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Benita Glage · Einsamkeit

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  • Benita Glage · Einsamkeit

  • Benita Glage

    Einsamkeit

    NordPark Verlag

    gefürchtet – durchlitten – verwandelndZwölf Porträts

  • Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

    der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Originalausgabe2011

    © Benita Glage© NordPark Verlag, Wuppertal

    Gesetzt in der MinionUmschlagillustration: »allein und verloren«

    Acryl auf handgeschöpftem Papier von Clotilde Lafont-König

    (Foto von Clotilde Lafont-König)IsBN 978-3-935421-74-4

    NordPark Verlag · Klingelholl 53 · D-42281 Wuppertalwww.nordpark-verlag.de

  • Zur Einstimmung 9

    Einsamkeit in verschiedenen Lebensphasen

    Anna, 5 Jahre, das Nesthäkchen im Kreis der Geschwister, die viel älter sind. Vor einem Jahr ist der Vater gestorben. 12 Zur Einsamkeit des behüteten Kindes 18 Gespräch mit Anna Barbara 21

    Bernd, 15 Jahre, schon früh eine eigenständige Per sön lichkeit, unter den Gleichaltrigen ein Außen seiter, weil nicht »norm gerecht«, gerät in eine lebensgefährliche situation durch seine Klassenkameraden. 23

    Hinter der Schutzmauer – ein Briefwechsel mit Birgit 32Kommentar 39

    Cella, abgebrochenes studium der Archäologie und Litera tur wissenschaften, dreijährige Ehe, danach als Reiseleiterin tä tig, innerer Rückzug, mit 29 Jahren beendet sie ihr Leben. 42✳ Steht noch dahin, Gedicht 49Kommentar 50

    Doris, 34 Jahre, Diplombiologin, im Mut ter urlaub, ver hei ratet, zwei Kinder, seit einem Jahr im eigenen Haus am stadtrand. 53 Kommentar 60

    Einsamkeit ist wie … – Gespräch in einer Frauen gruppe 62

  • Elisabeth, 37 Jahre, beruflich selbstständig, lebt seit sieben Jahren allein, Wechsel zwischen In-Beziehung-sein und einer Einsamkeit, die sie als selbst-Zentrierung erlebt. 64✳ Nacht, Gedicht 72Kommentar 73

    Fanny, 39 Jahre, Erzieherin, hat immer allein gelebt. Mit ihrer Kindheit, in der sie früh Verantwortung übernehmen musste und ihrer kindlich gebliebenen Mutter ist sie bis heute verknüpft. 74✳ Niemand, Gedicht, Christina Goetze 83Kommentar 84

    Georg, 49 Jahre, Buchhalter, verheiratet, drei halb-wüchsige Kinder, lebt nach der Arbeit im Keller des Familienhauses. 86✳ Schattenhaftes, Gedicht 90Kommentar 91

    Helga, 41 Jahre, sieben Kinder geboren, davon fünf gleich nach der Geburt getötet, – immer schon beziehungslos und empfindungslos, lebt in einer Nachbarschaft, die »nichts merkt«. sie ist erleichtert, als sie endlich verhaftet wird. 93✳ Weizenkorn, Gedicht 101Kommentar 102

    Ingolf, 55 Jahre, beruflich und familiär zu-frieden, geht wäh rend eines sabbatjahres in eine einsame Berghütte und sucht bewusst die Abgeschiedenheit und Einsamkeit. 105✳ Sabbat, Gedicht 112

  • Konrad O., 65 Jahre, Rentner, seit 8 Jahren Witwer, gerät nach dem Tod seiner nächsten Angehörigen an den Rand der Verwahrlosung. 113✳ Überall Nirgendwo, Gedicht 121Kommentar 122

    Louise, 86 Jahre, lebt im Pflegeheim, hat ihre vertraute Um ge bung und vieles mehr hinter sich lassen müssen. 124✳ Unabwendbar, Gedicht 133Gedanken zum Alter 134

    ✳ Vergessen, Text 133

    Magda und Maria, Übergang vom Leben zum Tod – aus der sicht der Begleiterin. 141Kommentar 146

    ✳ Aufbruch, Gedicht 147

    Ausklang Von der Kraft aus der EinsamkeitEinsamkeit ist eines der häufig erlebten und geleb-ten Gefühle und Befindlichkeiten in unserer Zeit – und doch schon immer vertraut.Einsamkeit als Weg zum selbst und als notwendige Phase auf dem Weg der Individuation. 150Die Krise als Chance 155

    Die Autorin 158

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    Zur Einstimmung

    Mir vertraute, meist ältere und alleinlebende Zeitgenossinnen fragen mich: »Woran arbeitest du gerade?« Und wenn ich dann antworte: »Am Thema Einsamkeit«, entsteht kurz ein beredtes schweigen und danach kommt der satz, fast aufatmend: »Allein-sein ist ja nicht einsam sein!« so, als wollten sie einen eben gefühlten schrecken in sich besänftigen:Mit meinem Thema gerate ich offenbar in eine Tabuzone.

    »Aber tut sich nicht zuweilen im stillsten Allein-Sein eine un ver mutete Pforte auf? Kann sich nicht der Verkehr mit sich selbst in einen Verkehr mit dem Geheimnis verwandeln?« 1

    Was für ein Gegensatz zu dem gängigen Verständnis von Ein-samkeit! Den Umgang mit sich selbst in die Berührung mit dem Geheimnis verwandeln! Einsamkeit als tiefe Quelle, um zu sich selbst zu finden. Nur ein schönreden – oder? (Mehr dazu im letzten Kapitel »Von der Kraft aus der Einsamkeit«)

    Angeblich leiden besonders alte Menschen unter Einsamkeit. stimmt das wirklich? Oder meinen die wohlwollenden Zeit ge-nossen nicht eher eine soziale und emotionale Isolation im Alt-werden, die schmerzhaft sein kann, so sehr, dass sie die Wahr-nehmung des eigenen selbst betäubt?

    Der mögliche, innere Gewinn des Allein- und Einsamseins bleibt bei solcher Art der Betrachtung verschlossen.

    Was meinen die älteren, mir vertrauten Frauen, die das Phä-no men Ein samkeit für sich in Anspruch nehmen? Was meinen sie konkret? Nicht – oder nicht mehr – gebraucht sein, in keinen bestimmten sozialen Rhythmus eingebunden sein? Herausgefallen

    1 Martin Buber, in sendung vom 17.11.07, WDR 3

  • 10

    aus dem Familiengefüge, ohne vertraute Aufgaben sein? Ohne einen Menschen sein, für den frau da ist?

    Aber wann, wenn nicht jetzt im Älterwerden, kann Eins-samkeit erfahren und neu gefüllt werden mit selbstsubstanz?

    Einsamkeit kann im Verlauf des Lebens eines Menschen immer wieder auftauchen, kann ihn förmlich überfallen. Nach meinem Verständnis ist sie stets ein Hinweis auf eine Wandlung, die ansteht.

    Jedoch als andauernden, sich selber verfestigenden Zustand halte ich Einsamkeit für nicht »menschenwürdig«.

    Ich möchte Einsamkeit als Wachstumskrise, als Übergang zu neuen Ufern schildern – anhand von zwölf Charakteren, denen ich einen Namen verleihe, die aber nicht als Einzelpersonen zu verstehen sind. sie stehen für viele Menschen in unseren Zeiten und unseren postmodernen inneren Welten.

  • Einsamkeit in verschiedenen Lebensphasen

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    Anna

    Das Kind zögert – soll es – soll es nicht? An der Balkontür bleibt es stehen. Es hält eine Puppe unter dem Arm, mit der linken Hand ein Kinderstühlchen. Um die Tür zu öffnen, müsste es den stuhl abstellen und die Puppe in die andere Hand nehmen. Es steht und wartet. Eigentlich hat es unten spielen wollen, auf der straße, dort, wo die Kastanien wachsen. Große, schattenspendende Bäume mit einem kleinen Erdrand um den stamm. Nur eine Andeutung von Erde in dem gepflegten Bürgersteig. Da unten kann es Murmeln oder Kreiseln spielen. Da unten! Dort, wo die anderen Kinder sind. Da ist Leben. Es darf aber heute nicht nach unten. Heute ist Verbotstag. Heute soll es oben bleiben, hat die Mutter gesagt. Oben im zweiten stock, in der großen, stillen Wohnung mit den leisen Tönen. Das Esszimmer hält weihnachtliche Lieder bereit und während des übrigen Jahres ein unhörbares summen. Alle Jahre wächst neben der Balkontür der Weihnachtsbaum zu seiner stattlichen Höhe hinauf, bis zu dem silbrigen stern auf der spitze, unübersehbar. Lichtfülle. Das Kind erinnert sich. Weihnachten liegt noch nicht lange zurück, nur wenige Monate. Wie lang kön-nen Monate sein, wenn man gerade fünf Jahre alt geworden ist?

