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MATERIALIEN 13 G GESCHICHTE betrifft uns 6 · 2010 Vom Versailler Vertrag zum Young-Plan M 5.3 Der „Geist von Locarno“ Material 1: Wolfgang Stresemann Locarno stellte kein „Gipfel-Treffen“ im heutigen Sinn dar, bei dem man sich mehr oder weniger in liebenswürdigen Allge- meinheiten erging, nachdem die kniffligen Probleme zuvor auf tieferer Ebene aus der Welt geschafft waren. In dem recht kleinen Saal des Rathauses von Locarno wurde echt verhan- 5 delt, gekämpft und erfreulicherweise auch gelacht. Zur Hei- terkeit trug Briand am meisten bei, dessen überlegener Humor auch einmal die Konferenz vor einem möglichen Eklat bewahr- te. Während einer Vollsitzung sprach Kanzler Luther 1) in einer längeren Rede durchaus zutreffend von den deutschen Leiden 10 nach dem Weltkrieg, ohne möglicherweise hinreichend daran zu denken, daß vor allem Belgien, aber auch Nordfrankreich durch den Krieg schwer gelitten hatten. Es drohte nun eine auf die Vergangenheit bezogene, keineswegs wünschenswerte Auseinandersetzung, zu der sich bereits der belgische Außen- 15 minister Vandervelde zu Worte gemeldet hatte […]. Da trat Briand zu Luther, unterbrach ihn sanft, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte mit der ihm eigenen entwaffnenden Liebenswürdigkeit: „Fahren Sie bitte nicht fort, sonst bringen Sie uns alle zum Weinen.“ Luther hielt ein, machte wohl ein 20 etwas böses Gesicht, worauf Briand so erschrocken tat, daß mein Vater in ein befreiendes Lachen ausbrach, worauf die Beratungen mit Blick auf den abzuschließenden Sicherheits- vertrag wieder aufgenommen wurden. […] Mein Vater hat in seinem seinerzeit veröffentlichten „Locarno- 25 Tagebuch“ die wichtigsten Ereignisse der Konferenz chronolo- gisch beschrieben. Zu Hause erzählte er mit Freude und Genuß von seinen zahlreichen „Rededuellen“ mit Briand, bei denen er, wie allgemein gesagt wurde, bis an die Grenze des Mögli- chen gegangen ist. Briand liebte Rede und Gegenrede, antwor- 30 tete meinem Vater temperamentvoll, ohne sich an starre For- meln zu klammern. Schnell erkannte er, daß auch mein Vater trotz seiner energischen Vertretung der deutschen Interessen vom gleichen Willen nach einer Verständigung beseelt war, bei Meinungsverschiedenheiten nach für beide Seiten brauchbaren 35 Kompromissen suchte, kurzum alles in seiner Macht Stehende tat, um die schwierige, auch juristisch mit Problemen angefüll- te Konferenz zu einem Erfolg zu führen. […] Zu den nächsten Sitzungen wurden auch die polnischen und tschechisch-slowakischen Vertreter hinzugezogen, die bisher 40 „antichambrierten“ zum besonderen Ärger des polnischen Grafen Skrzynski, den Briand vermutlich mehrfach beruhigen mußte. Es folgten eine Reihe von Privatbesprechungen, vor allem wegen der „Rückwirkungen“, dann die Schlußsitzung am 16. Oktober, dem Geburtstage von Chamberlain, in An- 45 wesenheit von Mussolini mit feierlichen Ansprachen, von de- nen nach allgemeiner Meinung die von Briand und meinem Vater herausragten. Briand sprach von einem neuen Geist, einer neuen Ära des Vertrauens, ohne die die ausgehandel- ten Verträge lediglich eine leere Geste wären. […] 50 Aus: Wolfgang Stresemann: Mein Vater Gustav Stresemann. Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein Verlag 1992, S. 380—387 1) Hans Luther: Reichskanzler 1925—1926 (parteilos) Material 2: Zeitgenössische Bilder Konferenzfoto mit den Unterschriften der Teilnehmer der Schlusssitzung vom 16.10.1925 akg-images, Berlin Ungezwungene Verhandlungen in und um Locarno im Oktober 1925. Foto des Haupteingangs des Justizgebäudes mit den Fah- nen der teilnehmenden Länder. In der Mitte die deutsche Fahne. Bundesarchiv, Bild 102-01886 Leitfragen/Arbeitsaufträge 1. a) Stellen Sie die zentralen Ergebnisse der Konferenz von Locarno für Deutschland, die Westmächte sowie für Polen und die Tschechoslowakei zusammen (M 5.2). b) Diskutieren Sie die Ergebnisse aus der jeweiligen Perspektive der teilnehmenden Mächte. c) Erstellen Sie ein kurzes Ergebnisprotokoll. 2. Erläutern Sie anhand des Textes und der Bilder den „Geist von Locarno“ (M 5.3).

