navarre weiß, daß weder ihr Gemahl Philippe IV. noch dessen

Vater Philippe Ill. ("Philipp der Kühne") dem Seneschall eine Funktion bei Hofzugewiesen haben, und sie ist sich mit Sicherheit der kritischen Distanz bewußt,die Joinville zu Philippe IV.wahrt. Dennoch erkennt sie in Joinville den geeigne-ten Mann, der eine Verbindung zwischen vier Generationen von Königen schaf-fen kann. Als Großnichte von Louis IX., als Frau des gegenwärtigen und Muttereines zukünftigen Königs hat sie den Wunsch, ein Bild von der Größe Frank-reichs und der Dynastie der Kapetinger an ihre Söhne weiterzugeben. Die Tatenund Tugenden des heiligen Königs sollen seinen Nachfolgern als Vorbild undAnsporn dienen. So beabsichtigt sie möglicherweise, das Projekt eines neuenKreuzzugs, über das seit Jahren verhandelt wird, durch die Berichte des Sene-schalls zu fördern-", Die geringe Zahl von Handschriften der ,Vie de saint Louis'läßt darauf schließen, daß das Buch ursprünglich nur für die Königsfamilie be-stimmt und eine Veröffentlichung nicht vorgesehen war61•

Die große Verehrung für den heiligen König, der Respekt vor seinen außeror-dentlichen Tugenden und die freundschaftliche Verbundenheit sind die wesentli-chen Beweggründe für die schriftstellerische Tätigkeit des Seneschalls. Er istweder Geistlicher noch ein Schriftsteller, der sich einen Namen machen will,und doch gelingt es ihm, in mehrjähriger Arbeit ein einzigartiges und informati-ves Buch zu verfassen. Sein Ziel ist es, seine Zuhörer beziehungsweise Leserdavon zu überzeugen, daß Louis IX. auf Grund seines Leidenweges als Märtyrergestorben ist. Der Auftrag der Königin bietet ihm die Möglichkeit, seine Auffas-sung darzulegen. Sein Zeugnis für das Leben des Heiligen erinnert stellenweisean Worte der Evangelisten, die das Erscheinen Christi bezeugen: "et habitavit innobis, et vidimus gloriam eius" (joh 1,14).

Die Begegnung mit dem heiligen König ist ein Erlebnis, das sein Leben verän-dert und bereichert. Joinville hat die Tendenz, sich mit seinem Protagonisten zuidentifizieren, beispielsweise teilt er seine Sorge in bezug auf die Regierungs-und Lebensführung der folgenden Herrschergenerationen. Nur an einer Stelle

60 Ende 1306 oder Anfang 1307 bestellte Papst Clemens v., der sich im Poitou aufhielt, die Groß-meister der Templer und der Hospitaliter zu sich, um über den geplanten Kreuzzug zu debattie-ren, cf. A. Demurger, Die Templer. Aufstieg und Untergang, München 1991,239. Zu diesemZeitpunkt lebte Jeanne de Navarre nicht mehr, doch das Projekt bestand schon seit mehrerenJahren.

61 Zur Tradition des Textes cf Monfrin, Vie de saint Louis (nt. 7), XC-CXII!.

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des Buches gibt es einen Hinweis auf "Missetaten" des regierenden Königs (c£§ 42). Eine offene Ablehnung der Politik von Philippe IV. zeigt Joinville erst imJahr 1314, als er sich einem Protest der Feudalherren gegen Steuern und Ab-schaffung von Gewohnheitsrechten anschließt. Seine schriftstellerische Tätigkeitin den Jahren 1303 bis 1309 nimmt er zum Anlaß, ex positivo zu zeigen, welcheEigenschaften einen christlichen Herrscher auszeichnen. Wenn der Autor wie-derholt die Tugenden von Louis IX. hervorhebt, hat der Adressat den Eindruck,daß er damit den Nachfolgern einen Spiegel vorhält. Konkrete Vergehen undMängel werden jedoch in der für Joinville charakteristischen Taktik der praeteritionicht erwähnt. Joinville besitzt die Unbefangenheit und das Selbstbewußtsein,seine eigene Rolle in der Beziehung zu seinem König hervorzuheben und dieSchwerpunkte so zu setzen, wie er sie subjektiv in Erinnerung hat.

Trotz seiner Ergebenheit und seiner innigen Freundschaft zu Louis IX. folgter ihm nicht bedingungslos in das ungewisse Unternehmen eines zweiten Kreuz-zuges, ja er kritisiert die Ratgeber, die dem König nicht von seinem Plan abgera-ten haben.

,Je entendi que touz ceulz firent pechemortel qui li loerent l'alee,pour ce que oupoint que il estoit en France, tout leroyaumeestoit en bone pez en li meismeset a touz ses voisins,ne onques puis que ilen parti l'estat du royaumene fist que em-pirer. Grant peche firent cil qui li loerentl'alee, a la grant flebesce la ou son corsestoit, car il ne pooit souffrir ne le charierne le chevaucher."(§§ 736sq.)

"Ich war der Meinung,daß allediejenigen,die ihm Zuder Reiserieten, eineTodsündebegingen,weil - was die LageFrankreichsanbetraf - das ganze Königreich im In-nern und mit allen seinen Nachbarn imFrieden lebte. Und seitdem er aufgebro-chenwar,hat sichder Zustand des Reichesnur verschlechtert.Eine große Sünde be-gingen die, die ihm zu der Reise rieten inAnbetracht seiner großen Schwäche,denner vertrug weder das Fahren in einemWa-gen noch das Reiten."

In der Feststellung "seitdem er aufgebrochen war, hat sich die Lage des Rei-ches nur verschlechtert" verrät er eine tiefe Skepsis gegenüber der EntwicklungFrankreichs nach Louis IX., dessen Nachfahren es nicht gelingt, Frieden imInnern des Landes und mit den Nachbarn zu halten. Aus diesem Grunde dürftees Joinville auch schwer fallen, aus der Perspektive der Jahre 1305 bis 1309 diePläne für einen Kreuzzug unter Philippe Iv. zu unterstützen, so wie es Jeannede Navarre vielleicht wünscht. Durch seine Erfahrungen von 1248 bis 1254ist er möglicherweise zu der Einsicht gelangt, daß die Epoche der siegreichenKreuzzüge der Vergangenheit angehört. Er ist sich bewußt, daß ein Kreuzzugnur gelingen kann, wenn die christlichen Fürsten miteinander in Frieden lebenund ihre Kräfte nicht in anderen Kämpfen verausgaben.

Durch seine Darstellung von Louis IX. wird der Blick für die Schwächenseiner Nachfolger geschärft: Philippe IV. besitzt weder die menschliche Größeund Opferbereitschaft noch die diplomatischen Fähigkeiten und die finanziellenRessourcen, über die sein Großvater Louis verfügte. Den Templerorden, eines

Page 32: 1308 · 1308 Eine Topographie historischer Gleichzeitigkeit Herausgegeben von Andreas Speer und David Wirmer De Gruyter

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der starken Bollwerke der Christen im Heiligen Land, setzt er dem Vorwurf derHäresie aus und beschließt damit dessen Untergang. Es ist anzunehmen, daßJoinville im Bewußtsein der politischen Veränderungen die Projekte Philip-pes IV. noch negativer beurteilt als die Pläne für den Kreuzzug von Louis IX.im Jahr 1270.