    Weihnachten, alle Herrlichkeit der Welt, ach, des Lebens über-haupt ist dann hier in diesem Zimmer versammelt. Ein Zimmer von sechs Zimmern einer Wohnung im südwesten der Großstadt. Gutbürgerlich, was das Vorderhaus betrifft. Hinten, über den Hof an den Mülltonnen vorbei, wohnen andere Leute. Da darf das Kind nicht hin. Nur mal eben in die Toreinfahrt schauen. Ein Kind darf schließlich nicht alles wollen, was es will. Getrocknete Tränen haben ihre spuren auf den breiten Backen hinterlassen. Das Kind hat ein großes, manchmal trauriges Gesicht. Das kommt da von, weil alles so unordentlich geworden ist, sagt die Mutter. Und sie seufzt manchmal. »Du bist zu kurz gekommen durch Vaters Tod, Goldmarie.«

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    Die Mutter hält ihre Tränen sorgfältig vor dem Kind verborgen. sie kann den Tod ihres Mannes, »nach langer, in Geduld ertragener Krankheit«, wie es in der Anzeige hieß, noch nicht verwinden.

    Die Mutter muss jetzt manches Mal an ihre eigene Kindheit denken, sie als Mittlere von sechs Geschwistern. Den Großen war sie bei ihren Unternehmungen lästig, den Kleineren ging sie lieber aus dem Weg. Aber sie hatte noch wenigstens ihren Vater gehabt. Wenn sie sich allein und unverstanden inmitten der Geschwisterschar fühlte, flüchtete sie sich in sein Arbeitszimmer und saß ganz still mit einem Buch auf dem Fußboden neben seinem schreibtisch, bis er mal aufblickte, die Brille nach oben schob und sie kurz aber freundlich ansah, um sich gleich wieder seinen Büchern und vielen Zetteln zuzuwenden. Ihre Mutter war immer beschäftigt. »Geh spielen, Ännchen«, war der stereotype satz, den sie hörte, wenn sie in ihre Nähe kam und zu stören wagte. Die Mutter schien sich für nichts von alledem zu interessieren, was ihre kleine Tochter beschäftigte.

    Nein, sie will für ihr Kind da sein, das soll es besser haben! Und das heißt, es immer im Auge zu behalten, Nur im Blickfeld des Balkons darf es auf der straße spielen. Und die Mutter achtet genau darauf, dass es den rechten Umgang hat. Nicht mit den Kindern auf der straße. Nicht mit den großen, frechen Jungen. Wer weiß, was die so einem stillen Kind alles antun könnten. Eines der Mädchen von unten darf gelegentlich mit nach oben kommen, aber nur, wenn Anna ihr Zimmer vorher sorgfältig aufgeräumt hat.

    Die Mutter war als Kind viel krank gewesen, hatte wochenlang in ihrem Zimmer allein gelegen. Nur die Putzfrau hatte sich manchmal an ihr Bett gesetzt. Mit anderen, gar ›fremden‹ Kindern spielen, draußen herum toben, etwas aushecken und anschließend zusammenhalten gegen die Erwachsenen, sich streiten und wieder versöhnen, das hatte sie nicht kennen gelernt.

    Das Kind steht noch immer unschlüssig. Balkon ist nicht das Gleiche wie unten spielen. Es steht am Rande des Teppichs. Der

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    ist alt und hat Fransen. Manchmal hockt es sich hin und flicht Zöpfchen. Dann seufzt die Mutter: »Aber Goldmarie!« Und das Kind guckt schuldbewusst zu Boden. Aber beim nächsten Mal, wenn es sich langweilt und zu den unhörbaren Tönen im Esszimmer flüchtet, flechten seine Finger wie von allein Zöpfchen aus den Teppichfransen. Es bekommt sie nie wieder selber aufgeknübbert. Das macht jemand anderes. Vielleicht die große schwester.

    Das Kind setzt vorsichtig einen Fuß auf die schwelle. Es hat inzwischen die Balkontür geöffnet, die Tür des Esszimmers ist ins schloss gefallen. Es hat ein bisschen gescheppert. Mehr nicht. Das Kind entschließt sich, auf den Balkon hinauszutreten, dort Puppe und stühlchen endlich abzustellen. Der Balkon ist schmal, viermal ein Meter, zu schmal zum spielen. Das Kind steht, schaut und schnuppert, Augen und Nase weit geöffnet. Die Luft riecht nach Frühling. Die Blumenkästen sind leer. Nur ein Meisenring, leergepickt, baumelt noch. Die sonne spielt Verstecken mit den schwellenden, schon glänzenden Knospen und Zweigen der Kas-tanien. Die Bäume sind groß und reichen von unten bis über den zweiten stock hinaus. Die Bäume können unten sein. Die haben es gut. Aber es hat keinen Zweck mehr, an unten und an die Kinder zu denken. Es war ja nicht lieb, hat die Mutter gesagt. Wenn es mal groß ist, wird es selbst entscheiden, was es darf und was es nicht darf. Aber dann ist sowieso alles vorbei; »Wenn du groß bist, ist alles vorbei«, tröstet die Mutter, wenn es leise durch die Nase schluchzend wieder einmal mit aufgeschlagenem Knie von unten nach oben kommt.

    Gestern war Ostern. Ostern ist, wenn man außer Weihnachten und Geburtstag noch etwas geschenkt bekommt. Anna hat eine kleine Kiepe bekommen, aus spanholz, zum Aufschnallen auf den Rücken. Die hat sie sich schon lange gewünscht. Morgens hat sie erst im Wohnzimmer bunt bemalte, hart gekochte Eier gesucht. Überall sind die versteckt gewesen. Alle haben herumgestanden und gewartet, dass sie weiter suchen würde. Da hat sie die Kiepe

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    gefunden. Alle haben gewartet, dass sie sich freuen würde. sie hat sich gefreut, sich die Kiepe sofort auf den Rücken gehängt und ist damit um den großen Esszimmertisch herum gewandert. Dann hat sie Ein- und Auspacken gespielt mit den spielsachen aus dem großen Regal im Kinderzimmer. schließlich war Nachmittag, und sie hat alles ausprobiert, was sie mit der Kiepe machen konnte. Da wollte sie nach unten und sie den anderen Kindern zeigen.

    seit sie hier wohnte, das war noch nicht lange, zogen sie die anderen Kinder auf der straße an, obwohl sie ihr noch immer fremd waren. straßenkinder! Die Mutter fragte immer ganz ge nau, wenn sie vom gelegentlichen spielen da unten mit roten Backen und halboffenen Zöpfen nach oben kam, wer denn mit ihr gespielt habe und was denn und wie denn. Manchmal wurde ihr solches Fragen lästig. sie fing an, lieber allein zu spielen. Zunächst noch unten, an dem bisschen Erde rund um den Kastanienbaum. Oder sie ließ ihren Kreisel über das Pflaster springen. schließlich begann sie öfters oben zu spielen. Da konnte sie nicht ständig gefragt werden, wer denn und was denn und wie denn.

    Aber heute Nachmittag wollte sie nach unten und die kleine Kiepe vorführen. Ja, sie dürfe hinunter, aber ohne Kiepe. Die könn-te sonst kaputt gehen. Da wollte Anna nicht wie die Mutter wollte, und sie maulte, wie die sagte. sie war gar nicht lieb. Die Mutter schimpfte schließlich laut und verkündete, dass nun der Vater im Himmel ganz traurig sei.

    Anna hatte sich geschämt, geweint und mit hängenden Armen da gestanden. Das sahen auch die Großen und meinten, dass sie nun wohl wieder lieb sein wolle. Da hatte sie nicht widersprochen.

    Manchmal würde Anna viel lieber ganz wütend mit den Füßen aufstampfen, ein spielzeug in der Gegend rumschmeißen, sich umdrehen und einfach schreien. Aber sie ist ja schon ein großes Mädchen. Das tut so was nicht. Hat sie »das Böckchen«, wird davon nur wieder der liebe Vater im Himmel ganz traurig. Dann muss sie sich schämen. Und wenn sie sich schämt, dann weint Anna.