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M A T E R I A L I E N 13

G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 6 · 2010 Vom Versailler Vertrag zum Young-Plan

M 5.3 Der „Geist von Locarno“

Material 1: Wolfgang Stresemann Locarno stellte kein „Gipfel-Treffen“ im heutigen Sinn dar, bei dem man sich mehr oder weniger in liebenswürdigen Allge-meinheiten erging, nachdem die kniffligen Probleme zuvor auf tieferer Ebene aus der Welt geschafft waren. In dem recht kleinen Saal des Rathauses von Locarno wurde echt verhan-5

delt, gekämpft und erfreulicherweise auch gelacht. Zur Hei-terkeit trug Briand am meisten bei, dessen überlegener Humor auch einmal die Konferenz vor einem möglichen Eklat bewahr-te. Während einer Vollsitzung sprach Kanzler Luther1) in einer längeren Rede durchaus zutreffend von den deutschen Leiden 10

nach dem Weltkrieg, ohne möglicherweise hinreichend daran zu denken, daß vor allem Belgien, aber auch Nordfrankreich durch den Krieg schwer gelitten hatten. Es drohte nun eine auf die Vergangenheit bezogene, keineswegs wünschenswerte Auseinandersetzung, zu der sich bereits der belgische Außen-15

minister Vandervelde zu Worte gemeldet hatte […]. Da trat Briand zu Luther, unterbrach ihn sanft, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte mit der ihm eigenen entwaffnenden Liebenswürdigkeit: „Fahren Sie bitte nicht fort, sonst bringen Sie uns alle zum Weinen.“ Luther hielt ein, machte wohl ein 20

etwas böses Gesicht, worauf Briand so erschrocken tat, daß mein Vater in ein befreiendes Lachen ausbrach, worauf die Beratungen mit Blick auf den abzuschließenden Sicherheits-vertrag wieder aufgenommen wurden. […] Mein Vater hat in seinem seinerzeit veröffentlichten „Locarno-25

Tagebuch“ die wichtigsten Ereignisse der Konferenz chronolo-gisch beschrieben. Zu Hause erzählte er mit Freude und Genuß von seinen zahlreichen „Rededuellen“ mit Briand, bei denen er, wie allgemein gesagt wurde, bis an die Grenze des Mögli-chen gegangen ist. Briand liebte Rede und Gegenrede, antwor-30

tete meinem Vater temperamentvoll, ohne sich an starre For-meln zu klammern. Schnell erkannte er, daß auch mein Vater trotz seiner energischen Vertretung der deutschen Interessen vom gleichen Willen nach einer Verständigung beseelt war, bei Meinungsverschiedenheiten nach für beide Seiten brauchbaren 35

Kompromissen suchte, kurzum alles in seiner Macht Stehende tat, um die schwierige, auch juristisch mit Problemen angefüll-te Konferenz zu einem Erfolg zu führen. […] Zu den nächsten Sitzungen wurden auch die polnischen und tschechisch-slowakischen Vertreter hinzugezogen, die bisher 40

„antichambrierten“ zum besonderen Ärger des polnischen Grafen Skrzynski, den Briand vermutlich mehrfach beruhigen mußte. Es folgten eine Reihe von Privatbesprechungen, vor allem wegen der „Rückwirkungen“, dann die Schlußsitzung am 16. Oktober, dem Geburtstage von Chamberlain, in An-45

wesenheit von Mussolini mit feierlichen Ansprachen, von de-nen nach allgemeiner Meinung die von Briand und meinem Vater herausragten. Briand sprach von einem neuen Geist, einer neuen Ära des Vertrauens, ohne die die ausgehandel-ten Verträge lediglich eine leere Geste wären. […] 50 Aus: Wolfgang Stresemann: Mein Vater Gustav Stresemann. Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein Verlag 1992, S. 380—387

1) Hans Luther: Reichskanzler 1925—1926 (parteilos)

Material 2: Zeitgenössische Bilder Konferenzfoto mit den Unterschriften der Teilnehmer der Schlusssitzung vom 16.10.1925 akg-images, Berlin

Ungezwungene Verhandlungen in und um Locarno im Oktober 1925. Foto des Haupteingangs des Justizgebäudes mit den Fah-nen der teilnehmenden Länder. In der Mitte die deutsche Fahne. Bundesarchiv, Bild 102-01886

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. a) Stellen Sie die zentralen Ergebnisse der Konferenz von Locarno für Deutschland, die Westmächte sowie für Polen und die Tschechoslowakei zusammen (M 5.2).

b) Diskutieren Sie die Ergebnisse aus der jeweiligen Perspektive der teilnehmenden Mächte.

c) Erstellen Sie ein kurzes Ergebnisprotokoll. 2. Erläutern Sie anhand des Textes und der Bilder den

„Geist von Locarno“ (M 5.3).