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    Vorhin hat sie auch geweint. sie weiß jetzt schon gar nicht mehr so recht weshalb. sie muss oft weinen. »Heulsuse« sagen dann die großen Geschwister. Ob die früher auch geweint haben?

    Nun darf sie auf dem Balkon spielen, allein und oben. Nur der Kastanienbaum verbindet unten mit oben. Ob der Baum sieht, dass sie nicht lieb gewesen ist?

    Die Puppe und das stühlchen sind endlich auf dem Balkon abgestellt. Und Anna holt sich die Kiepe und eine große Decke. Da kann sie sich eine Höhle bauen. sie hat sich damit abgefunden, dass sie heute Nachmittag nicht nach unten darf, nicht mit der kleinen Kiepe auf dem Rücken. sie richtet sich schließlich auf dem Balkon zum spielen ein. sie läuft hin und her, immer durch das geheimnisvolle Zimmer hindurch und über den Teppich mit den Fransen. Und sie trägt alles, was sie braucht, auf den Balkon. Klötzchen und Glasperlen. Die Mutter ist zufrieden, als sie nach ihrer Goldmarie schaut.

    Die Kiepe steht abseits, zwischen stuhl-Decken-Höhle und Hauswand, klemmt und passt sich nicht ein. Anna versucht es erst im Guten. Dann wird sie zornig. sie schimpft laut, »Du böse Kiepe!« und zerrt an ihr. Aber die Kiepe gibt nicht nach. sie hat sich verhakt. »Du sollst hören, was ich dir sage.« Aber die Kiepe bleibt stumm. Da gibt ihr Anna einen stoß mit dem Fuß, und sie fällt um. Alle Glaskugeln springen heraus, die Klötzchen liegen auf dem steinboden herum. Die Kiepe bleibt noch immer stumm und störrisch. Da wird Anna ganz schrecklich wütend, holt einen stock und schlägt auf sie ein. »Wer nicht hören will, muss fühlen«. Anna ist allein. Niemand kann sie hören. Auch unten ist weit weg. Endlich kann sie laut und nach Herzenslust schimpfen und auf die Kiepe einschlagen, immer mehr, bis klei-ne spanfetzen herausbrechen, zu Boden fallen. Da möchte sie am liebsten aufhören. Die schöne Kiepe! Und sie hatte sich so gefreut. Anna weiß gar nicht mehr so recht, warum sie so wütend geworden ist. sie durfte doch schließlich auf dem Balkon spielen.

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    Aber da innen, ganz tief im Bauch, da ist es so seltsam heiß. sie kann nicht mehr aufhören. Je mehr die Kiepe zersplittert, desto mehr schlägt Anna darauf ein. Endlich zertritt sie mit den Füßen die übriggebliebenen Reste. so. Und so.

    Da liegen die Trümmer. Die schöne Kiepe! Anna hat aber keine Kiepe mehr. Da weint sie und läuft zur Mutter. Die kommt und hebt die Hände empor: »Ach du meine Güte! Was hast du denn da wieder angestellt, Goldmarie! Eine schöne Bescherung! Man kann dich doch keinen Augenblick allein lassen. Wieso hast du das getan?« Aber Anna schweigt. Die Kiepe hat auch geschwiegen.

    schade um die schöne Kiepe. Das kommt davon, wenn man so wütend ist. Anna bekommt Angst vor ihrem Gefühl, das sie vorhin tief und so heiß in sich gespürt hat. Am besten, es gar nicht mehr spüren. Nie wieder! sonst geht noch mehr kaputt. sonst hört der Vater im Himmel gar nicht auf, traurig zu sein.

    Als Anna die spansplitter im Abfalleimer verstaut, schweigt sie noch immer. Deckel darauf und zu. sie will nur noch lieb sein. Dann muss sie nicht mehr so viel weinen. Dann geht hoffentlich nichts mehr kaputt.

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    Zur Einsamkeit des behüteten Kindes

    Nein, ich spreche nicht von der Einsamkeit eines äußerlich und meist auch innerlich vernachlässigten Kindes. Ich meine die ganz alltägliche kindliche Einsamkeit, die fast alle von uns heute Erwachsenen erlebt haben, sofern wir das Glück und das Schicksal hatten, als geliebtes und teilweise sogar behütetes Kind aufzuwachsen.

    Einsamkeit – damit meine ich hier, auf einen Nenner gebracht: nicht im eigenen So-Sein gesehen und respektiert werden, sondern einem Bild des Erwachsenen oder einer Norm entsprechen müs-sen.

    Einsamkeit, das heißt: nicht die eigenen Bedürfnisse, Impulse und Ge fühle wahr sein lassen dürfen, sie nicht leben können. Dem eigenen wachsenden Autonomiestreben nicht Gestalt geben können.

    Wohlgemerkt, ich meine damit nicht, dass ein Kind »tun und lassen kann, was es möchte« – auch das wäre eine Form des Allein-gelassenseins, der Einsamkeit.

    Wenn einem Kind alle Schwierigkeiten und Aus einan der setzungen abgenommen werden, wenn es »behütet« wird, dann kann es nicht die eigenen Impulse und Gefühle auch in ihrer destruktiven Kraft kennen lernen. Es bleibt angewiesen auf den Schutz der Bezugspersonen. Oft ist ein solcher Mensch bis ins Alter hinein angewiesen auf die immerwährende Zuwendung anderer, auf den Schutz und die Weisungen von Autoritäten – sei es in der Gestalt von Vorgesetzten, Lehrern, »Meistern« bzw. (verinnerlichten) Glau-benssätzen. Oder scheinbar banal ausgedrückt: von den Spielregeln einer Spaß- und Freizeitgesellschaft.

    Das eigene So –Sein nicht leben dürfen, führt letztlich dazu, die Gefühle unter Verschluss halten zu müssen – »Deckel darauf und zu«, es bedeutet, sich selber zu verschließen. Nicht mehr aus –sich –heraus –gehen können. Das, was eigentlich das Wort Aggression (an etwas herangehen) bedeutet, nicht leben können.

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    Die Mutter leidet unter dem frühen Tod ihres Mannes. Sie hält selber ihre Gefühle dem Kind gegenüber verborgen und unter Verschluss. So gibt sie, ohne es bewusst zu wollen, ihrem Kind ein »Vorbild«, wie mit den eigenen Gefühlen – besonders mit dem Traurigsein – umzugehen ist. Anna hatte aus der Perspektive ihrer kindlichen Psyche heraus viele Anlässe und guten Grund, wütend zu sein. Aber damit übertrat sie die Familien- und letztlich auch gesellschaftlichen Normen. Anna hatte guten Grund, traurig zu sein – erlebte aber nur, als »Heulsuse« diffamiert zu werden. Oder, was noch schlimmer war, sie hörte den Satz »du brauchst doch nicht traurig zu sein« – einer der noch heute beliebtesten »Gefühlskiller«, nicht nur Kindern gegenüber!

    Anna soll dem Bild von »Vaters Tochter« entsprechen. Ihr bleibt nur die Rolle des »lieben Kindes« übrig. Damit ist sie in ihrer Einsamkeit festgezurrt. Sicherlich, das alles läuft in der Regel »subkutan« und im Schutze des Unbewussten ab. Eben deshalb ist es auch so prägend und bis weit ins hohe Erwachsenenalter hinein wirksam.

    Anna soll es besser haben als sie, die Mutter, es einst erlebt hat. Im Grunde »braucht« die Mutter ihre Jüngste, um an das eigene, mehr oder minder vergessene, gerade auch das schmerzliche Kind-heitserleben wieder heran zu kommen. Aber eine solche Ein-Sicht in die erwachsene Psyche ist der Mutter wohl kaum möglich, sie überträte damit das Tabu ihrer eigenen, einsamen Kindheit!

    Der Satz: »Mein Kind soll es besser haben als ich«, sollte geändert werden in: »Mein Kind soll es seinen Bedürfnissen entsprechend so gut wie möglich haben!«

    Im Grunde haben wir alle, die wir heute erwachsen sind, diese kindliche Einsamkeit erlebt, erlitten, erfahren – und können bestenfalls im Laufe der mancherlei Lebens-Herausforderungen ein Stück weit nachreifen: indem wir uns nochmals mit diesen frü hen schmerzlichen Gefühlen konfrontieren oder auf sie durch schicksalhafte Erfahrungen gestoßen werden. Und indem wir ver-suchen, diesen damals vernachlässigten, negierten, unterdrückten

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    Gefühlen ihre uns heute angemessene Gestalt zu geben – besonders den großen Gefühlen wie Zorn und Wut sowie Schmerz und Trauer, indem wir uns diese innere Arbeit »zumuten«, kann die kindliche Einsamkeit in uns dahinschmelzen, oder zumindest einen bewussten, akzeptierten Platz in unserer Person finden.

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    Gespräch mit Anna Barbara

    Eine Frau Ende Dreißig. Die Kindheit liegt lange zurück. In-zwis chen ist sie geschieden, hat zwei halbwüchsige Kinder, noch zu Hause, die sich mit Vehemenz abnabeln. Und sie geht seit Jahren ihren eigenen Weg, zu sich selber. Dazu gehört für sie, den eigenen Prägungen und mancherlei »Gewohnheiten« auf die spur zu kommen. sie ist eine durchaus ihres selbst bewusst gewordene Frau, voller Aktivität, sensibilität und mancherlei Interessen. sie tanzt gern, meditativ und überhaupt, bildet ihre stimme aus, macht Fortbildungen, um bald ihren Bürojob hinter sich lassen zu können zugunsten einer pädagogischen Tätigkeit.

    Doch auf ihre Kindheit angesprochen, kann sie zwar man-cherlei Erinnerungen erzählen, aber ihre Empfindungen damals benennen – das fällt ihr noch heute schwer. Es kommt mir vor, als lägen diese Gefühle in einem großen schwarzen Loch begraben. Aber auch, was nicht näher beschrieben werden kann, schmerzt noch heute.

    Hier einige ihrer Äußerungen:»Ich war das ersehnte Mädchen nach dem ersten Kind« (einem

    Jungen), »aber ich war trotzdem ein Nichts. Ich habe mir nichts zugetraut. Als Mädchen« (sie hatte drei Brüder) »sollte ich brav, lieb und schüchtern sein. Laut werden und ›Widerworte ge ben‹, das war ganz schlimm. Alles Wilde und spontane ist mir früh ausgetrieben worden, meist einfach dadurch, dass ich ausgeschimpft wurde, aber noch mehr durch wortlose, strafende Blicke meiner Mutter und durch ihre ironischen, abwertenden Anmerkungen zu meinem Verhalten.

    An Ängste kann ich mich nicht besinnen. Ich habe nie etwas von meinen kindlichen Kümmernissen erzählt. Aber ich hatte viele schuldgefühle. Ich hatte eine Ersatzoma, die früh gestorben

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    war. Wenn ich nicht lieb war, hieß es: Die Oma sieht es vom Him-mel aus, wie böse du bist. Das war mir sehr peinlich. Und ich habe mich geschämt. Kritik äußern, das durfte ich nicht, selbst seufzen war nicht erlaubt. schließlich habe ich die Luft angehalten – hab’ falsch geatmet und litt später an einer Atemstörung.

    Ich durfte nicht sein, wie ich war, ich war eigentlich gar nicht ›da‹, habe mich ganz in die Bücher, in meine Phantasie und ins Träumen zurückgezogen. Im Gymnasium hatte ich ausgesprochene Denk blockaden. Ich besinne mich an die entsetzliche situation, als mir keine Antwort auf die Frage des Lehrers einfiel: »Wie lange dauerte der Dreißigjährige Krieg?« und alle in der Klasse sich vor Lachen bogen.

    In der schule hab ich mich immer für die schwächeren ein-gesetzt – das war wohl meine Form des Widerstandes.

    Einsamsein, das ist: nicht verstanden werden, nicht so akzeptiert werden, wie man ist, und das Empfinden zu haben, einfach anders als die anderen zu sein – trotzdem oder gerade deshalb etwas Besonderes sein und mehr als die anderen leisten zu müssen.«

  • 23

    Bernd

    Die letzte schulstunde ist zu Ende. Die Klassenkameraden stehen noch vor dem schulhof, zögern wie üblich den Heimweg ein we nig hinaus, rauchen eine Zigarette, lassen Dampf ab über die Lehrer und den Unterricht, schäkern mit den Mädchen ein bisschen herum, blasen sich auf, fühlen sich stark – endlich! Bernd geht an ihnen vorbei mit einem flüchtigen »Tschüs, bis morgen«, hievt sein Fahrrad aus dem ständer, hört im Aufschwung in den sattel gerade noch: »streber!« Das Wort hat er schon so oft gehört, und den verächtlichen Tonfall dabei, auch heute, dass er es gleich wieder vergisst.

    Zuhause macht er sich das vorbereitete Essen warm, wie immer mittags allein, ein Buch neben dem Teller. Die Mutter kommt erst abends aus ihrer Behörde, der Vater ist mal wieder auf Dienstreise. Früher hat Bernd sich Geschwister gewünscht. Inzwischen wüsste er gar nicht, was er mit ihnen anfangen sollte. Bernd, geübt, sich selber genug zu sein, früh geübt, macht sich an die schulaufgaben. Das ist notwendig und wird deshalb sofort erledigt. Dann hat er frei und kann sich in seine Lektüre vertiefen. Heute bleibt er im Wohnzimmer, macht es sich im Fernsehsessel bequem. Aber das TV bleibt stumm, den ganzen Nachmittag über. Bernd hat Antoine de saint-Exupéry entdeckt. Den »Kleinen Prinzen«, ein Weihnachtsgeschenk, hat er längst ausgelesen, auch wenn er immer noch nicht verstanden hat, was es wohl heißen mag: mit dem Herzen sehen. Beim Antiquar hat er ein Büchlein gefunden: »Man sieht nur mit dem Herzen gut«, Auszüge aus Exupérys Werken. Vielleicht versteht er mehr, wenn er das liest.

    Als er endlich eine Pause macht, Lesepause, Denkpause, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, fällt ihm der Großvater ein. »Ich könnte eigentlich Alois mal wieder anrufen«. Der wollte sowieso längst wissen, was denn der Lehrer zu seinem letzten

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    Aufsatz gesagt habe. Besorgt gefragt. Großvater hatte seinen Eifer mitbekommen, dieses Mal – sonst rotzte Bernd die Themen nur so hin, wenn sie ihn nicht interessierten. Was Alois wohl zu Antoine de sagen würde?

    Großvater hört zu, antwortet, gibt sätze von sich, über die Bernd lange nachdenken muss. Mit ihm kann er reden. Und schweigen. Und wandern. Und schach spielen. Heute ist Bernd nach Reden zumute.

    An einem satz von saint-Exupéry ist Bernd hängen geblieben: »Ich habe nie verstanden, weshalb man den Zwang von der Frei-heit unterscheidet. ... Was aber nennst du Freiheit, wenn es keine straßen gibt, zwischen denen du wählen kannst? Nennst du Frei-heit das Recht, im Leeren umherzuirren?«2 Ja, manchmal hat er das Em pfinden, im Leeren umherzuirren. Bernd 15 Jahre alt, Gym-nasiast und ausgestattet mit der Freiheit, auf sich selbst ge stellt sein zu müssen. Da hilft dann auch kein Buch. Aber Bernd hat ge-l ernt abzuwarten. Bei einem der nächsten Philosophier-Abende, die Va ter mit wenigen, ausgesuchten Freunden verbringt, alle vierzehn Tage hier unten im Wohnzimmer, da kann es geschehen, dass er Antwort auf eine fast schon vergessene Frage bekommt. Zufällig. sie fällt ihm zu. seit seinem 14. Geburtstag ist er bei diesen Treffen dabei. Und er wurde wie selbstverständlich mit hineingenommen in die Gespräche über »Gott und die Welt« und die alten Philosophen – von Plato bis Martin Buber beim letzten Treffen. Er hört aufmerksam und begierig zu, aber erschrickt, wenn er plötzlich angesprochen wird: »Und was meinst du dazu, junger Mann?« Er spürt die Achtung in der Frage, kann sich Zeit lassen mit seinen Worten, kann im Reden denken.

    In der schule muss er höllisch aufpassen, die Antwort zu finden, die vermutlich Dr. schäfer erwartet. Das bringt ihn manchmal in Verzug oder er bleibt mitten im satz stecken. Dann lacht die Klasse,

    2 Antoine de saint-Exupéry »Man sieht nur mit dem Herzen gut – Texte zum Nachdenken«, 1984, Herder, Freiburg, s.55

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    trommelt mit den Knöcheln auf ihr Pult – »Unserem Professor fällt nichts mehr ein!« Dann verstummen seine Gedanken und er setzt sich.

    Nur Marlene springt ihm manchmal bei. »Ich könnte mir denken, dass Bernd sagen wollte ...«, und dann sagt sie das, was er sagen wollte. Als er sich einmal mit ihr in der Pause verabreden wollte, waren sofort ein paar sticheler zur stelle: »Ist die jetzt deine neue Flamme?« Da ließ er es bleiben, sie zu fragen, ob sie nicht mal zusammen Kaffeetrinken gehen könnten. Er möchte nicht irgendwann gefragt werden: »Na, pennt ihr miteinander?« Eine richtige Freundin, das wäre zwar schön, aber – nein, er will sich Zeit lassen können, möchte erst herausfinden, wozu er eigentlich auf der Welt ist.

    Erst kürzlich hat ihn Dr. schäfer beim Zurückgeben des letzten Deutsch-Hausaufsatzes süffisant gefragt: »An welcher stelle im Bücherregal Ihrer Eltern haben sie, Exzellenz, das Buch gefunden, aus dem sie abgeschrieben haben?« Bernd hat nur ein kurzes »Nirgends« geantwortet. Es ist doch sinnlos, dem Lehrer zu er-klären, was er gerade liest, womit er sich beschäftigt, worüber er mit Großvater spricht und im Philosophier-Kreis debattiert. Auch als ihn Dr. schäfer im Laufe des Vormittag mehrmals aufgerufen hat und um seine Meinung gefragt, hat Bernd ihn nur durchdringend angeblickt und hinter dessen vagem Lächeln die skepsis zu spüren vermeint. Hoffnungslos vergeudete Energie, dem Lehrer mit mehr als zwei schulbuchgemäßen sätzen zu ant-worten.

    Bei Großvater ist das anders. Auch der kann ihn fragend an-blicken, wenn Bernd mal wieder einen seiner zweifelnden Ge-danken äußert. »Was du auch immer nur denkst!« pflegt die Mutter zu sagen – aber in Großvaters Blick spürt er die Aufmerksamkeit, vorbehaltlos.

    Die Mutter ist erschöpft, wenn sie nach Hause kommt. Und am Wochenende steht Haushalt total an. Da geht er ihr lieber aus

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    dem Weg. Und sie hat es aufgegeben, ihn zu fragen: »Wie war es in der schule? Hat Doktor schäfer mal wieder ...?« Oder ihn anzuregen: »Willst du nicht vielleicht mal ...?« Nein, meistens will er nicht, was sie meint, er solle es wollen! Wie vor Jahren, als sie ihn bedrängte, ob er nicht doch endlich ein Instrument lernen wolle. sie scheiterte damals an seinem wortlosen Widerstand und war enttäuscht, umso mehr, da sie sich als Kind brennend gewünscht hatte, Geige spielen lernen zu dürfen.

    Und der Junge ist doch so musikalisch! Das sagen alle! stun-den lang kann er in seinem Zimmer allein Musik hören, an-fangs Mozart, später Brahms und Dvorak. Die Musik seiner Al-tersgenossen interessiert ihn nicht. Gestern erst hat die Mutter ihn gefragt: »Was war das denn? Kenne ich gar nicht.« »Nö, ist ja auch Penderecki«. sie wird aus ihrem sohn, seit er größer wird, nicht mehr schlau.

    Der Vater? Der scheint stolz auf seinen sohn zu sein. Aber Bernd wünscht sich eigentlich etwas anderes, etwas, was ihn selber meint. Ja, Respekt – nein, lieber Achtung. Das ist das Wort, das ihm bisher nicht einfallen wollte. Achtung. Beachtet werden. Gesehen werden. Und er wünscht sich, Vater möge ihn so anblicken wie Großvater Alois.

    Als Bernd sich am Telefon mit ihm verabredet hat, für sonntag, zum schachspielen – »Und dann schauen wir mal«, ist es Zeit, das Abendessen vorzubereiten. Mit geübten Handgriffen hat er schon den Tisch in der Küche gedeckt, eine suppe aus der Gefriertruhe warm gemacht, als die Mutter kommt. Müde um die Augen, wie immer. «Und wie war’s heute?« fragt sie beim Essen. Aber Bernd spürt in ihrer Frage die innere Abwesenheit und antwortet mürrisch: »Och, nix Besonderes. Alles okay.« Dann schiebt er noch hinterher: »Und sonntag treffe ich mich mit Großvater.«

    Bernd geht hinauf in sein Zimmer, schließt die Tür hinter sich, stellt den CD-Player an, löscht das Deckenlicht, wirft sich aufs Bett, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und überlässt sich

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    den Tönen von Brahms Vierter symphonie. seine Gedanken ver-stummen. In ihm wird es ganz still. Auch das Wort »streber« vom Vormittag kann nun endlich absinken. Er kennt es und kann sich doch nicht daran gewöhnen. Nein, es ist nicht das Wort. Ja, er strebt – wohin, weiß er selber noch nicht. Aber er möchte heraus aus den ständigen Wiederholungen, es ist doch immer das Gleiche! Besonders das Geplänkel in den Pausengesprächen. Die anderen meinen, er höre gar nicht zu. Aber das stimmt doch gar nicht! Er hört viel mehr als nur ihre Worte, hört, dass sie ihn nicht mögen. Mit Marlene wäre es vielleicht anders. Aber wie sich ihr nähern ohne gleich spott und Häme zu ernten? Er weiß es nicht.

    Ja, er weiß viel, den schulstoff bewältigt er mit links – aber doch nur, um Zeit zu gewinnen für das, was ihn wirklich interessiert. Wer war dieser Antoine de mit dem seltsamen Namen? Und wer war Martin Buber? Was bedeutet das eigentlich: Jude sein? Und woher nahm der seine Gedanken, seine ungewöhnlichen Wortwendungen? »Todschattenschlucht«3. Fas zi nierend! Aber Bernd will mehr, will verstehen. Manchmal fühlt sich Bernd wie in einem schattenlosen, baumlosen Tal in der Wüste. Im süden Is raels. Dort kann einer verdursten. Oder in einer Felsspalte stecken bleiben. Und ihn würde sowieso niemand vermissen! Niemand!

    Bernd räkelt sich vom Bett hoch. Verdammt! Heute ist alles grau und grässlich. so muss es wohl in der Todschattenschlucht sein.

    Bernd stellt den Player ab, die Musik ist längst zu Ende, nimmt sich noch mals sein Buch vor, liest, bis ihm die Augen zufallen. Zieht sich aus, stellt den Wecker für morgen früh, legt seine sachen für die schule sorgfältig zurecht, löscht auch die kleine Lampe. Die Mutter ist sicherlich längst schlafen ge gan gen. Er hat

    3 Martin Buber, »Das Buch der Preisungen«, Psalm 23, Hegner, Olten&Köln, s, 38

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    ihr rechtzeitig abgewöhnt, ihn noch spät am Abend mit »Gute-Nacht-sagen« zu nerven.

    Monate sind vergangen. Auch manches geplante schachspiel und un ge plante Gespräch mit dem Großvater. Der sommer ist in seiner Pracht voll ausgebrochen. Die Ferien stehen bevor. Aber jetzt kommt erst einmal die Klassenfahrt – in die Tiroler Alpen! Bernd freut sich. Er liebt das Hochgebirge. In den letzten Jahren hat der Groß vater ihn in den sommerferien auf seine großen Touren mitgenommen.

    Bernd bleibt wie immer beobachtend und abseits von den an-deren. Er hat sich mehrere Bücher eingepackt und vertieft sich in seine Lektüre, abends, wenn die anderen herumalbern oder ihre mitgebrachten CDs hören. Er kann hervorragend abschalten. Heute aber macht er früher schluss. Morgen früh soll es auf eine lange Wanderung gehen.

    Nach fünf stunden Aufstieg, schweißtreibend, auch die lauten Mäuler sind ganz still geworden, und einer Pause auf der Almhütte, be ginnt der Rückweg. Bernd bleibt am Ende der Gruppe. Auf diese Weise kann er die Landschaft ungehindert auf sich wirken lassen. Mehrmals mahnt ihn der Lehrer: »Nun mach schon!«. »Jaja, ich komme ja schon«.

    Der Weg wird schmal. Links steigt steil der Felsen hoch, rechts geht der Weg fast nahtlos über in einen steilen Abhang, zunächst noch Grasnarbe, weiter unten ist nur Geröll zu sehen. Bernd hat sich der Gruppe angenähert und geht mit festem, sicherem Tritt, schritt für schritt, unter den Letzten.

    Ein stoß von hinten, Bernd stolpert, gleitet nach rechts, ver-sucht sich zu halten, rutscht aber den Hang hinab, lässt sich auf den Rücken fallen und krallt sich beim Abwärtsgleiten mit beiden Händen rechts und links in den Boden ein. Aber der bietet ihm keinen Halt. Er rutscht auf die Geröllhalde zu. Kurz davor kann er gerade noch mit gespreizten Armen und Beinen den sturz in den Abgrund aufhalten. Er atmet schwer. Und besinnt sich,

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    was Großvater ihm früher einmal geraten hat, dreht sich ganz vorsichtig, fast bewegungslos auf die seite, kommt auf die Füße, hievt sich auf allen Vieren im Zeitlupentempo den Hang hinauf. Er meint nur noch wenige Meter vom Weg entfernt zu sein, stemmt den Oberkörper ein wenig hoch und sieht fünf seiner Kameraden oben stehen.

    sie blicken gespannt zu ihm hin. Keiner sagt ein Wort. sie schauen ihm aufmerksam zu. Er kann nichts in ihren Blicken erkennen. Keine Anteilnahme oder gar den Versuch zu helfen. Da verlässt ihn die letzte Kraft. Er lässt sich wieder sinken, bleibt auf der Grasnarbe liegen.

    »Na, du Klugscheißer, komm schon! Das letzte stück wirst du doch wohl schaffen, du kannst doch sonst alles!« Bernd hebt nicht einmal den Kopf. Er ist am Ende.

    Da, eine andere stimme, heller als die eben gehörte. »Mensch, siehst du nicht, dass er nicht mehr kann!« Ein Geraschel, als ob jemand seinen Rucksack ausstülpt und nach wenigen Minuten – Bernd erscheinen sie eine Ewigkeit lang, er hat jedes Zeitgefühl verloren – tänzelt das Ende eines schmalen seils vor ihm und berührt seine stirn. »Halt dich fest, ich zieh dich herauf!« Wieder die helle stimme.

    Zitternd vor schwäche greift er zu, mit einer Hand, mit der anderen versucht er die Unebenheiten des Grasnarbenbodens zu fassen, um sich abzustützen. »Halt durch, gleich hast du es geschafft.« schließlich liegt er auf dem Weg, bäuchlings, schwer atmend. Der ihn hochgezogen hat, Jonathan, der Jüngste in der Klasse, kniet sich neben ihn und hilft ihm auf, stützt ihn bei den ersten schritten. Da, wieder die tiefe, kalte stimme. Frank, der Klassensprecher. »Du hältst das Maul und erzählst nichts, sonst kannst du morgen was erleben!«

    Endlich sind sie bei den anderen. Der Lehrer ist ihnen das letzte Wegstück schon entgegen gekommen: »Wo bleibt ihr denn?« – sieht Bernd – »wie siehst du denn aus?« »Och, ich bin nur ein

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    bisschen hingefallen!« »Was ist denn passiert?« Aber Bernd schweigt.

    An diesem Abend kann er sich nicht in sein Buch vertiefen, liegt nur auf dem Bett, mit geschlossenen Augen. Jonathan hat ihm geholfen, die schürfwunden an den Armen zu waschen und notdürftig einzucremen. Er fällt in den schlaf der Erschöpfung, kann sich am nächsten Morgen auch nicht an seine Träume be-sinnen, in denen er endlos den Hang hinuntergleitet, wieder und wieder. Und am Ende springt immer ein steinchen hoch, grinst hämisch und kullert dann selber den Berg hinunter. »Na, du hast aber heute Nacht ganz schön krakeelt!« sagen die anderen am nächsten Morgen.

    In den noch verbleibenden Tagen zieht sich Bernd völlig zurück, nimmt zwar an den Mahlzeiten teil, verharrt aber, über seinen Teller gebeugt im schweigen. Die Lehrer sind das gewöhnt und fragen nicht weiter nach. Nur Jonathan kommt wie zufällig immer mal in seine Nähe, hält ihm mal einen Apfel hin, ein andermal eine Flasche Cola – Marlene blickt ihn jetzt öfters an, besorgt, fragend, das kann er wahrnehmen, aber er spricht kein Wort mit ihr. Die Clique um Frank blendet er aus.

    Vor der letzten Wanderung schützt er starke Kopfschmerzen vor und bittet, in der Jugendherberge bleiben zu dürfen.

    Am Rückreisetag abends wieder zu Hause, geht er sofort in sein Zimmer, wirft sich aufs Bett, packt nichts aus, nein, er habe keinen Hunger. »später Mutter, jetzt muss ich schlafen.«

    Die Mutter findet auch in den kommenden Tagen keinen Zugang zu ihrem sohn. sie bittet ihren Mann, doch mal nachzufragen, aber auch ihm gegenüber belässt es Bernd bei wenigen wortkargen Äußerungen, erzählt nichts, auch nicht begeistert von den Wan-derungen – wie sonst nach Aufenthalten im Gebirge. Die Eltern sind beunruhigt, sie werden nachdenklich. Aber hoffen noch auf den Großvater, jetzt in den Ferien, vielleicht ....

    Als die beiden nach einer Woche Ostsee zurückkommen, Bernd

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    woll te diesmal seltsamerweise nicht ins Gebirge, da erscheint es den Eltern, als ob ihr sohn jünger geworden wäre. Er hat einen offeneren Blick.

    Noch am gleichen Tag verabredet sich Bernd mit Jonathan zum Fuß ball spielen – nicht mit Großvater Alois zum schach wie so häufig. Als er gegangen ist, lässt sich Alois in die sofaecke fallen und fordert sohn und schwiegertochter auf, sich zu ihm zu setzen. »Bernd hat mir erzählt, was ihn verstört hat – was ihm überhaupt in der schule so zu schaffen macht. Ich habe ihm versprochen, stillschweigen darüber zu bewahren, und mein Ver sprechen halte ich. Das bin ich Bernd schuldig. Aber es gibt nur eine Lösung, wenn es dem Jungen in Zukunft besser gehen und er aus seiner Isolation herausfinden soll: meldet ihn auf einer anderen schule an. Ich habe mich schon erkundigt, die Freie schule würde ihn nehmen. Der Weg ist nicht sehr weit von euch, er kann mit dem Rad hinfahren. Er möchte es selber. Ich habe das alles mit ihm besprochen.«

    Die Mutter blickt erstaunt, verlegen, weiß nicht, was sie denken und sagen soll, der Vater braust zunächst auf. »Ach, das sind alles nur pubertäre Mätzchen. Er muss doch …«. Der Großvater unterbricht, so harsch hat der Vater ihn selten erlebt. »Du irrst dich, mein Lieber! Wenn dir dein Kind lieb ist, tue, was ich vor-schlage, frag Bernd aber nicht weiter aus.«

    Bernd kommt spät, müde, verschwitzt, anscheinend zufrieden nach Hause, stürzt auf das bereit gestellte Abendbrot, zieht sich nicht wie sonst gleich in sein Zimmer zurück, sondern bleibt in der Familienrunde im Wohnzimmer hocken, verabschiedet sich endlich, gibt den Eltern sogar einen flüchtigen Kuss, dem Großvater haut er kräftig auf die schulter. »Halt dich gut, Alter!« – und geht.

    An diesem Abend lässt Bernd seine Tür einen spalt offen, ehe er sich ins Bett legt und die Lampe löscht.

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    Hinter der Schutzmauer

    Ein Briefwechselmit Birgit, 19 Jahre, Gymnasiastin. Vor wenigen Jahren zog die Familie aus ihrer Heimatstadt fort, in eine Großstadt – damit war automatisch ein schulwechsel verbunden.

    Liebe Benita,Mama hat mir erzählt, dass du ein Buch über Einsamkeit schreibst und gerne meine Meinung zu diesem Thema hättest.

    In gewisser Weise bin ich ein einsamer Mensch. Ich habe we-nige Freunde und habe Probleme, Jugendliche in meinem Alter zu verstehen. seit ich als sechszehnjährige in der Realschule auf übelste Weise gehänselt und runtergemacht wurde, baue ich eine schutzmauer um mich herum auf. Eine schutzmauer bedeutet einerseits, dass es nicht so einfach ist, einem weh zu tun, andererseits aber auch Einsamkeit, weil man sich abkapselt. Mir fällt es schwer, anderen Vertrauen entgegen zu bringen und nicht, wie bei mir eigentlich meistens, Misstrauen. Es ist mir oft gar nicht bewusst, aber es gibt eine klare Trennlinie, und die kann und darf niemand übertreten. Diese Trennlinie existiert nicht gegenüber meiner Familie, die mich so akzeptiert und gar nicht erst versucht, mich zu verändern. Tieren gegenüber gibt es bei mir auch keine Hemmungen. sie können mich nicht so verraten, wie Menschen es können.

    seltsamerweise habe ich noch Kontakt zu der Person, die mit an der Fertigmach-Nummer in meiner schule beteiligt war. Wir waren sogar einige Zeit gut befreundet. Leider ist der Kontakt im Moment eingeschlafen. Nur mit der Hauptperson oder Draht-zieherin habe ich keinen Kontakt mehr und will ihn auch nie. sie hat noch nicht einmal ihren Realschulabschluss geschafft und hat

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    jetzt schon ein Kind. Im Gegensatz zu ihr habe ich Perspektiven und eine Zukunft. sie kann einem leid tun.

    Hass empfinde ich gegenüber niemandem mehr. Damals war ich das Opfer, aber wäre nicht ich das gewesen, sondern je mand anderes – hätte ich gehandelt? Ich kann mir diese Frage selbst nicht beantworten. Ich weiß nur, dass Einsamkeit immer oder in den meisten Fällen selbst gewählt ist und man nur mit Akzeptanz etwas gegen sie ausrichten kann. Man muss sich selbst so akzeptieren und vielleicht irgendwann langsam anfangen, die sen schutzwall stein für stein abzubauen. Ich möchte diesen schutzwall ein wenig verkleinern und Raum für andere Dinge lassen. Ganz traue ich mich noch nicht, ihn abzulegen, denn schutz und sicherheit bietet mir diese Mauer.

    Ich hoffe, meine Erfahrungen helfen dir vielleicht bei deinem Buch, und ich konnte dir ein bisschen weiterhelfen.

    Alles Liebe und viel Erfolg und viele liebe Grüße Birgit

    Liebe Birgit, nun endlich eine Antwort auf deinen Brief! Ich habe mich sehr darüber gefreut und hatte gar nicht damit gerechnet! Also ich finde, du bist absolut kompetent, zu dem Thema etwas zu sagen! Ich empfinde deine Äußerungen als sehr ehrlich und au then tisch – und ich würde sie am liebsten noch vertiefen!

    Mich hat berührt, was du von der notwendigen schutzmauer um dich herum schreibst, und auch, dass du hoffst (und es dir auch offenbar wünschst), dass diese im Laufe der Zeit dünner wird. Ich wünsche Dir ganz doll die eine oder den anderen guten Freund/ Freundin, die dir »zuwachsen« – und du zu ihnen hin.

    Berührt hat mich auch, dass du dich in deiner Familie akzeptiert fühlst.

    Darf ich dir noch ein paar Fragen stellen? Nun, du kannst da-rauf antworten, was mich freuen würde, aber wenn es dir lästig oder zu persönlich ist, lass es einfach. …

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    so, schluss für heute! Lass dich ganz herzlich grüßen von Benita

    Liebe Benita,vielen Dank für Deinen Brief. Deine Fragen beantworte ich sehr gerne. Ich fange am besten der Reihe nach an.

    Wie fühlst du dich hinter deiner Schutzmauer? Wie kannst du die anderen und die »Welt« von dort aus, im Schutze der Mauer, wahrnehmen?

    Einerseits fühle ich mich dahinter recht wohl. Mir kann dort im Grunde niemand etwas antun. Andererseits vermisse ich manches, z.B. mit anderen zusammen befreit lachen können – Vertrauen empfinden – menschliche Nähe.

    Die »Welt draußen« nehme ich sehr distanziert wahr. sie be-trifft mich größtenteils nicht. Ich bin nicht übermäßig engagiert in der schule. Im Grunde genommen ist sie mir egal. Tratsch und Klatsch interessieren mich nicht, und mein Privatleben geht sowieso niemanden dort etwas an. Ich habe meine eigene Welt im Kopf. Oft weiß ich das Datum des Tages nicht, oder wann die nächste Klausur ansteht, usw.

    selten erreicht mich etwas hinter meiner Mauer. Was mich erreicht, ist Leid, das Lebewesen zugefügt wird, die sich nicht wehren können; egal, ob Mensch oder Tier. Das regt mich auf. Aber auch Politiker, die ihre Macht missbrauchen oder im Moment gerade Herr xxx, der wegen des Wahlkampfes alles über einen Kamm schert.

    Grob unterteile ich meine Welt in drei Teile:Meine »Kopfwelt«, die »schulwelt« und die Politik in der Ge-

    sellschaft.

    Was hätte mehr Raum, wenn du die Mauer Stein für Steinchen abbauen könntest?

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    … mehr Freunde, mehr selbstbewusstsein – »ich bin genau richtig – seht mal alle her!« – Offenheit gegenüber anderen und nicht immer gleich das schlechteste denken.

    Hat das eine Zeit gebraucht, ehe du nach dieser »Attacke« damals keinen Hass oder Groll oder ... empfunden hast? Und was hat dir dabei geholfen, den zu überwinden?

    Das ist eine sehr schwierige Frage! Damals habe ich zwar ge dacht, dass ich keinen Hass und Groll empfinde, aber im Nachhinein bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich wollte mit niemand mehr etwas zu tun haben. Ich war lieber alleine. Aber Hass habe ich, glaube ich, nicht gespürt. Ich war nur sehr, sehr enttäuscht von der Welt und den Menschen. sie waren alle so oberflächlich und mussten »cool« sein. Ich mochte die Menschen insgesamt (außer meiner Familie) nicht mehr. Gegen die »Hauptdrahtzieherin« spürte ich einerseits Abneigung, Verachtung, andererseits aber auch eine Art Neugier. Ich wollte wissen Warum.

    Die Abneigung gegen meine Mitschüler habe ich durch das »Miteinan der klar kommenmüssen« überwunden. Natürlich war den Lehrern aufgefallen, dass ich immer alleine herumstand und gelesen habe. Es kamen immer häufiger Fragen zu meinem Verhalten usw. und ich wollte diesen lästigen Fragen aus dem Wege gehen. Ich stand also zum schein wieder mit den anderen zusammen.

    Langsam merkte ich, dass ich ja alle anderen »gleichgeschaltet« hatte. Die »anderen« sind unterschiedliche Persönlichkeiten, genauso wie ich auch eine bin. Geöffnet habe ich mich aber nicht. Doch genauso wie ich akzeptiert werden wollte, musste ich zwangsläufig meine Mitschüler auch akzeptieren.

    Allerdings bleibt zu sagen, dass ich manchmal Mädchen be-gegne, die der »Drahtzieherin« ähnlich sehen, und gegen die

  • 36

    empfinde ich sofort eine Abneigung. Die Augen der »Draht-zieherin« sind mir besonders im Gedächtnis geblieben.

    Was mir auch bei der »Überwindung« geholfen hat,? Wie gesagt, so ganz genau kann ich dir leider diese Frage nicht beantworten. Wenn du mich vor ein paar Jahren gefragt hättest, hättest du sicherlich andere Antworten bekommen.

    Wie sah konkret die Hänselei aus? Warum?

    so genau erinnere ich mich leider nicht mehr. Aber an was ich mich noch erinnere ist z.B. »Uschi = Muschi« (mein zweiter Na-me war Ursel) oder Bemerkungen über meine schamhaare und ähnliches. Es war ziemlich unter der Gürtelebene!

    Das war aber nur eine seite. Hänselei äußert sich nicht nur über Beleidigungen, sondern auch über demonstratives Ausschließen. Immer die Letzte sein, die in eine Gruppe gewählt wurde oder überlegen müssen, wo man sich im schulbus hinsetzen kann, damit möglichst nicht auffällt, dass man links liegen gelassen wird.

    Die Frage nach dem »Warum« ist schwer zu beantworten. Ich glaube, da gab es verschiedene Gründe. Zum einen war ich eine sehr gute schülerin, hatte tolle Eltern (die nicht geschieden waren) und war ein leichtes Opfer. Leichtes Opfer heißt, dass ich schon immer ruhig war und keine besonders engen Freunde hatte. Vielleicht wollte man mich provozieren, andere Gefühle sehen; sehen, dass bei mir auch nicht alles so perfekt ist, wie es vielleicht auf Außenstehende gewirkt haben mag.

    Gab es einige in der Klasse, die nicht mitgemacht haben und die zu dir gehalten haben?

    Nein! Niemand!Unter »Mitmachen« verstehe ich auch schweigend zusehen,

    oder aus Angst, auch geärgert zu werden, seinen stuhl wegrücken. Es gab niemand, der etwas gesagt oder getan hat. Alle haben

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    die »Drahtzieherin« unterstützt. so wurde eine solche Hänselei überhaupt erst möglich.

    Liebe Birgit,ich danke dir sehr für deine ausführliche Antwort, und ich kann wiederum nur sagen: was du schreibst, hat mich berührt und nachdenklich gemacht.

    Einige Fragen kamen mir aber noch in den sinn. Darf ich sie dir nochmals stellen? …

    Liebe Benita,es tut mir leid, dass du auf eine Antwort solange warten musstest! Ich habe meine E-Mails nicht gecheckt, weil ich so sehr mit meinen Klausuren, die leider nicht alle gut gelaufen sind, und meinem Abitur beschäftigt war. Als aller erstes die Antworten auf deine letzten Fragen:

    Haben damals die Lehrerinnen nicht mitgekommen, was da zwischen euch in der Klasse ablief? Und als sie dann später fragten – hast du ihnen nichts erzählt. Weshalb?

    Nach einiger Zeit haben die Lehrer natürlich bemerkt, was in der Klasse abgelaufen ist. Ich weiß noch, dass meine damalige Klassenlehrerin mich darauf angesprochen hat und mir ihre Hilfe angeboten hat. sie hat auch mit meiner Mutter gesprochen und war sehr engagiert. Aber was vielen Menschen nicht bewusst ist, ist die Tatsache, dass einem in solcher situation (also wenn die gesamte Klasse mitmacht) niemand mehr helfen kann. Man kann dieser situation nicht entkommen; außer man entscheidet sich für einen schulwechsel. Das klingt jetzt sehr hart, aber es ist so. Wenn es einmal angefangen hat, ist das Hänseln wie ein selbstläufer.

    Die Frage nach dem »Warum ein selbstläufer?« lässt sich leider nicht so einfach beantworten. Ich glaube es hängt mit dem Gefühl

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    zu sammen, Macht zu haben. Man kompensiert durch so eine si-tuation sein selbstwertgefühl, seinen Frust usw. Man kontrolliert andere bzw. die Klasse.

    Das war ein Grund, warum ich nicht mit Lehrern darüber ge sprochen habe. Der andere Grund war mein stolz. Mir war bewusst, dass die situation mich fertig machte, aber ich wollte nicht, dass die anderen das je erfahren sollten. Es wäre für mich einer Niederlage gleichgekommen. Ich habe auf die Hänseleien mit scheinbarer Gefühlskälte reagiert; ich habe so getan als würde es mir nichts ausmachen. Wäre ich zu einer Lehrerin gegangen, hätte ich zugeben müssen, dass es mir etwas ausmacht.

    Was war an der »Drahtzieherin« so faszinierend, dass alle zu ihr hielten?

    sie war überhaupt keine »faszinierende Person«.Und was die anderen bewogen hat, mitzumachen, war die

    Angst, selber gehänselt zu werden.

    Wie ging es dir danach, damals?Ich war verzweifelt, enttäuscht und vereinsamt. Ich war gekränkt, in meiner Privatsphäre verletzt und sehr verunsichert. Nach der schule saß ich immer heulend in der Küche und danach in meinem Zimmer. Auch wenn sich das jetzt übertrieben anhört. Aber Worte können das gar nicht beschreiben.

    Ich bin verraten und verkauft worden, damit andere sich schüt-zen und ihr Image aufbessern konnten.

    Kannst du dich noch an deine ersten Empfindungen damals danach besinnen? Was hättest du am liebsten getan – oder nicht getan?

    Über so etwas habe ich gar nicht nachgedacht. Ich wollte nur weg!

    Viele liebe Grüße Birgit

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    Wie viele solcher »andersartigen« Jugendlichen mögen sich in un-seren »Schullandschaften« abmühen – die nicht so gesehen werden, wie sie wirklich sind und missverstanden von den Lehrern, von den Gleichaltrigen verspottet und verachtet, weil sie denen fremd bleiben. Und sie selber vermögen es ohne handfeste Hilfe nicht, sich allein aus dem Image heraus zu arbeiten, das ihnen nicht entspricht.

    Sätze wie: »Das ist nur die Pubertät«, »Das wächst sich aus«, »Sie/er muss sich nur mehr um die anderen bemühen«, sind hilflose Vertröstungen der Erwachsenen.

    Birgit hatte sich bemüht!Bernd und Birgit ist es gemeinsam, dass sie sich verschließen, auch

    sich nicht den (ratlosen) Nachfragen der Lehrer öffnen. Die Scham ist größer. Eine Scham, die tiefer sitzt und stärker ist als es jemals Schuldgefühle sein könnten.

    Scheinbar ein Widerspruch: Eigentlich müssten ja die »Täter« sich schämen. Stattdessen füllt Scham – in der Regel gar nicht als solche gefühlt und benannt – den inneren Raum der »Opfer« aus. Ein natürlicher Widerstand kann nicht stattfinden.

    Ich deute den Rückzug Bernds und sein Schweigen wie auch Bir-gits Verhalten nach der »Attacke« nicht als kalkulierte Vor sicht, um »Schlimmeres« zu verhüten, (wie es Bernd vom Klas sen sprecher angedroht wird), sondern ich sehe darin schlicht einen Aus druck der Scham. Beide werden an ihrem empfindlichsten Punkt getroffen und verletzt, nämlich an ihrem Bedürfnis, dazu gehören zu wollen.

    Jugendliche in diesem Alter befinden sich in einer Phase der (Neu-)Orien tierung. Sie suchen den Kontakt zu den Gleichaltrigen mehr als zu den Erwachsenen. Ihr Selbst–Bewusstsein möchte sich erst entwickeln, ihr Mut zum Anders-Sein ist noch gering.

    Die Gleichaltrigen in solchen Beziehungen als »Schuldige« zu stig-matisieren, führt nicht weiter. Sie sind selber noch Ich- schwache Per sönlichkeiten, fühlen sich angewiesen auf die Duldung der »Star-ken«, der »Drahtzieher«. Wie viel Einsamkeit mögen im Grun de

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    ge ra de diejenigen Jugendlichen in sich verbergen, die in der Clique mitschwimmen.

    Überhaupt führt es nicht weiter, einer bestimmten Bezugs gruppe die »Schuld« allein zuzuweisen – weder den Jugendlichen der Clique, noch den Lehrern, noch den Eltern.

    Sicherlich: Die Eltern von Bernd und Birgit haben in der Fa mi lie ein Klima geschaffen, das der Vereinzelung Vorschub leis ten kann. Bernds Eltern sind eigentlich abwesend. Birgit ist aufgewachsen mit zwei introvertierten Erwachsenen und einer kleinen, schüchternen Schwester.

    Jugendliche sind bei ihrer Suche nach sich selbst, nach der eigenen Gestalt solchen Prädispositionen ausgeliefert. Zunächst ausgeliefert sind sie aber zugleich herausgefordert, gerade durch ihre pubertäre Krise hindurch ihren eigenen Weg zu finden. Noch haben sie einen begrenzten Handlungsspielraum, noch erfüllt sie ein oft sehr ge-rin ges Selbst-Bewusstsein, um neue und tragfähige, außerfamiliäre Beziehungen aufbauen zu können.

    Bernd und Birgit haben längst ihre bewährten Verhal tens muster entwickelt, – automatisch und unreflektiert –, um mit ihrem Besonderssein umzugehen. Sie suchen zugleich aber neue Mus ter. Sie brauchen Vorbilder. Sie brauchen Menschen, die ihnen Ach tung und Respekt vermitteln, die ihnen zuhören – auch ihrem Schweigen.

    Birgit hat für sich die Lösung gefunden, nach außen unauffällig und einigermaßen angepasst zu erscheinen, aber nach innen sich in ihre »Kopfwelt« zurückzuziehen – eine ganz andere als die reale Welt, in der sie lebt. Sie erscheint mir heute, Jahre später, noch tief verletzt. Auch wenn sie ihren Stolz wiedergefunden hat (» ... Im Gegensatz zu ihr habe ich Perspektiven und eine Zukunft. Sie kann einem leid tun.«), auch wenn sie versucht, die anderen als andersartig gelten zu lassen und nicht »gleichzuschalten« (» ... doch genauso wie ich akzeptiert werden wollte, musste ich zwangsläufig meine Mitschüler auch akzeptieren«.)

    Birgit lebt in einem engen Familiengebilde, in dem sie sich akzeptiert